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Inhalt

Armin Nassehi
Editorial

Konrad Paul Liessmann
Die Bundesbildungsrepublik
Ein Streifzug durch (ver)blühende Landschaften

Georg von Wallwitz
Wie viel Mathematik braucht die Bildung?
Ein Versöhnungsversuch

Intermezzi 1
Barbara Vinken
Georg M. Oswald
Peter Felixberger
Daniela Roth

Heinz-Elmar Tenorth
Neu wird der Mensch!
Der lange Marsch der Bildungsutopien

Heiner Barz
Montessori & Co.
Eine kurze Geschichte der Reformpädagogik

Intermezzi 2
Regina Schmeken
Olaf Unverzart
Karl Bruckmaier
Wolfgang Schmidbauer

Markus Rieger-Ladich
Cooling out
Warum Bildung mehr ausgrenzt als inkludiert

Armin Nassehi
Wozu Universitäten?
Eine Legitimationsgeschichte

Intermezzi 3
Rainer Merkel
Paula-Irene Villa
Armin Nassehi

Gerhard Roth
Nicht jedes Kind ist hochbegabt!
Zentrale Erkenntnisse der Hirnforschung zu Intelligenz und Begabung

Ralph Schumacher, Elsbeth Stern
Verstehendes Lernen
Der Aufbau intelligenten Wissens im Schulunterricht

Die Autoren

Impressum

Armin Nassehi
Editorial

Der Joker sticht immer. Er ist im Kartenspiel die Karte, die immer passt. Etymologisch stammt er vom iocus ab, dem Scherz, er ist der Jolly Joker, im Englischen auch lange der jester, also der Hofnarr. Zumindest im deutschsprachigen Bereich ist Bildung der Joker schlechthin – Bildung ist die Strategie, die immer passt: zur Stärkung des Wirtschaftsstand­ortes Deutschland, gegen rechts, für sozialen Aufstieg, als Wohlstands- und Karrieregenerator, als Garant für den wohlinformierten Bürger, der öffentlichen Debatten ums gute Leben folgen, sich gar daran beteiligen kann.

Aber ein Spaß ist er wahrlich nicht, dieser Joker, eher von geradezu eschatologischem Ernst. In deutschen Debatten über Bildung geht es gleich um die Humanisierung des Humanums schlechthin – nicht nur der Gebildete ist dann wirklich Mensch, sondern der Mensch ist in der Menschheit durch einen historischen Bildungsprozess erst das geworden, was er ist. Bildung wird zur kulturellen Naturgeschichte der Gattung. Gerade deutsche Bildungsdebatten laborieren noch stark an der geschichtsphilosophischen Überhöhung des Bildungsgedankens, wie er von Johann Gottfried Herder im späten 18. und von Georg Wilhelm Friedrich Hegel im frühen 19. Jahrhundert geprägt wurde. Ersterer un­terscheidet gleichwertige historische Epochen, die je eine bestimmte Bildungsgestalt hervorbringen, Letzterer will in jedem einzelnen Men­schen gleich den ganzen fortschreitenden Bildungsprozess der Mensch­heit wiederholen. Von diesem Erbe hat sich der deutsche Bildungsdiskurs nur schwer lösen können und lebt in der bildungsbeflissenen Unterschei­dung von Bildung und Ausbildung fort. Das Englische, das Spanische und auch das Niederländische verwenden den deutschen Ausdruck, weil sie für diese Überhöhung gar keinen Begriff haben. Im Englischen fängt das schon sehr früh an, im Kindergarten. Dieser Joker ist kein Spaß.

Vielleicht neigt der Bildungsdiskurs auch deshalb zu Ernst und Strenge, weil Bildungsprozessen jegliche Kausalität fehlt und das Verhältnis von (Bildungs-)Ursache und (Bildungs-)Wirkung sagen wir einmal: kon­tingent ist. Jedenfalls ist das, was da geformt werden soll, der Mensch, seine Fähigkeiten oder gar die Menschheit selbst, weniger eindeutig formbar als andere Werkstücke. Ernst der Debatte und Strenge der Tat sind vielleicht funktionale Äquivalente genau dafür. Überschätzt wird gerne, was man operativ unterschätzt hat.

Uns ist es darum zu tun, weder zu unterschätzen noch zu überschät­zen. Wir haben deshalb genau gemessen: 301 Gramm Bildung bringt dieses Kursbuch auf die Waage. Sage niemand, das sei zu wenig!

Dieses Kursbuch schreibt die Dialektik von Überschätzung und Unterschätzung nicht fort, hat sie aber im Blick. Die Beiträge dieser Ausgabe vereint ein versachlichender Gestus, ein Gestus, der weder an der Überhöhung teilhat noch einfach das Gegenteil behauptet. Er vereint, wie es sich für Bildungsperspektiven gehört, eher historische und eher systematische Perspektiven. Das Aufklärerische an diesem Kursbuch ist also, dass die Beiträge (historisch und systematisch) vergleichen. Historische Perspektiven ermöglichen, anders als geschichtsphilosophische, Selbstdistanzierung. Und systematische Perspektiven kommen wie von selbst auf Perspektivenverschiebungen.

Die eher historisch angelegten Beiträge stammen von Heinz-Elmar Tenorth, von Heiner Barz, Georg von Wallwitz und mir selbst, die Bil­dungs­utopien, reformpädagogische Modelle, die Mathematik aus der Perspek­tive des klassischen Bildungsideals und die Universität als Bildungsanstalt auf den Begriff zu bringen. Die Beiträge von Ralph Schuh­macher und Elsbeth Stern, von Markus Rieger-Ladich und Gerhard Roth sind eher systematisch angelegt und richten ihren Fokus aufs Ler­nen, auf den Zusammenhang von Bildungserfahrung und sozialer Her­­kunft sowie auf die Bedingungen für das, was man »Intelligenz« nennt.

Eine Scharnierfunktion hat der Beitrag von Konrad Paul Liessmann, der mit seiner kleinen Typologie der Bewohner der Bildungsrepublik Bildungspolitiker, Bildungsforscher, Bildungsnahe und -ferne und andere ebenso systematisch wie historisch aufs Korn nimmt. Wenn, dann ist dieser Beitrag ein Joker, da er seine Wertschätzung für diese Bürgerschaft der Bildungsrepublik mit feiner Ironie vorträgt. Liessmann weiß zum Beispiel um die Merkwürdigkeit des Bildungsbürgers, seinen selbst­überhebenden Habitus und seine aus der Zeit gefallene Form, weint ihm aber (und darin auch ein bisschen sich selbst und, ich gebe es zu, auch mir) doch eine Träne nach: »Dem Bildungsbürger gehört deshalb unsere Soli­darität im Augenblick seines Verschwindens.«

Bildungsprozesse werden gerne als Selbstbeobachtungsprozesse insze­niert. Diese sind deshalb so interessant, weil es zwischen pädagogischer Bemühung und pädagogischer Wirkung kein Eins-zu-eins-Verhältnis gibt – gottlob, möchte man sagen. Gerade deshalb sind Bildungsper­spektiven so sehr auf die biografische Form fixiert – von Pädagogen gerne als Bildungsanlass inszeniert. Man entkommt ihr nicht, der Bildung. Wir sind selbst natürlich leidenschaft­liche Pädagogen und haben aus dieser Not(wendigkeit) eine Tugend gemacht und elf Kursbuch-Autoren gebeten, uns ihre Bildungsgeschichte und Bildungserfahrung in kur­zen Intermezzi in Text und Bild zu präsentieren. Wir wissen sehr wohl, dass biografische Selbstauskünfte nicht die Vergangenheit wiedergeben, sondern eher Gelegenhei­ten für gegenwärtige Selbstinszenierungen sind, die die Legitimation des Jetzt in eine jetzt erzeugte Vergangenheit auslagern. Es ist ein Genre mit hohem Scheiternsrisiko. Was uns Karl Bruckmaier, Reiner Merkel, Georg M. Oswald, Daniela Roth, Regina Schmeken, Wolfgang Schmidbauer, Olaf Unverzart, Paula-Irene Villa, Barbara Vinken sowie die bei­den Herausgeber Peter Felixberger und ich da präsentieren, bewegt sich genau in der Spannung gegenwärtiger Selbst­präsentation mit den Mitteln der eigenen Vergangenheit als Ermöglichungs- und Verhinderungs­erfahrung. Vielleicht ist das ja eine Parabel auf »Bildung«. Und vielleicht haben der eine Autor oder die an­dere Autorin dabei mehr über diese bildungsbeflissene Form gelernt als über sich selbst. Also mir ging es so!

Der »Brief eines Lesers« überspringt eine Ausgabe. In Bildungsbegriffen ausgedrückt: Er hat diesmal das Klassenziel nicht erreicht.

Konrad Paul Liessmann
Die Bundesbildungsrepublik
Ein Streifzug durch (ver)blühende Landschaften

Es ist nun auch schon wieder zehn Jahre her, dass die Bundeskanzlerin die deutsche Bildungsrepublik ausgerufen hat. Dass Republiken von ganz oben ausgerufen werden, ist zwar eher selten, aber in Fragen der Bildung auf eine Initiative von unten zu warten, ist wahrscheinlich wirklich müßig. Bildung wird heute gewährt, nicht erkämpft. Seit ihrer Ausrufung hat sich diese Staatsform angeblich prächtig entwickelt, aus einer geistigen Wüste sollen blühende Landschaften geworden sein. All­mählich aber stellt sich die Frage, wer in dieser Republik nun eigentlich lebt. Versuchen wir eine Bestandsaufnahme der Wohnbevölkerung der Bildungsrepublik und beginnen wir, auch wenn dies wenig republi­kanisch anmuten mag, mit jenen lichten höheren Regionen, denen diese Republik ihre Existenz verdankt.

Die Bildungspolitiker

Setzen wir dort an, wo die Verantwortung für das gedeihliche Leben und Denken in der Bildungsrepublik übernommen wird, in der Politik. So leicht es ist, eine Bildungsrepublik auszurufen, so schwer ist es, diese dann mit Leben zu erfüllen. Minister und hohe Beamte stehen dabei vor keinen geringen Problemen. Von allen Seiten werden sie bedrängt, doch endlich das Richtige zu tun. Einmal ist es die Öffentlichkeit, dann sind es die Medien, einmal die Experten, dann die zahlreichen Stiftungen und Testkonsortien, einmal twitternde Gymnasiastinnen, dann wieder mäch­tige Verbände, die von der Politik die richtigen Reformen, die richtigen Initiativen, die richtigen Strukturen, die richtige Didaktik, die richtigen Universitäten, die richtigen Schulen, die richtige Ausbildung fordern – wobei sich »richtig« immer auf die eigenen, begrenzten und ideologisch gesättigten Interessen der Fordernden bezieht.

Vor allem kämpft die Bildungspolitik mit jenem Zeitgeist, den sie oft genug selbst beschworen hat und der ihren Handlungsspielraum nun empfindlich einengt. Dieser Zeitgeist artikuliert sich in den Phrasen, mit denen die Bildungspolitiker landauf, landab die Menschen versorgen: Dass Bildung die wichtigste Ressource für ein rohstoffarmes Land sei, dass Bildung niemanden ausschließen dürfe, dass Bildung zuständig für alle Formen der Integration und Inklusion sei, dass Bildung die sozialen Defizite der Gesellschaft ausgleichen könne, dass Bildung der Schlüssel für eine gedeihliche Zukunft sei, dass Bildung Wettbewerbsvorteile für alle verschaffe, dass Bildung gegen politische Vereinfacher und Verfüh­rer schütze und dass all dies gelingen könne, wenn sich die Bildung nur endlich modernisierte und auf Digitalisierung und Kompetenzen setzte. Dadurch werden die Bildungspolitiker zum Opfer ihrer eigenen Glaubenssätze. Sie versprechen einfach zu viel, was andere – die Lehrer und Schüler, die Professoren und Studenten – dann halten sollen. Das geht in der Regel nicht gut und verschärft den Druck.

Die Qualität eines Bildungspolitikers wird an den institutionellen Re­formen gemessen, die er initiiert und durchführt oder wenigstens begleitend beforschen lässt. Um der in Deutschland ja immer drohenden Bildungskatastrophe zu entgehen, setzt der Bildungspolitiker Bildung mit ihrer Reform gleich. Jede pädagogische Mode artikuliert sich deshalb gleich als Reformvorhaben, das der Bildungspolitik zur Realisierung überantwortet wird. Und da kein Bildungspolitiker als Reformverweigerer – dies wäre ein politisches Todesurteil – erscheinen möchte, jagt eine Reform die andere, werden Lehr- und Studienpläne ständig ver­än­­dert, adaptiert, neu gefasst und neu geschrieben, Unterrichtsmethoden werden einerseits dem pädagogischen Innovationsfuror, andererseits dem technischen Fortschritt gnadenlos angepasst, Schulformen und Stu­dienrichtungen werden in großer Zahl neu produziert, Unterrichtsfächer neu definiert, wild zusammengewürfelt, abgeschafft oder infrage gestellt, Lehrer werden nicht mehr für die Vermittlung von Fachwissen und Kulturtechniken, sondern für soziale Kompetenzen welcher Art auch immer ausgebildet, und alle Beteiligten werden einem ständigen Verunsicherungsprozess unterworfen. Das macht das Regieren leicht, den Erwerb von Bildung aber schwer. Dass dieser dennoch immer wie­der gelingt, hat weniger mit den Erfolgen der Bildungspolitiker zu tun, sondern wohl eher damit, dass sich viele Beteiligte und Betroffene den Vorgaben der Politik ohne große Worte stillschweigend widersetzen und das tun, was sie für richtig halten und immer getan haben.

Die Bildungsforscher

Kaum ein Wissenschaftszweig erlebte in den letzten Jahren einen solchen Aufschwung wie die empirische Bildungsforschung. Zum einen verdankt sich dieser einer einfachen Umbenennung: Aus Pädagogen und Erziehungswissenschaftlern wurden Bildungsforscher. Keine Frage, das klingt wesentlich besser. Während auch für denjenigen, der die Ety­mologie von Pädagogik nicht genau kennt, in dieser noch der Knabe, das Kind mitschwingt, das auf den rechten Weg geführt werden soll, hat Erziehung seit den 1960er-Jahren ohnehin einen schalen Beigeschmack. Nur als antiautoritäre konnte sie reüssieren, und junge Menschen heute noch erziehen zu wollen, verträgt sich weder mit dem Glauben an die kindlichen Talente und Begabungen, die nur ihrer Entfaltung harren, noch mit der Autonomie der kleinen Subjekte, die keine pädagogischen Vorgaben mehr verträgt. All diese zweideutigen und missliebigen Kon­notationen hat der Bildungsforscher abgeworfen, die Bildung zu erforschen, oder noch besser: zu beforschen, ist doch ganz etwas anderes, als sich zu fragen, wie eine junge Generation belehrt oder erzogen werden soll. Zum anderen gründet die Karriere der Bildungsforscher in einer ebenso einfachen wie bestechenden Überlegung: Man muss nicht wissen, was Bildung ist, es genügt, sie zu messen. Also wird tagaus, tagein gemessen, was irgendwie in den Verdacht gerät, dass es dabei um Bildung gehen könnte.

Messen kann man das, was ohnehin geschieht, oder das, was man in einem eigens konstruierten Testverfahren zur Messung arrangiert. Alles dient der Erhebung von Daten, die wieder der Bildungspolitik als Entscheidungshilfe offeriert werden. Und deshalb wird seit geraumer Zeit getestet und evaluiert, verglichen und erhoben, korreliert und pro­­­gno­s­ti­ziert, dass es nur so eine Freude ist. Die Lernleistungen der Dreijähri­gen werden ebenso flächendeckend getestet wie die Schlüsselkompetenzen der 15-Jährigen, die Teamkompetenzen der deutschen Jugend sind eben­so Gegenstand internationaler Vergleichsstudien wie die mathematischen Fähigkeiten von Studienanfängern, die finanziellen Aufwendungen pro Schüler werden ebenso erhoben wie die Lebens­arbeitszeiten von Lehrern mit und ohne Pausen, die Abiturnoten vor und nach der Zentralisierung von Reifeprüfungen müssen genauesten erfasst werden, ebenso die Studienzeiten vor und nach der Einführung Bologna-konformer Studienpläne.

Das Ergebnis all dieser aufwendigen und angestrengten Bildungsforschung kann sich dann auch sehen lassen. Noch nie, so können wir zusammenfassend lesen, war eine Generation – zählt man die tertiären Abschlüsse – so gebildet wie heute, noch nie war aber auch die Rate der funktionalen Analphabeten so hoch, die Abiturnoten werden immer besser, die Studierfähigkeit nimmt aber ab. Auch in der Bildungsrepublik kommt es – und für dieses Wissen sei den Bildungsforschern gedankt – zu messbaren Unterschieden zwischen den Menschen, und ir­gendwie bewegt sich Deutschland bildungsmäßig immer im Mittelfeld. Aber wenn nichts geschieht, wird es untergehen. Reformbedarf ist angesagt.

Die Bildungsexperten

In der Bildungsrepublik wimmelt es von Bildungsexperten. Noch nie verstanden so viele Menschen so viel von Bildung wie heute. Überall trei­ben sich die Bildungsexperten herum, in den Redaktionsstuben und bei Elternabenden, in den Vorzimmern der Macht und in den Feuilletons, in den Talkshows und auf dem Campus. In früheren Leben waren sie Psychologen oder Hirnforscher, Philosophen oder Unternehmer, Physiker oder Esoteriker, nun wissen sie, wie Bildung endlich gelingt. Es gibt, bei allen herkunftsbedingten Unterschieden, einige markante Grundüberzeugungen, die die Bildungsexperten teilen. Fast alle sind gute Rousseauisten, das heißt, sie sind überzeugt davon, dass Neugeborene, Babys und Kleinkinder wunderbare, umfassend kompetente, mehrfach begabte, hoch talentierte und kreative Wesen sind, die allein durch ein antiquiertes Bildungssystem korrumpiert, gebrochen und zerstört werden. Die Welt des Bildungsexperten ist eine, in der alle Menschen nur mehr in ihrer Besonderheit gleich sind. Alle sind hochbegabt, aber jeder auf seine Weise. Unter solchen Prämissen wundert es nicht, dass der pädagogische Zeitgeist, flankiert von Genetik und Hirnforschung, nichts so sehr fürchtet wie den Durchschnitt und das Mittelmaß. Normalität ist das neue Schreckgespenst einer Zeit, in der Besonderheit zur Norm geworden ist: Nur nicht in die Durchschnittsfalle tappen, nur nicht gewöhnlich sein, nur nicht Mittelmaß, da wir doch im globalen Wettbewerb nur noch mit dem Außergewöhnlichen punkten können. Wir können es uns nicht mehr leisten, Talente zu verschenken – so das Credo, das schon besser den eigentlichen Hintersinn dieser Kinderfreundlichkeit erkennen lässt.

Gemeinsam ist den Bildungsexperten eine grundsätzliche Kritik an den rezenten Bildungseinrichtungen: Diese seien antiquiert, dem Geist der Kasernenschulen des 19. Jahrhunderts verhaftet, es dominiere dort noch immer der Frontalunterricht, die einzelnen Schüler würden in ihrer Besonderheit und Individualität weder wahrgenommen noch gefördert, die neue Welt mit ihren wunderbaren technischen Möglichkei­ten gehe spurlos an diesen Einrichtungen vorüber, und Kreativität werde flächendeckend vernichtet. Genau deshalb aber fordert der Bildungsexperte nicht nur die eine oder andere weitere Reform, nein, er fordert die »Bildungsrevolution«. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben, alles muss sich ändern: wie gelernt wird, was gelernt wird, wo gelernt wird, mit wem gelernt wird. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt, und vorstellen kann man sich vieles. Entscheidend dabei sind vor allem zwei Ansatzpunkte: Die zunehmende Identifizierung von Lernen und Leben und das damit einhergehende Verschwinden des Lehrers und der Schule. Wenn es nichts mehr zu vermitteln gibt, weil nur noch solche Fragen interessieren, die sich dem jungen Leben unmittelbar stellen, dann wird auch der Lehrer überflüssig. Er hat nichts mehr zu lehren, denn das Leben lernt sich ja ohnehin von selbst. Nein, nicht ganz von selbst, ein bisschen Betreuung kann dann doch nicht schaden. Der Lehrer wird nach dem Willen der Bildungsexperten deshalb zum Coach, zum »Lern­begleiter«, der Schüler wird zum »Lernpartner«. Man begegnet sich auf Augenhöhe, der Lernbegleiter bietet nur dann Hilfe an, wenn der Lernpartner sie von sich aus einfordert. Im Prinzip aber lernt der Lernende autonom und selbstbestimmt, und er kontrolliert auch selbst seinen Lernfortschritt.

Die Bildungsexperten und ihre Adepten in der Politik und der Öffentlichkeit haben es geschafft, dass es einige pädagogische Glaubenssätze gibt, denen nur mehr um den Preis, als hoffnungslos reaktionär zu gelten, widersprochen werden könnte. Dazu gehören die beliebten The­sen, dass es nichts Schlimmeres als Frontalunterricht und nichts Besseres als Projektarbeit gäbe, dazu gehört die Vorstellung, dass sich alles in Wohlgefallen auflöste, wenn man endlich mit einem konsequenten Modularisieren ernst machte, dazu gehört der Hinweis, dass schema­tisierte Unterrichtsstunden eigentlich ein Übel seien, dazu gehört der Glaube, dass zwar das Lernen individualisiert, das Unterrichten aber in Form des »Teamteachings« kollektiviert werden müsse, dazu gehört die feste Überzeugung, das Ziffernnoten ungerecht, verbale Beurteilun­gen, die sich dem Zeitgeist, den Erwartungen der Eltern und der Phrase­olo­gie der Empathie beugen, gerecht seien, und dazu zählt auch die Vorstellung, dass traditionelle Fächer und Disziplinen zugunsten von problemorientierten Vernetzungen, Clustern und Bündeln aufgelöst werden müssten. Es ist nicht zuletzt das Verdienst der Bildungsexperten und des von ihnen stark beeinflussten Bildungsjournalismus, dass »Schüler« und »Lehrer« nicht mehr zu den Bewohnern der Bildungsrepublik gehören. An deren Stelle tummeln sich nun Schimären, nämlich die Selbstlerner und ihre Lernbegleiter, denen wir hier allerdings kein weiteres Augenmerk schenken wollen.

Die Bildungspropheten

Von den Bildungsexperten nur graduell unterscheiden sich die Bil­dungs­propheten. Diese gelten – ganz im Gegensatz zum Sprichwort – im ei­genen Land sehr viel. Es sind die Mahner und Warner, die nicht müde werden, zwei Dinge zu skizzieren, die essenziell seit alters her zum Geschäft des Propheten gehören: die Apokalypse und die Erlösung. Seit den 1960er-Jahren sind die Apokalyptiker aus dem deutschen Bildungsgeschehen nicht wegzudenken, und sie gehören zu den beliebten und angesehenen Bewohnern der Bildungsrepublik. Sie verkünden stets die nahende, drohende, sich abzeichnende, in Ansätzen schon sichtbare Bildungskatastrophe, die, wenn nichts geschieht, Deutschland zurückwerfen und zu einem armen und armseligen Land verkommen lassen wird. Indikatoren für die nahende Katastrophe sind jene harten Fakten, die von manchen Bildungsforschern geliefert werden: zu wenige Abi­tu­rienten, zu wenige Bachelors und Masters, zu wenige Eliteuniversitäten, zu wenig Integration und Inklusion, zu wenig Diversität, zu wenig Chancengerechtigkeit, vor allem aber: zu wenig Digitalisierung.

Die Bildungskatastrophe drückt sich immer in einem Zuwenig von allem Möglichen aus, nie jedoch in einem Mangel an Bildung. Mangelnde Beherrschung der traditionellen Kulturtechniken zum Beispiel ist kein Grund zur Besorgnis – wer nicht lesen kann, kommuniziert da­für über Emojis; mangelnde Studierfähigkeit disqualifiziert noch lange nicht für ein Studium – die Universitäten sollen halt entweder Brücken­kurse für Anfänger und Fortgeschrittene einrichten oder endlich ak­zep­tieren, dass rationalitätslastiges und logozentrisches akademisches Fachwissen mit modernen sozialen und emotionalen Kompetenzen ohne­hin nicht kompatibel ist, und sich allmählich darauf einstellen. Vor einem Bildungsverlust hat der Bildungsapokalyptiker keine Angst, ein mittelmäßiges Abschneiden bei einem PISA-Test oder eine Akademikerrate, die den Vorgaben der OECD nicht entspricht, stürzen ihn jedoch in Verzweiflung.

Gar nicht verzweifelt sind die Heilsbringer unter den Bildungspro­phe­ten. Sie wissen, was getan werden muss, um der bildungspolitischen Er­lösung teilhaftig zu werden. Das, was getan werden muss, ändert sich allerdings mitunter ziemlich schnell, auch das pädagogische Heil muss sich der dynamischen Entwicklung unserer Gesellschaft anpassen. Galt nach den ersten PISA-Tests die flächendeckende Umstellung von Lern­zielen auf Kompetenzen und dementsprechend die Kompe­tenzorien­tie­rung der Lehr- und Studienpläne als Weg zur Erlösung, wurde die­ser bald ergänzt und abgelöst durch Anleihen aus den diversen Mana­­ge­ment­heilslehren. Evaluation, Qualitätssicherung, Praxis­rele­vanz, Syner­gieeffekte und Classroom-Management versprachen zusätzliches Erlösungspotenzial. Seit Kurzem aber wird dies alles in den Schatten gestellt durch den Ruf nach Digitalisierung der Bildung, in der sich ein göttlicher Geist offenbart, der alles zum Besseren wenden wird. Bildung 4.0 lautet das Zauberwort – dass niemand weiß, was Bildung 1.0, 2.0 und 3.0 gewesen waren, tut nichts zur Sache. Schnelles Internet und Tablets, mit denen nun die Schulen ausgestattet werden sollen, werden, so die frohe Botschaft der Propheten, junge Menschen so auf die digitale Zukunft vorbereiten wie der rechte Glaube einst die Christenmenschen auf den jüngsten Tag.

Die Bildungsreformer

Der Bildungsreformer stellt die angewandte Form des Bildungsexperten und die zur Praxis geronnene Variante der Bildungspropheten dar. Er versucht, deren Ratschläge umzusetzen. Manchmal sitzt er in einer Regierung, dann wieder in den für Wissenschaft, Bildung und Unterricht zuständigen ministeriellen Abteilungen, manchmal gehört er zum inneren Kreis der staatlichen Bildungsbürokratie , manchmal ist er aus­gelagert. Manchmal war er in einem früheren Leben Lehrer oder Fachdidaktiker, Direktor einer Schule oder Sekretär einer Partei, manchmal war er Unternehmensberater oder Coach. Fortschritt ist für ihn gleichbedeutend mit Reform, und je mehr Reformen es gibt, umso besser wird die Welt. Aber die Welt, vor allem die Welt der Bildung erweist sich als uneinsichtig und tendenziell als reformfeindlich, wohin er blickt, sieht er einen Reformstau, und unermüdlich kämpft er gegen die Blockierer und Reformverweigerer. Er selbst ist natürlich reformfreudig, und er weiß den Fortschritt auf seiner Seite. Denn zwei Dinge sind in einer mo­dernen Gesellschaft ausgeschlossen, und das bestärkt ihn in jedem seiner Reformvorhaben: der Stillstand und der Rückfall hinter eine Reform. Den Bildungsreformern verdanken wir Bologna, den kom­petenz­orientierten Lehrplan Plus, dreidimensionale Kompetenzraster, unlesbare Modulhandbücher und den ständigen, dynamischen Wechsel zwischen G 8 und G 9. Den Bildungsreformern verdanken wir den Wechsel der Unterrichtsmethoden, die wunderbare Erfindung des Pro­jektunterrichts und neuerdings die geradezu kantianisch anmutende Errungenschaft des autonomen Lernens. Dieses korrespondiert freudig mit dem Flipped Classroom, was bedeutet, dass die jungen Selbstlerner sich die nötigen Kompetenzen zu Hause autonom erwerben und in der Schule dann mit ihrem Lernbegleiter nur noch die letzten offengebliebenen Fragen diskutieren. Das ist zwar nicht immer ganz so innovativ wie die dazugehörige Rhetorik es propagandistisch verheißt, aber früher wäre einfach niemandem eingefallen, die Tatsache, dass Schüler etwa zu Hause einen Text von Franz Kafka lesen und dann darüber im Unterricht diskutieren, als Flipped Classroom zu bezeichnen. Auf all diese Ideen muss man erst einmal kommen, und deshalb wächst der Anteil der Bildungsreformer, gemessen an der Gesamtzahl der Bewohner der Bildungsrepublik, auch stetig an. Als neuestes Reformvorhaben haben die Bildungsreformer nun die Digitalisierung auf ihre Fahnen geheftet, in enger Verbindung zu den digitalen Industrien, den dazuge­hörigen Stiftungen und einer zukunftsoffenen Bildungspolitik propagieren sie das Programmieren, modisch auch Coding genannt, als neue Kulturtechnik und forcieren die Blasen der sozialen Netzwerke als die entscheidende pädagogische Realität. Eigentlich kafkaesk. Aber Kafka steht in keinem Lehrplan mehr.

Die Bildungskritiker

Wo viel Licht, da gibt es auch Schatten. Die von Experten, Propheten und Reformern mit Modernisierungsschüben durchflutete Bildungsrepublik hat auch ihre dunklen Seiten. Diese personifizieren sich in den Bildungskritikern. Sie kritisieren natürlich nicht die Bildung, sondern das, was unter diesem Titel gegenwärtig gehandelt wird. Es sind notorische Zweifler, Skeptiker, Querulanten, Konservative, Verweigerer und Ketzer, die sich hier zusammenfinden, sie sind wenige, aber sie kommen von allen Seiten, von rechts und links, von oben und von unten. Sie be­zweifeln die Sinnhaftigkeit einer empirischen Bil­dungsforschung, die glaubt, ohne eine Theorie der Bildung auskommen zu können. Nachdrücklich kreisen ihre Gedanken um die Frage, wie es eigentlich wäre, wirklich gebildet zu sein. Gemeinsam ist ihnen auch die Ablehnung all dessen, was alle anderen lieben: PISA und Bologna, Digitalisierung und Kompetenzorientierung, Chancengerechtigkeit und Inklusion, Wettbe­werb und Standardisierung. Diese Ablehnung kann aber völlig unterschiedliche Gründe haben. Die einen verstehen sich als Humboldtianer und sehnen sich nach dem humanistischen Gym­na­sium, den Bildungs­gütern der Antike, der Pflege der Musen und nach einer Universität, in der die Freiheit der Wissenschaft und die Einheit von Forschung und Lehre gelebt, vom Staat finanziert, aber nicht kontrolliert werden. Die anderen haben in jungen Jahren Theodor W. Adornos Theorie der Halb­bildung gelesen und sehen diese mittlerweile flächendeckend verwirklicht. Überall, in jeder Evaluation, in jeder Reform, in jeder qualitätssichernden Maßnahme wittern sie eine Ökonomisierung der Bildung aus dem Ungeist des Neoliberalismus, die Vernichtung jedes kritischen Bewusstseins, die Degradierung junger Menschen zu So­zialkapital und die Unterwerfung der Bildung unter die Interessen der Konzerne. Manche Bildungskritiker beklagen den Verlust der Leistung im Bildungsbereich, die Nivellierung der Anforderungen und die Inflation der guten Noten. Für sie sollte ein Abitur noch etwas mit umfassenden Kenntnis­sen zu tun haben und ein akademischer Abschluss mit wissenschaft­li­chen Qualifikationen. Sie verteidigen eisern, aber ver­gebens das Wissen gegen den Angriff durch die Kompetenzen. Andere wiederum beklagen die Degradierung von Bildung zur wirtschafts­nahen Ausbildung, sie verweisen auf die unsicheren Arbeitsmärkte der Zukunft, um eine Bildung zu propagieren, die auf Persönlichkeit, Charakter, Offenheit und Neugier setzt. Gemeinsam ist ihnen aber der Widerwille gegenüber einer reformorientierten Bildungsdynamik, die sich in immer mehr quantifizierenden Verfahren, Kontrollen und Tests nie­derschlägt. In der Bildungsrepublik sind sie mittlerweile zur Minderheit geworden, kaum gehört und oft einem politischen Spektrum zugeordnet, dem sie nie an­gehören wollten.

Die Bildungsnahen und die Bildungsfernen

Die Bildungsnahen und die Bildungsfernen sind erst seit Kurzem zu Bewohnern der Bildungsrepublik geworden. Auf einmal waren sie da, und keiner weiß, woher sie kamen. Sie ersetzen auch nicht die aus ­früheren Epochen bekannten Gebildeten und Ungebildeten. Denn ihr Ver­hältnis zur Bildung ist rein geografisch bestimmt. Hatte sich der Ge­bildete offenbar eine bestimmte Form der Bildung wie auch immer an­geeignet und war ihm diese zu einem Charaktermerkmal geworden, das dem Ungebildeten eben fehlte, sind die Bildungsnahen und Bil­dungs­fernen nur durch ihr räumliches Verhältnis zur Bildung bestimmt. Wäh­rend etwa für ein Kind aus einem bildungsnahen Milieu das nächste Buch in greifbarer Distanz steht, müsste das Kind aus einem bildungsfernen Milieu in einen anderen Stadtbezirk fahren, um ein solches zu finden. Oder: Der bildungsnahe Jugendliche kann schon einmal mit seinen Eltern an einem Universitätsgebäude vorbeischlendern und erfahren, dass diese dort studiert hatten; der bildungsferne Jugendliche kennt zwar bald die Nähe der sozialen Netzwerke und der digitalen End­geräte, seine Wege führen ihn aber weder zu Theatern noch Museen.

Für Bildungsnahe wie für Bildungsferne muss Bildung also etwas sein, das lokalisierbar ist, und je nach eigenem Standort ist man dieser Location dann näher oder ferner. Aber auch für den Bildungsnahen bleibt die Bildung letztlich unerreichbar, denn er kann ihr ja nur nahe kommen, nie wird er eins mit ihr, also zu einem Gebildeten. Damit umgibt sich die Bildung mit jener Aura, die Walter Benjamin einst dem Kunstwerk zugeschrieben hat: eine Ferne, so nah sie auch sein mag. Allerdings ist die Nähe zur Bildung gegeben, wenn man bestimmte In­stitutionen besucht hat und Bildungsabschlüsse – am besten Abitur und Bachelor, vielleicht auch noch einen Master welcher Art auch immer – vorweisen kann. Fehlen diese Abschlüsse, helfen auch Kenntnisse, Lektüreerfahrungen und glanzvolle Karrieren nicht weiter, das Attribut der Bildungsferne bleibt hängen, denn es fehlt der Nachweis durch Zertifikate und Leistungspunkte.