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Fürstenkrone
– Jubiläumsbox 1 –

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Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-778-3

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Liebe, sanft wie der Abendwind …

Roman von Roberta von Grafenegg

Es war ein heftiges Gewitter, das sich an diesem drückend schwülen Augustnachmittag entlud. Wie tosende Riesenwellen rollten die Donner heran, grelle Blitze schleuderten zuckend ihr bläuliches Licht in die fahle Dämmerung, und auf dem Wachturm von Burg Hoheneck drehte sich ächzend und knirschend die Wetterfahne im Sturm.

Anna hatte Kerzen bereitgelegt, wie sie es immer tat, wenn ein Gewitter heraufzog.

»Falls es einmal in die Leitung einschlägt«, meinte sie in ihrer betulichen, fürsorglichen Art.

»Es hat noch nie eingeschlagen«, lächelte die achtzehnjährige Komtesse Bianca-Maria und kniete auf der Holzbank nieder, die unter dem Fenster in der großen Burgküche stand, wo die blankgeputzten kupfernen Pfannen und Tiegel von dunklen Holzbalken herabhingen. Die Arme aufgestützt, den Kopf mit den nach Pagenart geschnittenen schwarzen Haaren in die Handfläche gelegt, so schaute sie hinaus in das Toben der Elemente. Angst? Bianca-Maria kannte keine Angst, nicht hier, denn sie war ja zu Hause und geborgen.

»Hoffentlich hat Vater rechtzeitig das Forsthaus erreicht«, sagte Bianca.

»Aber sicher.« Jetzt klang Annas Stimme sorglos. »Wenn einer sich hier mit dem Wetter auskennt, dann ist es doch der Herr Graf.«

Bianca nickte vor sich hin. »Er hat ja auch seine Revierförster für halb vier zu Erdmann bestellt. Den Wilderern soll endlich das Handwerk gelegt werden.« Sie zuckte zusammen, als mit einem aufheulenden Windstoß das Klirren und Prasseln wie von zersplitterndem Glas einherging.

»Mariaundjosef«, flüsterte Anna erschrocken, »ist denn da draußen die Hölle los?«

Bianca wandte sich um. »Irgendwo hat der Sturm ein Fenster eingedrückt. Ich seh’ einmal nach.«

Sie angelte mit den schmalen bloßen Fußen nach den Riemchensandaletten, die sie vorhin abgestreift hatte.

»Aber doch nicht jetzt, Komtesschen, bist du denn närrisch!« wehrte Anna entsetzt ab. »Wirst nicht jetzt

allein durch die Burg laufen! Hier bleibst du, bei mir, damit dir nichts passiert!«

Gehorsam setzte Bianca sich wieder hin. »Du behandelst mich immer noch wie ein Kind, Anna«, bemerkte sie schmollend, aber mit einem kleinen, lieben Lächeln zu der alten Frau hin. Anna gehörte zu Hoheneck, solange sie denken konnte.

»Für mich bleibst du’s«, erklärte Anna kurz und bündig. »Auch wenn ich eigentlich längst Sie zu dir sagen müßte…«

»Das käme mir aber komisch vor«, unterbrach Bianca sie lachend. »Ich würde dann immer denken, du wärst böse mit mir.«

»Böse«, brummelte Anna. »Nie im Leben könnte ich dir böse sein.«

»Doch, einmal warst du’s. Als ich mir meine Zöpfe abschneiden ließ. Weißt du noch?«

Mit schräggeneigtem Kopf blinzelte Bianca sie von unten herauf an.

»Ja, um dein schönes Haar hat es mir leid getan«, gab Anna zu.

»Aber ich hab’ doch immer noch genug davon!«

Lachend fuhr Bianca sich mit beiden Händen in die üppige Fülle ihres glatten, seidigglänzenden Haares.

Annas Blick glitt liebevoll darüber hin. »Du hast es von deiner Mutter«, sagte sie leise. Dann wandte sie sich verlegen ab und machte sich am Herd zu schaffen, obwohl es da jetzt eigentlich gar nichts zu tun gab.

Man sprach auf Burg Hoheneck nicht von der Gräfin Isabella, das war ein ungeschriebenes Gesetz.

Über Biancas Gesicht flog ein Schatten. Stumm drehte sie den Kopf zum Fenster, gegen das der Regen schlug. Die Gewalt des Gewitters schien gebrochen zu sein, Blitz und Donner folgten einander nur noch in größeren Abständen.

Sie hätte so gern mehr von ihrer Mutter gewußt, die – so hatte der Vater es ihr erzählt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war – kurz nach ihrer Geburt gestorben war. Aber der Name Isabella von Hoheneck war nicht auf der Marmorplatte der Familiengruft eingemeißelt. Warum gab es kein Grab von ihr, das sie mit Blumen schmücken durfte? Einmal, vor langer Zeit, hatte sie ihren Vater danach gefragt. Noch heute erinnerte sie sich an den Ausdruck von Qual, der plötzlich das sonst so beherrschte, stolze Gesicht gezeichnet hatte, als er ihr mit rauher Stimme erwiderte: »Die Antwort werde ich dir geben, wenn du erwachsen bist.« Erschrocken war das Kind damals verstummt vor der Schroffheit dieser Worte.

Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte die Großmutter, Margaretha von Hoheneck, jeden ihrer Schritte behütet. Dann hatte ein Herzschlag sie dahingerafft, und Bianca stand bitterlich schluchzend am offenen Grab. Sie weinte um die Großmutter, und sie weinte auch um die Mutter, die sie nie gekannt hatte.

Bald darauf schickte Graf Veidt seine Tochter in ein sehr exklusives Schweizer Töchterpensionat, um ihr eine erstklassige Erziehung angedeihen zu lassen. In den Ferien war Anna da, die der Heranwachsenden Wärme und zärtliche Fürsorge schenkte. Anna führte den Haushalt auf Burg Hoheneck, sie war eine schlichte Frau, doch mit einem guten Herzen, aufrichtig und treu.

Vor einem halben Jahr war Bianca-Maria von Hoheneck heimgekehrt, eine fertige junge Dame und doch noch das gleiche liebenswerte, unverbildete Geschöpf von natürlicher Anmut, das sie immer gewesen war. Sie genoß es sehr, der strengen, fast klösterlichen Zucht des Internats entronnen zu sein, sich so salopp kleiden zu können, wie es der jungen Mode entsprach, und auf ihrer bildschönen weißen Schimmelstute Schneeflocke, die der Vater ihr zum glänzend bestandenen Abitur geschenkt hatte, durch die riesigen Wälder von Hoheneck zu streifen.

»So, jetzt wirst du mich nicht mehr zurückhalten, Anna«, sagte Bianca energisch und knüpfte die Riemchen an ihren Sandaletten fest. »Ich will jetzt wissen, was vorhin passiert ist. Wenn wirklich ein Fenster entzweigegangen ist, wird es dort hereinregnen, und es könnten Möbelstücke beschädigt werden. Dagegen muß man was tun!«

Mit aufmerksamen Augen schritt die Komtesse durch die langen Gänge mit ihren hohen Bogenfenstern. Wo hatte der Sturm ein Unheil angerichtet? Dort, wo die Wendeltreppe mit dem kunstvoll geschmiedeten Eisengeländer hinaufführte in den großen Rittersaal, ging der Blick durchs Fenster auf den Burghof und den anderen Flügel der Burg. Und da entdeckte sie im ersten Stock, gleich neben dem Turm, die zerbrochene Scheibe. Das war Großmamas Zimmer!

Bianca nahm den kürzeren Weg durch den Rittersaal mit seinen mittelalterlichen Rüstungen, den Waffen aus verschiedenen Jahrhunderten und den sich aneinanderreihenden Ahnenbildern, die würdig und mehr oder weniger ausdrucksvoll von den Wänden herabblickten.

Nur mein Ebenbild Charlotte fehlt, dachte Bianca mit flüchtigem Lächeln, als ihr eine leere Fläche zwischen den Bildern ins Auge sprang. In London fand zur Zeit eine Ausstellung des Lebenswerkes des berühmten englischen Malers statt, zu dessen schönsten Gemälden das Bildnis der Gräfin Charlotte von Hoheneck gehörte.

»Wir verleihen keine Bilder«, hatte Graf Veidt ablehnend geäußert, als ein vorsichtig formuliertes Schreiben der Museumsleitung eintraf. Doch einige Wochen später war ein ebenso höflicher wie liebenswürdiger Brief von Lord Argyll gekommen, einem Vetter der Königin, mit der Bitte, das Gemälde für die Dauer der Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Widerstrebend hatte Graf Veidt endlich zugesagt. Daraufhin war ein Abgesandter des Lords auf Hoheneck erschienen, um den Transport der kostbaren Fracht persönlich zu überwachen. Und nun konnten also die Londoner in der Tate-Gallery das Bild der Ahnfrau Charlotte bewundern, das beinahe ein Bild der jungen Komtesse Bianca-Maria hätte sein können, denn eine Laune des Schicksals hatte es gefügt, daß diese ihr, die zwei Jahrhundert früher gelebt hatte, auf verblüffende Weise ähnlich sah.

Bianca gelangte über einen schmalen Wendelgang zu den Wohnräumen der Gräfin Margaretha, die hier lange allein gelebt hatte, da sie früh verwitwet war.

Behutsam drückte Bianca die Türklinke nieder und blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Ja, ausgerechnet hier, in Großmamas Boudoir, fehlte eine Fensterscheibe. Glassplitter lagen auf dem rosenholzfarbenen Anbussonteppich verstreut, eine Wasserlache hatte sich auf der marmornen Fensterbank und darunter

auf dem Parkettfußboden gebildet, Regenspritzer bildeten häßliche schwarze Flecken auf der Seitenwand des

entzückenden venezianischen Schreibsekretärs, der rechts vom Fenster stand.

Mit einiger Kraftanstrengung gelang es Bianca, das zierliche Möbelstück tiefer ins Zimmer zu rücken, wo es geschützt stand. Dabei entdeckte sie auf dem frei gewordenen Platz, zwischen Fußleiste und Teppichrand, den lang vermißten, kleinen verschnörkelten Schlüssel, mit dem man die Schrägklappe öffnen konnte, die die Schreibplatte abgab. Bianca bückte sich danach und steckte den Schlüssel ins Schloß.

Am Ende des Ganges war hinter einer Tapetentür ein Kämmerchen, in dem sich, ordentlich aufgereiht, allerlei Putzmaterial befand. Bianca bewaffnete sich mit Kehrschaufel und Besen, Eimer und Wischtüchern und schaffte mit flinken, geschickten Bewegungen Ordnung in Großmamas Boudoir. Sie fand, daß sie sich nichts dabei vergab, wenn sie, wo es nottat, rasch einmal selbst zupackte.

Zufrieden sah sie sich nach getaner Arbeit um, schlug den Teppich noch ein Stück weiter zurück. Nun konnte nichts mehr passieren, und gleich morgen wollte sie dem Glaser Bescheid sagen, daß er eine neue Scheibe einsetzte.

Der wolkenbruchartige Regen hatte nachgelassen, die hereinströmende Luft war frisch und würzig.

Mit versunkenem Lächeln stand Bianca da, und Erinnerungen an ihre Kindheit stiegen auf.

Großmama – sie hatte alles Schöne so geliebt, im Gegensatz zu ihrem Sohn, der dem Vater nachschlug und wenig Kunstsinn besaß, auch überfeinerte Kultur ablehnte.

»Wir sind Landjunker, wir Hohenecks«, hatte schon der alte Graf stolz gesagt, und die Großmama hatte einmal lachend geäußert, daß, wenn man auf Hoheneck die Männer regieren ließe, die Burg bald einem Holzfällerlager gleichen würde.

»Und meine Mutter?« hatte das Kind Bianca-Maria gefragt. »Dachte sie auch immerzu nur an das Land und die Wälder – oder fand sie auch noch andere Dinge schön, so wie du, Großmama?«

»Sie fand die anderen Dinge schöner, und das war ihr Unglück.«

Bianca schrak ein wenig zusammen; die Melodie der alten Spieluhr war verklungen, es war plötzlich still im Zimmer geworden, und in dieser Stille hatte sie die Stimme der Großmutter zu hören geglaubt. Seltsame Worte, die sie damals gesprochen hatte. Das Kind hatte sie nicht verstanden und vergessen, aber irgendwo im Unterbewußtsein waren sie haftengeblieben.

So war sie unglücklich gewesen, ihre Mutter?

Bianca trat an den Schreibsekretär, fuhr mit den Fingerspitzen gedankenverloren und wie liebkosend zart über die Lackmalereien, die Blumenmotive, von Blattranken umrahmt, zeigten. Wie oft hatte die Großmama hier davorgesessen und lächelnd aufgeblickt, wenn die Enkelin zu ihr gekommen war. Was sich wohl alles in diesem Schreibsekretär verbergen mochte? Vorsichtig drehte Bianca den kleinen verschnörkelten Schlüssel im Schloß, und mit leisem Knarren ließ sich die Schreibplatte herunterklappen.

Unwillkürlich zog sich Bianca den Polsterstuhl heran und setzte sich. Neugierig zog sie eine der vielen kleinen Schubladen heraus.

Bunte Bänder, ein Elfenbeinfächer mit Inschriften, Papierblüten… Sicherlich Erinnerungen an längst vergangene Bälle.

Das nächste Fach enthielt kindliche Handarbeiten, die Bianca ihrer Großmama früher zu Weihnachten oder zum Geburtstag angefertigt hatte. Mit einem Lächeln sah sie die Lesezeichen, die gemalten Buchhüllen, die Eierwärmer, und was es da alles gab. Liebevoll hatte die Großmama jedes Stück verwahrt.

Wieder zog sie eine der vielen kleinen Schubladen auf, irgendeine. Briefe lagen darin, von einem rosé Seidenband umschlungen, das schon ein wenig grau geworden war. Bianca nahm sie heraus, blickte auf die feine, wie gestochen wirkende Schrift ihrer Großmama. Es waren Briefe, die sie als Verlobte ihrem zukünftigen Mann, dem Grafen Eckardt von Hoheneck, geschrieben hatte. Briefe, die für keines anderen Menschen Auge bestimmt waren. Ein leiser, verwehter Duft wie von Lavendelblüten stieg davon auf.

Behutsam wollte Bianca sie in das Schubfach zurücklegen, als sie darin noch einen größeren, festen Umschlag entdeckte. Sie nahm ihn in die Hand. Seltsam, er war zugeklebt, und es fühlte sich an, als sei ein schmales Buch darin.

Als sie das Päckchen umdrehte, las sie auf dem verschlossenen Umschlag die Aufschrift. Mit großen schwungvollen Buchstaben stand da: »Für meine Tochter Bianca-Maria.« Einen Augenblick saß Bianca wie erstarrt, dann begann ihr Herz dumpf zu klopfen. Das war von ihrer Mutter für sie bestimmt. Warum gelangte es erst jetzt und nur durch Zufall in ihre Hände?

Mit bebenden Fingern riß Bianca den Umschlag auf. Sie hielt ein Tagebuch in der Hand, mit Goldschnitt und in feinstem rotem Saffianleder gebunden. Rechts in der Ecke trug es die verschlungenen Anfangsbuchstaben IM, Isabella Montini. Es stammte also noch aus der Mädchenzeit ihrer Mutter, denn Gräfin Isabella von Hoheneck war eine geborene Montini gewesen. Ihr Vater, Conte Amadeo Montini, hatte eine deutsche Prinzessin aus dem Hause Lüssow geheiratet.

Mit einer fast scheuen Geste schlug sie das Büchlein auf und sah einen Brief darin liegen, den sie voller Spannung entfaltete.

Mein liebes Kind! las sie mit klopfendem Herzen. Dieses Tagebuch soll Dir Deine Großmutter geben, wenn sie die Stunde für gekommen hält. Lies es und verurteile mich nicht zu hart. Was andere Menschen Gnade nennen, kann auch ein Fluch sein. Ich mußte dafür das Liebste hergeben, was ein Mensch besitzen kann: mein Kind.

Gott schütze Dich, Bianca-Maria.

Deine Mutter

Erregt und verwirrt blickte Bianca auf die Zeilen. Sie verstand den Sinn dieser Worte nicht, und eine seltsame, bange Ahnung ergriff sie.

Es gab etwas im Leben ihrer Mutter, was man vor ihr verborgen hatte. Aber was konnte das sein? Eine Schuld? Kaum denkbar.

Doch selbst wenn Gräfin Isabella von Hoheneck in ihrem jungen, kaum einundzwanzig Jahre währenden Leben schuldig geworden war – löschte der Tod nicht alles aus?

Biancas Gesicht hatte einen ernsten, grüblerischen Ausdruck. Das rote Saffianbändchen wog schwer in ihrer Hand.

Verurteile mich nicht so hart, schrieb die Mutter.

Wie durfte sie sich anmaßen, ihre Mutter zu verurteilen?

Ein Geräusch von der Tür her ließ sie herumfahren. Der Diener Rolf stand dort und verbeugte sich.

»Verzeihung, Anna hat mich geschickt, um nach der gnädigsten Komtesse zu sehen.«

»Es ist gut, Rolf.« Geistesabwesend steckte Bianca Brief und Buch in den Umschlag zurück. Dann besann sie sich. »Ist mein Vater schon wieder da?«

»Nein, gnädigste Komtesse.«

Der Diener betrachtete die leere Fensterhöhlung und machte ein besorgtes Gesicht.

»Sollte man da nicht ein paar Bretter davornageln, bis der Glaser kommt? Es sieht doch aus, als würde es noch mehr Regen geben«, meinte er.

»Ja, tun Sie, was Sie für richtig halten, Rolf. Vielleicht hat Martens einige passende Bretter im Schuppen.«

Komtesse Bianca sagte es etwas mechanisch, denn ihre Gedanken waren noch bei dem Brief. Aber sie war nicht böse, daß sie gestört worden war. Sie behielt den Umschlag mit dem Tagebuch in der Hand, während sie mit der Rechten die Platte des Schreibsekretärs hochklappte und den Schlüssel herumdrehte.

Heute abend erst wollte sie sich in das Tagebuch versenken. Wenn alle dachten, sie schliefe schon, würde sie noch beim Schein der Lampe in ihrem Zimmer sitzen und lesen – und glauben, ihre Mutter spräche zu ihr.

*

»Halt – wer ist da? Die Ausstellung ist längst geschlossen!«

Der alte Mann, der in dieser Nacht in der Pförtnerloge Dienst tat, bemühte sich, seine Stimme recht forsch klingen zu lassen. Er war ein wenig eingenickt und hatte, aufschreckend, gerade noch den Schatten des Mannes gesehen, der rasch und zielsicher, als kenne er sich hier aus, durch die weite, halbdunkle Halle schritt.

Der späte Besucher wandte sich um.

»Ich bin’s, Lawson. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich Eure Lordschaft nicht gleich erkannt habe«, stotterte der Alte und blinzelte verwirrt der hochgewachsenen, schlanken und doch kräftigen Gestalt nach. Er kam wirklich zu den unmöglichsten Zeiten – es ging doch schon auf zehn! Nun, niemand konnte es ihm verwehren, dem Vetter der Königin, dem Kunstfreund und Mäzen, die Galerie zu jeder beliebigen Zeit zu betreten, denn das ganze Haus gehörte ihm. Unter anderen – wie viele Häuser die Argylls besaßen, wußten sie wohl selbst nicht genau.

Ja, so ging es im Leben, sinnierte der alte Lawson vor sich hin, die einen wußten nicht, wie sie mit ihrer winzigen Rente zurechtkommen sollten, und die anderen hatten Mühe, ihr Vermögen zu übersehen.

Von den Gedanken des Pförtners ahnte Georg Bernard Argyll nichts. Seine Schritte hallten in den Sälen, in denen nur die Nachtbeleuchtung eingeschaltet war. Sie gab genügend Licht, um die Bilder und Statuen zu erkennen. Alle diese Meisterwerke sahen jetzt anders aus als bei Tag, wenn die Studenten und die Leute mit dem Baedeker hier umherwanderten. Jetzt hüllte sie die Stille ganz ein und ließ sie, seltsam genug, auf eine andere Weise lebendig werden. Und dann stand er endlich vor dem Bild, um dessentwillen er jetzt am Abend noch einmal hergekommen war, weil es ihm keine Ruhe ließ.

Er war doch kein Träumer und kein Phantast – woran lag es also, daß ihm das Gemälde des alten Meisters und das, was es verkörperte, seit Tagen nicht mehr aus dem Sinn ging, genauer gesagt, seit jener Stunde, da Harry Walker das kostbare Stück aus Deutschland vor seinen Augen ausgepackt hatte.

Langsam hob er den Blick zu dem schönen jungen Gesicht unter dem breitrandigen weichen Hut. Die großen dunklen Augen sahen ihn an, fragend, erwartungsvoll, und wieder stand der Mann wie gebannt und vermochte sich nicht zu wehren gegen die starke Faszination, die von diesem zauberhaften Bildnis ausging. War es nicht, als schimmere die zarte Haut wie von pulsierendem Leben, als würden sich die süßen lächelnden Lippen gleich öffnen, um zu ihm zu sprechen?

Gewaltsam riß er seinen Blick los und schüttelte den Kopf über sich selbst.

Mir scheint, du wirst wirklich allmählich ein spleeniger alter Junggeselle, Georg Bernard, wie deine liebe Schwester Dorothy es dir schon prophezeit hat, verspottete er sich.

Ach, Unsinn, es war dieses diffuse und fast gespenstische Dämmerlicht, daß man auf so verrückte Gedanken kommen konnte.

Als Lord Argyll nach einer Weile den Saal verließ, hatte er das Gefühl, als sähen die brunnentiefen schwarzbraunen Augen ihm nach. Er hatte das Gegenteil von dem erreicht, was er mit seinem abendlichen Besuch bezweckte. Das holde, süße Antlitz Charlotte von Hohenecks ließ ihn nicht mehr los.

Draußen schlug er das Verdeck seines Wagens zurück, setzte sich ans Steuer und fuhr langsam durch die warme Nacht. Er hatte Lust, noch eine Stunde mit seinem Freund Thomas zu reden, das würde ihn auf andere Gedanken bringen.

Thomas Dylan wohnte in Chelsea, dem Künstlerviertel im Westen Londons, zwischen Themse und Hydepark. Er war Maler, und er war Georg Ar­gylls Freund, dieser eigenwillige junge Mann, der ein Porträt nur dann malte, wenn er ein künstlerisches Interesse an dem Antlitz hatte, das er darstellen sollte. Anderenfalls lehnte er den Auftrag ab, selbst dann, wenn sein Auftraggeber sehr einflußreich war. Ansonsten malte er leuchtende, traumverlorene Bilder, die wie verrückt gekauft wurden, um unsinnige Summen. Von Leuten, die meist nicht viel davon verstanden, aber das Geld hatten.

In seiner Wohnung, die neben dem Atelier mit den riesigen Glasfenstern lag, war noch Licht, wie nicht anders zu erwarten war, denn Thomas ging nie vor Mitternacht schlafen.

»Hallo, Georg! Nett, dich zu sehen.« Ungezwungen und herzlich begrüßte Dylan seinen späten Gast.

Die beiden Männer waren nur wenige Jahre auseinander, doch wirkte Dylan wesentlich jünger, weil seine Bewegungen rasch, lebhaft und impulsiv waren, sie verrieten Temperament und Leidenschaft. Aus seinen blauen Augen sprühte Lebensfreude, und wenn er lachte, blitzten die weißen Zähne in seinem gebräunten Gesicht.

Lord Argyll wirkte dagegen sehr gemessen, ihm war eine gewisse Würde eigen, die er schon als ganz junger Mensch besessen hatte. Aus seinem schmalen, markanten Gesicht blickten die grauen Augen meistens kühl und prüfend, und nur wer ihn näher kannte, wußte, daß sich hinter seiner etwas steifen Wesensart ein warmherziger Mensch verbarg, der nur eine Scheu davor hatte, Gefühle zu zeigen.

»Du hast Besuch, Thom?« erkundigte sich Georg, als er in der Diele Stimmen aus dem angrenzenden Salon vernahm.

»Harry ist da, und Professor Fleming, mein alter Lehrer. Er hat gerade mein letztes Bild in tausend Fetzen zerrissen – aber nur mit Worten, glücklicherweise. Er hält es für eine kindliche Kleckserei, nichts weiter. Wenn es nach ihm ging, müßte ich verhungern.«

Mit den letzten lachend geäußerten Worten hatten Dylan und der Lord den Salon betreten.

»Glauben Sie diesem Burschen kein Wort, Mylord«, sagte der weißhaarige Professor mit einem versteckten Lächeln und erhob sich, um den Gast zu begrüßen. »Er verdient es gar nicht, so begabt zu sein!«

»Aber der Erfolg gibt ihm recht, Sir!« erwiderte der Lord heiter und wandte sich dann an Harry Walker. »Hallo, Harry! Schon wieder zurück? Ich glaubte Sie auf einer Auktion in

Südengland.«

»Uninteressant, Lord Georg. Die besten Stücke waren schon vorher unterderhand verkauft worden.«

Die Unterhaltung verlief sehr angeregt, blaue Rauchwölkchen stiegen zur Decke, goldbraun funkelte der Whisky in den Gläsern, und wieder einmal kam es Lord Argyll zum Bewußtsein, wie wohl er sich doch in diesem Kreis fühlte. Er war als Sohn des Herzogs von Argyll von so vielen Schmeichlern umgeben, die ihm nur zu gern nach dem Munde redeten und dabei ihre eigenen Vorteile suchten. Hier dienerte man nicht vor ihm, man schätzte ihn als Diskussionspartner und beachtete seine Meinung, nicht weil er Georg Argyll war, sondern weil er wirklich etwas von Kunst verstand.

»Haben Sie eigentlich schon gehört, Lord Georg«, wandte der Kunsthändler Harry Walker sich im Laufe des Gesprächs an sein Gegenüber, »daß ein Amerikaner eine märchenhafte Summe für das Gemälde der Charlotte von Hoheneck geboten hat? Er will einfach nicht einsehen, daß es unverkäuflich ist, und er hat schon den Wunsch geäußert, mit dem Besitzer selbst zu verhandeln.«

Der Lord verzog den Mund zu einem kleinen, resignierten Lächeln und beugte sich vor, um die Asche von seiner Zigarette zu streifen.

»Nicht alles ist mit Geld zu kaufen«, sagte er dabei halblaut vor sich hin.

Zustimmend nickte Harry Walker und bemerkte auflachend: »Der alte Graf würde die Hunde auf jeden hetzen, der mit einem solchen Ansinnen an ihn heranträte.«

»Warum? Ist das so ein Wüterich?« warf Thomas Dylan erheitert ein.

»Nun, so würde ich es nicht gerade nennen. Aber er ist hochmütig und stolz, der Herr von Hoheneck. Er sieht nicht aus, als ob er mit sich handeln ließe. Er hat es ja auch nicht nötig, denn sein Besitztum reicht weiter, als das Auge blicken kann.«

Interessiert sah der Lord Harry Walker an.

»Sagten Sie nicht, der Graf hauste auf einer alten verlassenen Burg?«

»Ja, aber dazu gehören riesige Wälder und Ländereien. Und die Burg macht zwar einen verlassenen Eindruck, wie sie da oben auf dem Felsen in der Einsamkeit thront, aber trotzdem oder gerade deshalb verkörpert sie ein Stück deutscher Romantik, wie sie im Buche steht. Man wird unwillkürlich an die alten Sagen erinnert, an die Lieder der Minnesänger, und das Töchterlein des Grafen ist so bezaubernd und anmutig, daß man es sich gut im wallenden Gewand und mit dem Spitzhut des Burgfräuleins vorstellen kann.«

»Hat sie etwa auch noch lange blonde Locken und blaue Augen?« fragte der Maler lachend.

Harry Walker schüttelte den Kopf.

»Sie ist dunkel, und die Farbe ihrer Augen wechselt von einem tiefen, samtenen Braun bis zum Schwarz.«

»Hört, hört, er scheint sie sich genau angeguckt zu haben!« rief Thom Dylan neckend aus.

»Keine falschen Verdächtigungen bitte, ich bin glücklich verheiratet«, wehrte der Kunsthändler mit gespielter Gekränktheit ab. »Ich hatte nur Gelegenheit, einige Stunden mit der Komtesse zu plaudern, die, nebenbei gesagt, eine sehr gescheite junge Dame ist. Sie hat mir die Burg gezeigt, deren Räume so manche Schätze bergen, die das Herz eines alten Kunsthändlers höher schlagen lassen, und sie war dabei dem fremden Gast gegenüber sehr liebenswürdig – wahrscheinlich, um die Zugeknöpftheit ihres Herrn Vaters auszugleichen. Sie hat mir sogar selbst dabei geholfen, das Bild ihrer Ahnfrau sorgfältig zu verpacken, der sie übrigens unheimlich ähnlich sieht.«

Lord Georgs Herz klopfte plötzlich rascher.

»Die Komtesse sieht Charlotte von Hoheneck ähnlich?« wiederholte er mit belegter Stimme.

»Und wie, es ist nicht zu fassen«, bestätigte Harry Walker. »Wenn man ihr dasselbe goldfarbene Krinolinenkleid mit den Puffärmeln anzöge, ihr den gleichen Schmuck um den entblößten Hals legte und den breitrandigen Hut aufsetzte – Komtesse Bianca-Maria gliche Charlotte von Hoheneck, als sei diese von der Leinwand herabgestiegen.«

Mit gesenkten Lidern griff der Lord zu seinem Glas, nahm einen Schluck und setzte es langsam zurück. Sein Gesicht war völlig beherrscht, und seine Stimme klang gelassen, beinahe gleichgültig, als er nach einem kleinen Schweigen sagte:

»Es ist möglich, daß ich demnächst einen kleinen Trip nach Deutschland mache. Bei dieser Gelegenheit könnte ich nach beendeter Ausstellung das Gemälde an seinen Besitzer zurückgeben.«

*

Der Nachtwind rauschte in den Kronen der alten Bäume, die Luft war kühl, die durch das halbgeöffnete Fenster hereindrang, doch das Mädchen, das zusammengekauert im Sessel unter der Stehlampe saß, hatte die Umwelt vergessen. Bianca-Maria las das Tagebuch ihrer Mutter. An ihrem siebzehnten Geburtstag hatte Isabella Contessa Montini es mit folgenden Worten begonnen:

Nie habe ich geglaubt, daß ein Mensch so glücklich sein kann! Und obwohl Mitternacht schon vorbei ist und meine Füße müde vom Tanzen sind, ach, nie werde ich ihn vergessen, diesen ersten Ball meines Lebens, drängt es mich doch, noch in dieses Buch zu schreiben, das Mama mir heute morgen mit einem lieben, zärtlichen Lächeln in die Hände gab. So glatt und weiß sind die Seiten noch, so unberührt, und mich erfaßt ein seltsames Gefühl. Was werde ich ihnen alles anzuvertrauen haben, diesen glatten weißen Seiten?

Mit einer großen Freude kann ich anfangen: Papa hat mir erlaubt, nach Florenz zu gehen, und das ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das er mir machen konnte. Er hat mit Professor Lucas eine Unterredung gehabt und widersetzt sich nun meinem Wunsch nicht länger, Musik zu studieren. Wie es dem Professor wohl gelungen ist, ihn umzustimmen? Freilich weiß auch Papa, daß es im Grunde eine Ehre ist, von dem großen Meister als Schülerin angenommen zu werden.

Ich soll in Florenz bei Tante Angela wohnen, die ich noch gar nicht kenne. Aber sie soll sehr nett sein, hat Papa gesagt, der sie allerdings auch seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Wir haben ja überhaupt nur wenig Verbindung mit unseren italienischen Verwandten, da Papa schon seit so vielen Jahren hier als Konsul lebt. Mama möchte auch nie fort aus Deutschland, aber ich freue mich doch sehr darauf, Papas Heimat einmal kennenzulernen, und ich werde mich dort sicher rasch einleben.

In mir singt und klingt es, und am liebsten würde ich jetzt schon hinunter ins Musikzimmer gehen und mich an den Flügel setzen und spielen, um meinem Jubel Ausdruck zu geben. Aber das würde meine Gäste stören, die wohl schon schlafen, denn das Fest sollte um Mitternacht zu Ende sein, so hatten meine Eltern es bestimmt.

Ich schreibe meine Gäste, weil sie ja eigens zu meinem Geburtstag angereist gekommen sind, Vetter David, meine Freundin Christine und ihre Schwester Zia, die aber erst sechzehn ist und eigentlich noch gar nicht so lange hätte aufbleiben dürfen. David hatte einen Freund mitgebracht, der schon zweiundzwanzig Jahre alt ist. Beim Tanz hat Ferdinand, so heißt er, geraunt, mein Mund sei wie eine Rosenknospe, und mein Haar schwarze knisternde Seide.

Ich konnte nicht anders – ich mußte herausplatzen, obwohl das natürlich sehr ungehörig war. Er machte auch prompt ein beleidigtes Gesicht, und ich bat ihn reumütig um Verzeihung. Ob man wohl öfter so etwas Dummes zu hören bekommt, wenn man erwachsen ist? Wie dem auch sei, ich finde es trotzdem herrlich, seit heute erwachsen zu sein.

Die nächste Eintragung war am 1. September gemacht, zehn Tage später.

Wie schnell sind die Tage dahingegangen! Ich mußte mich doch von allen unseren Bekannten und Verwandten verabschieden, und das nahm eine Menge Zeit in Anspruch. Außerdem hat Mama mit mir noch viele Einkäufe gemacht, wunderschöne Sachen hat sie mir gekauft, unter anderem zwei helle Koffer aus feinstem Leder und das dazu passende Reisenecessaire, alles zusammen auf mein todschickes neues Herbstkostüm abgestimmt. Sie ist wirklich schrecklich lieb, meine Mama, daß sie mich so verwöhnt, und dabei merke ich es ihr an, daß sie im Grunde ihres Herzens traurig ist, weil ich fortgehe.

Soll ich lieber hierbleiben, Mama? fragte ich sie gestern, als ich merkte, wie sie immer stiller wurde beim Zusammenstellen meiner Reisegarderobe.

Doch sie lächelte nur tapfer und erwiderte: Alle Mütter müssen es ertragen, daß ihre Kinder irgendwann aus dem Haus gehen.

Ich war erleichtert über ihre Antwort, denn – in diesem Tagebuch will ich immer ganz ehrlich sein, auch mir selbst gegenüber – ganz ernst war meine Frage nicht gemeint, ich bin so durchglüht von dem Wunsch, mein Ziel zu erreichen, daß mich nun nichts mehr davon abhalten könnte, zu Meister Lucas nach Florenz zu gehen.

Eines Tages will ich so spielen können, daß die Menschen, die mir zuhören, erst begreifen, was Musik ist!

15. September. Meine Koffer sind gepackt, ich muß nur noch dieses Buch obenauf in die große Reisetasche legen. Ich bin schrecklich aufgeregt und völlig durcheinander, ich weiß nicht, ob ich jubeln oder weinen soll. Jubeln, weil mein kühnster Traum sich erfüllt, und weinen, weil ich mich von allem lösen muß, was mich bisher umgeben hat. Selbst unser Schäferhund Arco, der mich immer auf Schritt und Tritt begleitet hat, sieht mich an, als bettelte er: Bleib doch hier!

Mama kommt. Übermorgen werde ich in Florenz weiterschreiben…

20. September. Ach nein, am Tag meiner Ankunft war ich doch abends viel zu müde, um noch in mein Tagebuch zu schreiben, das mir doch jetzt schon so lieb und vertraut geworden ist wie eine Freundin, die immer für mich da ist. Und dann mußte ich ja auch erst einmal ausführlich nach Hause berichten, wie wunderschön es hier ist. Florenz ist eine herrliche Stadt unter einem Himmel, über dessen Bläue noch keine Wolke gezogen ist, seit ich hier bin.

Tante Angela wohnt in einem säulengeschmückten weißen Haus an einem der Hügel im Süden der Stadt, von wo aus man eine prachtvolle Aussicht hat. Sie lebt dort ganz allein, sie war auch nie verheiratet, und das wundert mich sehr, denn man sieht ihr die einstige Schönheit heute noch an. Ich stelle mir vor, daß eine unglückliche Liebe der Grund dafür ist, daß sie allein blieb. Ich fühle mich bei ihr schon beinahe wie zu Hause. Vor zwei Tagen habe ich mein Studium in der Musikhochschule begonnen. Wie hatte ich mich darauf gefreut, nun die Werke der großen Komponisten spielen zu dürfen, und ich schlug auch gleich die Noten zu einem Klavierkonzert von Bruckner auf.

Aber Professor Lucas lachte nur, er nahm sie mir fort und sagte: Soweit sind wir noch lange nicht, mein Kind! Meister fallen nicht vom Himmel, und Anfänger müssen mit Fingerübungen beginnen. Deine Technik ist nämlich miserabel, falls du das noch nicht wissen solltest.

Ja, miserabel sagte er. Ich war wie vernichtet. Nun muß ich doch wahrhaftig wieder Etüden spielen, die ich hasse, seit ich damit bei Fräulein Zienkann vor sechs Jahren anfing. Ich möchte nur eins wissen: warum der große Lucas mich als seine Schülerin angenommen hat, wenn er mich doch für eine Stümperin hält. Leider habe ich zuviel Respekt vor ihm, um ihn das zu fragen.

Bianca-Maria, die bis dahin ganz versunken gewesen war in ihre Lektüre, hielt einen Moment inne, ein leises, mitfühlendes Lächeln um ihren Mund. Arme Mama, mit so viel Hoffnungen war sie ausgezogen und wurde so bitter enttäuscht. Aber wie ging es weiter?

Mit großer Spannung las sie die nächsten Seiten, in denen Isabella Montini, die spätere Gräfin von Hoheneck, über ihr Leben in Florenz berichtete. Von den großen Kunstschätzen, die sie bewunderte, von sonntäglichen Ausflügen mit Tante Angela in die schöne Umgebung, gelegentlich auch von einem abendlichen Bummel mit Studienfreunden.

So verging ein Jahr. Hart wurde Isabella manchmal ihr Studium, denn Professor Lucas schenkte ihr nichts, und er faßte sie auch nicht gerade mit Samthandschuhen an. Manche heimliche Träne weinte sie, und es konnte geschehen, daß sie an sich selbst zweifelte und sich fragte, ob dies alles überhaupt einen Sinn hatte.

Doch allmählich begriff die junge Isa­bella, wie notwendig und richtig diese harte Schule gewesen war. Auch einen Diamanten muß man erst schleifen, hatte Professor Lucas gesagt. Als er sie endlich an die Werke der großen Meister im Reiche der Musik heranführte, merkte sie, wieviel sie dazugelernt hatte. Nun konnte sich ihre Begabung voll entfalten, ungeahnte in ihr schlummernde Kräfte wurden frei, und ihr zweites Jahr in Florenz verging in einem wahren Schaffensrausch. Im Herbst sollte die Meisterschülerin von Professor Lucas zum ersten Mal vor einem ausgewählten Kreis in der Öffentlichkeit auftreten. Doch einige Wochen vorher lernte Isabella Montini den Grafen Veidt von Hoheneck kennen.

Bianca-Maria fuhr mit angehaltenem Atem in ihrer Lektüre fort:

Was ist das nur für ein Mensch, dieser Graf Veidt von Hoheneck? Ich muß immer wieder an ihn denken und vergesse darüber sogar, daß ich morgen im Schülerkonzert das Andante von Mozart spielen werde. Ist mir der fremde Mann denn plötzlich wichtiger geworden?

Aber ich will alles der Reihe nach erzählen.

Papa weilt seit einigen Tagen in Florenz. Er hat an einem Empfang in der Botschaft teilgenommen, und zu dem anschließenden Ball war auch ich als seine Tochter eingeladen. Papa kaufte mir dafür ein traumhaftes Kleid. Es ist aus zitronenfarbener florentinischer Seide, und auch Tante Angela findet, daß es gut zu meiner bräunlichen Haut und den schwarzen Haaren paßt. Ich erkannte mich kaum wieder, denn eine solche kostbare Ballrobe habe ich ja noch nie besessen. Das Haar trug ich dazu hochgesteckt, mit einem bezaubernden halbmondförmigen Diadem aus Perlen und Brillanten, das Tante Angela mir aus ihrer Schmuckschatulle gab. Eines Tages wird dir sowieso alles gehören, sagte sie dabei. Ich glaube, sie hat mich richtig lieb gewonnen, und das macht mich sehr froh.

Papa kannte viele der anwesenden Gäste und stellte mich ihnen vor. Ich unterhielt mich gut, lachte und plauderte und fühlte mich wohl in diesem Kreis. Einige junge Herren bemühten sich um mich, und ich ging, ein Glas Champagner in der Hand, auf ihr heiteres, leichtes Geplänkel ein.

Plötzlich hatte ich das intensive Gefühl, jemand sähe mich an – es war ganz sonderbar, wie ein Ruf, und unwillkürlich blickte ich mich um. Da sah ich in zwei stahlgraue Augen, die in einem kühn geschnittenen, sehr männlichen Gesicht blitzten. Der Blick dieser Augen war fest auf mich gerichtet, und ich sah einen Ausdruck darin, der mir die Röte in die Wangen trieb und meine Gedanken verwirrte.

Einen Moment stand ich wie gebannt, dann wandte ich mich hastig ab. Aber während ich mechanisch lächelte und irgendwelche belanglosen Worte sagte, mußte ich immer noch an den hochgewachsenen, breitschultrigen Fremden denken, dem der erstklassig gearbeitete Frack zwar vorzüglich stand, zu dem aber irgendwie besser eine Ritterrüstung gepaßt hätte. Merkwürdige Empfindung!

Er war mir vorhin schon einmal aufgefallen, als ich ihn zufällig etwas abseits mit undurchdringlichem Gesicht an einem der hohen Fenster stehen sah, als interessiere ihn das festliche Gewoge nicht sonderlich, ja, als mache er sich heimlich fast ein wenig lustig darüber.

Ich wehrte mich dagegen, mich in meinen Gedanken mit ihm zu beschäftigen. Was ging mich dieser Fremde an!

Um neun wurde der Ball eröffnet. Ich war voll froher Erwartung, denn seit sehr langer Zeit hatte ich nicht getanzt. Der große Saal mit den vielen geschliffenen Spiegeln und dem glänzenden Parkettboden würde einen wundervollen Rahmen bieten.

Darf ich Sie um diesen Tanz bitten? Das waren die ersten Worte, die ich von dem Fremden hörte, der plötzlich vor mir stand und sich verbeugte, noch ehe einer der anderen Herren Gelegenheit hatte.

Wieder überfiel mich diese Verwirrung, stärker noch als vorhin, als er mich angesehen hatte, und mein Herz klopfte, daß ich es bis in den Hals hinein spürte.

Bevor er auf der Tanzfläche seinen Arm um mich legte, verbeugte er sich nochmals und nannte seinen Namen: Veidt von Hoheneck.

Dann tanzten wir den ersten Walzer zusammen. Es war berauschend, ein einziger Schwung, und nur die Kristall-Kronleuchter über mir drehten sich wie verzaubert mit ihren unzähligen Kerzenflammen. Als meine Füße wieder den Boden berührten – ja, es war wirklich so, als sei ich während des Tanzes dahingeschwebt – sah er mich lächelnd an, und ich lächelte auch.

Sie sind sehr schön, Contessa, sagte Veidt von Hoheneck, als unsere Blicke sich trafen. Aus seinem Munde klang es nicht wie ein Kompliment, sondern eher wie eine Feststellung. Und auch Ihr Vorname gefällt mir: Isabella. Ich würde Sie nur Bella nennen – die Schöne. Und er lächelte auf eine Art, ach, ich würde es zärtlich nennen, wenn das nicht lächerlich wäre in Anbetracht der Kürze unserer Bekanntschaft. Auch paßt dieser Ausdruck schlecht zu dem großen, herrischen Grafen.

Ich fragte ihn, woher er denn meinen Namen wisse, und er gab zu, sich nach mir erkundigt zu haben, da sich die Gelegenheit zu einer offiziellen Vorstellung bisher noch nicht bot.

Im Laufe des Abends tanzten wir noch mehrmals zusammen. Kein anderer tanzte wie Veidt von Hoheneck, und die Gesichter der anderen jungen Herren kamen mir auf einmal alle sehr glatt und nichtssagend vor.

Habe ich mich verliebt? Aber ich habe ein wenig Angst vor der Liebe – bringt sie nicht auch oft Kummer und Leid? Vielleicht habe ich auch nur ein wenig Angst vor Veidt von Hoheneck.

Zwei Tage später.

Angst – was für einen Unsinn habe ich da aufgeschrieben! Wie könnte ich Angst vor Veidt von Hoheneck haben. Ich finde ihn wunderbar, und heute mache ich kein Fragezeichen mehr – ich bin verliebt!

Ganz zufällig traf ich ihn heute auf der Piazza vor der Musikhochschule. Aber vielleicht war es gar kein Zufall. Die Welt ist plötzlich wie verzaubert und voll von wunderbaren Dingen, und nichts scheint mir unmöglich. Er nannte mich Bella, wozu er natürlich, sachlich betrachtet, nicht im mindesten ein Recht hat, aber mein Herz räumt ihm dieses Recht ein. Dieses närrische Herz, das in seiner Nähe wie verrückt zu klopfen beginnt.

Ich stelle mich vor den Spiegel und betrachte mich mit neuen Augen. Bin ich wirklich schön? Bisher war es mir nicht so wichtig. Doch jetzt will ich ihm gefallen, dem Grafen Veidt von Hoheneck.

Vier Wochen später:

Veidt hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will. Er hat seine Abreise immer wieder hinausgeschoben, um mich zu sehen, mit mir zu sprechen, und gestern hat er mich geküßt. Ja, ich will seine Frau werden, denn ich liebe ihn. Wir werden unendlich glücklich sein. Veidt ist zwölf Jahre älter als ich, und seine Reife, seine überlegene Art, alle Dinge zu sehen, gibt mir ein Gefühl der Geborgenheit. Er ist ein eigenwilliger Mensch und eine starke Persönlichkeit, und das imponiert mir sehr.

Nur eins betrübt mich: daß er wenig Sinn für Kunst hat. Aber die Kunst in jeder Form gibt dem Menschen so viel Schönes, sie kann ihn über die oft harte und nüchterne Wirklichkeit hinausheben und ins Land der Träume führen. Als ich ihm das einmal vorhielt, lachte er nur und nannte mich eine Schwärmerin. Ich will gar nicht träumen, kleine Bella, erwiderte er, ich bin ein absoluter Realist. Aber junge Mädchen dürften schon ein wenig träumen, fügte er beinahe heiter hinzu.