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Das Buch

Schon als kleines Kind wird Sabrina auf eine harte Probe gestellt. Jahrelang ans Gipsbett gefesselt, findet sie unter dem blühenden Magnolienbaum im Garten ihrer Großmutter Hoffnung und Trost. Die erwachsene Sabrina schließlich sucht auf abenteuerlichen Reisen ihren Weg zu innerer Freiheit. Vor allem die Exotik Indiens und die Einkehr in Ashrams faszinieren sie. In Gestalt des geheimnisvollen Shankar begegnet ihr die große Liebe. Doch ihr Glück ist nur von kurzer Dauer. Unschuldig landet Sabrina in einem der berüchtigtsten Gefängnisse Asiens. Wieder stößt sie an Grenzen, wieder wird sie in ihrer Freiheit beschnitten. Zudem ist sie schwanger, und ihre Gedanken kreisen einzig darum, wie sie entkommen kann. Der Blick auf die blühende Magnolie im Gefängnishof gibt ihr in dieser ausweglosen Situation Zuversicht. Wird ihr die Flucht gelingen? In schillernden Farben und berührenden Szenen erzählt uns die Autorin die Geschichte ihres Lebens.

Die Autoren

Sabrina De Stefani ist ein Mensch mit vielen Wurzeln. Auf ihrer Suche nach sich selbst hat sie zahlreiche Länder bereist. Sie lebt heute in der Schweiz und arbeitet als Personalberaterin im Amt für Wirtschaft, wo sie sich auf die Integration schwieriger Fälle spezialisiert hat und wo ihr psychologisches Geschick und ihr unterstützendes Talent gefragt sind. Nach Ausbildungen in alternativen Heilmethoden eröffnete sie ihre Praxis für Spirituelle Partnerschafts- und Lebensberatung, in der sie Menschen in Krisensituationen zu neuen Perspektiven verhilft.

Dr. Christiane Schlüter ist evangelische Theologin und Journalistin. Nach zwölf Jahren als Zeitungs- und Zeitschriftenredakteurin machte sie sich 2004 als Dozentin und Buchautorin selbstständig. Ihre Bücher wie Der innere Jakobsweg oder Kraftquellen für den Alltag sind Bestseller.

SABRINA DE STEFANI

DIE MAGNOLIENFRAU

Eine wahre Geschichte übers Freisein
und die große Liebe

unter Mitarbeit von
Christiane Schlüter

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

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ISBN 978-3-8437-1740-3


© 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Lektorat: Barbara Krause

Umschlaggestaltung: ZERO GmbH, München

unter Verwendung eines Fotos der Autorin © privat

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Lana

Es ist Frühling, und der Baum in Omas Garten blüht wie einst. Ich lege meine Hände an den Stamm und schaue hinauf in den lilafarbenen, duftenden Himmel: Hier bekam ich damals das Versprechen, dessen wahre Bedeutung ich lange nicht erkannte. Ich ging weit fort, ich suchte so sehr – doch als ich endlich gefunden hatte, da konnte mein Herz erfüllter nicht sein und mein Vertrauen nicht tiefer.

Jetzt bin ich mit meiner Tochter zur Magnolie zurückgekehrt. Ich will ihr die ganze Geschichte erzählen, denn sie ist ein Teil davon. Möge die Liebe und Kraft, die darin liegt, auch sie immer begleiten.

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1
Das Versprechen

W ieder bin ich weinend aufgewacht. Mir ist heiß, ­etwas drückt und scheuert mich wund. Ich will Luft holen, doch mein Brustkorb stößt an eine Schale, die ihn fest umschließt. Ich bin darin gefangen, von den Schultern bis zu den Beinen.

»Kind!« Oma beugt sich über mich. Ihre schmalen Hände streicheln mein verschwitztes Köpfchen, mit dem Taschentuch tupft sie mir die Tränen ab. Aber ich ziehe den Kopf weg. Ich will keine Berührung, alles ist mir zu nah, zu eng.

Die ersten drei Jahre meines Lebens habe ich im Gips verbracht. Jeden Dienstag schob mich meine Großmutter, bei der ich aufwuchs, in die Stadt, in die Praxis von Doktor ­Werner. Der hob mich aus dem umgebauten Kinderwagen, löste die Lederschnallen, die den Gips zusammenhielten, und prüfte mit den Fingerspitzen meine Wirbelsäule, sehr leicht, sehr vorsichtig. Ein Nicken, ein freundlich strenger Blick durch Brillengläser und zum Abschied die Ermahnung, mich nur zum Waschen und Wickeln herauszunehmen. Dann umschlossen mich die beiden Hälften wieder, und wir waren entlassen. Alle paar Monate aber wurde das Gipsbett erneuert.

Ich werde hochgehoben, jetzt öffnen sich die beiden Schalen, das kenne ich, dann werde ich gebadet. Doch diesmal ist es anders, wir sind nicht zu Hause, sondern bei dem weißgekleideten Mann mit der sanften Stimme. Er nimmt mich und setzt mich auf den Schoß einer fremden Frau. Gleich darauf fühle ich ein Streicheln auf meinem Rücken – es wird schnell warm und immer lastender. Ich weine nicht, ich spüre nur meinen Rücken, auf den sich mit dem Streicheln Schicht um Schicht häuft. Schließlich werde ich hingelegt, und nun senkt sich das Streicheln auch auf meinen Bauch, meine Brust bis hinauf zum Hals. Auch hier wird es warm und schwer. Ich will weinen, doch ich bringe keinen Ton heraus.

Langsam wird das Schwere kalt und starr. Immer enger umschließt es mich, ich möchte mich wehren, doch die Frau hält meine Beine fest und Oma, hinter mir, die Arme. Jetzt weine ich doch, panisch drücke ich Brust und Bauch gegen das Starre, um Luft zu bekommen, und ich weine, bis ich keine Kraft mehr habe. Doch schon reißt ein neuer Schreck mich hoch: Etwas Spitzes, Glänzendes fährt dicht an meiner Seite entlang, und ich schreie, schreie. Krachend spaltet sich die harte Masse. »Gleich ist es vorbei!« Omas Stimme von Ferne. Auch an meinem Bauch frisst das Spitze ein Loch in die weiße Schicht – jetzt kann ich besser Luft holen. Zuletzt schiebt sich etwas Hartes gegen meine rechte Wange, so fällt mein Kopf nicht mehr zur Seite. Der Mann mit der Brille streichelt mir über das tränennasse Gesicht, Oma lässt meine Arme los, und dann legen sie mich mitsamt der festen Schale in den Kinderwagen. Unter einem grauen Himmel werde ich nach Hause geschoben.

Viele Jahre später erzählte meine Großmutter Johanna mir, dass die anderen Patienten sie jedes Mal böse ansahen, wenn sie mit mir das Behandlungszimmer verließ. Ihr waren die fremden Blicke egal. Sie wollte mich eines Tages ganz gerade laufen sehen, dafür tat sie alles.

Nicht nur in der Praxis, auch zu Hause wehrte ich mich verzweifelt gegen das Gipsbett. Aber ich mochte noch so sehr um mich schlagen und mit den Beinen strampeln, irgendwann schloss sich der harte Deckel doch wieder über mir. Dann versank ich in mein Inneres oder starrte blicklos gegen die weiß gekalkte Zimmerdecke. Oft schlief ich vor Erschöpfung ein, und meine Großmutter konnte endlich die Wohnküche putzen oder sich um Uroma Elfriede kümmern, ihre alte Mutter, die mit uns lebte.

Uroma vergaß schon viel und sah schlecht. Wenn sie mich im Kinderwagen spazieren schob, kamen wir manchmal nicht zurück, und meine Großmutter rannte aufgeregt die Straße hinunter: »Helft suchen! Die Elfriede ist mit dem Kind unterwegs!« Bis sie eine Handvoll Nachbarn zusammenhatte, die in alle Richtungen ausschwärmten. Einmal fand man uns spätabends am Ententeich, die Uroma schlafend auf der Bank und mich reglos im Kinderwagen daneben. Ab da durfte sie mich nicht mehr ausfahren. Nur halten durfte sie mich ganz kurz, morgens, wenn ich zum Waschen aus dem Gipsbett genommen wurde.

Ich bin ganz leicht, denn auf einmal sind die harten Schalen weg. Meine Füße ruhen auf Uromas Oberschenkeln. Sie umschlingt mich mit beiden Armen, und ich lasse mich gegen ihre füllige, weiche Brust sinken, ich vergrabe mich darin wie in einer warmen Höhle. Es duftet so gut nach Holz und Nivea-Creme. Bis Oma wieder nach mir fasst, denn das Badewasser ist fertig.

»Nimm mir das Kind nicht weg, Johanna.«

»Ich nehm’s dir doch nicht weg, Mutter.«

»Nicht dass die uns das stehlen, dass wir es verlieren!«

»Aber wer soll uns die Kleine denn stehlen?«

»Die anderen Leute, böse Leute.«

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte meine verwitwete Urgroßmutter ihre Kinder, die damals fünfjährige Johanna und die kleine Schwester, allein lassen müssen, um im nahen Düsseldorf bei reichen Familien zu putzen. Immer war sie in Sorge gewesen: Wenn den Mädchen nun was passierte? Die Angst begleitete sie ein Leben lang.

»Unsere Sabrina stiehlt doch niemand«, sagte die erwachsene Johanna, meine Oma, dann zu ihrer Mutter. Doch meistens dauerte es, bis diese sich beruhigte. Unterdessen lag ich schon wieder im Gips und schaute ins Leere.

Im Frühling aber wurde alles leichter. Im Frühling blühte die lila Magnolie, die noch heute im großen Garten hinter dem Haus steht. Sobald die Sonne schien, fuhr meine Großmutter mich und das Gipsbett unter den Baum. Dort schob sie das Verdeck meines Kinderwagens zurück und setzte sich auf einen mitgebrachten Stuhl, Kartoffeln schälen. Von Zeit zu Zeit hörte ich sie tief aufseufzen. Ich hörte Taubengurren und das leise Geschnatter der Gänse, die im frischen Gras nach Futter suchten.

Meine Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an das Licht gewöhnt haben. In zarten Strahlen fällt es durch einen Himmel aus lilafarbenen Blüten, es streichelt und wärmt mich an Wangen und Armen. Reglos liege ich da und schaue nach oben in diesen Blütenhimmel, der sich beschützend über mir wölbt. Manchmal bewegen sich die Zweige, und die Sonnenstrahlen zwischen den Blüten tanzen fröhlich auf und ab.

Wie lange liege ich hier schon? Ich weiß es nicht. Was ich spüre: dass es gut ist unter diesem Baum. Ich strecke die Arme aus und versuche die lila Blüten zu berühren. Meine Hände erreichen sie nicht, aber mein Blick schafft es. Er trägt mich hinaus und hoch in die Zweige. Der Baum nimmt mir Schmerz, Angst und Zorn, er öffnet mein Herz. Der blumige, leicht würzige Duft seiner Blüten trägt mich in eine andere Welt, weit weg von allem.

»Kind, wo bist du?«

Omas Stimme hinter mir.

Ich bin nicht da. Bin nicht in diesem eingezwängten Körper, der sich kein bisschen strecken und dehnen kann. Ich schwebe – warm, weich und frei.

»Sabrina, Liebes!«

Omas Gesicht schiebt sich zwischen mich und die Blüten, ihre Augen suchen meinen Blick. Die Verbindung zur anderen Welt zerreißt, und ich falle zurück in den bewegungs­losen kleinen Körper, der wieder die feste Schale spürt. Oma nimmt ein heruntergefallenes Blütenblatt aus dem Kinderwagen, verstaut die geschälten Kartoffeln und schiebt mich ins Haus, Mittag essen.

Den ganzen Frühling und Sommer hindurch lag ich unter der Magnolie. Ich sah die lila Knospen wachsen und sich öffnen. Aufrecht und gerade standen die Blüten auf den Zweigen, die Kelche der Sonne zugewandt. Wie leicht sie waren und wie stark zugleich! Manchmal verirrte sich eine Biene oder Hummel in ihnen. Oder ein Eichhörnchen huschte wie ein Schatten vorüber. Das gehörte meiner Großmutter, sie hatte es gefangen und ihm ein rotes Bändchen angelegt.

Hier, unter diesem Baum, konnte ich vergessen, dass ich einen Körper hatte. Manchmal, wenn der Wind durch die Zweige fuhr, hörte ich die Blätter flüstern. Eines Tages bist du frei, flüsterten sie geheimnisvoll.

Wann das sein würde? Irgendwann. Ich müsse nur geduldig sein. Müsse warten und Vertrauen haben.

Das Wispern verstand ich, ohne die Worte zu kennen. Mein Blick hielt sich an der Magnolie fest. Ich spürte die Tränen auf meinen Wangen, und doch fühlte ich mich eins mit jeder Blüte, jedem Windhauch.

2
Findelkind

Nach drei Jahren wurde ich vom Gipsbett erlöst. Die Röntgenbilder bewiesen es: Meine Wirbelsäule hatte sich gestreckt, der Rücken war gerade geworden.

»Sie dürfen die Kleine jetzt rausnehmen. Aber immer nur stundenweise.« Diesmal war Doktor Werner zufrieden.

Auf dem Heimweg malte meine Großmutter mir aus, wie schön nun alles würde. »Laufen kannst du, Sabrina. So wie die Oma! Das Gipsding, das pfeffern wir in die Ecke. Was wohl die Uroma dazu sagt? Und deine Mutter erst!« Dann lachte sie ihr dunkles, kräftiges Lachen. Das Lachen meiner Großmutter kam immer von ganz tief unten, man konnte es durch drei geschlossene Türen hören.

Und meine Mutter? Sie wohnte in Köln und kam nur manchmal an den Wochenenden zu uns. Ich vermisste sie nicht, ich war ja bei Oma zu Hause. Wir gehörten zusammen, meine Großmutter und ich. Wir schliefen sogar nebeneinander in den Ehebetten, denn mein Großvater war im Krieg gestorben, wie mein Urgroßvater auch.

Ich liege ohne das Gipsbett auf dem Wohnzimmerteppich, auf einer Wolldecke. Oma kniet neben mir, sie hat eine Schürze über ihr gutes Kleid gebunden und streicht über meinen Bauch, über Schultern und Hüften. Zögernd lasse ich es geschehen, spüre ihre Hand auf meinem Pulli, meiner Strumpfhose. Mein Körper kennt kaum andere als die zweckmäßigen Berührungen beim Waschen, denn selten duldete ich mehr. Wie nackt und bloß bin ich jetzt, wie verletzlich ohne die harte Schale. Alles ist so unmittelbar – der Druck des Fußbodens durch den Teppich und die Wolldecke hindurch, Omas schmale Hände und meine eigenen, die sie nun auf meinen Bauch legt. Das bin ich? Es ist, als ob zwei Fremde sich begegnen.

»Guck, Sabrina«, sagt Oma und hebt ein wenig meine rechte Schulter, mein rechtes Becken vom Boden. »Du kannst dich drehen, kannst dich auf die Seite rollen.« Doch ich brauche Zeit, bis ich die Bewegungen begreife, zu denen sie mich locken will. Nur langsam wird mir klar: Ich bin nicht mehr eingezwängt. Ich kann mich jetzt nach allen Seiten ausstrecken und drehen. Ich kann tief atmen, ohne dass mein Brustkorb an den harten Deckel stößt. Wie ein Vogel im Käfig es zunächst nicht merkt, wenn das Türchen offen ist: Er flattert auch nicht gleich davon. Man muss ihn erst dazu bringen, muss ihm zeigen, dass er frei ist.

Im Kinderwagen durfte ich jetzt sitzen. Die neue Perspektive gefiel mir gut. Was da so alles an uns vorbeizog! Menschen auf Rädern, mit Kindern und Hunden. Enten, Schwäne, Bäume, Häuser, Autos … Um mich zu stützen, polsterte meine Großmutter den Wagen rechts und links mit Kissen aus, auf denen meine Ärmchen ruhten. So gingen wir nach Hilden einkaufen, immer zuerst zum Metzger. Während sie drinnen ihre Besorgungen erledigte, blieben draußen vor dem Laden oft Passanten bei mir stehen: »Guck mal, wie niedlich!«, »Diese Löckchen und die dunklen Kirschaugen! Das wird mal eine Schönheit.« Ich muss wohl allerliebst ausgesehen haben mit meinem weißen Angoramützchen und dem hellblauen Jäckchen, beides von Oma selbstgestrickt. Aber die Menschen waren mir unangenehm. Ich mochte nicht angeschaut werden und fühlte mich bedrängt. So machte ich es wie unter der Magnolie: Mein Blick suchte einen Punkt, an dem er sich festhalten konnte, einen Punkt jenseits dieser Leute, und ich beamte mich weg. Bis meine Großmutter endlich wieder herauskam und mir eine Wurstscheibe in die Hand drückte. »Wie eine Puppe aus Wachs hast du ausge­sehen, Kind«, würde sie mir Jahre später erzählen. »Hast geradeaus geguckt und gar nichts mehr wahrgenommen.«

Geduldig übte sie jeden Tag weiter mit mir. Meine Atmung wurde langsam tiefer und der Schleier zwischen mir und der Außenwelt dünner. Viel klarer sah ich nun die Farben und Gesichter. Ich traute mich, Dinge anzufassen. Die meisten berührte ich zum ersten Mal. Wie unterschiedlich sich alles anfühlte: der Samt meines Nickipullovers oder die unregelmäßige Oberfläche des gewebten Teppichs. Wenn ich bäuchlings auf ihm lag, konnte ich die Blumen sehen, die kunstvoll in alle vier Himmelsrichtungen wuchsen. Sie fühlten sich fest an und ein wenig rau. Vielleicht konnte ich sie mit etwas Abstand noch besser erkennen? Ich begann mich hochzustemmen.

Irgendwann ein Schrei: »Oh Gott, sie steht!« Ich hatte mich am Sofa hinaufgezogen, um mehr vom blauen Himmel draußen vorm Fenster zu sehen, und stand kippelig auf meinen eigenen Beinen. Meine Großmutter ging vor mir in die Knie, sie lachte mich an, streichelte mir immer wieder über den Kopf. »Mutter«, rief sie über die Schulter, »Mutter, das Kind kann stehen!«

»Pass auf, Johanna, dass nichts passiert«, klang Elfriedes Stimme aus der Küche. Meine Uroma kam nicht herein, warum auch. Sie konnte uns ja doch nicht sehen, war inzwischen blind und ängstigte sich mehr denn je. Am meisten fürchtete sie sich vor Astor, dem großen schwarzen Hund, der in seinem Zwinger auf dem Hof lebte, und vor den bösen Männern, die durch ihre Träume geisterten.

Oma ist mit Kochen beschäftigt, und ich steige vorsichtig die Treppe hinunter, ein Händchen immer schön am Geländer. Barfuß wackele ich hinaus in den Garten. Wieder ist Frühling. Dort in der Mitte steht mein geliebter Magnolienbaum, er ist über und über mit lila Blüten bedeckt. Plötzlich berührt etwas meine Hand: Ein rotes Käferchen mit schwarzen Punkten krabbelt mir über die Finger und weiter über den Hand­rücken, es schickt sich an, meinen Arm hinaufzulaufen. Ich halte den Arm in die Luft und sehe den Marienkäfer krabbeln. Wie das kitzelt! In dem Moment geschieht es: Ausgehend von diesem Kitzeln breitet sich etwas Helles in mir aus, leicht und weich fließt es durch den Körper bis in die Fingerspitzen und die Zehen, es füllt mich ganz aus und lässt mich Luft holen. Ich atme ein, so tief wie nie zuvor. Welch eine Entdeckung! Auf einmal ist da ein Körper, ein warmer, lebendiger Körper, der kann einen kleinen Käfer über sich laufen lassen und fühlen, wie es kitzelt. Der kann einatmen und ausatmen, ohne Enge, ohne Schmerz. Und dieser Körper gehört zu mir!

Ganz still bin ich und spüre, wie meine Seele jede Faser meines Körpers durchdringt. Die Sonne strahlt, die Magnolie leuchtet, und auch in mir leuchtet es. Ein großer Friede breitet sich aus: Ich bin in mich eingekehrt. Körper und Seele sind eins.

Ich wurde ein bewegungshungriges Kind. Als müsste ich alles nachholen, hüpfte ich schon bald die Treppen hinauf und ­hinunter und rannte im Garten umher. Wenn ich hinfiel, lief ich weinend ins Haus, bekam Jod aufs Knie und einen Bonbon zwischen die Lippen. »Ist nicht so schlimm, Kind. Da, kriegst ein Klümpchen.«

Samstagmorgens begleitete ich meine Großmutter zu Fuß nach Hilden, zwei Kilometer hin und zwei zurück. Ich war stets wie aus dem Ei gepellt: weiße Bluse, karierter Rock, weiße Strümpfe und schwarze Lackschuhe. Die langen schwarzen Haare ausgiebig gebürstet, zu Zöpfen geflochten oder als Knoten auf dem Kopf festgezwirbelt: »Kind, halt doch mal still.« Wie ich diese Prozedur hasste!

Auch Oma machte sich fürs Einkaufen fein, sie war gelernte Schneiderin und eine Dame. Im Sommer ging sie nie ohne Sonnenschirm aus dem Haus. Wenn ich auf dem Rückweg müde wurde, bestellte sie ein Taxi.

Samstagnachmittags kamen die Kränzchenschwestern. Es gab Kaffee und Kuchen, später Fleischbrötchen mit Sekt, danach wieder Kaffee. Und Schnaps, bis alle johlten. Unterdessen saß ich artig am Tisch, baumelte mit den Beinen und langweilte mich zu Tode.

Manchmal wandten sich die Tanten mir zu: »Wie hübsch du bist!« Und zu Oma: »Das haste gut hingekriegt.«

Ich aber hasste es, so angestarrt zu werden. Ich wollte nur weg von den Kaffeetanten und ihrem Gequassel, weg von ihren hohen Stimmen, die mir in den Ohren gellten. Wieder suchte mein Blick einen Punkt, und ich träumte mich fort.

Das Gipsbett hatte seine Spuren hinterlassen. Noch immer konnte ich in Bewegungslosigkeit verfallen und stundenlang ins Leere schauen. Innerlich war ich dann weit weg, in anderen, bunteren Welten, von denen ich hinterher nichts hätte erzählen können. Häufig stand ich neben Elfriede und hielt ihre Hand. Dicke, kräftige Hände hatte sie, richtige Arbeiterhände. Aber die Haut war ganz dünn. »Uroma, du hast eine Haut wie Papier.« Ich hielt Elfriedes Hand und streichelte sie. Lange, lange. Bis es mir zu viel wurde. Dann drückte ich ihr meine Puppe in den Arm und lief hinaus, spielen. Jeden Morgen rührte ich für Elfriede ein Eigelb mit Zucker in den heißen Kaffee. Aber wie sie ihr Frühstück schlürfte, das ertrug ich nur schwer, und ich konnte oft nicht anders, als ihre Pantoffeln zu verstecken oder sie zu erschrecken: »Uroma, der Astor steht neben deinem Bett.« Gleich kreischte sie auf, weinte und war nicht zu beruhigen, so wie in vielen Näch­ten auch. »Geh nach nebenan, Sabrina!« Dann klang Omas Stimme streng, und ich verzog mich mit einem komischen Gefühl. Was war es, das mich so reizbar machte, so empfindlich gegenüber anderen Menschen und allem, was mir nahe kam? Ich bemühte mich sehr, artig zu sein. Aber an manchen Tagen hielt ich gar nichts aus, da war ich die pure Rebellion und wäre am liebsten weit weg gewesen.

»Darf ich mitspielen?« Es ist Sonntagnachmittag, oben sitzen Mutter und Oma beim Kaffee, und ich stehe hier am Zaun. Drüben auf dem Hof werfen sich die Nachbarsjungen einen Ball zu. Hin und her fliegt der Ball. Die Jungen schauen kurz zu mir herüber, spielen weiter. Schließlich fällt der Ball auf die Erde, und einer von ihnen kommt zum Zaun.

»Du kannst nicht mit uns spielen.«

»Warum denn nicht?«

»Du hast keinen Vater.«

»Wohl hab ich einen Vater!«

»Hast du nicht. Wir haben einen Vater. Du bist ein Findelkind. Du kannst nicht mitspielen.«

»Ich bin kein Findelkind«, rufe ich und laufe ins Haus zu den beiden Frauen.

»Oma, was ist ein Findelkind?«, frage ich, ganz außer Atem. Das Wort klingt schlecht in meinen Ohren.

»Ein Findelkind ist ein Kind, das weder Vater noch Mutter hat«, erklärt Oma.

»Ich bin auch ein Findelkind.«

Mutter und Oma wechseln Blicke.

»Du bist überhaupt kein Findelkind«, sagt meine Mutter mit Nachdruck. »Du hast einen Vater, sonst wärst du ja überhaupt nicht auf der Welt. Du hast die Oma und die Uroma, die Mama, die Tante und deine Cousine. Du hast eine große Familie.«

»Aber die Jungs haben gesagt, ich hätte keinen Vater, und das wär’ ganz schlecht.«

»Dummes Gerede«, sagt meine Mutter. »Hör einfach nicht hin.«

Irgendetwas stimmt nicht. Aber was? Ich bin doch bei der Oma zu Hause, zählt das etwa nicht?

Am darauffolgenden Wochenende kommt meine Mutter wieder und zieht eine Zeitschrift aus der Handtasche. Die blättert sie vor mir auf. »Guck mal«, sagt sie und zeigt auf eine Doppelseite, auf der vor gelbem Hintergrund ganz viele Männerköpfe abgebildet sind. Unzählige Männer sind es – blond, braun oder rot, mit langen oder kurzen Haaren, mit Schnurrbart, Vollbart oder glatt rasiert. Manche tragen eine Brille. Und alle lächeln in die Kamera.

»Guck mal, Sabrina«, sagt meine Mutter. »Das sind alles Väter.«

So viele Väter! »Woher kommen die denn? Gehören die mir?«

»Nein, Kleines, aber gefällt dir einer?«, will meine Mutter wissen. »Wie stellst du dir deinen Papa vor? Wie einen von diesen hier? Such dir mal einen aus.«

Ich lasse meinen Blick über die Bilder schweifen und zeige entschlossen auf einen Mann mit Bart. Der sieht so schön gemütlich aus, wie der Weihnachtsmann.

Bevor sie wieder abfährt, schneidet meine Mutter das Bild aus und stellt es in einem kleinen Rahmen auf die Wohnzimmerkommode: »Glaube daran, und du wirst bald auch einen Papa haben.«

Was wir aber mit dem machen sollen, das ist mir unklar.

Als ich in die Schule kam, wollte ich meine Großmutter samstags nicht mehr in die Geschäfte begleiten. Lieber wartete ich in der Hildener Kirche auf sie, während sie einkaufte. Lange saß ich dann vor einer Muttergottesstatue aus dunkel glänzendem Holz. Ich schaute sie an, wie sie ihr Jesuskind so lieb im Arm hielt, und bewunderte den Blumenschmuck, den die Leute hier abgelegt hatten. Manchmal durfte ich im Blumenladen gegenüber ein Sträußchen kaufen und ihr hinlegen. Oder Oma drückte mir ein paar Pfennige in die Hand: »Für Kerzen, Kind. Eine für mich, für die Mama, eine für dich und eine für die Uroma.« Wenn mir langweilig wurde, streifte ich in der Kirche umher, betupfte mich mit Weihwasser, bekreuzigte mich und betrachtete die vielen Bilder. Doch meistens saß ich vor der Marienstatue und versank in ihren Anblick. Diese beschützende Mutter Maria würde ich wenig später zu meiner Mutter machen, zu meiner heiligen Mutter. Einen heiligen Vater gab es ja, das hatte ich gehört. Der war natürlich Gottvater. Und an seiner Seite stand eben die heilige Mutter. Die beiden wurden in meiner Vorstellungswelt meine wahren Eltern, als ich schon bald darauf in große innere Not geriet. »Heiliger Vater, heilige Mutter, hilf mir!«, das Stoßgebet sollte ich in den kommenden Jahren unzählige Male zu ihnen hinaufschicken.

Er trägt tatsächlich einen Bart. Einen schönen Vollbart hat er, dunkle Locken, ein Bäuchlein und ein lustiges Lächeln. Außerdem spricht er merkwürdig, weil er aus der Schweiz kommt. Er heißt Mario. Jetzt sitzt er vorn im hellblauen Käfer meiner Mutter auf dem Beifahrersitz.

»Findest du den nett?«, hat sie mich neulich gefragt. Ich hatte in Köln bei einer Probe ihres Laientheaters zugeschaut. Neben mir flüsterte ihre Freundin mit einem Mann, der sich mir kurz darauf vorstellte: »Ich bin Mario«, sagte er in seiner komischen Sprache. Nach der Probe ging Mario mit uns in ein Lokal. Dort machte er viele Witz und brachte mich zum Lachen. Ich erlaubte ihm, uns zu besuchen.

Vorhin nun saß er unerwartet neben Mutter am Tisch, als Oma mich hineinrief. Er hatte sich eine Pfeife angesteckt – Rauchschwaden waberten durch die Luft, es roch süß und ein wenig herb und war wunderbar gemütlich.

»Darf ich später mit euch Kaffee trinken?«, fragte er mich nach dem Essen.

»Nur, wenn du da drüberspringen kannst.« Ich holte ihn ans Fenster und zeigte auf unseren hohen Gartenzaun. Gar so leicht wollte ich es ihm nicht machen. Mario ging hinaus, nahm weit Anlauf und hechtete mit Schwung über den Zaun. Ich stand am Fenster, ließ ihn nicht aus den Augen und dachte an die Nachbarsjungen.

Jetzt sitzen wir zu dritt in Mutters Käfer, und von der Rückbank aus sehe ich die beiden Händchen halten. Entschlossen beuge ich mich vor:

»Hör mal, willst du uns heiraten?«

Gelächter im Auto.

»Da muss ich erst deine Mama fragen, ob die mich nimmt.«

»Ja, frag mal! Du, Mutti, wollen wir den?«

»Ach Kind, lass uns noch ein bisschen überlegen.«

Vier Monate später waren sie verheiratet, und wir zogen in die Schweiz.

3
Die Suche beginnt

Das hab ich nur für dich getan!«

Wütend stehen wir voreinander, Mutter und ich.

»Warum hast du ihn dann rausgeschmissen?« Herausfordernd wippe ich mit dem Fuß.

»Du bist so was von naiv«, faucht sie. Doch bevor sie mehr sagen kann, knallt die Wohnungstür hinter mir ins Schloss.

Blind vor Tränen stürme ich durch den Park. Neun Jahre ist es her, seit sie mich von Oma und Elfriede weggeholt hat. Nie werde ich vergessen, wie Oma weinend in Hilden am Gartentor stand und uns nachwinkte. Und wie ich später dem freundlichen Nachbarn in unserem Dorf bei Luzern Adieu sagen musste, weil wir schon wieder weiterzogen, diesmal nach Chur. Wo es losging mit Marios Stammtischgelagen, mit den unbezahlten Rechnungen oben auf dem Küchenschrank und den ewigen Streitereien. Bis Mutter genug hatte und ihn vor die Tür setzte.

Ich mag Mario. Er ist ein Clown und schert sich nicht um Regeln. Und er hat mich vor ihrer Wut geschützt, solange er bei uns wohnte. Noch immer treffe ich ihn heimlich, wenn ich daheim Stress habe.

Außer Atem lasse ich mich auf eine Bank fallen und starre auf den spärlichen Rasen vor mir. Es ist März, die Vögel proben den Frühling, und in Hilden bekommt die Magnolie bald ihre ersten Knospen. Lautlos schicke ich mein Stoßgebet aus Kindertagen in den grauen Himmel über Chur. Ich bin sechzehn. Meine Schulzeit geht zu Ende. Und ich habe keine Ahnung, wohin ich gehöre.

Wenige Monate später schiebe ich meinen Koffer unter ein schmales Bett in einem Mädchenpensionat in Fribourg. Sprachen und Kunst könne ich hier lernen, Freundinnen würde ich finden, hat es geheißen. Aber das Internat, das in einem rosa getünchten Schloss mit großem Park untergebracht ist, entpuppt sich als neues Gefängnis. Statt ins Leben zu starten und die Welt zu erobern, finde ich mich in einem Schlafsaal mit zwanzig Nischen wieder, deren Vorhänge spätabends aufgerissen werden, um zu prüfen, ob die Hände schön brav auf der Bettdecke liegen. Ich jedoch habe mir angewöhnt, mich seitlich zusammenzurollen, nachdem ich das Gipsbett losgeworden bin. So rüttelt mich fast allabendlich eine Nonne aus meinen Träumen.

Kontrolle und Strafe, nach dem Schema funktioniert das Pensionat. Die Nonnen sind kleingeistig und beweihräuchern sich selbst, sie haben Macht und missbrauchen sie. Ich aber beginne, Grenzen auszutesten – und stoße mir den Kopf blutig. Die Hausaufgaben nicht gemacht? Stell dich in die Ecke, das Gesicht zur Wand! Heimlich geraucht? Zwei Franken Strafe, zu zahlen im Büro der Oberschwester! In Holzlatschen die breite Steintreppe ins Foyer hinuntergedonnert? Das hallt so schön, und mit jedem Widerhall verraucht ein Stückchen meiner unbändigen Wut. Aber unten öffnen sich gleich mehrere Klassentüren, empörte Gesichter unter schwarzweißen Hauben werden sichtbar: »Du natürlich!« Und wieder zwei Franken. Mein halbes Taschengeld geht für meine Rebellion drauf. Doch ich kann nicht anders. Ich will nicht mehr eingesperrt sein, nie wieder.

Merkwürdig. Den anderen Mädchen scheint das alles hier nicht viel auszumachen. Warum empfinde ich nur so? Und wie kann ich das Gefühl des Eingeengtseins loswerden, das mich den ganzen Tag über beherrscht? Manchmal fürchte ich, es wird mich mein Leben lang verfolgen.

Nach vier Monaten packe ich erneut meinen Koffer. Eine Freundin bekommt ein Doppelzimmer und nimmt mich mit. Hier haben wir einen eigenen Schrank und ordentliche Wände, alles in Weiß. Wir packen aus und richten uns ein. Über mein Bett pinne ich ein Foto meines richtigen Vaters, das ich in den Ferien bei meiner Großmutter gefunden habe. Die kleine gezackte Schwarzweißaufnahme zeigt einen jungen Mann mit dunklen Haaren, der mir wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Er steht mit einem Vermessungsgerät auf einem Acker und lacht in die Kamera. Im Foto ist ein merkwürdiges Loch – so als ob jemand es angekokelt hätte.

»Mein Vater lebt«, habe ich nach dem Fund zu Mutter gesagt.

»Ich hab dir doch erzählt, dass er verunglückt ist.«

»Wenn ich das Foto sehe, hab ich das Gefühl, er lebt.«

»Du kannst nicht immer nur auf deine Gefühle hören.«

Aber worauf soll ich sonst hören? Wer sagt mir, was richtig ist, wenn nicht mein Inneres?

Jeden Abend vor dem Einschlafen schaue ich auf das Foto. Ich würde meinen Vater so gern kennenlernen. Doch dazu müsste ich ihn erst einmal finden.

Eben schlägt es Mitternacht. Ich bin aus dem Fenster geklettert und stehe mit meinem Koffer an der Hecke hinter dem Schloss. Dieser Teil des Parks ist verwildert, selbst der Hausgärtner kommt hier nicht her. In die Hecke habe ich in den letzten Wochen mit der Nähschere ein Loch geschnitten, groß genug, um vielleicht hindurchzupassen.

Ich fühle mich so schutzlos und durchlässig. Die biestigen Nonnen hier und dazu das Geheimnis um meinen Vater – überall sind Mauern, an denen ich mich wundscheuere.

Jetzt könnte ich gehen.

»Kind, halte durch«, hat Oma geschrieben, als ich ihr in meinem letzten Brief mein Leid klagte. »Du wirst stolz sein, wenn du’s geschafft hast. Dann hast du Stärke und Durchhaltewillen bewiesen. Das brauchst du mehr als alles andere im Leben.«

Aber Oma, ich krieg hier keine Luft!

Und Lucienne, die kleine Nonne mit den Apfelbäckchen, was wird sie sagen, wenn ich morgen früh nicht mehr da bin? Oft haben wir wie Freundinnen nebeneinander unter den großen Bäumen im Park gesessen, und wenn niemand in der Nähe war, hat sie mir die Hand gestreichelt oder eine Träne abgewischt. »Gib nicht auf«, hat sie gesagt. »Du bist eine liebenswerte Seele, und Gott weiß, was er tut.« Und dass ich ruhig weinen soll, denn die Tränen seien wie ein fließender Strom, der mich von innen reinigt.

Lucienne ist eine Frau, wie ich sie vorher nicht gekannt habe. Sie muss nicht kämpfen, weder gegen einen Mann noch gegen das Schicksal. Sie darf sanft sein, liebevoll, und es ist völlig egal, ob sie hübsch ist oder nicht. Sie fühlt sich von Gott geliebt, und das scheint ihr zu reichen.

Wird sie mich noch leiden können, wenn ich gehe?

Ein feiner Sprühregen fällt. Ich nehme meinen Koffer und beginne mich durch die Hecke zu zwängen. Doch ich bin sehr groß gewachsen, das Loch reicht nicht. Immer wieder bleibt der sperrige Koffer stecken, und meine Haare verfangen sich in den Zweigen, die sich um mich ranken, als wollten sie mich festhalten. Klitschnass trete ich schließlich den Rückzug an und gehe zum Schloss zurück, dessen Mauern sich schweigend vor mir erheben.

Viermal stand ich in jenem Jahr an der Hecke. Viermal kehrte ich um und kletterte durch ein Fenster wieder ins Haus. Heute weiß ich: Das Internat hatte seinen Sinn für mich, denn damals begann mein Rückzug von der Außenwelt, die Reise in mein Inneres. Jeder muss sich auf seine ureigene Weise entwickeln, muss sein Potenzial entfalten und leben. Für mich ist Rückzug am besten. Wenn zu viel von außen auf mich einströmt, höre ich meine innere Stimme nicht mehr.

Aber wie hätte der Teenager, der ich damals war, das begreifen können? Was ich damals spürte, war Einsamkeit und eine große Sehnsucht nach jemandem, dem ich vorbehaltlos vertrauen und nah hätte sein dürfen – ganz frei und ohne Einengung. Doch diesen Menschen gab es nicht. Ja, ich hatte Oma, sie liebte ich sehr, aber sie wohnte weit weg. Und meine Mutter war mir innerlich fern. So fühlte ich mich einfach nur verlassen und allein.

Ein letztes Mal steige ich in den Zug, der mich zurück nach Chur bringt. Das Internatsjahr ist zu Ende, und mehr denn je weiß ich nur, was ich nicht will: aufgesogen werden vom Außen und mitspielen müssen nach Regeln, die andere mir vorgeben. »Schließ dich nie einer religiösen Gemeinschaft an«, hat Lucienne mir gestern noch eingeschärft, als wir ein letztes Mal auf unserer Bank saßen. »Auch keinem Klub, keinem Verein oder sonst einer Gruppe, in der du nicht mehr Herrin deiner selbst bist.«

Lucienne, ich werde dich vermissen!

Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Draußen auf dem Bahnsteig umarmt ein Mann seine Frau und geht vor seinem kleinen Mädchen in die Hocke, damit es ihm einen Kuss auf die Wange drücken kann. Lieb sieht das aus.

Der Zug fährt los, und die Familie verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich blättere in der mitgebrachten Zeitschrift. Was ist mit diesen ganz normalen Zielen, die andere in meinem Alter haben: einen Beruf lernen, einen Mann heiraten, Kinder gebären, den Haushalt schmeißen? Nein, für mich kann ich mir das nicht vorstellen. Ich möchte mich nicht an der Jagd auf den tollsten Mann beteiligen. Und schon gar nicht will ich dafür mein Aussehen in die Waagschale werfen. Mir reicht, was ich vor zwei Jahren auf Gran Canaria erlebt habe, wo ich in den Schulferien Fotomodell gewesen bin – eine Idee von Mutter. »Guck mal so!« »Guck sexy!« »Flirte mit der Kamera!« Und dann dieser Hotelier, dem nichts Besseres einfiel, als mir nachzustellen. Er versprach mir die Sahara für ein Abendessen. Natürlich hab ich ihn versetzt. Was wohl aus den Hippies geworden ist, die damals am Strand gelebt haben, frei und niemandem Rechenschaft schuldig? So oft hab ich mich damals zu ihnen gestohlen! Wir saßen am Feuer, sangen und quatschten miteinander, und alles war wunderbar leicht.

Das Bild dieser Aussteiger steht mir noch vor Augen, als der Zug in Chur einfährt. Über mich selbst bestimmen können, das ist es, denke ich, als ich meinen Koffer zwischen den Sitzreihen hindurch zum Ausgang zerre. Dahin muss ich kommen.

Die Dinge ordneten sich – zunächst jedenfalls. Auf Anraten meiner Mutter begann ich eine Lehre in einer Giorgio-­Armani-Boutique. Die Aussicht, später vielleicht als Einkäu­ferin für eine Modekette um die Welt zu jetten, lockte mich – außerdem war ja meine Großmutter Schneiderin. Doch während des ersten Lehrjahres wuchsen die Spannungen daheim weiter. So suchte ich mir mit Marios Hilfe ein Ein-­Zimmer-Apartment. Nun musste ich allen beweisen, dass ich es schaffen würde: dem Lehrherrn, der Schule und meiner Mutter. Und das tat ich auch. Ich lernte für meine Ausbildung, ging am Wochenende an der Tankstelle arbeiten, um die Wohnung zu finanzieren, und traf mich mit Freunden in der Natur und zum Tanzen. Allmählich bekam mein Leben Struktur. Entgegen den Vorhersagen der anderen, die mich schon hatten scheitern sehen, beendete ich meine Lehre mit ausgezeichneter Note. Mit Anfang zwanzig hatte ich einen Job bei der Handelskammer in St. Gallen, eine süße Wohnung in der Altstadt – und jede Menge seelischer Schrammen, die ich mir in unglücklichen Liebesbeziehungen geholt hatte.

Weg! Bloß weg damit! Ich stopfe das Foto in die blaue Mülltüte und den Rahmen gleich hinterher. War ohnehin von ihm, ist nicht schade drum. Suchend drehe ich mich um mich selbst. Was muss noch raus? Ach ja, das Plüschtier auf dem Regal. Scheußliches Ding, hab ich es jemals leiden können? Riesige Augen, winziger Mund, Schleifchen auf dem Kopf. Das ganze Wesen ein einziges Flehen: Hab mich lieb!

Danke auch. Soll es wen anderen anbetteln.

Als der Müllsack dreiviertel voll ist, finde ich nichts mehr, was noch hinein soll. Aufatmend stelle ich ihn vor die Tür, mache mir Kaffee und lasse mich aufs Sofa fallen. Ich muss dringend nachdenken.

Warum verstehen wir uns nicht, die Männer und ich? ­Irgendwie scheint es eine Familientradition zu sein: lauter starke Frauen, die allein durchkommen müssen. Seit Generationen fehlen die Männer, die Väter. Auch Mutter hat diesen Tunesier gar nicht erst geheiratet, der mein Vater ist, und das mit Grund. Pech nur, dass sie ihn bis heute vor Augen hat, weil ich ihm so ähnlich sehe mit den dunklen Locken, die er an mich weitergegeben hat. Mittlerweile weiß ich sicher, dass er lebt, und irgendwann werde ich ihn aufsuchen.

Der Kaffee tut gut, sorgt für Klarheit im Kopf. Ach, mein liebes Leben, was fang ich nur an mit dir? Ich glaub ja fest an einen göttlichen Plan, aber hab ich da überhaupt ein Mitspracherecht? Wer hat mich eigentlich gefragt, ob ich das alles hier mitmachen will?

Ich sitze auf dem Sofa, die Füße angezogen, und starre aus dem Fenster in den schneeverhangenen Winterhimmel. Wie ein kleiner Adlerhorst ist diese Wohnung – mein Refugium, mein Rückzugsort.

So bald werde ich mich auf keinen Mann mehr einlassen. Die einen wollen sich ja doch nur mit mir schmücken: hübsche Freundin, schnelles Auto und ordentlich Konkurrenzgehabe als Beiwerk! Ich hab sie schnell durchschaut. Und dann sind da noch die anderen – die sensiblen Künstler, die in ihren Gefühlen und Träumen ertrinken und in mir die richtungweisende Partnerin suchen, bei der sie Halt finden. Das überfordert mich total, und ich nehme Reißaus.

Ob ich für immer allein bleibe? Ich spüre meine Sehnsucht, sogar jetzt, da ich eben erst den Müllsack vor die Tür geschafft habe. Sehnsucht nach – was? Nach Geborgenheit und gegenseitiger Wertschätzung, nach Verschmelzung nicht nur auf körperlicher Ebene. Ich hab ein Wort dafür, es heißt Seelenliebe. Die suche ich. Aber es gibt sie vielleicht gar nicht. »So einen musst du dir erst mal backen«, sagt Mutter oft.

Und mal ehrlich, Sabrina, so meldet sich eine Stimme in mir, die ich schon kenne. Es können doch nicht immer nur die Männer schuld sein.

Stimmt, sag ich.

Du bist doch selbst verantwortlich für dich und dein Leben.

Klar.

Womöglich, so spricht die Stimme weiter, sind die Männer ja dein Spiegel.

Ich gerate einfach immer an die Falschen.

Und das soll nichts mit dir zu tun haben?

Bingo. Da ist was dran.

Abwartendes Schweigen.

Dann – ich zögere –, dann sollte ich mich vielleicht erst mal um mich selbst kümmern, statt einen Liebeskummer an den anderen zu reihen? Mich selbst erforschen und heilen, wo nötig?

Wäre eine Möglichkeit, sagt die Stimme.

Also gut, mache ich. Versprochen. Gleich morgen fang ich an.