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Arie Ben Schick, geb. 1966, ist Sozial- und Geisteswissenschaftler. Er betreibt eine psychologische Privatpraxis für Psychotraumatologie und Ess-Störungen und bietet zu dem Thema seines Buches Lesungen, (Impuls-)Vorträge, Seminare zur Erinnerungsarbeit und Einzelgespräche an. Schick ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt im Rheinland.
www.arieschick.de

Arie Ben Schick

Mama, erzähl mir vom Krieg

Traumabildung in der Nachkriegsgeneration

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Satz und Gestaltung: Walburga Fichtner, Köln
Umschlagabbildung: Arie Ben Schick © privat
Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-86321-389-3

eISBN: 978-3-86321-458-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Die Fakten: kurz und knackig

Warum dieses Buch?

Hineingeboren in die Geschichte

Kindheit in der analytischen Auseinandersetzung

Gefangen in den Störungen

Meine Eskalation und die ersten schwerwiegenden Symptome

Massive Angststörung mit Flashbacks

Psychische Verletzungen

Schwere Depression und die Angst vor der Angst

Erste Hilfe

Trauma und seine möglichen Folgen

Weitergabe von kriegsbedingten Traumata

Aus meinem Therapietagebuch

Montag, 19. August: Immer wieder diese innere Verlorenheit

Dienstag, 20. August: Mutter musste geschützt werden

Mittwoch, 21. August: Abspaltung

Donnerstag, 22. August: ein Schloss am Kühlschrank

Freitag, 23. August: Kompensationen

Samstag, 24. August: Mutter erzählt vom Krieg

Zugang zu meiner Geschichte

Unsere Armut und unsere Ausgrenzung

Was die Flüchtlingssituation und -diskussion mit mir macht

Erweiterte Selbstmordversuche?

Kindheit auf dem Friedhof

Zwei wiederkehrende Albträume

Rettung vor dem Ertrinken

Schwerer Verkehrsunfall

Der Tod meiner Mutter vs. Zebrafinken

In der Höhle der Löwin

Aus meinem Therapietagebuch

Sonntag, 25. August: Angst vor der Angst

Montag, 26. August: Preußische Erziehung

Montag, 2. September: Misserfolg

Donnerstag, 12. September: Bitte nicht Alleinsein

Donnerstag, 19. September: In innerer Unruhe

Montag, 30. September: Nichts ist wirklich gut

Die Gebeine des Werner Holländer

Silke Bachmann

Bannbotschaften

Eine Liebesgeschichte

Ehemann, Vater und Ernährer sein

Weihnachtlicher Zusammenbruch

Der Tod schlägt um sich

Keine familiären Verwechslungen

Die imaginären Bajonette

Wo stehe ich jetzt?

Danksagung

Eine Art Nachwort

Literaturverzeichnis

Die Fakten: kurz und knackig

image1966 wurde ich als zweites Kind einer Flüchtlingsfamilie aus Hinterpommern in Bremen geboren. Während mein Vater (Jahrgang 1916) Soldat im Zweiten Weltkrieg war, flüchtete meine Mutter (Jahrgang 1922) mit meiner Schwester (Jahrgang 1944) im Februar 1945 vor der heranrollenden russischen Armee.

imageMeine Eltern fanden sich im Westen durch Verwandte wieder.

imageBei meiner Geburt 1966 war meine Schwester bereits selbst Mutter (1964 Geburt meines Neffen).

imageMein Vater starb 1967 an einem Herzinfarkt.

imageMeine Mutter und ich lebten von 1967 bis 1980 zu zweit in Bremen, dann starb auch sie. Sie hat mir sehr früh sehr viel von ihren Flucht- und Kriegserlebnissen berichtet. Das hat sich in meiner Erinnerung sehr manifestiert.

imageIch verbrachte die folgenden dreieinhalb Jahre in der Familie meiner Schwester. Sie hatte in dieser Zeit die Vormundschaft über mich.

imageInzwischen bin ich seit fast 25 Jahren verheiratet und Vater von drei Kindern. Ich lebe mit meiner Familie im Rheinland.

Warum dieses Buch?

Diesem Buch geht eine sehr lange Zeit der Vorbereitung voraus. Tatsächlich handelt es sich dabei um mehrere Jahre, die ich brauchte, um dahinzukommen, wo ich jetzt bin. Undenkbar wäre es gewesen, damit zu beginnen, als es mir noch psychisch schlecht ging. Die Auseinandersetzung mit meiner Geschichte hätte meine Symptome verstärkt. Ich hätte mit diesem Buch nicht beginnen können und wäre vermutlich schon aufgrund der nicht vorhandenen und so notwendigen Konzentrationsleistung gescheitert. Und vor Angst.

Spätestens seit 2012, inzwischen also seit über sechs Jahren, muss ich mich mit dem befassen, was weit länger zurückliegt, als die bloße Anzahl an Jahren, die ich jetzt alt bin, um die Dinge zu erkennen, zu akzeptieren und zu überwinden, damit ich sagen kann: Es geht mir gut.

Dabei geht es um die psychologische Auseinandersetzung mit den Kriegsfolgen. Es geht um die Übertragung der Traumata, die Krisen, die Abgründe, die Dämonen und die Depressionen, die sich ereignet haben, ohne dass ich eine Wahl gehabt hätte. Ebenso werden die Auseinandersetzungen, die Furcht, die Selbstzweifel, die emotionalen Zerwürfnisse und oftmals eine Menge Traurigkeit eine Rolle in diesem Buch spielen. Auch meine psychische Erkrankung wird Platz brauchen und das Aufzeigen der Möglichkeiten, wieder gesund zu werden, das Erlebte zu betrauern und zu verarbeiten. Ich gehe davon aus, dass meine Geschichte sehr deutlich davon erzählt, was der Krieg an sich mit Menschen macht und welchen Preis er selbst noch von den nachfolgenden Generationen fordert. Letztlich reihe ich mich ein in eine inzwischen zur Verfügung stehende ganze Folge verwandter Publikationen zu diesem Thema, dessen bin ich mir bewusst. Teilhaben lassen möchte ich dennoch die Leserinnen und Leser an meiner Geschichte und daran, wie ich mit ihr umgegangen bin und umgehen musste, um noch am Leben zu sein. Vielleicht wird es den einen oder anderen bestärken oder zumindest ermutigen, sich auf seinen eigenen Weg zu machen.

Dass dies notwendig ist für jeden Einzelnen, der es in sich spürt, hat nicht zuletzt Matthias Lohre, Autor des Buches Das Erbe der Kriegskinder: Was das Schweigen der Eltern mit uns macht, in seinem Artikel in der Zeit vom Oktober 2014 sehr genau auf den Punkt gebracht, wenn er darin schreibt: „Millionen Traumatisierte (Kinder, die den Krieg erlebt hatten) sahen im Gründen einer Familie die Chance, die Liebe zu erfahren, die ihnen früh versagt geblieben war. Beängstigende Gefühle hielten die zu Eltern gewordenen Kriegskinder mit aller Kraft fern. Häufig zum Preis schwerer Depressionen oder scheinbar grundloser Wutausbrüche. Die Folge war eine trügerische Ruhe, von Kriegsenkeln in der Erinnerung häufig als Nebel oder bleierne Schwere beschrieben.“

Doch wer nicht fühlt, kann nicht mitfühlen – etwa mit den eigenen Kindern. Die Unfähigkeit zu trauern, pflanzte sich im Nachwuchs fort – als Unfähigkeit zu vertrauen. Der geburtenstärkste Jahrgang der Nachkriegszeit ist gerade mal über 50 Jahre alt.

Und: Wer Not und Hunger litt, kann die Ursache seiner Leiden leicht benennen: den Krieg. Wer in wachsendem materiellem Wohlstand aufwuchs, dem fällt die Erklärung schwerer. Die Eltern als Verursacher der eigenen Seelennot zu identifizieren, kommt vielen Kriegsenkeln nicht in den Sinn. Wir meinten es doch nur gut. Sei nicht so undankbar: Wer mit solchen Botschaften aufgewachsen ist, den plagen als Erwachsener Schuldgefühle. Wer glücklich werden will, fühlt sich als Verräter an den unglücklichen Eltern. Oder er bleibt, wie sie, sich selbst emotional fremd. Denn wer als Kind nicht gesehen wurde, entwickelt keinen Blick für sich selbst.

Das Sammeln notwendiger Fakten, was die Familie, die Geschichte und den Stand der psychologischen Forschung betrifft, brauchte deutlich weniger Zeit und Aufwand.

Ich möchte davon berichten, wie es einem Menschen, der 1966 in der Generation der Babyboomer geboren wurde, ergehen kann, wenn er in eine Familie hineingeboren wird, in der der Krieg, die Flucht, die Vertreibung, die Verluste, die Toten, der Dienst des Vaters in der Wehrmacht und somit das Mitläufertum, die Verfolgung von Teilen der Familie und die Entwurzelung in der Erinnerung eine viel größere Rolle gespielt haben als das Dasein in der Wirklichkeit.

Berichten muss ich von dem Missbrauch, der an mir begangen wurde, davon, dass ich schon als Vorschulkind genau wusste, was Krieg ist, wie er sich anfühlt, wie er sich anhört und wie er riecht. Gerne würde ich von meiner Mutter als einem Menschen erzählen, den ich geliebt habe und der alles für mich getan hat. Die vielleicht schmerzhafteste Erkenntnis ist für mich, dass dies nicht der Fall gewesen ist.

Erzählen will ich von Dingen, die Mut machen: von meinem ersten Kontakt zu einem Trauerberater, von meiner inzwischen abgeschlossenen Analyse, von meiner Heilung und vom Gesundwerden. Es geht nicht alleine um die Überwindung und das Zurücklassen der Erfahrungen und Gefühle. Vielmehr wird es um die Integration, das Ganzwerden und die Lebensfähigkeit gehen.

Zudem will ich davon berichten, wie einfach aus Abwertung in der Folge Selbstabwertung werden kann, die als Bürde für das ganze Leben seine Wirksamkeit zeigt.

Jetzt bin ich so weit. Bisher dachte ich immer, den Boden unter den Füßen zu verlieren, mich selbst zu verlieren, wenn ich von meiner Vergangenheit berichte. Oder dem Wahnsinn verfalle. Scheinbar haben mich die Analysestunden so stabilisiert, dass ich es mich traue. Ich kann beginnen zu schreiben. Etwas mehr Mut zu haben, ist eine der wichtigen Lektionen, die ich gelernt habe. Heute kann ich sagen, dass ich das Leben so nehme, wie es mir gegeben wurde. Gerade dies ist ein Satz, mit dem ich sehr lange gerungen habe.

Ich bin niemand, der sich hinsetzt und mit dem Schreiben beginnen kann. Einige Autoren können das. Tatsächlich brauchte ich einige Jahre für das Konzept und vor allem dafür, dass mich die hier beabsichtigte Reflexion meiner Geschichte in einem erträglichen Selbstempfinden hält und ich mich nicht wie sonst in einem Dauerzustand der Regression aufhalte. Leiden habe ich gelernt. Leiden will ich mit diesem Buch nicht.

Hineingeboren in die Geschichte

Geboren wurde ich am 16. April 1966 im Krankenhaus St.-Jürgen-Straße in Bremen. Meine Mutter war zum Zeitpunkt meiner Geburt 44 Jahre, mein Vater 50 Jahre alt. Niemand konnte ahnen, dass mir mit meiner Mutter nur knappe 14 Jahre und mit meinem Vater nur noch ein Jahr Zeit blieb. Dann waren sie fort, gestorben, und ich noch einsamer als in der Zeit zuvor mit ihnen.

Wir waren eine Flüchtlingsfamilie, ein Zustand, der bis zum heutigen Tag Auswirkungen und sich ganz tief in mein emotionales Gedächtnis eingebrannt hat. Genau genommen waren meine Eltern die Flüchtlinge, nicht ich.

Sie hatten durch den Zweiten Weltkrieg ihre Heimat in Labes im Kreis Regenwalde in Hinterpommern verloren und zumindest von meiner Mutter kann ich mit klarem Bewusstsein sagen, dass dies zum intensivsten und alles bestimmenden Teil ihrer Identität wurde. Durch den Umstand, dass ich nur im Zusammenhang mit ihren Kriegserfahrungen eine zärtliche Nähe zu ihr aufbauen konnte, niemals sonst, ist dieses Schicksal auch zu einem wesentlichen Teil meiner eigenen Identität geworden.

Ursprünglich stammte meine Mutter aus Labes, das heute Lobez heißt und polnisch ist. Dort war sie, wie sie mir erzählte, als viel zu früh geborenes Kind am 26. Januar 1922 zur Welt gekommen und nur Dank vorhandener Ziegenmilch am Leben geblieben. Ihre Eltern, Minna und Otto Holländer, und ihr Halbbruder Walter aus der ersten Ehe meiner Großmutter hätten einige Wochen lang um das Leben des kleinen Mädchens gebangt. Meine Großeltern kenne ich nur von Fotos und von ihren ehemaligen und längst eingeebneten Gräbern auf dem Achimer Friedhof. Otto Holländer, so zeigen es die Aufnahmen aus der damaligen Zeit, war ein kleiner schlanker Mann mit einem Gesicht, das auf den Fotos wie wettergegerbt aussieht, und arbeitete zunächst in der Landwirtschaft und später als Rangierer bei der Eisenbahn. Minna Holländer, die auf den Bildern aussieht wie so viele vergrämte hinterpommersche Landfrauen aus dieser Zeit, hatte immerhin ihren ersten Mann, Walters Vater, verlassen, weil der nach seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg zu trinken angefangen hatte und auch seine Wut nicht mehr zu kontrollieren gewusst haben soll.

Mein Vater stammt aus Gollnow in Westpommern, einer Stadt unweit von Stettin, die von Labes lediglich 70 Kilometer entfernt liegt. Er wurde dort am 19. April 1916 geboren. Von seinen Eltern und von seinem Aufwachsen weiß ich verhältnismäßig wenig. Es soll sich um eine kinderreiche Familie gehandelt haben, in der gerne musiziert und gefeiert wurde. Erinnerlich sind mir die Erzählungen meiner Mutter, wonach mein Vater einige Schwestern gehabt haben soll, doch bis auf eine Schwester, die es auch in den Westen geschafft hatte, sollen alle anderen Familienangehörigen im Verlauf des Krieges ums Leben gekommen sein. Die genauen Gründe sind mir dafür nicht bekannt. Auch scheint meine Mutter kein sehr ausgeprägtes Verhältnis zu ihren Schwiegereltern gehabt zu haben. Sie kamen gar nicht in ihren Erinnerungen, von denen sie mir seit Beginn meines Lebens viel erzählt hat, vor. Im Zusammenhang mit den Schwestern meines Vaters kann ich mich sehr gut daran erinnern, dass bei den Erzählungen meiner Mutter über das Verhältnis zu ihnen immer eine Spur Eifersucht im Spiel war. Eine deutlich gespannte eifersüchtige sprachliche Atmosphäre breitete sich bei uns aus, wenn sie über sie sprach.

Kennengelernt haben sich meine Eltern um 1940 herum, als meine Mutter als 18-Jährige zum sogenannten Reichsarbeitsdienst nach Gollnow, das heute den Namen Goleniów trägt, eingezogen wurde. Diese Fahrt mit der Eisenbahn nach Gollnow scheint meiner Mutter, die aufgewachsen war in einer Ortschaft namens Labes im Kreis Regenwalde, heute Łobez in Polen, die 1925 aus 6.088 vorwiegend protestantischen Einwohnern bestand, einigermaßen schwergefallen zu sein. Sie wird zum ersten Mal ihre Eltern und ihre beiden Brüder für einen längeren Zeitraum verlassen haben. Bemerkenswert finde ich heute, dass bei der Bevölkerungszahl angegeben werden kann, dass es genau 42 Katholiken und 43 Juden gewesen sein sollen, die einberechnet wurden.

Der Reichsarbeitsdienst (abgekürzt RAD) war eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Das Gesetz für den Reichsarbeitsdienst wurde am 26. Juni 1935 erlassen. § 1 (2) lautete: „Alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts sind verpflichtet, ihrem Volk im Reichsarbeitsdienst zu dienen. § 3 (1) lautete: Der Führer und Reichskanzler bestimmt die Zahl der jährlich einzuberufenden Dienstpflichtigen und setzt die Dauer der Dienstzeit fest.“ Zunächst wurden junge Männer (vor ihrem Wehrdienst) für sechs Monate zum Arbeitsdienst einberufen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Reichsarbeitsdienst auf die weibliche Jugend ausgedehnt.

Vielleicht ist es nur eine romantisierte Geschichte, vielleicht stimmt es auch, dass meine Eltern sich auf dem Bahnhof Gollnow kennengelernt haben. Ob Romantik oder nicht schenke ich ihr gerne Glauben. Der junge 24-jährige Hermann Schick soll meine Mutter Lilith angesprochen und gefragt haben, ob er ihren scheinbar schweren Koffer für sie zu der für sie vorgesehenen Unterkunft tragen dürfte. Am Ziel angekommen, habe er den Mut gefunden, sie um ein Wiedersehen zu bitten.

Meine Eltern entschieden sich, in Labes zu leben. Welche Gründe dazu führten, ist mir nicht bekannt. Erklärbar scheint es mir dadurch, dass meine Mutter eine ausgesprochen starke Verbindung zu ihren eigenen Eltern gehabt haben will. Vielleicht waren die Lebens- und Arbeitsumstände für meinen Vater, der Zimmermann gelernt hatte, in Labes deutlich günstiger als in Gollnow. Dort heirateten sie am 9. November 1940 in der St.-Marien-Kirche. Gerade dieses Datum ist es, das mich zutiefst verstört.

Vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen. Sie brannten in Deutschland. Sie brannten in Österreich. Sie brannten in der Tschechoslowakei. Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem Tausende Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens an diesem Tag konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit.

Lebten im 18. Jahrhundert nur zwei jüdische Familien in der Kleinstadt Labes, so erhöhte sich ihre Zahl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich und erreichte gegen Mitte des Jahrhunderts mit ca. 170 Gemeindeangehörigen ihren personellen Zenit.

Die jüdische Gemeinde verfügte seit 1840 über eine Synagoge auf einem Hinterhofgelände an der Tempelstraße, der späteren Wrangelstraße; auch ein eigenes Friedhofsgelände – auf einem Hügel östlich des Ortes – stand den Juden aus Labes zur Verfügung, nachdem bis Anfang des 19. Jahrhunderts Verstorbene auf dem jüdischen Friedhof in Plathe beerdigt worden waren.

Durch Abwanderung jüdischer Familien in die Großstädte verringerte sich die Zahl der Gemeindeangehörigen seit Ende des 19. Jahrhunderts deutlich. Gegen Ende der Weimarer Zeit lebten nur noch wenige Familien in Labes. Aufgrund dieser Tatsache schlossen sich Mitte der Zwanzigerjahre die Juden aus Labes mit denen aus Wangerin zur „Vereinigten Synagogengemeinde Labes und Wangerin” – mit Sitz in Labes – zusammen.

Ausgerechnet an diesem Jahrestag haben meine Eltern geheiratet. Aus meiner heutigen Sicht irritierend, verwerflich, scheinbar dumm, entblößend und irgendwie belastend. Ich kann es nicht beurteilen, wie sehr sie verstrickt waren in die Ausuferungen des Nationalsozialismus. Anzeichen für eine tiefere Verantwortlichkeit als die des belastenden Mitläufertums sind mir nicht bekannt. Kenntnisse über eine potenzielle Mitgliedschaft in der NSDAP habe ich nicht.

Unpolitisch waren meine Eltern nicht und die Lebensumstände im November 1940 waren beileibe nicht dafür geeignet zu behaupten, man habe doch von allem nichts gewusst. Allerdings hat meine Mutter diese Generationenlüge vor mir auch niemals ausgesprochen. Gefragt habe ich nicht danach.

Im August 1940 hatte Hitler längst zum Luftangriff auf London und andere britische Städte starten lassen, hatte sich mit Mussolini getroffen, um eine unheilige Allianz gegen Frankreich und England zu beginnen, und einen Luftangriff auf Rotterdam in den Niederlanden befehligt. Dänemark und Norwegen waren bereits im April besetzt worden. Die belgische Armee leistete etwas länger Widerstand. Bis zum 16. Mai wurden die Festungen Lüttich, Namur und die Dyle-Stellung eingenommen, am 17. Mai Brüssel und tags darauf Antwerpen. Der sogenannte Westfeldzug hatte gestartet.

Das Konzentrationslager Sonnenburg, nur etwa 170 Kilometer von Labes entfernt, entstand am 3. April 1933 als frühes Konzentrationslager auf Initiative des preußischen Ministeriums des Inneren und der Justiz in Sonnenburg bei Küstrin (an der Oder) in einem ehemaligen Zuchthaus. Zunächst kamen die ersten 200 Gefangenen zusammen mit 60 SA-Hilfspolizisten aus dem Berliner Polizeipräsidium. Später erfolgte auf Anordnung des preußischen Gestapochefs die Deportation von Häftlingen aus der Strafanstalt Gollnow in Pommern nach Sonnenburg, wodurch die Zahl der Inhaftierten auf 1.000 Menschen anstieg. Das Konzentrationslager Sonnenburg wurde am 23. April 1934 geschlossen; das Zuchthaus bestand weiter.

Als der Zweite Weltkrieg sich dem Ende näherte und sowjetische Truppen heranrückten, ereignete sich im Zuchthaus Sonnenburg das größte Massaker an Inhaftierten in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Ebenso unterhielt das KZ Stutthoff in Pölitz, heute Police, und ebenfalls nicht weit entfernt von Stettin, ein Außenlager.

Zudem befand sich damals in Labes an der Bismarckstraße 9 die NSFK-Sturm 12/10, eine Unterabteilung des Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK), eine paramilitärische nationalsozialistische Organisation, die von 1933 bis 1937 die Aufgaben der paramilitärischen Ausbildung zunächst im Verborgenen (1933 bis 1935) und nach der Erlangung der Wehrhoheit im Rahmen der militärischen Luftgaureserve durchführte.

Diese ganzen äußeren Umstände müssen meine Eltern mitbekommen haben, auch wenn die Synagoge in Labes nicht zerstört wurde. Da geht kein Weg dran vorbei. Vor allem dadurch nicht, dass 1933 noch 38 Personen jüdischen Glaubens in Labes lebten, 1939, als meine Mutter selbst 17 Jahre alt war, nur noch elf.

Weiterhin erschien auch in Labes die antisemitische Wochenzeitung Der Stürmer und die Pommersche Zeitung, die über die Geschehnisse berichtet haben werden.

Ebenso informierten diese beiden Zeitungen die pommersche Bevölkerung recht sicher über die Nürnberger Gesetze, die auch als Rassengesetze oder Ariergesetze bekannt sind.

So institutionalisierten die Nationalsozialisten ihre antisemitische Ideologie auf juristischer Grundlage. Sie wurden anlässlich des 7. Reichsparteitags der NSDAP, des sogenannten Reichsparteitags der Freiheit“, am Abend des 15. Septembers 1935 einstimmig vom Reichstag angenommen.

Als Kind vom Jahrgang 1922 wurde meine Mutter etwa 1928 eingeschult. Labes besaß eine eigene Volksschule. Selbst wenn Adolf Hitler erst 1933 offiziell die Macht in Deutschland errang, muss sie doch sehr viel alleine in der Schule vom nationalsozialistischen Menschenbild und vom Verschwinden jüdischer Mitschüler mitbekommen haben.

Einer Mitgliedschaft im BDM wird sich meine Mutter nicht entzogen haben können, gehörte es doch zur Pflicht. Der am 17. Juni 1933 zum Reichsjugendführer ernannte Baldur von Schirach erließ sogleich Verordnungen, die die bis dahin bestehenden, konkurrierenden Jugendverbände auflösten oder verboten. Durch die Zwangseingliederung dieser Jugendgruppen – soweit sie sich nicht selbst auflösten, um sich dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen – erfuhren HJ und BDM einen großen Mitgliederzuwachs. Noch nicht gleichgeschaltete Jugendgruppen (aufgrund des Reichskonkordates betraf das ausschließlich die katholische Jugendarbeit) waren oft Schikanen ausgesetzt, mit dem Ziel der erzwungenen Eingliederung in die nationalsozialistischen Jugendverbände. Mit dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ vom 1. Dezember 1936 wurden alle Jugendlichen des Deutschen Reichs zur Mitgliedschaft in HJ oder BDM zwangsverpflichtet.

Wohl weiß ich von meiner Mutter, dass sie an Sammlungen für das Winterhilfswerk teilgenommen hat. Ob sie es mochte, ist mir nicht bekannt. In meiner Sehnsucht nach wenigstens innerlich bestehendem Widerstand teile ich diesen Wunsch mit vielen Nachgeborenen.

Oftmals habe ich mich gefragt, mit welchem Menschenbild meine Mutter aufgewachsen ist. Als 1922 geborenes Mädchen bekam sie von der Geschichte um sie herum in den folgenden Jahren sicher einiges mit.

Trotz aller Machtbefugnisse, die Adolf Hitler in der NSDAP zugestanden worden waren, hatte er in diesem Jahr den Bogen überspannt. Seiner aufrührerischen Äußerungen wegen musste er eine vierwöchige Haftstrafe antreten.

Im Deutschen Reich hofften die bürgerlichen und sozialdemokratischen Politiker der Weimarer Regierungskoalition trotz allem zu Beginn des Jahres noch auf eine allmähliche Stabilisierung der Wirtschaft und Festigung der Demokratie. In Deutschland gab es kaum Arbeitslose, denn einheimische Produkte waren auf dem internationalen Markt gefragt, weil sie infolge des gesunkenen Wertes der Mark billig angeboten werden konnten. Zwar musste der größte Teil der Einnahmen für die Zahlung von Reparationen und Kriegsschulden verwendet werden, doch versuchte die Regierung in Berlin, die aufgrund des Versailler Vertrages festgelegten Zahlungsbedingungen in Verhandlungen mit den Alliierten auf ein erträgliches Maß zu vermindern.

1943, als meine Schwester geboren wurde, lag Deutschland und Europa fast komplett in Trümmern. Am 1. Januar begann die Wehrmacht sich aus dem Kaukasus zurückzuziehen. Anhand einer Anordnung Hitlers wurde der Bau von Großkampfschiffen am 6. Januar eingestellt, um den Bau von U-Booten zu beschleunigen. Dies nahm der Großadmiral Erich Raeder zum Anlass, als Oberbefehlshaber der deutschen Seestreitkräfte zurückzutreten. Seine Nachfolge trat der Großadmiral Karl Dönitz an. An der Ostfront lehnte Generaloberst Friedrich Paulus die Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad ab und zwang die Rote Armee, Stalingrad zu erobern. Auf der Konferenz von Casablanca, vom 14. bis 24. Januar, forderten Roosevelt und Churchill die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, nachdem sie sich entschieden hatten, den Krieg auf jeden Fall weiterzuführen. Der durch die deutschen Truppen gesetzte Belagerungsring um Leningrad konnte von der Roten Armee am 18. Januar aufgebrochen werden. In der „Wolfsschanze“ wurde zwischen dem japanischen Botschafter und dem deutschen Außenminister Ribbentrop am 20. Januar ein Wirtschaftsabkommen unterzeichnet. Die in Nordafrika stationierten Verbände Deutschlands und Italiens traten am 21. Januar den Rückzug an. Hjalmar Schacht wurde am 22. Januar von Hitler aus dem Kabinett entlassen. Bei einer Großrazzia in Marseille wurden 40.000 Menschen festgenommen, um deportiert zu werden. Die 6. Armee, unter Generaloberst Paulus, erklärte am 31. Januar ihre Kapitulation und handelte damit gegen den ausdrücklichen Befehl Hitlers. Die Schlacht um Stalingrad ging in die Kriegsgeschichte ein. Mit Paulus‘ Kapitulationserklärung gerieten rund 108.000 Soldaten in die russische Kriegsgefangenschaft. Nur 6.000 von ihnen überlebten und konnten im Jahre 1956 in die Heimat zurückkehren. Am 11. Februar wurde damit begonnen, 15-Jährige für die Unterstützung der Luftwaffe zu rekrutieren. Hitler erteilte am 14. Februar den Befehl, dass die im Rückzug befindliche Wehrmacht an der Ostfront alles hinter sich zerstören sollte, um der vorrückenden Roten Armee nur noch „verbrannte Erde“ übrig zu lassen. Diese begann am 16. Februar bereits damit, das ukrainische Charkow zurückzuerobern. Joseph Goebbels hielt am 18. Februar seine berüchtigte Propagandarede, in der er unter tobendem Beifall den „Totalen Krieg“ verkündete. Parallel dazu fand genau an diesem Tag die Verhaftung der Geschwister Scholl statt, welche für ihre Flugblattaktionen zum Tode verurteilt wurden. In Nordafrika entstand am 23. Februar die Heeresgruppe Afrika, bestehend aus italienischen und deutschen Truppen, und wird dem Befehl von Generalfeldmarschall Erwin Rommel unterstellt. Hitler gab am 24. Februar die Anweisung, dass Befehlsverweigerer in der Wehrmacht auf der Stelle zu erschießen sind.

Aus meiner Kindheit kann ich kaum ableiten, auf welchem Bildungsniveau sich meine Mutter befand. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie das unsägliche Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer im Schrank stehen hatte, ist groß. Schätzungen gehen davon aus, dass von diesem Werk bis Kriegsende 690.000 Exemplare existierten, es kostete 3,20 Reichsmark.

Johanna Haarer, geboren 1900, war eine österreichisch-deutsche Ärztin und Autorin von Erziehungsratgebern vor und nach dem Krieg, die eng an die Ideologie des Nationalsozialismus angelehnt waren. Haarer war seit 1937 Mitglied der NSDAP und zeitweise „Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen“ der NS-Frauenschaft in München.

Ziehe ich in der Reflexion alles zusammen, bringe ich die Zeit des Aufwachsens meiner Mutter, ihre zwangsläufigen Prägungen im Nationalsozialismus und ihre traumatisch-manifesten Verluste miteinander in Einklang, spüre ich, wie tief das Grauen meiner eigenen Kindheit in meiner Mutter angelegt war.

Gertrud Haarer, Jahrgang 1942, letztes und jüngstes von insgesamt fünf Geschwistern, Buchhändlerin und Altenpflegerin; sie pflegte ihre Mutter bis zu deren Tod; lebt heute in Italien, erzählt in ihrem eigenen Buch „Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind“, wie sie als Kind und Jugendliche ihre Mutter Johanna Haarer erlebte. Darin berichtet Gertrud Haarer davon, wie sie ein Leben lang unter dieser Mutter und deren Idealen gelitten hat.

Erst als die Mutter Johanna Haarer älter wurde, begann die jüngste Tochter Gertrud, sich mit deren Leben und der Nazi-Ideologie ihrer Erziehungsbücher auseinanderzusetzen. Das Dramatische für die Tochter soll gewesen sein, dass die Mutter bis zu ihrem Tod ihre kruden Ansichten vertreten hat. „Ich bin schier wahnsinnig geworden“, so Gertrud Haarer. Wie konnte ihre Mutter, die Ärztin, die Euthanasie billigen? Wie den Tod von sechs Millionen Juden befürworten? Die Ansichten der Mutter, wie sie sie auch in ihrem Erziehungsratgeber veröffentlicht hat, habe das gesamte Leben der Tochter geprägt: ihre Strenge, ihre Unnachgiebigkeit, ihre emotionale Kälte. „Eine Kindheit gab es nicht“, berichtet sie. Den Schreibtisch der Mutter bezeichnete sie schon als Kind als „Hitlers Schreibtisch“. Sie musste einen Termin machen, warten, bis sie gefragt wurde, geradezu „antreten“.

Am Ende des Buches ist ein ergreifender Satz zu lesen: „Ich wollte nie Kinder haben und ahnte dunkel, dass das etwas mit meiner Kindheit und meiner Erziehung zu tun hatte, es war mir unvorstellbar, eine liebende Mutter sein zu können und mein Kind verständnisvoll zu erziehen.“

Mein Vater Hermann hatte seine Einberufung zur Wehrmacht kurz nach der Eheschließung bekommen und vielleicht war die Heirat am Jahrestag der Reichspogromnacht reiner Zufall. Was bleibt, ist ein fader Nachgeschmack und ein Gefühl davon, über diese familiären Informationen nicht Bescheid zu wissen. Sein erster Einsatz sollte ihn nach Frankreich führen.

Mangels weiterer Details kann ich meine Eltern als Mitläufer, Mitwisser und Sympathisanten identifizieren. In die andere Richtung gibt es einige mehr oder weniger diffuse Hinweise, die durch das Nichtvorhandensein von Zeitzeugen für mich nicht belegbar sind. Hier sind es bei mir und in meiner Geschichte immer und immer wieder nur die Dinge, die mir meine Mutter aus dieser Zeit von allerfrühesten Kindesbeinen an erzählt hat. Genau darin liegt eine besonders perfide Art des Missbrauchs eines kleinen Kindes. Darauf möchte ich etwas tiefer zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Buch zurückkommen.

Aus den Erzählungen meiner Mutter gibt es Hinweise, dass zumindest mein Großvater Otto gegen Hitler eingestellt gewesen sein soll. Dem habe er das eine oder andere Mal im privaten Raum derartig lautstark Ausdruck gegeben, dass die Fenster geschlossen werden mussten.

Als selbst meine Großmutter Minna zum „freiwilligen Ehrendienst der Frauen in der Kriegswirtschaft“ 1940 antreten sollte, rief das meine Mutter auf den Plan.

Diesen freiwilligen Zwangsdienst sollte sie in der Rüstungsindustrie ableisten. Von dieser dreckigen Arbeit waren vor allem Frauen aus dem Bürgertum verschont, während Zwangsarbeiterinnen und Landfrauen dort schuften mussten. 1942 wurden alle Frauen zur Arbeit in Rüstungsbetrieben verpflichtet, wovon sich viele Frauen durch Mutterschaft oder Kontakte zur Regierung befreien konnten.

Meine Mutter berichtete mir staunendem Kind davon, dass sie zur NSDAP-Kreisleitung nach Regenwalde gefahren sei, was mir schon damals wie eine unglaublich mutige Tat vorgekommen ist. Ihr Ziel sei es gewesen, ihre Mutter vom Arbeitsdienst zu befreien, weil diese, angesichts der Tatsache, dass sie bereits zwei Söhne und ihren Mann im Krieg hatte, von denen naturgemäß nur spärliche Informationen in der Heimat ankamen, schon genug für das Reich getan habe. Wie meine Mutter berichtete, soll es eine überaus unangenehme Begegnung mit dem Kreisleiter gewesen sein. Ihr Ziel hatte sie dennoch erreichen können.

Als Kind liebte ich es, in einer alten Kiste mit Fotos aus der Vergangenheit meiner Familie zu kramen. Es geschah mehrmals, dass mein Blick dabei auf einem alten, beinahe vergilbten Bild verharrte, das eine kopftuchtragende sehr alte Frau zeigte. Ich weiß, dass ich meine Mutter oft danach fragte, wer das sei. Jedes Mal machte meine Mutter nur sehr allgemeine, fast nebulöse Angaben zu dieser Person. Ich verstand lediglich, dass es sich dabei um die alte Oma Stein handelte. Fast war es Standard, meine Mutter angesichts der Menschen, die ich selbst nicht gekannt und erlebt hatte, danach zu fragen, was aus ihr geworden sei. Gut erinnerlich ist mir geblieben, dass Oma Stein eines Tages abgeholt worden sei und nicht mehr zurückkam. Auf meine Frage, warum sie abgeholt worden wäre, gab es die Antwort: „Weil sie den falschen Glauben hatte.“

Als merkwürdig empfinde ich seit vielen Jahren mein Wohlgefühl, wenn ich jüdische Musik höre und die jiddische Sprache, die ich so ausnehmend gut verstehe, selbst aber nicht sprechen kann. Mir wird dann ganz warm und es kommt mir so vertraut vor, als hätte meine Mutter mir jüdische Kinderlieder vorgesungen. Der Familienname Schick kann dabei auch etwas geringe Auskunft geben: Es handelt sich nicht um eine Bezeichnung für jemanden, der sich ausgesprochen gut und geschmackvoll zu kleiden verstand, sondern für jemanden, der sich angeschickt hat, Menschen oder Dinge zu bewegen. Die Lieder „Hava Nagila“ und „Schalom Alechem“ kann ich seit meiner frühesten Kindheit auswendig, weiß aber bis heute nicht, warum.

Am 24. Dezember 1944 starb in der Nähe einer kleinen Bauernschaft bei Karsas in Lettland der jüngere Bruder meiner Mutter. Werner hatte auf einem Panzer Platz nehmen müssen und erlitt einen Kopfschuss. Er war sofort tot. Verscharrt wurde er mit vielen anderen deutschen Soldaten in einem Massengrab und ist bis heute nicht geborgen. Den Tod Werners hat meine Mutter ihr ganzes Leben lang nicht verarbeiten können. Er gehört zu den lebenden Toten, die durch ihre unsichtbare stete Anwesenheit Teil meiner Kindheit waren. Werner ist das letzte Mal in diesem Jahr in mein Leben getreten beziehungsweise das, was über 70 Jahre nach seinem Tod von ihm noch übrig sein kann. Darauf möchte ich zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Buch eingehen.

Wenn ich den Erzählungen meiner Mutter Glauben schenke, was für mich als Kind außer Frage stand, so erreichte die Todesnachricht, dass Werner Holländer „für Führer, Volk und Vaterland und für den Erhalt des Großdeutschen Reiches“ sein Leben gelassen hatte, die Familie mit einigen Wochen Verzögerung. Das Entsetzen über seinen Tod hat meine Mutter nie verlassen.

Einige Zeit vor dem Tod meines Onkels kam meine Schwester Maria, am 17. August 1943, in Labes zur Welt. Auch aus dieser Zeit gibt es lediglich ein paar Fotos, die meine Schwester als Kleinkind oder auf dem Arm meiner Mutter zeigen. Einige von ihnen soll mein Vater als Soldat bei sich geführt haben. So sehen sie auch aus. Sie sind teilweise angerissen, vergilbt und ein Rußfilm hat sich darauf abgelagert, der nicht zu entfernen ist. Sie wurde in eine Zeit hineingeboren, aus der es körperlich und seelisch kein Entkommen mehr gab.

Auf den wenigen Bildern, die von meiner Schwester und von meiner Mutter aus der gemeinsamen Zeit in Labes erhalten sind, blicken mir ein properes kleines Kind und eine sorgenvolle junge Mutter entgegen.

Das Propagandabild vom Bolschewisten sowie bekannt gewordene Grausamkeiten sowjetischer Soldaten an deutschen Zivilisten lösten parallel zum sowjetischen Vormarsch ab Oktober 1944 gewaltige Flüchtlingstrecks der deutschen Bevölkerung aus. Zunächst aus Ostpreußen, schließlich aus Schlesien und Pommern zogen Millionen in den Wintermonaten 1944/45 bei Schnee und Kälte zumeist zu Fuß mit Handwagen oder mit Pferdefuhrwerken in das westliche Reichsgebiet. Viele Fluchtwillige wurden zuvor von politischen Leitern zu lange vom Verlassen ihrer Orte zurückgehalten: Flüchtlingsströme passten nicht zu den bis zuletzt verkündeten Siegesparolen der NS-Propaganda. Wer von der schnell vorrückenden Roten Armee eingeholt wurde, dem drohten Misshandlung, Vergewaltigung und Ermordung.

Bis Ende Februar 1945 übertönten Hitlers Durchhalteparolen auch in Pommern das Grollen der nahenden Front. Der ersehnte Räumungsbefehl erreichte die Pommern spät oder nie. Die Truppen der Roten Armee überrollten die Flüchtenden, besetzten Dörfer und Städte.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eroberten sowjetische Truppen im März 1945 Labes, legten Brände und zerstörten die Innenstadt weitgehend.