Aus dem Amerikanischen von Alexander Amberg

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Independence Day

erschien 2015 im Verlag St. Martin’s Press.

Copyright © 2015 by Ben Coes

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Alexander Rösch

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-625-0

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Mit der tiefsten Liebe, die ein Vater empfinden kann,

widme ich dieses Buch meiner Tochter Esmé.

Wenn das grüne Feld sich wie ein Deckel hebt,

Enthüllt, was besser im Verborg’nen lebt –

Unangenehm.

Und sieh nur, hinter dir, ganz ohne Laut,

Treten die Wälder näher, stehen herum

Im tödlichen Halbrund.

Der Bolzen rutscht in seine Nut;

Draußen vor dem Fenster steht ganz gut

Der schwarze Leichenwagen.

Und jetzt, ganz plötzlich, kommen sie heran,

Verschleierte Frauen, bucklige Wundärzte

Und der Scheren-Mann.

– W. H. Auden, The Witnesses

PROLOG

DNIPROPETROWSK, UKRAINE

KRIM-HALBINSEL, SOWJETUNION

4. JULI 1986

Pjotr Vargarin, fünf Jahre alt, zog ein zerknittertes Blatt Papier aus seiner Regenjacke und faltete es auseinander.

Mein lieber Sohn Pjotr,

vielleicht bist du noch zu jung, um zu begreifen, was ich dir mitteilen möchte. Gleichwohl muss ich mein Bestes geben, dir zu erklären, weshalb deine Mutter und ich gemeinsam den Entschluss zu unserem Vorhaben gefasst haben. Zwar sollte man keinem Fünfjährigen die Macht geben, über das Schicksal einer Familie zu entscheiden, doch ich bringe dir den größten Respekt entgegen und werde mich stets, wann immer es mir möglich ist, um dein Verständnis, deine Sympathie und deine Zustimmung bemühen.

Warum, fragst du, müssen wir in die Vereinigten Staaten von Amerika umziehen? Ist denn nicht die Sowjetunion unser Land? Sage ich denn nicht immer, Moskau sei der schönste Ort auf Erden? Wer macht dich denn so gern darauf aufmerksam, dass die Eiszapfen wie riesige Säbel vom Dach des Kreml herabhängen? Oder dass die Chrysanthemen am Ufer der Moskwa uns im Frühling zuwinken wie alte Freunde?

Weiß ich denn nicht mehr, wirst du fragen, wie wir bei der Datscha auf dem Feld gelegen haben und in den Sommerhimmel blickten, beobachteten, wie die Wolken vom Horizont heranzogen und sich nicht mehr von der Stelle rührten, während der warme Regen auf uns, auf dich und mich, niederprasselte; wie wir darüber lachen mussten und wie fuchsteufelswild Mama war, als wir, völlig mit Schlamm bedeckt, nach Hause kamen? Natürlich weiß ich das noch! An dieser Erinnerung können wir immer festhalten! Und jetzt werden wir uns neue Erinnerungen schaffen. Ich werde dir Abenteuer zum Geschenk machen, mein kleiner Liebling, mein Ein und Alles, mein kostbarer Schatz, Pjotr, mein kleines Wölkchen …

Der Mann auf dem Vordersitz der Limousine drehte sich um und lächelte den Jungen an. »Was liest du denn da, Pjotr?«

Trotz der Narbe neben dem Nasenflügel, die ihn dauernd so komisch blinzeln ließ, als hätte er etwas im Auge, strahlte er etwas Freundliches und Liebenswürdiges aus.

Pjotr blickte zu ihm auf. Rasch faltete er den Brief zusammen und verstaute ihn in der Jackentasche. »Nichts.«

»Nichts?« Der Mann lachte dröhnend. »Ich wünschte, ich könnte genauso glücklich sein wie du, wenn ich nichts lese.«

Der Mann hieß Mr. Roberts. Er war der Amerikaner, von dem Papa gesprochen hatte. Er fuhr sie zum Boot, das sie nach Istanbul bringen sollte, von dort ging es mit dem Flugzeug weiter in die Vereinigten Staaten.

»Einen Brief.«

Pjotr schaute seine Mutter an. Sie starrte aus dem Fenster der Limousine auf die vorbeihuschende Landschaft.

»Magst du Feuerwerk, Pjotr?« Roberts hatte den Kopf nach wie vor in seine Richtung gedreht. »Kann sein, dass du eins zu sehen bekommst, wenn du heute Abend in New York landest. In deiner neuen Heimat feiert man den Unabhängigkeitstag. Independence Day nennt man ihn dort.«

Pjotr erwiderte nichts darauf.

»Bist du genauso intelligent wie dein Vater?«

Pjotr schenkte seiner Mutter einen Hilfe suchenden Blick. Sie erwiderte ihn kaum merklich; es war in Ordnung, mit dem Fremden zu reden.

»Ja«, sagte Pjotr. »Ich bin der Klügste in der ganzen Sowjetunion.«

»Der Klügste?« Der Amerikaner lachte. »Du bist ganz schön bescheiden.«

»Es stimmt«, entgegnete Pjotr ruhig. Wieder ein Blick zu seiner Mutter.

»Du sollst nicht angeben«, mahnte sie.

Zum ersten Mal schaute sie Roberts an. »Es ist wahr.« Sie legte Pjotr die Hand aufs Bein. »Bei den genormten Prüfungen schnitt er in der Altersgruppe der Fünf- und Sechsjährigen als Bester ab.«

Roberts mimte den Erstaunten. Ihm schienen fast die Augen aus den Höhlen zu quellen.

»Von ganz Moskau?«, fragte er. »Das ist unglaublich. Es gibt wohl …«

»Als Bester der ganzen Sowjetunion«, versetzte sie scharf und wandte sich erneut dem Fenster zu.

Roberts musterte den Jungen. »Nun, das ist äußerst beeindruckend, Pjotr«, meinte er, heftig nickend. »Vielleicht wirst du ja mal genauso berühmt wie dein Vater, Dr. Vargarin? Möchtest du später auch Wissenschaftler werden?«

Als Pjotr ein paar Stunden später aufwachte, lag sein Kopf im Schoß seiner Mutter. Sie streichelte ihm über die Wange, um ihn zu wecken.

»Wir sind da, kleines Pummelchen«, flüsterte sie.

Vor der Limousine standen zwei Männer. Sie trugen schwarze Anzüge, so wie Roberts. Einer von ihnen hielt eine Maschinenpistole in der Hand.

Sie folgten Roberts einen unbefestigten Weg entlang durch den Wald. Mehr als anderthalb Kilometer gingen sie zu Fuß. Durch die Bäume hörten sie, wie in der Ferne Wasser gegen eine Felsküste brandete. Schließlich erreichten sie eine Lichtung. Vor ihnen erstreckte sich das Schwarze Meer. Ein rotes Motorboot lag vertäut an einer hölzernen Pier. Pjotrs Vater stand auf der Lichtung, umgeben von weiteren Bewaffneten. Die Arme waren auf dem Rücken festgebunden, das rechte Auge zugeschwollen. Unter seiner Nase sammelte sich Blut.

»Pjotr!«, rief er, als er seinen Sohn sah.

Pjotr wollte zu seinem Vater stürmen, doch einer der Männer hielt ihn am Kragen fest.

»Lass ihn los«, mahnte Roberts.

Pjotr rannte los. Mittlerweile weinte er. Er rutschte aus, fiel hin, rappelte sich auf. An der Kleidung seines Vaters klebte überall Blut und Dreck. Sie war stellenweise zerrissen. Er trug nur noch einen Schuh.

»Ich will nicht nach Amerika.« Pjotr schluchzte und streckte die Hände nach dem Arm seines Vaters aus.

»Wir gehen nicht nach Amerika«, flüsterte der. Traurig blickte er auf ihn hinab. »Du hattest recht mit deinem Bauchgefühl, Pjotr. Kindliche Weisheit; ich hätte auf dich hören sollen. Tut mir leid. Bitte, bitte verzeih mir eines Tages, was ich dir jetzt antue. Vergib mir die schrecklichen Wunden, die der heutige Tag in dir reißen wird. Ich werde nicht dabei sein, wenn du gesund wirst.«

Roberts trat zu ihnen. Zum ersten Mal verschwand das Lächeln aus dem Gesicht des Amerikaners. Pjotr sah nichts als nackte Wut darin. Die Narbe wirkte keineswegs mehr fehl am Platz, im Gegenteil, sie komplettierte das Gesamtbild.

»Wir waren geduldig, Doktor, aber unsere Geduld ist jetzt am Ende. Wo ist es?«

»›Geduld‹? Halten Sie das für die passende Formulierung? Sie haben die Familie eines Mannes hergebracht, damit sie ihm beim Sterben zusieht!«

Roberts starrte Vargarin an. Er langte in sein Jackett und zückte eine Pistole. Ohne den Blick von Vargarin zu lösen, richtete er die Mündung in die entgegengesetzte Richtung und drückte ab. Der Schuss ließ Pjotr zusammenzucken. Er drehte sich um und sah seine Mutter zu Boden sinken, ein großes Loch in der Stirn.

Pjotr machte Anstalten, zu ihr zu laufen, doch Roberts packte ihn an den Haaren und stieß ihm den Lauf der Pistole in den Mund. Er war warm, schmeckte nach Öl und Pulverdampf.

»Wo ist es?«

Pjotr blickte auf. Er hatte seinen Vater noch nie weinen sehen.

»Im Institut«, schluchzte dieser. »Unter dem Zettelkatalog. In der Schublade mit dem Buchstaben ›O‹.«

Mit einem Ruck zog Roberts die Waffe aus dem Mund des Jungen, richtete sie auf Vargarin und schoss. Die Kugel traf ihn genau in die Brust und schleuderte ihn zurück. Er war auf der Stelle tot. Mit verdrehten Gliedmaßen stürzte er in den Schmutz.

Pjotr riss den Mund weit auf, um zu schreien, doch kein Laut kam ihm über die Lippen. Neben seinem Vater sank er zu Boden und starrte ihn an. Jegliche Emotion war aus Pjotrs Augen gewichen, er konnte den Blick nicht von dem Toten lösen, der dort am Boden lag.

»Legt sie ins Boot«, befahl Roberts einem der Männer. »Nehmt die Handschellen ab, legt eine Waffe dazu und lasst das Boot anderthalb Kilometer vor der Küste treiben. Ich fahre nach Moskau und hole die Diskette.«

»Was ist mit dem Jungen?«

Roberts richtete die Waffe auf Pjotrs Hinterkopf. Mehrere Augenblicke lang verharrte er so. Nach fast einer halben Minute steckte er sie zurück ins Schulterholster.

»Bringt ihn ins örtliche Waisenhaus.«

1

YERMAKOVA ROSCHA

PRESNENSKY-VIERTEL

MOSKAU, RUSSLAND

GEGENWART

Mit röhrendem Motor donnerte eine rot-weiße Ducati Superleggera 1199 durch das Stadtviertel Presnensky – verlassen, dunkel und trügerisch ruhig präsentierte es sich an einem milden Moskauer Morgen kurz vor Sonnenaufgang.

Mit über 160 Sachen, gerade noch so unter Kontrolle, als wollte er die Grenzen seines Könnens ausloten, jagte der schwarz behelmte Fahrer das Superbike die Rilsok entlang. Er war ein versierter Fahrer, aber Erfahrung allein reichte nicht, wenn man auf einer Maschine hockte, die das beste Leistungsgewicht aller Serienmotorräder mitbrachte.

Presnensky war ein sauberes Viertel voller Gegensätze. Atemberaubende Villen und Luxus-Apartmenthäuser standen in unmittelbarer Nachbarschaft von Lagerhallen. Das Donnern des wassergekühlten Superquadro-Motors fiel in dieser Umgebung nicht aus dem Rahmen. Niemand schien davon Kenntnis zu nehmen. Mehr als in jedem anderen Bezirk der expandierenden russischen Hauptstadt hatten die Bewohner Presnenskys schon vor langer Zeit gelernt, den Mund zu halten, wegzuschauen und ihre Neugier zu zügeln.

An einer Straße mit dem Namen Velka neigte sich der Biker abrupt nach rechts und legte die Ducati dermaßen schräg, dass sie um ein Haar wegkippte, während er bei 140 km/h in sanftem Bogen durch die 90-Grad-Kurve schoss. Das Knie schrammte über den Boden, doch er wurde nicht langsamer, nein, drehte das Gas sogar noch weiter auf und peitschte die Maschine hindurch. Als seine Handschuhe den Asphalt streiften, drehte er noch einmal am Gasgriff, jagte die Drehzahl in letzter Sekunde noch höher, setzte sich über Logik und Schwerkraft hinweg und kitzelte das Letzte aus dem Motor heraus.

Einen Augenblick später beschrieb der Fahrer eine scharfe Kehre. In einer Aktion, die einem den Atem verschlug, legte er die Ducati abrupt in die entgegengesetzte Richtung – scharf links – und riss mit qualmendem Vorderreifen den Gashahn voll auf. Für einen Sekundenbruchteil schwebte das Hinterrad in der Luft, bevor das Geschoss den letzten Kilometer der verlassenen, unbeleuchteten Straße durchmaß und vor einem dreigeschossigen weißen Backsteinbau mit einem einzigen Fenster mit dunkelrot getönter Scheibe schlitternd zum Stehen kam.

Der Fahrer stellte den Motor ab, klappte den Seitenständer aus, stieg ab, zog den tiefschwarzen Helm vom Kopf und ließ ihn auf der Sitzbank zurück. Die Superleggera traf eine klare, unmissverständliche Aussage. Der Helm auf der Sitzbank bildete das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem i: Unterstehe dich, mich zu klauen. Du wirst schon sehen, was du davon hast.

Presnensky war der Stadtteil, in dem die Moskauer Mafia das Sagen hatte, eine Stadt innerhalb der Stadt. Hier galten eigene Gesetze. Jeder, die Polizei eingeschlossen, wusste das. Einige wenige Privilegierte betrachteten Moskau als rechtsfreien Raum. Und Presnensky lag im Epizentrum dieser Gesetzlosigkeit.

Der Mann trat auf den Eingang des Gebäudes zu. Dumpfe Bässe wummerten im Inneren. Er zog die Tür auf. Mit der Lautstärke einer Bombenexplosion schwappte Musik auf die Straße; ein chaotisches elektronisches Synthesizer-Gemisch, unterlegt mit einem eintönigen, seismischen Beat.

Drinnen tobte die Hölle. Ein wildes, vom Kokain angeheiztes Pandämonium aus Leibern, Musik, Lichtern und Rauch mit einem düsteren, dystopischen Beigeschmack. Unter zuckenden blauen, orangefarbenen und gelben Scheinwerfern tanzten wenigstens 1000 Männer und Frauen wie entfesselt zu donnernden, grotesk und offenbar willkürlich gemixten Synthesizer- und Schlagzeugklängen, die den Boden unter den Füßen erbeben ließen. Ein Geruch nach Schweiß, Rasierwasser, Parfüm und Marihuana schwängerte die Luft.

Er begab sich in den Hexenkessel. Die drogenverhangenen Blicke junger Moskauer streiften ihn beim Spießrutenlauf durch die Menge. Er stieß Leute zur Seite und bahnte sich einen Weg durch die gut gefüllte Tanzfläche. Der blonde Afrolook und die unbändig auf und ab wippenden Locken verliehen ihm ein enormes Charisma und ließen ihn aus der Masse herausstechen. Die Augen jeder Frau im Umkreis von drei Metern hingen an ihm. Das lag nicht zuletzt an seinem schmalen, hageren, aber ungemein einnehmenden Gesicht.

Am Ende des riesigen Dancefloors befand sich ein roter Samtvorhang. Der Mann schritt hindurch. Prompt blickte er in die Mündung einer silbernen MP-448 Skyph 9 mal 18 Millimeter. Der Security-Mann, der die Pistole umklammerte, war allein. Der Kerl war ein wahrer Schrank, sah gefährlich aus. Er trug ein enges, schwarzes, bis zum Nabel aufgeknöpftes Seidenhemd und musterte den Fremden, als dieser durch den Vorhang trat, bewegte sich auf ihn zu und hielt ihm die Waffe an die Stirn.

»Semdesyat dva«, murmelte er.

»Da.«

Der Posten steckte die Skyph ins Holster unter der linken Achselhöhle zurück und tastete den Neuankömmling ab. Ohne Augenkontakt signalisierte er ihm mit einem Nicken, dass er passieren dürfe.

Der Mann stieg eine Treppe in den Keller hinab und ging durch den schwach erhellten Korridor. Am Ende des Ganges versperrte eine Stahltür den Weg. Wie Säulen standen zwei Bewaffnete davor. Beide hielten Maschinenpistolen in den Händen. Als er näher kam, richteten sie instinktiv die Läufe auf ihn.

Falls es ihm etwas ausmachte, sich im Visier zweier MPs zu befinden, ließ er sich nichts davon anmerken.

Der Posten zu seiner Linken suchte ihn erneut ab, energischer diesmal, auf der Suche nach allem, was er vor ihm verbergen mochte. Da er nichts fand, nickte er seinem Kollegen zu. Dieser streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

Der Mann trat ein, während die Wache die Tür hinter ihm schloss.

Ein großer, fensterloser Raum, in dem pedantische Ordnung herrschte. Auf der einen Seite stand ein Glasschreibtisch, leer bis auf einen Laptop, einen kleinen Stapel Papier und eine Pistole. Auf der anderen Seite befand sich eine Sitzecke. An der Wand hing ein riesiger Plasmabildschirm und zeigte eine Szene aus einem Videospiel. Ein Schlachtfeld, bemerkenswert lebensecht, fast wie eine dokumentarische Aufnahme aus den Nachrichten. Man verfolgte die Szene aus dem Blickwinkel eines Soldaten, der sich über das Schlachtfeld bewegte und auf Gegner feuerte.

Auf einer schwarzen Ledercouch direkt vor dem Fernseher saß ein Mann mit braunem, nach hinten gegeltem Haar, das er in der Mitte gescheitelt trug. Ein Muskelshirt spannte sich über der trainierten Brust, um den Hals lag eine Goldkette über der anderen. Er starrte auf den Bildschirm und traktierte das Gamepad.

»Hallo, Cloud!« Malnikov, das 34-jährige Oberhaupt der Moskauer Mafia, drehte sich um und strahlte seinen Besucher an. Lächelnd erhob er sich von der Couch. »Was darf ich dir anbieten?«

»Wodka.«

»Aber klar doch!«

Malnikov trat an eine Bar in der Ecke, schenkte zwei Gläser ein und kam damit zurück.

»Bitte!« Malnikov reichte Cloud den Drink und deutete auf eine zweite Couch neben dem Schreibtisch. »Nimm Platz, mein Freund!«

Die Couch war lang, leicht geschwungen, mondsichelartig und mit zartgelbem Leder bezogen. Malnikov und Cloud nahmen an entgegengesetzten Enden Platz, weit auseinander. Beide nippten an ihrem Glas und beäugten sich schweigend.

»Halten wir dieses Treffen möglichst kurz.« Cloud nahm einen Schluck, während sein Blick durch den Raum huschte. »Ich bin nicht besonders gern hier. Wie viel?«

Malnikov lachte. »Was hast du denn?« Er ließ den Blick durch sein Büro schweifen und klang leicht beleidigt. »Gefällt dir mein Büro etwa nicht?«

Cloud bedachte Malnikov mit einem verächtlichen Blick. Auch das Oberhaupt der Moskauer Mafia konnte ihm keine Angst einjagen. »Ich habe deine Spielchen satt, Alexei«, blaffte er. »Wenn du mich umlegen wolltest, hätte mir einer deiner Männer längst eine Kugel in den Kopf gejagt. Du hast eine Atomwaffe. Es gibt genau einen einzigen Menschen auf diesem Planeten, der dir diese Last von den Schultern nehmen kann, ohne dass die CIA Wind davon bekommt. Wie viel, du raffgieriger Wichser?«

Die Röte schoss Malnikov ins Gesicht. »Wie kannst du es …?«

Cloud schnitt ihm mitten im Satz das Wort ab. »Wie viel?«, brüllte er, hob den Zeigefinger, deutete damit auf Malnikovs Gesicht, das sich zunehmend dunkelrot färbte.

Malnikov lehnte sich zurück. Die Nasenflügel bebten, er ließ die Zähne aufblitzen. In seinem Blick lag ein mörderischer Ausdruck, so als würde er mit sich ringen, Cloud nicht auf der Stelle umzubringen.

Die Tür flog auf. Einer der Bewaffneten trat in den Raum, die Maschinenpistole auf Cloud gerichtet.

Malnikov hob die Hand und bedachte den Posten mit einem strengen Blick. »Raus, verdammt noch mal!«

Nachdem die Tür zugeschnappt war, wandte er sich Cloud zu. Malnikov schwieg sekundenlang, kämpfte darum, sich zu beruhigen und die Fassung zurückzugewinnen. Gerade in dieser Situation durfte er auf keinen Fall die Nerven verlieren.

Dank seines Vaters führte Malnikov ein privilegiertes Leben. Zwei Jahrzehnte lang hatte sich dieser um eine Vormachtstellung im Bereich des organisierten Verbrechens in Russland bemüht. Alles, was innerhalb einer Generation durch Erpressung, Bestechung, Schutzgeld und Mord angehäuft worden war, floss in Alexei Malnikovs Taschen. Yuri Malnikovs Verhaftung hatte Alexei zum Boss der russischen Unterwelt gemacht. Seine erste Amtshandlung bestand darin, sich ein nukleares Druckmittel zu beschaffen.

Nach über zwei Jahren Schmiergeldzahlungen, Drohungen und noch mehr Schmiergeldern war es Malnikov vor drei Wochen endlich gelungen, einen korrupten ukrainischen General namens Bokolov so weit unter Druck zu setzen, dass dieser ihm eine gestohlene 30-Kilotonnen-Bombe sowjetischer Machart verkaufte, Baujahr 1953. Malnikov hatte sie erstanden, um seine Position zu stärken. Er betrachtete die Bombe als eine Art Lebensversicherung für den Fall, dass der FSB oder eine ausländische Strafverfolgungsbehörde ihn hinter Gitter brachte, so wie es seinem Vater passiert war. Sollte es jemals so weit kommen, wollte er sie einsetzen, allerdings nur dann.

Vor der Küste Floridas hatte das FBI Yuri Malnikov auf seiner Jacht festgenommen, nun saß er in Colorado in einem Gefängnis namens ADX Florence, besser bekannt als Supermax. Aller Voraussicht nach saß er dort für den Rest seines Lebens ein.

Doch Alexei Malnikov hatte sich verkalkuliert. Total verkalkuliert. Nach nicht mal einem Tag bereute er seinen Schritt. Er hasste diese Atomwaffe und wünschte sich, sie nie gekauft zu haben. Die Vorstellung, damit ein wirksames Druckmittel zu besitzen, wich schon bald einer ausgedehnten Paranoia.

Malnikov setzte schon heute mehr Heroin um als jeder Kriminelle sonst auf der Welt, doch dann packte ihn der Größenwahn. Er wollte sich nicht länger mit dem lukrativen Geschäft begnügen, damit, dass er jederzeit Frauen haben konnte, Luxushäuser, Kunst, seltene Weine, was immer sich mit einer schwarzen American-Express-Karte bezahlen ließ. Da war ihm die Idee gekommen, die Bombe könne ihn vor dem einen Gegner schützen, den jeder Gangster fürchtete: vor dem langen Arm des Gesetzes. Eine krasse Fehleinschätzung. Wer eine Atomwaffe kaufen wollte oder – Gott behüte – eine besaß, legte sich nicht allein mit den Ordnungsbehörden an, sondern gleich mit ganzen Nationen.

Malnikov hatte einen schwerwiegenden Fehler begangen und wollte das elende Teil unbedingt loswerden.

Als Käufer kamen beispielsweise die Dschihadisten infrage. Über einen Geschäftspartner in Tschetschenien hatte bereits ein Vertreter des Islamischen Staats Interesse bekundet. Und die Hisbollah würde auch nicht lange auf sich warten lassen. Er hatte keinen Schimmer, wie der IS von seiner Nuklearwaffe Wind bekommen hatte, aber die Tatsache jagte ihm eine Heidenangst ein. Wenn er nicht an sie verkaufte, stand irgendwann der Tag bevor, an dem die Turbanträger ihm einen Selbstmordattentäter in den Nachtclub oder nach Hause schickten.

Wobei die Dschihadisten Malnikov nicht mal die größten Bauchschmerzen bereiteten, sondern eindeutig die Amerikaner, genauer gesagt: die CIA.

Seine Drogengeschäfte und sonstigen illegalen Aktivitäten interessierten den US-Auslandsgeheimdienst nicht besonders. Die Jungs in Langley hatten größere Sorgen. Aber die Atombombe machte ihn zu einer ernsthaften Bedrohung. Ins Visier der CIA zu geraten, war wirklich das Letzte, was er gebrauchen konnte. Sollte die Agency von seinem Kauf der Bombe erfahren, könnte er mit seinem russischen Hintern durchaus in Guantanamo Bay landen und dort die nächsten zehn Jahre in einer Zelle schmoren. Sofern die Amis ihn nicht gleich direkt umlegten, um die Sache aus der Welt zu schaffen.

Es wurde Zeit, diese verfluchte Bombe zu verhökern. Und Cloud hielt den Schlüssel dazu in der Hand.

Malnikov holte tief Luft und sah seinen Besucher an. »Beruhigen wir uns ein bisschen«, schlug er vor. »Wir stehen auf derselben Seite.« Er spürte den Blick des anderen auf sich ruhen. Entweder war diesem Hacker-Genie gar nicht bewusst, was für ein Risiko er einging, wenn er die Bombe besaß, oder es war ihm schlichtweg egal.

Malnikov fürchtete Cloud, so wie jeder, der mit ihm zu tun hatte. Er war unkalkulierbar, skrupellos und flößte einem Angst ein. Es ging das Gerücht, im Vorfeld von 9/11 habe er geholfen, die Systeme zur US-Luftraumüberwachung zu manipulieren, und so einen zentralen Beitrag zum größten Terroranschlag in der Geschichte Amerikas geleistet.

Wenn man Cloud dumm kam, konnte er ziemlichen Schaden anrichten, und zwar innerhalb kürzester Zeit. In Clouds Händen wurden Computer zu Waffen.

Malnikov trank einen Schluck Wodka, dann stellte er seine Forderung in den Raum: »100 Millionen Dollar.«

Cloud reagierte zunächst nicht. Seine Augen wirkten wie eine Rechenmaschine, blinzelten, huschten unstet hin und her, während in seinem Gehirn Zahlen ratterten. Nach längerem Schweigen meinte er: »100 Millionen? Das klingt vernünftig.« Mit ausgestreckter Hand beugte er sich zu Malnikov.

»Gut.« Malnikov lächelte erleichtert.

»Wann wirst du mir das Geld überweisen?«

Malnikov dachte, er höre nicht recht. »Was hast du gerade gesagt?«

»Wann wirst du mir das Geld überweisen?«, wiederholte Cloud mit einem unschuldigen Lächeln auf den Lippen.

Malnikov stand auf. Mit zwei Schritten war er bei dem Besucher, hob den Arm und holte zu einem Schwinger aus.

Cloud wehrte ihn lässig ab, indem er die Hand hob. »Ich nehme an, es kommt von deinem Konto auf Guernsey?«

Malnikov fing sich, stoppte den Schlag nur Zentimeter vor Clouds Wange ab.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, mir die ersten 50 Millionen selber zu holen, bevor ich bei dir vorbeikam«, sagte Cloud. »Diese Verschlüsselungscodes sind heutzutage echt schwer zu knacken. Ich brauchte fast zehn Minuten, um in die Bank reinzukommen. Mit den Firewalls und dem ganzen technischen Beiwerk wird es immer komplizierter.«

Malnikov starrte Cloud mit offenem Mund an. Schließlich wankte er an seinen Schreibtisch, tippte wie ein Wilder auf dem Laptop herum, loggte sich bei seinem Bankkonto ein. Er starrte Cloud an. »Was hast du getan?«, flüsterte er mit hasserfüllter Stimme.

Malnikov langte nach der Pistole auf dem Schreibtisch, lud durch und richtete sie auf Cloud.

Mit dem kristallenen Longdrinkglas in der Hand stand Cloud auf, blickte erst Malnikov in die Augen, dann auf die Pistolenmündung. Abrupt schwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Er schüttelte den Kopf. »Was mache ich bloß mit dir, Alexei?«, fragte er mitfühlend. »Du verstehst anscheinend immer noch nicht, oder?«

Cloud kippte den letzten Schluck Wodka herunter, wartete eine halbe Sekunde und warf dann das Glas auf den Betonboden, wo es in Tausende Stücke zersprang.

Malnikov kam um den Schreibtisch herum und baute sich vor Cloud auf. Er war 15 Zentimeter größer als sein Gegenüber und wesentlich breiter gebaut. Ihn mit bloßen Händen in Stücke zu reißen, wäre kein Problem gewesen. Bei jedem anderen hätte er es getan. Malnikov hielt Cloud die Mündung der Pistole circa zwei Zentimeter vors rechte Auge.

»Ich will mein Geld zurück, du kleiner Wichser, jeden Cent!« Malnikov kochte vor Wut. »Und was die Atombombe angeht, die kannst du dir in den Arsch schieben. Sieh dir diese Waffe an, du kleiner Nerd, sie ist nämlich das Letzte, was du im Leben sehen wirst.«

Cloud blieb ganz ruhig, sein Verhalten war eher abschätzig. »Was glaubst du, wer dafür gesorgt hat, dass dein Vater in den Knast gewandert ist?«, fragte er. »Der mächtigste Gangster Russlands, womöglich der ganzen Welt, und ich habe ihn geleimt und niedergemäht wie einen Grashalm. Es war so einfach, ich hätte mich hinterher fast totgelacht. Aus diesem US-Gefängnis kommt er nie mehr raus. Er wird den Rest seines Lebens dort schmoren.«

Entsetzt und ungläubig sperrte Malnikov den Mund auf. Er griff sich an die Brust. »Warum …?«

»Warum? Weil mir klar war, dass dein Vater nicht so blöd ist, sich eine Atombombe zuzulegen. Du dagegen schon.«

Malnikov wollte etwas erwidern, brachte aber keinen Ton heraus.

»Wenn du willst, dass ich dir die Bombe abnehme, wirst du mich dafür bezahlen, Alexei. Sobald du anfängst zu jammern, räume ich dein Konto komplett leer. Die Bombe wird heute um Mitternacht an einem Dock in Sewastopol übergeben.«

»Wie stellst du dir das vor?«, raunte Malnikov. Seine Hand zitterte. »Die Zeit reicht nicht, sie bis heute Abend nach Sewastopol zu schaffen.«

Cloud holte tief Luft.

»Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass du vernichtet wirst, falls ich nicht« – Cloud warf einen Blick auf seine Armbanduhr – »in 17 Minuten zurück in meiner Datscha bin. Vergiss mal für einen Moment dein Geld. Deine komplette Organisation wird aufgerollt und weggesperrt. Alles! Vereinigte Staaten, Hongkong, Europa, Russland, Brasilien, Australien. Ist dir überhaupt klar, wie viel Heroin du diesen armen amerikanischen Schulkindern verkauft hast? Ganz zu schweigen von der Transaktion mit General Bokolov, deren elektronische Spur sich problemlos zu dir zurückverfolgen lässt! Wenn ich so darüber nachdenke, werden sie dich wohl einfach nach Guantanamo schicken. Wenn ich nicht in … 16 Minuten zurück bin, dürftest du spätestens morgen früh Fußeisen tragen, und zwar für den Rest deines Lebens.«

Malnikov starrte Cloud an. Er befand sich in einem Stadium jenseits von Hass oder Wut. Er war sprachlos, wie betäubt, völlig perplex. Hastig senkte er die Waffe.

»Du kannst mich innerhalb eines Augenblicks umbringen, das wissen wir beide«, meinte Cloud beschwichtigend. »Hier geht es nicht darum, ein Mann zu sein oder zu beweisen, wer von uns der Härtere ist, Alexei. Du bist der Härtere. Bei dem, was mir vorschwebt, ist eine andere Eigenschaft gefragt. Dafür braucht man Hass.«

Malnikov wich einen kleinen Schritt zurück. »Du bist wahnsinnig …«

Cloud nickte. »Ja, ich schätze, das stimmt. Also bring mich um. Du hast die Waffe. Erschieß mich einfach. Die Sache ist die, es wäre mir egal. Ob ich nun sterbe oder morgen wieder aufstehe, macht für mich keinen Unterschied. Für dich dagegen schon. Und darum wirst du mir 100 Millionen Dollar zahlen, damit ich dir diese Atombombe abnehme. Ich schätze, ich könnte deutlich mehr aus dir rausquetschen. Aber, siehst du, ich bin eben ein großzügiger Mensch.«

Cloud wandte sich von der Pistolenmündung ab und ging zur Tür. »Noch etwas … Sie werden zu dir kommen. Sobald die Bombe bewegt wird, bekommen sie es mit und verfolgen die Spur zu dir zurück. Das ist unvermeidlich. Ich schätze, es werden die Amis sein. Lüg sie ruhig an, es ist zwecklos. Sie werden dich an einen Lügendetektor anschließen, und falls du die Wahrheit verschweigst, werden sie diverse Methoden anwenden, um die Wahrheit aus dir herauszubekommen. Früher oder später haben sie damit Erfolg. Tu dir also selbst einen Gefallen, Alexei. Sag ihnen alles, was du weißt. Sosehr du mich im Moment hassen magst, die Wahrheit ist, ich bin dir dankbar. Ich will dir nichts Böses. Ich wünsche dir ein langes, erfolgreiches Leben. Du hast einen schweren Fehler begangen, das wissen wir beide. Und zwar an dem Tag, an dem du Bokolov die Hand geschüttelt hast, um den Kaufvertrag für die Bombe mit ihm abzuschließen. Tu, was man dir sagt. Es ist die einzige Möglichkeit, wie du da rauskommst.«

»Die werden von mir verlangen, dass ich ihnen helfe, dich aufzuspüren«, gab Malnikov zu bedenken.

»Tu, was du nicht lassen kannst. Die werden mich nicht finden, erst wenn es zu spät ist.«

»Was wirst du …?«, setzte Malnikov an, hielt dann jedoch inne, als fürchtete er die Antwort.

»Wofür ich deine Bombe einsetzen will? Ist das deine Frage?«

»Ja.«

Cloud sah sich noch einmal zu ihm um, während er am Türknauf drehte. »Für etwas, das ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen«, meinte er leise. Er verharrte einen Moment und blickte Malnikov eindringlich an. »Sewastopol. Mitternacht. Sei pünktlich.«