Über das Buch

Max Czollek ist dreißig, jüdisch und wütend. Denn hierzulande herrschen seltsame Regeln: Ein guter Migrant ist, wer aufgeklärt über Frauenunterdrückung, Islamismus und Demokratiefähigkeit spricht. Ein guter Jude, wer stets zu Antisemitismus, Holocaust und Israel Auskunft gibt. Dieses Integrationstheater stabilisiert das Bild einer geläuterten Gesellschaft — während eine völkische Partei Erfolge feiert. Max Czolleks Streitschrift entwirft eine Strategie, das Theater zu beenden: Desintegration. Desintegriert euch! ist ein Schlachtruf der neuen jüdischen Szene und zugleich eine Attacke gegen die Vision einer alleinseligmachenden Leitkultur. Dieses furios streitbare Buch ist die Polemik der Stunde.

Max Czollek

Desintegriert euch!

Carl Hanser Verlag

Für meine Mutter

Einleitung:
Desintegriert Euch!

Mit diesem Buch halten Sie kein bewegendes biographisches Zeugnis in der Hand. Es geht nicht um die Geschichte meiner Familie, nicht darum, wie ein Teil von ihr vernichtet wurde, nicht um das wundersame Überleben meines jüdischen und kommunistischen Großvaters, nicht um das Leben seiner Frau und Kinder in der DDR. In diesem Buch geht es auch nicht um meine Erfahrungen mit Antisemitismus und ebenso wenig um mein Verhältnis zu Israel. Denn Sie alle kennen diese Geschichten bereits. Sie können sie nachlesen, im Kino sehen, bei Klezmer-Konzerten hören oder im Theater erleben. Es ist Ihnen vielleicht nicht bewusst, aber Sie wissen bereits alles über Judenliteratur, Judenmusik und Judenbiographien. Sie brauchen es nur nachzuschlagen.

Dieser Text wird anders vorgehen. Er ist der mal unterhaltsame, mal bedrückende Versuch, das deutsche Bild von den Juden zu analysieren — und zu fragen, was überhaupt die lebenden Juden und Jüdinnen mit diesem Bild zu tun haben. Ich glaube nämlich, dass die öffentliche Repräsentation von Juden und Jüdinnen mehr über die Selbstwahrnehmung der deutschen Gesellschaft verrät als über das Judentum. Und diese Gesellschaft erhebt seit der Wiedervereinigung zunehmend einen Anspruch auf Normalisierung. Alles wieder gut? Diese Vorstellung ist durch die politischen Entwicklungen der letzten Zeit noch fragwürdiger geworden, als sie es ohnehin schon war. AfD, Pegida, NSU: Es gibt wenig in diesem Land, das ich für normal halte. Das zeigt sich ebenso am eigenartigen Verhältnis von Juden und Deutschen wie an der grundsätzlichen Art und Weise, in der hierzulande über Zugehörigkeit diskutiert wird. Von beidem handelt dieses Buch.

Wenn ich Ihnen, geschätzte Leser*innen, also »Desintegriert Euch!« zurufe, dann will ich damit auch jenen positiven deutschen Nationalismus problematisieren, der sich hinter Konzepten wie deutscher Leitkultur, jüdisch-christlichem Abendland oder der Gründung eines Heimatministeriums verbirgt. Ich werde eine Kritik dieser Vorstellungen aus einer jüdischen Perspektive formulieren. Das schließt die Analyse des sich wandelnden deutschen Selbstbildes in den vergangenen Jahrzehnten mit ein. Wer von den Juden und Jüdinnen in Deutschland reden will, der darf auch von den Deutschen in Deutschland nicht schweigen.

Wer ist heute Jude in Deutschland? Wer eine jüdische Mutter hat? Wer eine jüdische Biographie vorweisen kann? Wer gute Witze erzählt? Wer Verwandte in Israel hat? Wer statt Ostereiern eine Woche lang staubtrockenes Brot isst? Wer die Romane Philip Roths kennt, alle Staffeln Seinfeld geguckt hat und sich ein Poster des jüdischen Rappers Drake ins Zimmer hängt? Ist man Jude, weil man neurotisch ist? Oder ist man neurotisch, weil man Jude ist? Ist man Jude, weil die eigene Familie in Auschwitz war? Weil man mit blonden Menschen schlafen möchte? Oder weil blonde Menschen mit einem schlafen möchten? Ist man Jude, weil man Nazis die Köpfe einschlagen will? Ist man Jude, weil man darüber nachdenkt, was es bedeutet, Jude zu sein?

Wer heute Jude in Deutschland ist, das entscheiden die Juden und Jüdinnen nicht allein. Es geht nicht um ihre eigene kulturelle und intellektuelle Positionierung, nicht um ihren persönlichen Bezug zu Religion, Ethnie oder Geschichte. Vielmehr sind »die Juden« von heute Figuren auf der Bühne des deutschen Gedächtnistheaters — ein Begriff, den der in Berlin lebende Soziologe Y. Michal Bodemann 1996 mit seinem gleichnamigen Buch eingeführt hat.1 Bodemann bezeichnet damit die eingespielte Interaktion zwischen deutscher Gesellschaft und jüdischer Minderheit. Die Judenrolle folgt dabei einem Skript, das den Titel »Die guten Deutschen« trägt. Denn das ist seit Jahrzehnten die Funktion der Juden in der Öffentlichkeit: die Wiedergutwerdung der Deutschen2 zu bestätigen.

2016 betrug die Zahl der in jüdischen Gemeinden eingetragenen Mitglieder knapp 100.000.3 Ich würde noch einmal dieselbe Menge außerhalb der Gemeinden draufschlagen und komme auf 200.000 derzeit in Deutschland lebende Juden und Jüdinnen. Bei 82,5 Millionen Einwohner*innen sind das 0,24 Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen wurden teilweise in Deutschland geboren, kommen aber auch aus Russland oder Osteuropa, Israel, dem Jemen, Äthiopien, dem Irak, Frankreich oder den USA. Auch viele meiner jüdischen Freund*innen sind in den letzten Jahren aus der ganzen Welt nach Deutschland gezogen. Einige von ihnen haben keine familiäre Verbindung zur Shoah. Gott sei Dank. Sie können auch nicht alle Klarinette spielen. Oder Geige. Stattdessen bringen sie Geschichten mit, die den Erwartungen der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit nicht entsprechen. Die damit einhergehende Vielfalt jüdischer Geschichten kann die anhaltend hohe Nachfrage nach ganz bestimmten Judenfiguren kaum decken. Uns allen sind für diese Vielfalt noch keine Ohren gewachsen. Das gilt auch für die jüdischen Institutionen in diesem Land, die ihre Rollen im Gedächtnistheater nur zögerlich reflektieren oder gar verändern wollen.

Das Gedächtnistheater erzeugt also die Nachfrage nach bestimmten Judenfiguren, die bestätigen sollen, dass die deutsche Gesellschaft ihre mörderische Vergangenheit erfolgreich verarbeitet hat. Ein Resultat ist, dass die öffentliche Sichtbarkeit der verhältnismäßig wenigen Juden und Jüdinnen in Deutschland zugleich bemerkenswert hoch und bemerkenswert eingeschränkt ist. Aber auch andere Gruppen sind einem ähnlich dominanten Erwartungsdruck ausgeliefert, etwa Muslim*innen, die sich permanent zu Geschlechterrollen, Terror und Integration äußern müssen und damit als Gegenbild zum Selbstverständnis der toleranten und aufgeklärten Deutschen dienen. In beiden Fällen wird die Minderheitenrolle von einer Position aus befragt, die unbenannt und darum unsichtbar bleibt. Ich bezeichne diese Dominanzposition als, Achtung: deutsch. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass jüdische Menschen oder Muslim*innen keine deutschen Staatsbürger*innen sind. Im Gegenteil, ich sehe in ihnen einen der wenigen Hoffnungsschimmer für dieses Land. Doch hat die gesellschaftliche Rollenzuschreibung zur Folge, dass Perspektiven und Erfahrungen ausgeblendet werden, sobald sie den deutschen Erwartungen nicht entsprechen. Solange es also keinen Zentralrat der Deutschen gibt, der sich von Terroranschlägen deutscher Terroristen distanziert, ist für die kritische Reflexion der unterschiedlichen Sprecher*innenpositionen diese Markierung unerlässlich: Juden, Muslim*innen und Deutsche, wobei ich mich in diesem Buch auf die Gegenüberstellung von Juden und Deutschen konzentriere.

Befrage ich auf den kommenden Seiten die Funktion von Juden und Jüdinnen in Deutschland, dann möchte ich damit auch die Schneekugel des deutschen Selbstverständnisses kräftig durchschütteln. Ich bin nämlich der Meinung, dass die Deutschen ihre Verantwortung für die Vergangenheit gründlich missverstanden haben, als sie sich jahrzehntelang eine neue Normalität herbeiphantasierten. Allerspätestens mit der Wahl der AfD in den Bundestag ist das unübersehbar geworden. Ich denke, es lässt sich eine Linie vom schwarz-rot-goldenen Exzess der WM 2006 zur Bundestagswahl 2017 ziehen, was selbstredend nicht der vorherrschenden Deutung entspricht. In den Feuilletons wurde die Weltmeisterschaft damals als Ausdruck eines positiven Nationalismus, einer neuen deutschen Unbeschwertheit gefeiert, und auch heute mag man nicht so recht von der stolz die eigene Schulter klopfenden Deutung lassen. Das hat die Einrichtung eines Heimatministeriums noch einmal doppelt unterstrichen. Im Jahr 2018 wenden sich gewählte Volksvertreter wieder öffentlich an »das deutsche Volk« und schließen dabei bewusst Menschen aus, die zwar einen deutschen Pass, aber den falschen Glauben haben. Das ist Normalität in Deutschland.

Sie merken schon: Dieses Buch ist keineswegs in der Absicht geschrieben, seine Themen möglichst unparteiisch und von allen Seiten zu betrachten. Ich spreche nicht von einer neutralen Position aus, sondern als Lyriker, Berliner und Jude. In wechselnder Reihenfolge. Die Geschichte der Nachkommen der deutschen Täter*innen interessiert mich vor allem, wo sie mich betrifft. Ich habe für diese Perspektive aber keine besondere Empathie und kann und mag mich dem Ruf nach Verständnis für das Leid des geplagten deutschen Nationalbewusstseins nicht anschließen. Als der SPD-Politiker Sigmar Gabriel in Reaktion auf die Wahlerfolge der AfD kurz vor Weihnachten 2017 die positive Setzung von Heimat und Leitkultur forderte, war das für mich kein politischer Pragmatismus, sondern Symptom eines Wetterumschwungs. Nach Jahren der offiziellen Flaute hat der Wind auch in der großen Politik wieder auf National gedreht. Die AfD ist dabei nur ein Nebenschauplatz. Ihr Einfluss gleicht dem einer Indikatorflüssigkeit, die man in das deutsche Parteienspektrum gegeben hat. Plötzlich färbt es sich braun.

Angesichts dieser Situation kann ich mir zwei Reaktionen vorstellen: Brücken der Empathie in das gegnerische Lager zu schlagen oder die eigene Position auszubauen. Brücken interessieren mich in diesem Buch nicht. Wenn ich hier über die Gegenwart des deutsch-jüdischen Verhältnisses und also über Deutschland schreibe, dann geht es mir vor allem um die Schärfung meiner und unserer intellektuellen Instrumente. Die AfD und ihre Wähler*innen erachte ich als politische Gegner*innen, die ich ernst nehme. Ich glaube nicht, dass sie und ich uns missverstehen. Und ich glaube auch nicht, dass wir viel miteinander zu reden hätten. Das ist nicht so banal, wie es klingt in einer Zeit, in der die Wähler*innen der AfD von allen großen Parteien umworben werden. Plötzlich, scheint es, haben alle schon immer gewusst, dass es ein Fehler war, nicht ununterbrochen über Heimat und Leitkultur zu sprechen.

Die Zurückweisung von Brücken, roten Teppichen und Freundschaftsanfragen hinein in das neurechte politische Lager aller heimatverliebten und stolzen Deutschen bedeutet natürlich nicht, dass ich für dieses Buch der Beschäftigung mit rechten Denker*innen ausgewichen wäre. Ganz und gar nicht. Nach der Lektüre solcher Blockbuster wie Metapolitik4 von Thor von Waldstein, Finis Germania5 von Rolf Peter Sieferle oder Mit Linken leben6 von Caroline Sommerfeld und Martin Lichtmesz musste ich dann allerdings mein Studium am Institut für Staatspolitik, das zu einem Lieblingsziel investigativer Klassenfahrten der Leitmedien geworden zu sein scheint, auf später verschieben.

Will heißen: Auch ich halte es für wichtig, den politischen Gegner zu studieren, bevor man sich über ihn lustig macht. Erstens macht das den Witz erfüllender, weil man ihn sich erarbeitet hat. Und zweitens macht es die Intervention präziser, weil man den Gegner besser kennt. Doch angenehm war die Lektüre in vielerlei Hinsicht nicht. Nachdem ich die Bücher im Internet bestellt hatte, versorgte mich Googles Algorithmus beispielsweise prompt mit Wehrmachtsaccessoires von EDEKA, Links zu Donald Trumps Wahlkampfreden und der Einladung einer Brandenburger Therme, am 9. November zur romantischen Kristallnacht vorbeizukommen. Gerne auch mit Partnerin.

In ihrem 2017 veröffentlichten, wirklich nervigen Buch Mit Linken leben versuchen Lichtmesz und Sommerfeld, ihre politische Haltung als vermeintlichen Realismus zu kaschieren. Die Linken lügen sich demnach die Welt zurecht, während Rechte »die Vernunft, die Moral, die Fakten und den Realismus auf [ihrer] Seite haben«7. Dem möchte ich erwidern, dass dieses Buch viel realistischer ist als Mit Linken leben. Denn einerseits ist die gesellschaftliche Realität eine der sexuellen, politischen, weltanschaulichen und körperlichen Vielfalt, andererseits gebe ich gerne zu, dass ich die gesellschaftliche Vision »ethnischer und kultureller Homogenität«8 ablehne und dieses politische Ziel nicht teile. Bei den Vertreter*innen der Neuen Rechten hingegen kann ich weder eine Anerkennung der realen gesellschaftlichen Vielfalt noch ein Mindestmaß an Ehrlichkeit erkennen — um von der gesellschaftlichen Vielfalt zu einem ethnisch und kulturell homogenen Deutschland zu gelangen, bedarf es der ethnischen und kulturellen Reinigung. Sollten die Rechten das zugeben, können wir reden. Damit fängt es an.

Wenn das klar ist, dann ist auch klar, dass ich niemanden stehengelassen habe. Ich habe nicht versäumt, mich um jemanden zu kümmern. Diejenigen, die in den letzten Jahren nach rechts geschwenkt sind, wollten von Anfang an nicht auf meinem Fahrrad mitfahren. Falls also mein Lektor oder irgendwer aus der Werbeabteilung meines Verlages auf die Idee kommen sollte, mich nach meinem Zielpublikum zu fragen, dann möchte ich auch das gleich hier im Vorwort festhalten: Ich wende mich an alle, die mir und meinen Freund*innen und Verbündeten nicht die Existenz in diesem Land absprechen wollen. Und die Grundlage dieser unserer Existenz ist nun einmal eine plurale und demokratische Gesellschaft. Wir werden diese Gesellschaft nicht so einfach aufgeben — und darum können und werden wir nicht zulassen, dass völkisches und nationalistisches Denken den Diskurs über Zugehörigkeit dominiert.

Ich schließe also bis auf weiteres die 12,6 Prozent AfD-Wähler*innen der letzten Bundestagswahl von meinem Zielpublikum aus. Deshalb geht es mir auch nicht darum, sie zu provozieren, wenn ich das Gender-* verwende. Vielmehr ist das Sternchen ein Versuch, darauf zu verweisen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, wie übrigens auch das Verfassungsgericht im Jahr 2017 anerkannt hat. Bei der Benennung der jüdischen Akteur*innen werde ich das leider etwas anders handhaben müssen. Da Jüd*innen grammatikalisch falsch ist, schreibe ich Juden und Jüdinnen, worunter ich ausdrücklich auch die Pluralität der Geschlechter im Judentum einbeziehen möchte. Den Begriff Juden wiederum verwende ich nur, wenn ich die ihnen zugewiesene abstrakte Rolle im Gedächtnistheater meine. Die Idee dabei ist: Das Judentum setzt sich aus unterschiedlichen konkreten Juden und Jüdinnen zusammen. Das Gedächtnistheater dagegen handelt immer nur von Juden und Deutschen.

Der zentrale Begriff dieses Buches ist die Desintegration. Desintegration ist, das liegt schon im Wort selbst, eine Erwiderung auf die beständig vorgetragene politische und gesellschaftliche Forderung nach Integration. Der Begriff zielt aber nicht nur auf eine Unterstützung derjenigen, die als Türk*innen, Asylant*innen, Nafris, Muslim*innen, Wirtschaftsflüchtlinge oder Migrant*innen adressiert werden. Wenn ich vom Integrationsdenken oder vom Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines kulturellen und politischen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als deutsch versteht. Ich behaupte, dass das Denken in Kategorien der Integration und Leitkultur die Phantasien von ethnischer Homogenität und kultureller Dominanz nicht nur nicht verhindern kann, sondern seinen Anteil daran hat, dass diese Konzepte nicht auf dem Schrottplatz der Geschichte bleiben, auf den sie gehören. Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, das solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht.

Das Programm der Desintegration zielt zugleich auf ein jüdisches und ein gesamtgesellschaftliches Anliegen: auf die konkrete Art und Weise, wie Juden und Jüdinnen im deutschen Gedächtnistheater benutzt werden — und auf die Einsicht, dass die Überwindung des Gedächtnistheaters nicht ohne eine grundlegende Kritik am Integrationsdenken gelingen wird. Aber auch von der anderen Seite betrachtet, wird eine Falafel daraus: Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich oder meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur. Dieses Phantasma wird derzeit auch mittels der Behauptung einer jüdisch-christlichen Tradition und einer mustergültigen Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg konstruiert. Wegen dieser Verknüpfung des deutschen Selbstbildes mit den Juden ist das Gedächtnistheater ein besonders geeigneter Ansatzpunkt für die Kritik am Integrationsdenken.

Beim Verfassen des Buches fühlte ich mich manchmal wie jene ältere Frau, die 2017 bei den polnischen Protesten für das Recht auf Abtreibung ein Poster in die Kamera hielt, auf dem stand: »I can’t believe I still have to protest this fucking shit«. 30 Jahre nach dem Ende der Blockkonfrontation, die Deutschland in zwei ungleiche Hälften teilte, stehen sich wieder zwei Seiten gegenüber. Statt antifaschistischer Sozialismus gegen freiheitlich westlichen Kapitalismus heißt es nun reale gesellschaftliche Vielfalt gegen konservative Revolution. Das völkisch-nationalistische Denken ist zurück im politischen Mainstream. Ich glaube, ich spinne. Oder verzweifle. Und da merken Sie so ein bisschen, geschätzte Leser*innen, wie ich funktioniere: Lamentieren und Schreiben sind zwei Seiten meines Autordaseins.

Dies ist das Buch von einem, der auszog, kein Jude zu werden. Sondern ein Politikwissenschaftler, ein Schriftsteller und Intellektueller. Und von einem, der schließlich auch Jude wurde. Der am Zentrum für Antisemitismusforschung promovierte. Der Allianzen schmiedete, um der ihm zugewiesenen Rolle als Judendichter etwas entgegenzusetzen. Der darum mit anderen 2016 den Desintegrationskongress und 2017 die Radikalen Jüdischen Kulturtage am Berliner Maxim Gorki Theater organisierte und über Strategien nachdachte, mit den Rollenerwartungen einer deutschen Öffentlichkeit umzugehen. Bitte finden Sie sich bei alldem damit ab, dass Sie nicht allzu viel von mir erfahren werden. Das mache ich nicht, um Sie zu ärgern, sondern weil das biographische Geständnis das Kapital der Minderheiten ist. Es ist der Treibstoff »migrantischer«, »jüdischer«, »queerer« oder »feministischer« Kunst, deren Inhalte von einer gierigen Öffentlichkeit erst angezapft, dann raffiniert und schließlich konsumiert werden.

Dieses Buch aber ist kein Ölfeld. Es steht für Repräsentationsfracking nicht zur Verfügung. Es ist stattdessen ein Beitrag zu einer der wichtigsten gesellschaftlichen Debatten der kommenden Jahre — und macht handfeste Vorschläge, wie man sich in ihr positionieren kann. Faustregeln sozusagen.

Gedächtnistheater.
Die inszenierte Erinnerung

Ende letzten Sommers veranstaltete ich mit Freund*innen einen Filmabend auf einem Flachdach im Südosten Berlins. Popcorn in der einen, Bier in der anderen Hand, saßen wir auf der Dachpappe und schauten den Film I Am Not Your Negro1 über den US-amerikanischen Denker und Aktivisten James Baldwin. In den letzten Jahren habe ich Baldwin schätzen gelernt, trotz der merkwürdigen Dinge, die er über Juden gesagt hat. Mich beeindruckt, wie es ihm gelingt, in größter Ruhe Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, deren Konsequenzen einem dann unerwartet den Nacken klatschen. Zum Beispiel folgendes Zitat: »Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte mit uns. Wir sind unsere Geschichte.«2

Mir fällt eine deutsche Entsprechung dieser Passage ein, nämlich der Eröffnungssatz des Buches Kindheitsmuster von Christa Wolf: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.«3 Beide Autor*innen unterstreichen die zentrale Rolle, die Geschichte für uns spielt. Beide behaupten, dass die Vergangenheit auch dann in der Gegenwart fortwirkt, wenn wir das nicht wahrhaben wollen. Und beide warnen vor den Konsequenzen, die eine Verweigerung dieser Einsicht für uns hat. Ich halte also fest, dachte ich, während ich eine neue Flasche Bier öffnete, dass ich mich in meinem Buch zuerst mit der deutsch-jüdischen Geschichte befassen werde. Dann stieß ich mit den anderen an. Als ich am nächsten Mittag mit dem zweiten Liter Kaffee vor meinem Laptop saß, fingen die Probleme natürlich erst so richtig an. Denn die Erinnerung, nun ja, die Erinnerung ist die Achillesferse Nachkriegsdeutschlands.

Zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag eine Rede, die als zentrales Dokument einer neuen deutschen Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg gilt. Und tatsächlich muss man der Rede zugutehalten, dass sie auf einer Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft und der deutschen Politik mit dem Nationalsozialismus besteht. Das war neu damals. Zugleich aber beeindruckte der Bundespräsident die anwesenden Parlamentarier mit der Behauptung, der 8. Mai sei für die Deutschen ein Tag gewesen, an dem man »von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«4 befreit worden sei. Diese Aussage ist so offensichtlich unwahr, dass ich mich immer wieder frage, was Weizsäcker motivierte, so etwas zu sagen. Denn die Mehrheit der Deutschen wurde am 8. Mai 1945 natürlich nicht befreit. Sie wurde endgültig besiegt, nachdem sie bis zum bitteren Ende und weit darüber hinaus die Naziherrschaft unterstützt hatte. Der Nationalsozialismus ist nun einmal eine echte Volksbewegung gewesen.

Als Rechtswissenschaftler und Historiker wusste Weizsäcker, was er da sagte, und offensichtlich ging es ihm nicht um die Beschreibung der historischen Fakten, sondern um eine neue Form von Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Das machte er im weiteren Verlauf seiner Rede deutlich. Nach der Aufzählung einer Reihe von Opfergruppen nationalsozialistischer Verbrechen kam er da nämlich auch auf die Juden zu sprechen. Und ihnen hatte er in seiner Rede die Rolle einer Modellgruppe nationalsozialistischer Verbrechen mit ganz besonderer Funktion zugedacht. Passend zitierte er nicht etwa aus der christlichen Überlieferung, sondern kurioserweise einen Ausspruch des chassidischen Legendenrabbis Baal Schem Tov: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«5

Das war eine ziemlich fette Rübe, die Weizsäcker den Abgeordneten da vor die Nase hielt: Erinnert ihr Deutschen euch an die Judenvernichtung, und ihr werdet nicht nur Vergebung finden, sondern Erlösung. Diente der Verweis auf den Baal Schem Tov dabei als eine Art Koscher-Stempel, der lebende oder tote Juden und Jüdinnen als Kronzeugen für die Forderung nach Erinnerung bemühte? Die Antwort hängt davon ab, wie es in der Rede weiterging. Und da argumentierte Weizsäcker, dass man den Juden gegenüber eine besondere Verpflichtung habe, denn:

Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.6

Wir reden hier immer noch über das Ereignis, das die einen als Brandopfer, griechisch Holocaust, bezeichnen und das Juden und Jüdinnen Shoah nennen, was Katastrophe heißt. Richtig? Nun weiß ich nicht genau, wie es anderen geht, aber für mich ist die Shoah beileibe kein gutes Beispiel für die »Erfahrung vom Wirken Gottes« — und auch keine »Quelle des Glaubens an Erlösung«, eher umgekehrt: Die Shoah ist der Punkt, an dem für mich der Glaube an Gott fragwürdig wird. Aber darum ging es Weizsäcker gar nicht, er wollte auf etwas anderes hinaus. So fuhr er fort:

Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist, anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten, und wir würden den Ansatz zur Versöhnung zerstören.7

Aha, so ist das also. Die deutsche Erinnerungskultur ist ein Akt der Demut, dazu angetan, dem Glauben der Juden nicht zu nahe zu treten. Die Judenvernichtung ist also eine Glaubensfrage? — Ich dachte immer, sie wäre etablierter Fakt. Nur gut, dass das Geheimnis der jüdischen Erlösung zufällig ebenfalls Erinnerung heißt, da können die Deutschen gleich zwei Dinge in einem Abwasch erledigen: Vergebung und Erlösung. Als hätte Weizsäcker den anwesenden Parlamentariern noch einmal erklären müssen, warum die Erinnerung an den Nationalsozialismus eigentlich wichtig ist, unterstrich er in seiner Rede, dass man sich den Juden zuliebe erinnern solle.

Das Ganze erinnert mich an folgenden jüdischen Witz: Was ist Chuzpe? Chuzpe ist, wenn jemand seinen Vater und seine Mutter umbringt und dann vor Gericht um mildernde Umstände bittet, weil er so ein armes Waisenkind ist.

Den Verweis auf die »jüdische Tradition« als Argument für ein deutsches Erinnerungsgebot finde ich deplatziert. Weizsäcker ging es nämlich gar nicht um die Juden. Stattdessen wollte er Deutschland ein neues Selbstbild verkaufen, das die Erinnerung an den verlorenen Krieg positiv konnotierte. Darum beschrieb er den 8. Mai 1945 als Befreiung und nicht als die krachende Niederlage, als die ihn die meisten Deutschen erlebt haben. Das erklärt auch, warum er eine jüdische Tradition herbeizitierte, womit die Erinnerung der Täter*innengemeinschaft an den Holocaust schon fast ein bisschen sexy wirkte: Befreiung durch die Alliierten und Erlösung durch die jüdischen Opfer, das ist doch besser als die eine Hand am Gashahn und Nazis bis zum Schluss. Mit seiner Rede wollte Weizsäcker der deutschen Gesellschaft die Erinnerung an ihre eigenen Verbrechen schmackhaft machen. Und die Deutschen bissen an. Und zwar so genüsslich, dass das wiedervereinigte Land sich wenige Jahrzehnte später mit vor Stolz geschwellter Brust als Erinnerungsweltmeister inszenierte.

Weizsäckers Rede ist ein Meilenstein der deutschen Entdeckung der vernichteten Juden für das eigene Selbstbild. Diese Entdeckung der Vergangenheitsbewältigung hatte gravierende Folgen für die lebenden Juden und Jüdinnen in Deutschland, die sich fortan im Zentrum einer deutschen Selbstinszenierung wiederfanden. Der jüdische Soziologe Y. Michal Bodemann widmete dieser Inszenierung 1996 die bereits erwähnte Untersuchung Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung8, wobei er zentrale Gedanken bereits 1991 in einem Aufsatz für die Zeitschrift Babylon vorweggenommen hatte9. In dem Aufsatz beschrieb Bodemann, wie sich in den Achtzigerjahren in der westdeutschen Gedenkkultur eine Form der Erinnerung durchgesetzt habe, in deren Folge »Auschwitz und die Kristallnacht zum gemeinsam durchlittenen, romantisiert verklärten Horror [geworden seien]: von Juden und guten Deutschen gegen die bösen gesellschaftlichen Mächte«.10 Aber bereits Ende der Siebzigerjahre hatte der deutsche Staat zunehmend jüdische Gedenkfeierlichkeiten unterstützt. Für Bodemann ein entscheidender Schritt für die Entstehung des deutschen Gedächtnistheaters:

Eben an dem Punkt, an dem das Gedenken in nationale Gedenkfeiern umgemünzt wird, werden Juden gebraucht — die toten Juden und die lebendigen Körper von Juden.11

Das deutsche Gedächtnistheater setzt sich Bodemann zufolge aus drei Elementen zusammen: Es inszeniert das Gedenken »als kreativen und dramatischen Akt, der einem Stück im Theater gleicht«12, in dem deutsche Täter*innen und ihre Nachkommen auf die guten jüdischen Opfer treffen und ihre Läuterung darstellen. Das Gedächtnistheater ist ein Ausdruck von Trauer, »typischerweise über einen solidaritätsstiftenden Akt bluttätiger Gewalt«,13 was hier natürlich der Holocaust beziehungsweise die Shoah ist. Schließlich erfüllt das Gedächtnistheater die Funktion »kollektive[r] Identitätsstiftung«,14 nämlich die Konstruktion eines neuen Selbstbildes als befreite und geläuterte Deutsche.

Im Gedächtnistheater sind Juden zwar wichtig, aber wie beim Schauspiel auch geht es nicht um die Personen, sondern um die Rollen, die sie spielen — um ihre symbolische Bedeutung als Vertreter*innen der Vernichteten. Das ist nur folgerichtig, denn die Funktion des Gedächtnistheaters ist nicht, jüdische Pluralität abzubilden, sondern das Versprechen auf Versöhnung für die deutsche Gesellschaft einzulösen. Da die Konstruktion des deutschen Selbstbildes seit den Achtzigerjahren wesentlich auch durch eine spezifische, immer wieder lautstark vorgetragene Erinnerungspolitik geprägt ist, stabilisiert die den Juden zugeschriebene Rolle, die Judenrolle, dieses Selbstbild.

Ein gutes Beispiel für diese Selbstbezüglichkeit des Gedächtnistheaters war vor wenigen Jahren die Diskussion um den vom Bundestag einberufenen unabhängigen »Expertenkreis Antisemitismus«. Als die Expert*innen sich Ende Februar 2015 in neuer Zusammensetzung trafen, stellten einige Beobachter*innen überrascht fest, dass unter den sechs Wissenschaftler*innen und zwei Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen kein einziger Jude und keine einzige Jüdin war. Auf Nachfrage erklärte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums, man habe den Kreis nun einmal nicht nach Religionszugehörigkeit, sondern nach fachwissenschaftlicher Expertise besetzt.15 Ach so, man hatte also keine jüdischen Expert*innen für Antisemitismus finden können. Lassen Sie mich den Argumentationsgang einmal spekulativ zusammenfassen: Das Innenministerium möchte den Expertenkreis Antisemitismus gern mit Experten besetzen. Expertentum bedeutet, dass man unparteiisch urteilen kann. Dass daraufhin alle geladenen Expert*innen Nichtjuden sind, legt den Schluss nahe, dass Juden und Jüdinnen beim Thema Antisemitismus nicht unparteiisch sein können. Angehörige einer Gesellschaft, die vor weniger als einem Menschenleben der Absonderung und Vernichtung ihrer eigenen Staatsbürger zustimmte, haben laut Innenministerium also einen klaren Vorteil vor denjenigen, die damals mit Haut und Haar verarbeitet wurden. Oder anders gesagt: Man will die Juden nur, wenn sie einem auch nützen.

Das Gedächtnistheater macht natürlich mehr Spaß, wenn »jüdische Dramen und jüdische Schauspieler«16 mitmachen, denn das verleiht der ganzen Veranstaltung etwas mehr Glamour. Die Inszenierung des Gedächtnistheaters kann aber auch auf die lebenden Juden und Jüdinnen verzichten, erst recht, wenn diese unangenehm auffallen. Zerstörte Synagogen lassen sich ja auch ohne Juden aufbauen, jüdische Museen mit deutschen Leiter*innen ausstatten, und bei gemeinsamen Feierstunden kann man sich auch dann auf die Schultern klopfen und Prosecco trinken, wenn keine Juden oder Jüdinnen dabei sind: betroffen und besoffen.

Historisch gesehen stellt die Einbindung der jüdischen Bevölkerung einen bemerkenswerten Umschwung dar. Denn im christlichen wie auch im linken, rechten und liberalen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts hatten die Juden noch die Rollen der bösen bis ekelerregenden Jesusmörder, Großkapitalisten oder Kommunisten zu spielen. Im postnationalsozialistischen Deutschland hingegen wurde ihnen ab den späten Siebzigerjahren eine völlig neue Rolle zugewiesen, mit der sie zu einem essentiellen Bestandteil der deutschen Selbstinszenierung aufstiegen. Als reine und gute Opfer helfen Juden und Jüdinnen nun dabei, das Bild von den guten, geläuterten, normalen Deutschen zu stabilisieren. Wenn ich auf den folgenden Seiten den Begriff »jüdische Position« jenem der »jüdischen Identität« vorziehe, dann weil ich davon ausgehe, dass Juden und Jüdinnen als »Juden für Deutsche« vor allem eine Funktion erfüllen, die mit dem jüdischen Anteil ihrer Identität nicht übereinstimmen muss — zumindest hoffe ich das.

Und damit zurück auf das warme Flachdach im Südosten Berlins und zum Film über James Baldwin, der vor allem die USAdifferenzierte Sichtbarkeit