Marina Zwetajewa

»Ich schicke meinen Schatten voraus«

Tagebuchprosa und autobiographische Erzählungen

Herausgegeben von Ilma Rakusa

Aus dem Russischen von Hilde Angarowa, Marie-Luise Bott, Elke Erb, Regine Kühn, Ilma Rakusa und Margarete Schubert

Suhrkamp

Inhalt

Tagebuchprosa 1917-1921

Oktober im Waggon. (Aufzeichnungen jener Tage)

Brief ins

Ein kleines Stück Krim

Freie Fahrt

Meine Arbeitsstellen

Prolog

Epilog

Der Tod Stachowitschs. (27. Februar 1919)

Begegnung mit Stachowitsch

Dachbodennotizen. (Aus den Moskauer Aufzeichnungen 1919-1920)

Über Liebe. (Aus dem Tagebuch)

1917

1918

Über Dankbarkeit. (Aus dem Tagebuch von 1919)

Auszüge aus dem Buch »Irdische Zeichen«

Aus dem Tagebuch

Raubüberfall

Die Erschießung des Zaren

Das Attentat auf Lenin

Die Krätze

Das Fräulein

Übernachtung in der Kommunalwohnung

Der Krieger Christi

Über . (Tagebuchauszüge aus dem Jahr 1919)

Erzählung von Sonetschka

Erster TeilPawlik und Jura

Zweiter

Der Efeuturm

Das Museum Alexanders III.

Mutter und die Musik

Der Teufel

Die Geißlerinnen

Das Haus beim Alten Pimen

IGroßvater Ilowajskij

IIDas Haus beim Alten Pimen

Mein Puschkin

Der

Der Chinese

Die Lebensversicherung

Anhang

Ilma Rakusa»Die Prosa eines Dichters ist anders als die Prosa eines Prosaikers« — Marina Zwetajewas autobiographisches Werk

Chronik zu Leben und Werk

Quellennachweise

Editorische Notiz

Auswahlbibliographie

Sekundärliteratur

Bildteil

Bildnachweis

Anmerkungen

Tagebuchprosa 1917-1921

Oktober im Waggon

(Aufzeichnungen jener Tage)

Zweieinhalb Tage lang keinen Bissen, keinen Schluck. (Die Kehle wie zugeschnürt.) Die Soldaten bringen Zeitungen — auf rosa Papier gedruckt. Der Kreml und alle Baudenkmäler wurden gesprengt. Das 56. Regiment. Gesprengt wurden die Gebäude mit den Junkern und Offizieren, die sich nicht hatten ergeben wollen. 16 ‌000 Tote. An der nächsten Bahnstation — schon 25 ‌000. Ich schweige. Rauche. Mitreisende steigen, einer nach dem anderen, in die Züge in Gegenrichtung um.

Traum (2. November 1917, nachts)

Wir retten uns. Aus einem Keller heraus ein Mann mit Gewehr. Mit leerer Hand ziele ich. — Er lässt es sinken. — Ein sonniger Tag. Wir klettern auf irgendwelche Trümmer. S. spricht von Wladiwostok. Wir fahren in einer Equipage durch Ruinen. Ein Mann mit Schwefelsäure.

Brief ins Heft

Wenn Sie leben, wenn ich Sie noch einmal wiedersehen darf — hören Sie: Gestern, als wir uns Charkow näherten, las ich die »Südliche Heimat«. 9000 Tote. Ich kann Ihnen von dieser Nacht nicht erzählen, denn sie nahm kein Ende. Jetzt ist grauer Morgen. Ich bin auf dem Gang. Verstehen Sie doch! Ich fahre und schreibe Ihnen und weiß jetzt nicht — aber hier folgen Worte, die ich nicht hinschreiben kann.

Wir nähern uns Orjol. Ich habe Angst, Ihnen so zu schreiben, wie ich möchte, denn ich werde in Tränen ausbrechen. All das ist ein schrecklicher Traum. Ich versuche zu schlafen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen schreiben soll. Wenn ich Ihnen schreibe, gibt es Sie, denn ich schreibe Ihnen ja! Und dann — ach! — das 56. Reserve-Regiment, der Kreml. (Erinnern Sie sich an die riesigen Schlüssel, mit denen Sie zur Nacht das Tor abschlossen?) Doch das Wichtigste, Wichtigste, Wichtigste sind Sie, Sie selbst, Sie mit Ihrem Selbstzerstörungsinstinkt. Können denn Sie zu Hause sitzen? Und wenn alle zu Hause geblieben wären, dann wären Sie eben alleine gegangen. Weil Sie untadelig sind. Weil Sie es nicht ertragen können, dass andere getötet werden. Weil Sie ein Löwe sind, der seinen Löwenanteil: das Leben — hergibt für alle anderen, für Hasen und Füchse. Weil Sie selbstlos sind und Selbstschutz verachten, weil das »Ich« für Sie unbedeutend ist und weil ich all das von der ersten Stunde an wusste!

Wenn Gott dieses Wunder vollbringt — und Sie am Leben lässt, werde ich Ihnen folgen wie ein Hund.

Die Nachrichten sind verworren, ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich lese über den Kreml, die Twerskaja, den Arbat, das »Metropol«, den Wosnessenskaja-Platz, über Berge von Leichen. In der sozialrevolutionären Zeitung »Kursker Leben« vom gestrigen Tag (vom 1.), dass die Entwaffnung begonnen habe. Andere (von heute) schreiben von Kampf. Ich lasse mir jetzt nicht volle Freiheit zu schreiben, aber tausendmal sah ich, wie ich unser Haus betrat. Wird man in die Stadt hineingelangen können?

Bald sind wir in Orjol. Jetzt ist es ungefähr 2 Uhr mittags. In Moskau werden wir um 2 Uhr nachts sein. Und wenn ich das Haus betrete — und es ist niemand da, keine Menschenseele? Wo soll ich Sie suchen? Vielleicht gibt es auch das Haus schon nicht mehr? Die ganze Zeit habe ich das Gefühl: das ist ein schrecklicher Traum. Ich warte immerzu, dass gleich etwas geschehen wird und es weder Zeitungen noch sonst irgendetwas gegeben hat. Dass mir das träumt, dass ich aufwachen werde.

Meine Kehle ist zusammengepresst, wie von Fingern. Dauernd ziehe ich den Kragen zur Seite, auseinander. Serjoshenka.

Ich habe Ihren Namen hingeschrieben und kann nicht mehr weiter.

Drei Tage lang — mit niemandem einen Ton. Nur mit den Soldaten, damit sie mir Zeitungen kaufen. (Schreckliche rosa Blätter, unheilverkündende. Theater-Anschläge des Todes. Nein, Moskau hat sie rot gefärbt! Sie sagen, es gäbe kein Papier mehr. Es gab welches, aber jetzt ist es ausgegangen. Der eine sieht darin weiter nichts, der andere ein Zeichen.)

Einer schließlich: »Was ist Ihnen denn, Fräulein? Die ganze Strecke über haben Sie nicht ein Stück Brot gegessen, schon seit Losowaja fahre ich mit Ihnen. Ich schaue immer und denke: Wann wird denn unser Fräulein zu essen anfangen? Da denke ich, jetzt holt sie Brot heraus, nein — wieder das Heft und schreibt. Sie bereiten sich wohl auf eine Prüfung vor, wie?«

Ich, vage: »Ja.«

Der da spricht, ist ein Handwerker, schwarzhaarig, kohlschwarze Augen, schwarzbärtig, etwas von einem zärtlichen Pugatschow. Ein wenig unheimlich und angenehm. Wir unterhalten uns. Er beklagt sich über seine Söhne: »Nach dem neuen Leben sind sie verrückt, nach dieser Krätze. Sie, mein Fräulein, sind ein junger Mensch, Sie werden das vielleicht verurteilen, aber meiner Meinung nach ist dieser ganze rote Abschaum, sind diese unzüchtigen Freiheiten nichts anderes als eine Versuchung des Antichrist. Er ist der Fürst und hat große Macht, er hat nur auf die rechte Stunde gewartet, hat Kräfte gesammelt. Kommst du aufs Dorf, ist das Leben dort unkultiviert, das Weibervolk gräulich. ›Teufel, Narr! …‹ Hast du nicht acht, werfen sie mit Kohlstrünken. Aber was ist dir das für ein Narr, wenn er doch der eingeborene Fürst, das erschaffene Licht ist. Gegen ihn musst du nicht mit Kohlstrünken angehen, sondern mit Engelslegionen …«

Ein dicker Offizier steigt zu: rundes Gesicht, Schnauzbart, etwa fünfzig Jahre alt, ein wenig ordinär, ein wenig Stutzer. »Ich habe einen Sohn im 56. Regiment! Ich mache mir schreckliche Sorgen! Am Ende, denke ich, ist der Teufel mit ihm durchgegangen.« (Aus irgendeinem Grund beruhige ich mich sofort) … »Im Übrigen, mein Sohn ist kein Dummkopf: hat selbst keine Lust, sich in die Hölle vorzudrängeln!« (Augenblicklich vergeht meine Ruhe.) … »Er ist Ingenieur von Beruf, und wissen Sie, es ist doch ganz egal, für wen man Brücken baut: ob für den Zaren oder die Republik, — Hauptsache, sie tragen!«

Ich ertrage es nicht mehr: »Und ich habe meinen Mann im sechsundfünfzigsten.« — »Ihren Ma-ann? Sie sind verheiratet? Sagen Sie bloß! Das hätte ich nie gedacht! Ich dachte, Sie sind noch ein Fräulein und beenden gerade das Gymnasium. Im sechsundfünfzigsten also? Da machen Sie sich wohl auch große Sorgen?« — »Ich weiß nicht, wie ich die Fahrt durchstehen soll.« — »Das werden Sie schon! Und Sie werden sich wiedersehen! Aber erlauben Sie, hat so eine Frau — und geht in den Kugelhagel hinaus! Ihr Gatte wird sich schon nichts antun! Er ist wohl auch noch sehr jung?« — »Dreiundzwanzig.« — »Na sehen Sie! Und Sie machen sich Sorgen! Wenn ich dreiundzwanzig wäre und so eine Frau hätte … Aber selbst mit meinen dreiundfünfzig Jahren und ohne auch nur im entferntesten so eine Frau zu haben …« (Ich, in Gedanken: »Das ist es eben!« Aber aus irgendeinem Grund, obwohl ich mir deutlich der Unsinnigkeit bewusst bin, beruhige ich mich dennoch.)

Der Handwerker und ich verabreden miteinander, vom Bahnhof aus zusammen zu fahren. Und obwohl wir überhaupt nicht denselben Weg haben: er muss zur Taganka, ich in die Powarskaja, baue ich weiter darauf: Aufschub für die nächste halbe Stunde. (In einer halben Stunde sind wir in Moskau.) Der Handwerker ist meine Schutzwehr, und aus irgendeinem Grund scheint mir, dass er alles weiß, mehr noch, — dass er selbst einer aus der Heerschar des Fürsten ist (nicht umsonst — Pugatschow!) und dass er, gerade weil er ein Feind ist, mich (S.) retten wird. — Schon gerettet hat. — Und dass er mit Absicht in diesen Waggon eingestiegen ist, um mich zu beschützen und mir Hoffnung zu machen — und Losowaja will gar nichts besagen, er hätte auch einfach vor dem Fenster erscheinen können, bei voller Fahrt, mitten in der Steppe. Und dass er gleich in Moskau auf dem Bahnhof zu Staub zerfallen wird.

Noch zehn Minuten bis Moskau. Es wird schon ein ganz klein wenig hell — oder ist es nur der Himmel? Haben sich meine Augen schon an die Dunkelheit gewöhnt? Ich habe Angst vor dem Weg, vor der Stunde in der Droschke, vor dem herannahenden Haus (Tod, denn — wenn er tot ist, sterbe ich). Ich habe Angst zu hören —

Moskau. Es ist dunkel. Mit einem Passierschein darf man in die Stadt. Ich habe einen, einen ganz anderen, aber das ist egal. (Für die Fahrt zurück nach Feodossija: als Frau des Fähnrichs.) Ich nehme eine Droschke. Der Handwerker ist natürlich spurlos verschwunden. Ich fahre. Der Kutscher erzählt, ich bin abwesend, das Straßenpflaster wirft mich in die Höhe. Dreimal kommen Leute mit Laternen heran. — Den Passierschein! — Ich strecke ihn hinaus. Sie geben ihn zurück, ohne daraufzuschauen. Das erste Läuten. Ungefähr halb sechs Uhr. Es wird ein wenig heller. (Oder scheint es nur so?) Leere Straßen, unbewohnte. Ich erkenne den Weg nicht, kenne ihn nicht (er fährt eine Umleitung), das Gefühl, als gehe es immerzu nach links, wie manchmal ein Gedanke im Gehirn. Irgendwohin durch etwas hindurch, und aus irgendeinem Grund riecht es nach Heu. (Aber vielleicht meine ich auch nur, das sei der Heu-Platz, und deshalb — der Heugeruch?) Kurzer Schusswechsel bei den Grenzposten: jemand ergibt sich nicht.

Kein einziges Mal — an die Kinder. Wenn S. nicht mehr ist, bin auch ich nicht mehr, also auch sie nicht. Alja wird ohne mich nicht leben, nicht wollen, nicht können. Wie ich nicht ohne S.

Die Boris-und-Gleb-Kirche. Unsere, die Powarskajer[1]. Wir biegen in die Gasse ein — unsere, die Boris-und-Gleb-Gasse. Das weiße Haus der Eparchialschule, ich nannte es immer die »volière«: eine offene Galerie und Kinderstimmen. Und links das grüne, altertümliche, strammstehende (der Stadthauptmann wohnte hier und Schutzleute standen Wache). Und noch eines. Dann unseres.

Der Hauseingang den beiden Bäumen gegenüber. Ich steige aus. Nehme das Gepäck herunter. Zwei aus dem Toreingang sich lösende Gestalten in halbmilitärischer Kleidung. Sie kommen heran. »Wir sind die Hauswache. Was wünschen Sie?« — »Ich bin die und die, und ich wohne hier.« — »Wir dürfen niemanden hereinlassen nachts.« — »Dann rufen Sie bitte das Dienstmädchen. Aus Wohnung Nr. 3.« (Der Gedanke: Gleich, gleich, gleich werden sie es mir sagen. Sie wohnen hier und wissen alles.)

»Wir sind nicht Ihre Diener.« — »Ich werde bezahlen.«

Sie gehen. Ich warte. Lebe nicht. Beine, auf denen ich stehe, Hände, mit denen ich die Koffer halte (ich hatte sie nicht einmal abgesetzt). Und das Herz höre ich nicht. Ohne den Zuruf des Kutschers hätte ich gar nicht wahrgenommen, wie lange das ging, wie ungeheuer lange.

»Ja was denn nun, Fräulein, kann ich fahren oder nicht? Ich muss noch in die Pokrowskaja.«

»Ich zahle drauf.«

Stilles Entsetzen, er könnte gleich fortfahren: In ihm ist mein letztes Leben, das letzte Leben vor … Doch ich setze das Gepäck ab und öffne die Handtasche: drei, zehn, zwölf, siebzehn … ich brauche fünfzig … Woher soll ich sie nehmen, wenn …

Schritte. Das Geräusch zunächst einer Tür, dann einer anderen. Jetzt öffnet sich die Eingangstür. Eine Frau im Umschlagtuch, mir unbekannt.

Ich, ohne sie erst reden zu lassen:

»Sind Sie das neue Dienstmädchen?«

»Ja.«

»Ist der gnädige Herr tot?«

»Er lebt.«

»Ist er verwundet?«

»Nein.«

»Wie das? Wo war er denn die ganze Zeit?«

»Na in der Alexander-Akademie, bei den Junkern, — haben wir eine Angst ausgestanden! Gott sei Dank, Gott der Herr hat sich erbarmt. Nur abgemagert ist er sehr. Und jetzt ist der gnädige Herr in der N-Gasse, bei Bekannten. Auch die Kinderchen sind dort, und die Schwestern des gnädigen Herrn … Alle sind gesund und wohlbehalten, sie warten nur auf Sie.«

»Hätten Sie wohl 33 Rubel, den Kutscher zu bezahlen?«

»Aber natürlich, natürlich, jetzt bringen wir nur erst das Gepäck hinein.«

Wir bringen das Gepäck hinein und entlassen den Kutscher. Dunja übernimmt es, mich zu begleiten. Ich stecke noch eines der beiden Brote von der Krim ein. Wir gehen. Die zerstörte Powarskaja. Pflastersteine. Radspuren. Der Himmel wird ein wenig heller. Glocken.

Wir biegen in die Gasse ein. Ein siebenstöckiges Haus. Ich klingele. Zwei in Pelzen und Mützen. Beim Anzünden eines Streichholzes — Aufblitzen eines Pincenez. Das Streichholz mir geradewegs ins Gesicht:

»Sie wünschen?«

»Ich komme gerade von der Krim zurück und möchte zu meiner Familie.«

»Das ist ja unerhört, um 6 Uhr morgens ins Haus hereinzuplatzen!«

»Ich möchte zu meiner Familie.«

»Nur keine Eile. Kommen Sie um 9 Uhr wieder, dann werden wir weitersehen.«

Da setzt sich das Dienstmädchen für mich ein:

»Aber wo denken Sie hin, meine Herren, sie hat doch kleine Kinder. Gott weiß, wie lange sie sich nicht gesehen haben. Ich kenne die Dame sehr gut, sie ist eine absolut vertrauenswürdige Person, ihr eigenes Haus ist in der Poljanka.«

»Und trotzdem können wir Sie nicht hereinlassen.«

Da halte ich es nicht mehr aus:

»Und wer sind Sie?«

»Wir sind die Hauswache.«

»Und ich bin die und die, die Frau meines Mannes und die Mutter meiner Kinder. Lassen Sie mich hinein, ich gehe sowieso.«

Und, halb durchgelassen, halb durchgebrochen, — sechs Treppenabsätze wie nichts! — der siebte.

(So ist sie mir auch in Erinnerung geblieben, die erste Erscheinung von Bourgeoisie in der Revolution: Ohren, die sich in Mützen verstecken, Seelen, die sich in Pelzen verstecken, Köpfe, die sich in Nacken verstecken, Augen, die sich hinter Gläsern verstecken. Die — beim Aufflammen eines Streichholzes — blendende Erscheinung von dickem Fell.)

Die Stimme des Dienstmädchens von unten herauf: »Ein glückliches Wiedersehen!«

Ich klopfe. Es wird geöffnet.

»Schläft Serjosha? Wo ist sein Zimmer?«

Und, nach einer Sekunde, von der Schwelle aus:

»Serjosha! Ich bin's! Eben angekommen. Ihr habt entsetzliche Schufte da unten. Aber die Junker haben trotzdem gesiegt! Ja, sind Sie hier oder nicht?«

Im Zimmer ist es dunkel. Und, nachdem ich mir Gewissheit verschafft habe:

»Drei Tage lang hat die Fahrt gedauert. Ich habe Ihnen Brot mitgebracht. Verzeihen Sie, dass es altbacken ist. Die Matrosen sind entsetzliche Schufte! Ich habe Pugatschow kennengelernt. Serjoshenka, Sie leben — und …«

Am Abend desselben Tages reisen wir ab auf die Krim: S., sein Freund G-zew und ich.

Ein kleines Stück Krim

Ankunft in Koktebel bei irrsinnigem Schneesturm. Das Meer ist grau. Die riesige, fast physisch brennende Freude von Max W. beim Anblick des lebenden Serjosha. Riesige weiße Brote.

Das Bild von Max W. auf dem kleinen Podest im Turm, wie er, Taine auf den Knien, Zwiebeln brät. Und während die Zwiebeln braten, liest er Serjosha und mir die Geschicke Russlands von morgen und übermorgen vor.

»Und jetzt, Serjosha, kommt das und das … Merk es dir.«

Und einschmeichelnd, fast freudig, wie ein guter Zauberer den Kindern, Bild für Bild — die ganze russische Revolution auf fünf Jahre im Voraus: Terror, Bürgerkrieg, Erschießungen, Straßensperren, Vendée, Verrohung, Gesichtsverlust, die entfesselten Geister der Naturgewalten, Blut, Blut, Blut …

Mit G-zew Brot holen.

Ein Kaffeehaus in Otusi. An den Wänden bolschewistische Aufrufe. An den Tischen langbärtige Tataren. Wie langsam sie trinken, wie sparsam sie reden, wie gewichtig sie sich bewegen. Für sie ist die Zeit stehengeblieben. Das 20. gleicht dem 17. Jahrhundert. Auch die Tässchen sind die gleichen, blaue, mit kabbalistischen Zeichen, ohne Henkel … Bolschewismus? Marxismus?

Plakate, schreit euch die Kehle heiser! Was gehen uns eure Maschinen, Lenins und Trotzkis an, was eure neugeborenen Proletariate, eure sich zersetzenden Bourgeoisien … Wir haben den Ramadan, den Mullah, den Wein und die dunkle Erinnerung an eine große Herrscherin … Hier dieses siedende Pech auf dem Grund vergoldeter Tässchen …

Wir stehen außerhalb, wir stehen darüber, wir sind seit ewigen Zeiten. Ihr müsst erst werden, wir sind schon vergangen. Wir sind ein für alle Mal. Uns gibt es gar nicht.

Monddämmerung. Moschee. Heimkehr der Ziegen. Ein Mädchen in himbeerfarbenem bodenlangem Rock. Tabaksbeutel. Eine Greisin, herausgemeißelt wie Gebein. Das Ausgeformte alter Rassen.

Im Waggon (Rückfahrt nach Moskau, 25. November).

»Die Breschko-Breschkowskaja gehört auch zu dem Pack! Hat gesagt: Kämpfen müsst ihr!«

»Die Klasse der Armen noch mehr zugrunde richten und selbst nur wieder im Luxus schwelgen!«

»Armes Mütterchen Moskau, die ganze Front bekleidet und beschuht es! Moskau macht uns keine Schande! Eher verwirren all die Zeitungen. Die Bolschewiken haben ganz recht, wenn sie sagen, sie wollen kein Blut vergießen, die sehen schon nach dem Rechten.«

In der Waggonluft — wie ein Beil — drei Worte: Bourgeois, Junker, Blutsauger.

»Damit ihnen der Handel besser geht!«

»Unsere Revolution ist jung, aber ihre da, in Frankreich, alt und abgestanden.«

»Wie der Bauer, so der Herr — das Fell ist dasselbe!« (Ich, in Gedanken: Fell gibt es doch gerade keines!)

»Und der Offizier, Genossen, das ist der größte Schurke. Ich meine: Der hat am allerwenigsten Bildung.«

Mir gegenüber auf der Sitzbank schläft ein niedergeschlagener, abgemagerter, vernünftiger Eisenbahn-Gewerkschafter.

»Gott, Genossen, ist der größte Revolutionär!«

»Sie sind wohl Moskauerin? Bei uns im Süden gibt es solche Typen nicht!« (Ein Fähnrich aus Kertsch.)

Streitgespräch über den Tabak.

»Ein Fräulein und raucht! Sicher, alle Menschen sind gleich, aber trotzdem, für ein Fräulein schickt sich das nicht. Auch die Stimme wird rauh vom Tabak, und aus dem Mund heraus riecht's nach Mann. Ein Fräulein soll Bonbons lutschen, sich mit Parfüm besprühen, damit es gut riecht. Sonst macht der Kavalier mit seinen Komplimenten — einen Satz, und Sie mit Ihrem Männergeruch hinterdrein — keuch!

Männer können Männergeruch nicht ausstehen. Was meinen Sie dazu, mein Fräulein?«

Ich: »Sie haben natürlich recht: Das ist eine dumme Angewohnheit!«

Ein anderer Soldat: »Und ich, Genossen, also ich bin der Meinung: Mit dem weiblichen Geschlecht hat das überhaupt nichts zu tun. Du ziehst ihn dir doch in den Hals herein, — und der Hals ist bei allen der gleiche. Wie den Tabak, so das Brot. Und wenn die Kavaliere sie nicht mögen, dann ist das vielleicht auch besser so, unsereiner scharwenzelt sowieso mehr herum, als gut ist. Li-iebe! Geilheit ist das, und nicht Liebe! Und wenn einer sie liebt, — dann um der Seele willen, egal mit welchem Geruch wird er sie nehmen, sogar selbst wird er ihr welche drehen. Hab ich recht, mein Fräulein?«

Ich: »Ja, — mein Mann dreht mir immer Zigaretten. Aber selbst raucht er nicht.« (Ich lüge.)

Mein Verteidiger — zu dem anderen: »So ist sie also auch gar kein Fräulein mehr! Na bitte, mein Lieber, da hast du am Ziel vorbeigeschossen! Ihr Mann ist wohl einer von den Studenten, wie?«

Ich, mich an die Warnungen erinnernd: »Nein, er macht so dies und das …«

Der andere, erklärend: »Das heißt, sie leben von ihrem Kapital.«

Mein Verteidiger: »Sie fahren also zu ihm?«

Ich: »Nein, die Kinder holen, er ist auf der Krim geblieben.«

»Sie haben da auf der Krim Ihre eigene Datscha, was?«

Ich, ruhig: »Ja, und ein Haus in Moskau.« (Die Datscha ist erfunden.)

– Schweigen. —

Mein Verteidiger: »Ich sehe, Sie sind doch ein kühnes Frauenzimmer! Gibt man denn jetzt solche Sachen zu? Jetzt ist doch jeder heilfroh, wenn er nicht bloß sein Haus oder sein Geld, nein — sich selbst vor Angst mit eigenen Händen in der Erde vergraben kann!«

Ich: »Warum selbst? Es kommt eine Zeit, — da werden andere mich vergraben. Übrigens hat es das auch früher schon gegeben: Leute, die sich selbst vergraben haben: Bei lebendigem Leib haben sie sich selbst in die Erde eingegraben — zur Rettung ihrer Seele. Und jetzt — zur Rettung ihres Leibes.«

– Sie lachen und auch ich lache. —

Mein Verteidiger: »Und Ihr Gatte, der hält es wohl nicht mit dem einfachen Volk, wie?«

Ich: »Nein, mit dem ganzen Volk.«

»Das verstehe ich nicht ganz.«

Ich: »Wie Christus befohlen hat: weder den Armen noch den Reichen, heißt es, sondern den Menschen, und Christus in allen.«

Mein Verteidiger, freudig: »So ist es! Du hast nicht schuld an deiner Hoheit und auch nicht an deiner Niedrigkeit …« Mit einigem Verdacht: »… Sie werden wohl keine Bolschewikin sein, Fräulein?«

Der andere: »Was für eine Bolschewikin denn, wenn sie ihr eigenes Haus haben!«

Der erste: »Sag das nicht, viele unter ihnen sind aus der gebildeten Klasse, — und auch Adlige und Kaufleute sind dabei. Zu den Bolschewiken kommen jetzt mehr und mehr von der Herrschaft.« Mit einem prüfenden Blick, unsicher: »Und kurzgeschnittene Haare.«

Ich: »Das ist jetzt so Mode.«[2]

Plötzlich mischt sich ein Matrose ein, genauer gesagt — er explodiert:

»Und bei alldem, Genossen, argumentiert ihr doch ganz falsch, ohne Bewusstsein. Diese Gebildeten da und die Adligen und die verdammten Junker haben doch ganz Moskau mit Blut überschwemmt! Die Blutsauger! Das Pack!« Zu mir: »Und Ihnen, Genossin, rat ich eins: ein bisschen weniger an die Christusse und die Datschen auf der Krim denken. Die Zeiten sind vorbei.«

Mein Verteidiger, erschrocken: »Sie ist ja noch sehr jung … Was werden sie schon für Datschen haben, — wahrscheinlich so ein Hüttchen auf drei Beinen, so ähnlich wie bei mir auf dem Dorf …« (Versöhnlich:) »Und hat auch so schlechte Halbstiefelchen an …«

Über diesen Matrosen. Ununterbrochen Mutterflüche. Die anderen schweigen (ein Bolschewik!). Ich schließlich, sanft: »Warum fluchen Sie so? Sagen Sie bloß, das gefällt Ihnen?«

Der Matrose: »Ich fluche doch gar nicht, Genossin, — das ist so eine Redensart von mir.«

Die Soldaten lachen schallend.

Ich, versonnen: »Eine schlechte Redensart.«

Derselbe Matrose am offenen Fenster in Orjol, mit der allerzärtlichsten Stimme: »Ein Lüftchen ist das!«

Alja (4 Jahre alt).

»Weißt du, Marina, das stimmt nicht bei Puschkin! Bei ihm heißt es:

Salve grüßt vom Ufer aus,

Schiffe legen an zu Haus.

Aber es müsste heißen:

Salven donnern — aus dem Haus

(Nach dem Aufstand.)

Gebet Aljas während und seit der Zeit des Aufstands:

»Herr, erbarme dich und errette: Marina, Serjosha, Irina, Ljuba, Assja, Andrjuscha, die Offiziere und Nicht-Offiziere, die Russen und Nicht-Russen, die Franzosen und Nicht-Franzosen, die Verwundeten und Nicht-Verwundeten, die Gesunden und Nicht-Gesunden, — alle Bekannten und Nicht-Bekannten.«

Moskau, Oktober — November 1917

Übersetzung: Marie-Luise Bott