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Lotte Minck (*1960) ist von Geburt halb Ruhrpottgöre, halb Nordseekrabbe. Nach 50 Jahren im Ruhrgebiet und etlichen Jobs in der Veranstaltungs- und Medienbranche entschied sie sich, an die Nordseeküste zu ziehen. Erst kürzlich überkam sie heftiges Heimweh nach dem Ruhrpott, als sie nach Jahren auf dem Land zum ersten Mal in einen echten Stau geriet, der aus mehr als sieben Autos vor einer Ampel bestand und sich diese Bezeichnung dank einer halben Stunde totalen Stillstands redlich verdient hatte. Ihre Heldin Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.

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Ruhrpott-Krimödien mit Loretta Luchs bei Droste:

Radieschen von unten

Einer gibt den Löffel ab

An der Mordseeküste

Wenn der Postmann nicht mal klingelt

Tote Hippe an der Strippe

Cool im Pool

Die Jutta saugt nicht mehr

Voll von der Rolle

Mausetot im Mausoleum

Ruhrpott-Krimödien mit Stella Albrecht bei Droste:

Planetenpolka

Lotte Minck

3 Zimmer, Küche, Mord

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

E-Book-Konvertierung: Bookwire Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

www.drosteverlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Der Ruhrpott, die Tauben und der Taubenvatta

Kapitel 1

Heiteres Berufe-Raten mit Frau Schiller: Es gibt nichts, das es nicht gibt, stellt Loretta fest.

»Ach was, so viel Geld verdient man im Callcenter?« Frau Schiller schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Ich dachte, diese Jobs wären so mies bezahlt!«

Kein Zweifel – sie war beeindruckt. Sollte sie sich bis zu diesem Zeitpunkt Sorgen gemacht haben, ob ich die durchaus saftige Miete würde zahlen können, so war das mit dem Studium meiner Verdienstbescheinigungen schlagartig Schnee von gestern.

Nun hätte ich ihr erzählen können, dass normale Jobs in normalen Callcentern tatsächlich nicht gerade fürstlich entlohnt wurden. Ich hätte ihr außerdem erzählen können, dass ich mitnichten in einem normalen, sondern in einem ganz speziellen Callcenter arbeitete. Einem Callcenter, in dem besondere Kundenwünsche erfüllt wurden.

Das kann ich erklären, hätte ich sagen können, ich arbeite nämlich in einem Callcenter für Telefonsex, und dort verdient man eine Stange Geld, wenn man gut ist. Und ich bin darin sehr gut, wissen Sie? Ich bringe Männer zu Orgasmen, dass sie nicht mehr wissen, wo oben und unten ist. Einer ist sogar mal bewusstlos geworden. Am Telefon, das muss man sich mal vorstellen – nur durch meine Stimme.

Stattdessen sagte ich: »Ich arbeite für eine Bank, da habe ich es mit sensiblen Daten zu tun. Allein diese Verantwortung wird schon etwas besser bezahlt. Außerdem sitze ich selbst kaum noch am Telefon, sondern bin im administrativen Bereich tätig. Mittleres Management. Wie Sie sehen, wird das deutlich besser honoriert als normaler Telefondienst.«

Ich log, ohne rot zu werden. Die Gefahr, Frau Schiller in meinem Arbeitsleben jemals zu begegnen, war gleich null. Wenn mein beachtlicher Verdienst mich schon in ihrer persönlichen Rangliste der Bewerber hatte steigen lassen, so sorgten die Worte ›Bank‹ und ›Management‹ dafür, mich weitere Stufen hochzukatapultieren: Der Blick, mit dem sie mich nun musterte, sprach Bände. Und genau das war meine Absicht gewesen.

»Vielleicht sollte ich in Ihrem Unternehmen anheuern«, sagte sie. »Ich bin zwar nicht die Jüngste, aber hier oben …«, sie tippte sich an die Stirn, »… ist alles topfit.«

Interessanter Gedanke.

Dass das Alter bei meinem Job nicht die vorrangige Rolle spielte, bewies eindrucksvoll meine Kollegin und Freundin Doris, die bereits über siebzig war.

Dennoch – ich konnte mir nicht vorstellen, dass unter Frau Schillers konservativem Twinset und der Perlenkette das Herz einer Sexgöttin schlug. Aber was wusste ich schon? Dies war meine erste Begegnung mit ihr, und ich war weit davon entfernt, sie zu kennen.

»Suchen Sie denn einen Job?«, fragte ich aus reiner Höflichkeit.

Frau Schiller schüttelte den Kopf. »Darauf bin ich Gott sei Dank nicht angewiesen. Meine Rente ist ganz ordentlich, muss ich zugeben. Außerdem habe ich einen Nebenjob. Sonst würde mir die Decke auf den Kopf fallen. Sie werden nie erraten, was ich mache.« Sie kicherte. »Eigentlich ist es ein bisschen peinlich, aber mir macht es Spaß.«

Peinlich …? Oha. Was sollte das denn heißen? Einen verrückten Augenblick lang rechnete ich damit, dass sie mich jetzt damit verblüffen würde, an einer Sexhotline zu arbeiten … aber nein, das konnte nicht sein.

Schon allein deshalb nicht, weil ich dann tot vom Stuhl fallen würde.

»Verraten Sie es mir?«

»Ich klebe Federn auf Bio-Eier«, verkündete sie.

Ich musste reichlich blöd aus der Wäsche geguckt haben, denn sie fuhr fort: »Damit haben Sie nicht gerechnet, was?«

Wer bitte soll damit rechnen?

Perplex schüttelte ich den Kopf. »Federn auf Bio-Eier? Was … äh … ich meine … warum?« Mehr fiel mir dazu nicht ein. Beim besten Willen nicht.

»Ganz einfach: Die Leute kaufen Bio-Eier und geben dafür mehr Geld aus als für normale, richtig? Aber dann fragen sie sich, woher sie wissen sollen, dass sie nicht für dumm verkauft werden; schließlich unterscheidet die Eier rein äußerlich nichts voneinander.«

Wenn ich es recht bedachte: Auch ich hatte schon teure Eier gekauft, auf denen eine Feder klebte. Und ich hatte mich gefragt, wie diese Feder dorthin gelangt war. Jetzt wusste ich es: durch Frau Schiller.

»Ich mache das für den großen Geflügelhändler, der immer auf dem Wochenmarkt steht«, sagte sie, »den kennen Sie doch bestimmt?«

Ich nickte. Allerdings kannte ich den; immerhin gab es dort den besten Fleischsalat der Welt. Wenn man allerdings nicht früh genug aus dem Bett kam, musste man mit der Variante vorliebnehmen, die mit getrockneten Kräutern angereichert war. Und die würde ich erst kaufen, wenn mir jemand plausibel erklären konnte, was getrocknete Kräuter in Fleischsalat zu suchen hatten. Aber ich schweife ab: Gegenüber dem monumentalen Verkaufswagen hatten sie noch einen Stand, an dem sie ausschließlich Eier verkauften. Eier, auf denen vereinzelt Federn klebten.

Wie abgefahren war das denn?

»Für die arbeite ich«, fuhr Frau Schiller fort. »Irgendwann hatte die Frau vom Chef den Geistesblitz mit den Federn. Und jetzt raten Sie mal …« Sie sah mich erwartungsvoll an.

»Seitdem hat nie wieder jemand in Zweifel gezogen, dass es sich um Bio-Eier handelt?«

»Sie sagen es!«, rief sie vergnügt.

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich sie mochte. Und dass ich in diesem Haus wohnen wollte. Die nette Frau Schiller mit dem crazy Job hatte sich gerade als absolute Traumnachbarin qualifiziert. Und wenn jetzt auch noch die Wohnung schön war – perfekt.

»Sie sind alleinstehend?«, fragte sie.

»Ja und nein«, erwiderte ich. »Ich habe einen Kater, von dem ich mich keinesfalls trennen möchte. Tiere sind im Haus hoffentlich erlaubt?«

»Katzen ja – Hunde nicht. Die bellen den lieben langen Tag und schleppen jede Menge Dreck rein. Außerdem zerkratzen sie die Türen.«

Aha. Wieder was dazugelernt. Offenbar hatte Frau Schiller mit Hunden nicht die besten Erfahrungen gemacht. Ob Hühner erlaubt waren – bei ihrer Affinität zum Federvieh?

Frau Schiller, die Anfang sechzig sein mochte, erhob sich von ihrem Stuhl. »Na, dann zeige ich Ihnen jetzt mal die schöne Wohnung.«

Das wurde auch Zeit, ich platzte schon vor Neugier.

Aber vermutlich hätte ich die Bude nie zu sehen bekommen, wäre ich bei Frau Schiller durchgefallen. Immerhin gehörte es zu ihren Aufgaben im Haus, für den Vermieter Bewerber vorzusortieren, wie sie mir gleich zu Beginn unseres Gesprächs verkündet hatte.

»Ich achte darauf, dass die neuen Mieter in die Hausgemeinschaft passen«, sagte sie, als wir aus ihrer Wohnung traten und die Treppe hinauf in die erste Etage stiegen. »Alles ruhige und solvente Herrschaften, sehr nette Leute«, fuhr sie fort, während sie die Wohnungstür aufschloss und mich mit einer einladenden Geste in den kleinen Flur bat.

»Rechts geht es ins Bad, links ins Balkonzimmer, geradeaus in den großen Wohnraum, und von dort aus in die Küche und ins Schlafzimmer. Alles ist gerade frisch saniert. Überall liegt jetzt hochwertiges Laminat. Das Bad ist komplett neu gemacht, die Vermieter haben eine ebenerdige Dusche einbauen lassen. Wir hatten wochenlang die Handwerker im Haus.«

Und die anderen Hausbewohner hatten wochenlang Spaß mit dem Lärm, dachte ich. Jedenfalls die, die nicht täglich zur Arbeit gingen. Wie zum Beispiel Frau Schiller.

Schick war es, das kleine Bad: alles strahlend weiß gefliest, nagelneue Keramik. Kleines Minus: Es hatte kein Fenster. Nun ja, wenn der Rest der Wohnung stimmte, konnte ich damit hervorragend leben.

Von mir aus konnte die Besichtigung weitergehen.

Was soll ich sagen – der Rest stimmte.

Schlaf- und Balkonzimmer gingen zum Hof, Küche und Wohnzimmer zur Straße. Die Küche war winzig, da würde ich mich umgewöhnen müssen. Dafür war sie bereits mit allem Nötigen ausgestattet. Die Wohnräume waren äußerst großzügig geschnitten, da konnte man echt nicht meckern. Ich ertappte mich dabei, wie ich im Kopf schon Möbel verteilte und Baghiras Kratzbaum am Fenster aufstellte.

Frau Schiller zog mich ins Balkonzimmer und öffnete mit Schwung die Balkontür. »Ist das nicht wunderschön?«, sagte sie enthusiastisch und zeigte in den Hof.

Doch, ich musste ihr zustimmen. Ich blickte auf eine gepflegte Rasenfläche, die von allerlei Büschen eingerahmt war. Nach hinten begrenzt war sie von einer Mauer, vor der auf einer gepflasterten Fläche eine Bank stand, rechts und links blühte üppiger Flieder.

»Um den Garten kümmert sich Horst, er hat den grünen Daumen«, fügte sie hinzu.

Horst? Musste ich den kennen?

Als hätte sie meine Gedanken gehört, fuhr sie fort: »Ach, Sie können ja gar nicht wissen, von wem ich spreche. Ich meine Herrn Kabolek, er wohnt mit seiner Frau auch hier in der ersten Etage. Sehr nette Leute. Sein Balkon ist das reinste Paradies. Der Hof ist natürlich für alle Mieter da; die Bank wird übrigens besonders gern benutzt. Die Studentinnen von ganz oben sitzen dort bei schönem Wetter und lernen. Und der junge Herr Lembeck …«, sie kicherte und flüsterte: »Herr Lembeck kennt die Bank besonders gut. Manchmal, wenn er am Wochenende mit Freunden unterwegs war und die jungen Leute ein wenig über die Stränge geschlagen haben, Sie wissen ja, wie das ist, dann wird viel zu viel getrunken …« Wieder kicherte sie. »Sagen wir so: Ich habe ihn schon einige Male morgens auf der Bank gefunden, friedlich schlafend. Ist ja nicht schlimm. Ich habe ihn dann geweckt und ihm gleich einen Kaffee serviert.«

Guter Service, wie mir schien.

»Manchmal feiern wir dort zusammen ein Grillfest oder dergleichen« fügte sie hinzu. »Wir haben wirklich eine schöne Hausgemeinschaft.«

Hm … ich geriet ins Grübeln. Ich war nicht hier, weil ich neue Freunde finden wollte.

»Auf die Gefahr hin, dass Sie mich für unhöflich halten«, sagte ich, »mein Job kann sehr anstrengend sein, und manchmal komme ich abends nach Hause und bin todmüde. Dann bin ich nicht sehr gesellschaftsfähig und mag mit niemandem sprechen.«

»Oh, da haben Sie mich missverstanden, Frau Luchs. Sie sind herzlich eingeladen, aber jeder hier im Haus respektiert die Privatsphäre seiner Nachbarn. Niemand wird Sie bedrängen oder schief von der Seite ansehen, wenn Sie sich lieber zurückziehen, das kann ich Ihnen versichern. Das respektvolle Miteinander unter den Mietern ist mir sehr wichtig. Es gibt bestimmte Grenzen, die noch niemand jemals überschritten hat.«

Na dann. Gut, dass wir das geklärt hatten.

Ich machte noch einen Rundgang durch die Räume, dann gingen wir zurück in Frau Schillers Wohnung.

»Also, ich bin ernsthaft interessiert«, sagte ich, als wir wieder in ihrer ausladenden Sofagarnitur saßen. »Muss ich mich denn gegen viele Mitbewerber durchsetzen?«

Frau Schiller winkte ab. »Machen Sie sich mal keine Sorgen, Frau Luchs.« Sie schenkte mir ein schelmisches Zwinkern. »Ich habe ein sehr gutes Gefühl bei Ihnen, wissen Sie, und ich werde den Vermietern gegenüber eine klare Empfehlung für Sie aussprechen. Und bisher sind sie meinen Vorschlägen stets gefolgt. Übrigens, wenn Sie lieber im Erdgeschoss wohnen würden: Der junge Mann von unten zieht demnächst aus; er wird bald heiraten.«

Nee, Erdgeschoss musste nicht sein. Da kriegte man alles mit, was sich an der Haustür abspielte. Ich wohnte lieber etwas höher, und noch war ich längst nicht zu alt fürs Treppensteigen. Ich gab mir noch mindestens zwanzig Jahre, bis das für die Wahl der Etage ein Kriterium sein würde.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber vielen Dank für das Angebot. Ich möchte so schnell wie möglich einziehen, zumal ich meine jetzige Wohnung bereits vor knapp zwei Monaten gekündigt habe. Mir bleibt also nur noch ein Monat für den Umzug.«

»Na, das sollte kein Problem sein. Und bei Ihrem Einkommen können Sie eine doppelte Miete ja leicht verschmerzen, nicht wahr?«

Auch mehrere, Gnädigste, dachte ich, aber was nicht unbedingt sein muss …

»Nun denn.« Frau Schiller erhob sich. »Sie hören von mir. Das wird nicht allzu lange dauern, schätze ich.« Das Gespräch war beendet, und ich folgte ihr zur Wohnungstür. »Ach, eine Sache habe ich noch vergessen«, sagte sie, als ich bereits im Hausflur stand, »demnächst wird die Fassade renoviert. Aber das wird Sie nicht stören; Sie sind ja tagsüber bei der Arbeit. Bestimmt haben Sie sich schon gewundert, wie heruntergekommen das Haus aussieht.«

Ich versicherte ihr, das sei mir überhaupt nicht aufgefallen, gab mich aber erfreut über bevorstehende Verschönerung und verabschiedete mich.

Um die Wahrheit zu sagen: Unter heruntergekommen verstand ich etwas völlig anderes als den leicht abgeranzten Look des Hauses, in dem ich hoffentlich demnächst wohnen würde. Gut, es gab ein paar Graffiti, aber wo im Ruhrpott gab es die nicht? Sie fehlten höchstens an Villen, die sich hinter meterhohen Eisenzäunen versteckten – und auch dafür hätte ich meine Hand nicht ins Feuer gelegt. Diese Zeugnisse urbaner Straßenkunst sah man überall, also auch hier. Mich störten sie nicht.

»Und die isset jetz, meinze?«

Frank servierte mir ein Croissant und einen Kakao; dann ging er wieder hinter den Verkaufstresen seines Kiosks, um die großen Gläser aufzufüllen, in denen er die losen Süßigkeiten aufbewahrte. Wie schon in meiner Kindheit erfreuten sich die gemischten Tüten nach wie vor großer Beliebtheit: ein paar Lakritzschnecken, ein wenig Mäusespeck, eine Auswahl an leckeren Bonbons – in Kropkas Klümpchenbude wurden alle Wünsche erfüllt.

»Ich will diese Wohnung«, erwiderte ich. »Und ich kann durchaus zuversichtlich sein, dass ich sie bekomme. Sie ist genau richtig für Baghira und mich. Ich habe mehr als genug Platz, aber sie ist nicht so groß, dass ich in Gefahr geraten könnte, mir leichtfertig und ohne lange genug nachzudenken irgendeinen Mitbewohner in die Hütte zu holen. Diese Wohnung ist nur für mich alleine.«

»Dann is ja allet supi.« Frank nickte mit großem Ernst. »Hasse Fottos gemacht?«

»Hat sich irgendwie nicht ergeben.«

Ich beschrieb ihm die Aufteilung der Wohnung, und er nickte wieder. »Klingt astrein. Am besten machste jetz wacker ’ne Liste, wat renoviert werden muss, damit ich dat zeitlich planen kann. Und dann machen Erwin und ich dir dat richtich schnuckelich, sollze ma sehn.«

Ich war gerührt. Für meinen besten Kumpel war es selbstverständlich, dass er mir beim Malern, Tapezieren und allem anderen, was eventuell anliegen könnte, helfen würde – obwohl er einen Kiosk betrieb und nicht über viel Freizeit verfügte.

»Nicht nötig«, sagte ich, »die Hütte ist bezugsfertig. Alles frisch saniert. Möbel rein – fertig.«

»Echt? Sowatt is möchlich?« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Ich glaub, ich bin noch nie inne Wohnung gezogen, die nich total inne Wurst war. Und wer wohnt sonz noch in dem Haus?«

Während ich mich zu erinnern versuchte, was Frau Schiller mir über die Nachbarn erzählt hatte, bediente Frank ein paar Kinder, die aufgeregt durcheinanderkreischten, da sie sich offenbar nicht vorher abgesprochen hatten, wie der Inhalt der bunten Tüte sich zusammensetzen sollte. Nach schier endlosen Diskussionen hatte man sich endlich geeinigt, und die Zwerge zogen glücklich ab.

»Ich würde verrückt werden«, sagte ich, als er sich mir wieder zuwandte. »Ich bin beeindruckt, wie ruhig du bei diesem Theater bleibst.«

»Ach watt.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich steh auf Kinder, weißte doch.«

Nun, bei fast jedem anderen Mann hätte dieser Satz zumindest fragwürdig gewirkt. Ich kannte Frank lange genug, um seine Aussage richtig einzuordnen: Seit einigen Jahren lebte er mit Bärbel zusammen, die eine dreiköpfige Kinderschar mit in die Beziehung gebracht hatte, für die er kein besserer und liebevollerer Vater hätte sein können.

»Ich bin jedenfalls nicht böse darüber, dass in dem Haus keine Kleinkinder leben«, sagte ich. »Das unermüdliche Trappeln kleiner Füße gehört nicht zu meinen Lieblingsgeräuschen, um ehrlich zu sein. Je älter ich werde, desto mehr ist mir nach Ruhe. Besonders nach einer Schicht im Callcenter. Auf abendliche Partybeschallung oder musikalische Unterhaltung habe ich keinen Bock.« Ich schauderte. »Stell dir bloß mal vor, du ziehst um, und dann stellt sich heraus, dass einer deiner neuen Nachbarn Deathmetal-Fan ist. Leider kann man ja nicht probewohnen und sich dann erst entscheiden.«

»Und wieso biste so sicher, dat dat in den speziellen Haus nich der Fall is?«

»Weil Frau Schiller das niemals dulden würde. Die achtet auf Ruhe im Haus.«

»Hehehe«, machte Frank vergnügt, »also nur Rentner oder wat? Loretta zieht ins Seniorenheim, ich werd nich mehr!«

»Nee, so extrem nun auch wieder nicht. Unterm Dach wohnen zwei Studentinnen, dann gibt es noch eine Frau mit einer Teenager-Tochter, einen Lehrer, ein älteres Ehepaar auf meiner Etage und unter mir einen jungen Mann, der aber bald auszieht. Und Frau Schiller natürlich, die so was wie die Hausmeisterin ist. Du wirst übrigens nie erraten, was Frau Schiller arbeitet …«

Kapitel 2

Das Für und Wider pinkfarbener Samtsofas – für Loretta stehen wichtige Entscheidungen an

Die Angebote meine Freunde, mir beim Packen zu helfen, hatte ich bislang abgelehnt. Die Vorstellung, dass Frank oder Erwin – so gern ich sie auch mochte – meine Schlüppis in einen Umzugskarton schichten würden, war dann doch zu seltsam. Wenn es kurz vor dem Umzug an die Küche ging, konnte ich jede helfende Hand gebrauchen, aber vorher war es eine zu persönliche Angelegenheit. Besonders, was das Aussortieren anging.

Denn ich wollte mitnichten alles in die neue Wohnung schleppen – ganz im Gegenteil: Ich plante einen echten Neustart. Mit neuen Möbeln und allem Drum und Dran. Und vor allem ohne alten Ballast.

Also hatte ich bereits seit meiner Kündigung der Wohnung große Müllsäcke mit Zeugs gefüllt, das in meiner neuen Bleibe keinen Platz mehr hatte. Sentimentalität verbot ich mir, besonders was Erinnerungsstücke an die Zeit mit Pascal betraf – meinen Ex, mit dem ich die Wohnung bis vor einem knappen halben Jahr geteilt hatte. Alle gemeinsamen Anschaffungen hatte er mir gelassen.

Die Zeit nach seinem endgültigen Auszug war nicht leicht gewesen. Zuletzt waren wir noch gemeinsam in einen haarsträubenden Fall geraten, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte – was ihn leider in seinem Entschluss bestätigt hatte, mich zu verlassen. Er hielt es schlicht nicht mehr aus, dass ich ständig mit rätselhaften Todesfällen zu tun hatte und immer wieder in Gefahr geriet, weil ich diese aufzuklären versuchte – womit ich durchaus erfolgreich war.

Aber nicht nur ich geriet in Gefahr, wie der letzte Fall gezeigt hatte, auch wenn das wirklich nicht meine Schuld gewesen war.

Dass zu meinem Neustart auch gehören sollte, mich nicht mehr in mörderische Angelegenheiten einzumischen, spielte für die Beziehung zwischen Pascal und mir keine Rolle mehr, dazu war viel zu viel vorgefallen.

Nach den verstörenden Ereignissen im November des letzten Jahres hatte ich mich erst mal erholen müssen, also hatte ich vier Wochen – Weihnachten und Silvester inklusive – bei meiner Freundin Diana an der Nordseeküste verbracht. Sie und ihr reizender Gatte Okko hatten mich aufgenommen, während Erwin und seine Gattin Doris sich um Baghira gekümmert hatten.

Täglich war ich bei Wind und Wetter stundenlang am Strand spazieren gegangen, stets begleitet von Heini, dem quirligen Terrier meiner Freunde. Ich hatte unermüdlich Stöckchen geworfen, Tonnen Muscheln und Schneckenhäuser gesammelt und Millionen von Fotos gemacht – und vor allem hatte ich nachgedacht: über mich, mein Leben und natürlich auch über das seltsame Phänomen, dass ich immer wieder über rätselhafte Todesfälle stolperte.

Eine Astrologin hatte mir vor einigen Monaten gesagt, dies sei keineswegs mein Schicksal, dem ich hilflos ausgeliefert wäre – so hatte ich es immer empfunden. Aber nein: Ich hatte die Wahl. Wenn ich es wollte, konnte ich mich auch dagegen entscheiden, mich in die Ermittlungsarbeit der Polizei einzumischen. Dazu fielen mir diverse Gegenargumente ein, hatte die Polizei doch in den meisten Fällen auf Unfalltod entschieden, während ich wusste oder auch nur ahnte, dass nachgeholfen worden war …

Um dieses Dilemma kreisten meine Gedanken, und zwar ständig.

Wie sollte ich es in Zukunft halten?

Einmischen oder den Dingen ihren Lauf lassen?

Als ich nach meinem Aufenthalt an der Nordsee in den Ruhrpott zurückkehrte, stand mein Entschluss fest: keine Ermittlungen mehr. Ich wollte ein normales Leben haben. Ich wollte die Vergangenheit hinter mir lassen und neu beginnen. Erschwerend kam hinzu, dass der Lautstärkepegel im Haus immer mehr anstieg. Der Grund war simpel: Es war ein Altbau, die Wohnungen waren nicht nur groß und günstig, sondern zudem perfekt für Wohngemeinschaften. Ständig lief irgendwo Musik, das nächtliche Leben mit zahlreichen Besuchern war rege – ich hatte die Nase gestrichen voll.

Also kündigte ich zum nächstmöglichen Termin meine Wohnung, um auch für mich selbst einen klaren Startpunkt für den Neubeginn zu setzen.

Eine neue Wohnung zu finden, war längst nicht so einfach, wie ich gedacht hatte. Wochenlang hatte ich die Anzeigen in der Tageszeitung und auf den einschlägigen Plattformen im Internet studiert; wochenlang hatte ich Besichtigungstermine wahrgenommen.

Wahlweise wurden horrende Mieten verlangt, sah ich mich mit Dutzenden Mitbewerbern konfrontiert oder erkundete schaudernd heruntergekommene Behausungen, bei denen nicht einmal meine ausgeprägte Fantasie ausreichte, um sie mir in renoviertem und bewohnbarem Zustand vorzustellen. Nichts hatte bisher geklappt – aber nun kannte ich ja Frau Schiller und die hübsche Wohnung im ersten Stock dieses Hauses, die mir perfekt schien, um meine Zukunftspläne umzusetzen.

Und was noch wichtiger war: Frau Schiller hatte mich gemocht.

Mittlerweile hatten Schränke, Schubladen und Regale sich merklich geleert, und mit jedem Teil, das ich aussortierte, fühlte ich mich ein wenig leichter.

Dennoch: Der heimlich gehegte Traum, dass meine gesamte Habe in einen Koffer passt, würde wohl unerfüllt bleiben. Trotzdem war ich überrascht, wie viel Zeugs sich im Laufe der Jahre in der Wohnung angesammelt hatte. Und war es nicht sowieso zurzeit schwer im Trend, sich von unnützem Ballast zu befreien?

Also: Seit wann hing diese Bluse ungetragen im Schrank? Länger als ein Jahr? Weg damit! Und der Reiskocher – wann hatte ich ihn zuletzt benutzt? Vor vier Jahren? Adios, Reiskocher. Benötigte ich wirklich 25 Teelichthalter, 31 Kaffeebecher und vier Teekannen?

Auf keinen Fall.

Dinge, die noch zu gebrauchen waren, spendete ich an gemeinnützige Organisationen; alles andere kam auf die Mülldeponie. Baghira beäugte meine Aktivitäten mit wachsendem Misstrauen, wie ich mir einbildete. Saß ich auf dem Fußboden und leerte nach und nach uralte Kramkisten voller Schnickschnack, hockte er neben mir und folgte aufmerksam jeder meiner Bewegungen. Ich unterhielt mich dann mit ihm und erklärte bei jedem Teil, warum ich es behalten oder wegwerfen wollte. Auch hielt ich ihm lange Vorträge über die erhoffte neue Wohnung und den wunderbaren Balkon, auf dem er bald die frische Luft würde genießen können.

Herrje – ich verwandelte mich allmählich in eine verrückte Katzenlady …

Offen stehende Schranktüren und Schubladen verführten Baghira natürlich dazu, strikt verbotenes Terrain zu erkunden. Nicht nur einmal befreite ich ihn nach langer Suche zu später Stunde aus einem längst wieder verschlossenen Schrank, weil er sich in der hintersten Ecke zusammengerollt hatte und eingeschlafen war. Schwarze Kater sind in dunklen Ecken nun einmal so gut wie unsichtbar; also fiel mir seine Abwesenheit meist erst dann auf, wenn ich ins Bett gehen wollte und ihn bei meinem letzten Kontrollgang durch die Wohnung nirgends entdeckte.

Nach drei Tagen meldete sich endlich Frau Schiller bei mir und überbrachte mir die frohe Botschaft, dass ich als neues Mitglied der Hausgemeinschaft auserkoren sei. Wenn ich wolle, könne ich noch heute den Vertrag unterschreiben und den Schlüssel übernehmen.

Sofort wählte ich Dianas Nummer, die natürlich über jeden meiner Schritte informiert war und mich – wenn auch aus der Ferne – bei meiner Wohnungssuche begleitet hatte.

»Ich hab die Wohnung!«, kreischte ich, kaum dass sie das Gespräch angenommen hatte.

»Die von der Federnkleberin?«

»Ja – ist das nicht toll? Ich bin so happy! Jetzt kann ich mit der konkreten Planung beginnen … und ich kann Möbel kaufen gehen … und Pflanzen für meinen Balkon … und …«

»Nichts überstürzen«, unterbrach sie mich kichernd. »Du willst es dir doch richtig schön machen, oder? Also lass dir Zeit, bevor du voreilige Entscheidungen triffst. Nicht dass du plötzlich ein pinkfarbenes Samtsofa in der Bude stehen hast, für das du dich allzu spontan entschieden hast und das dir innerhalb von ein paar Wochen tierisch auf den Keks geht.«

»Ach, sei nicht so schrecklich vernünftig, Diana. Ich entwickle mich langsam, aber sicher zu einer exzentrischen Singlefrau mittleren Alters, die mit ihrem Kater lange Gespräche führt. Dazu gehört zwingend ein pinkfarbenes Samtsofa, finde ich. Vielen Dank für deine kreative Anregung. Dieses Klischee gönne ich mir, das habe ich mir redlich verdient. Es wird dauern, bis es den nächsten Mann in meinem Leben gibt – wer also sollte über extravagantes Mobiliar meckern?«

»Tu es nicht – du wirst es bereuen!«

»Nee, Spaß beiseite: Ich werde über jede Anschaffung nachdenken, denn ich plane ja für länger. Aber bestimmt werde ich auch spontane Entscheidungen treffen, weil ich mich in Dinge schockverliebe. Ich halte dich auf dem Laufenden, okay? Tschüss, Süße!«

Ich fuhr erschrocken zusammen, als eine Stimme direkt hinter mir sagte: »Du hast eine Wohnung gefunden?«

Ich drehte mich mit meinem Schreibstuhl herum und nickte. »Diese Frage ist ja wohl rein rhetorisch. Ich wette, du hast das ganze Gespräch belauscht, Chef.«

Dennis grinste breit – nicht im Mindesten verlegen. »Dein Büro ist offen, du posaunst deine Neuigkeiten lautstark in die Weltgeschichte …« Er zuckte mit den Schultern. »Das würde ich nicht gerade lauschen nennen, wenn ich zufällig vorbeikomme und alles höre. Übrigens: Auch ich würde dir von einem pinkfarbenen Samtsofa abraten.«

Ich stöhnte und verdrehte die Augen. »Ihr bringt mich noch so weit, dass ich mir wirklich so ein Ding anschaffe! Nur, um euch zu schockieren. Außerdem: Passt das nicht perfekt in deine Zeit?«

Mein Chef hatte eine ausgeprägte Vorliebe für die Siebziger, die er in seiner Kleidung hemmungslos auszuleben pflegte. Auch heute trug er ein Hemd in schreienden Farben, dessen Muster sich eng ans Design der damals so beliebten Prilblumen anlehnte. Über seine Schlaghose und seine Plateauschuhe senke ich an dieser Stelle lieber den gnädigen Vorhang des Schweigens.

»Samtsofas in derartigen Farben, das sind die Sechziger, meine liebe Loretta. Die Siebziger, das sind Breitcord-Wohnlandschaften in Moosgrün und Bogenlampen mit Metallschirmen in Orange. Es sei denn, du stehst wie ich auf den skandinavischen Stil. Der ist deutlich reduzierter, aber du weißt ja, wie ich eingerichtet bin.«

Ja, das wusste ich. Im Vergleich zu seinem Klamottengeschmack glich seine Einrichtung der einer Mönchszelle.

»Aber wir kommen vom eigentlichen Thema ab«, fuhr er fort. »Du wirst freie Tage brauchen, um deinen Umzug zu organisieren. Sag mir so schnell wie möglich Bescheid, damit ich planen kann.«

Er klomperte auf seinen dicken Sohlen von dannen, und ich freute mich einmal mehr über meinen generösen Chef, der mir nach wie vor viele Freiheiten ermöglichte. Seine Dankbarkeit mir gegenüber war ungebrochen, seit ich vor drei Jahren – zugegeben: unter Einsatz meines Lebens – dafür gesorgt hatte, dass er sein Callcenter behalten konnte, auf das einige zwielichtige Gestalten sehr scharf gewesen waren.

In der nächsten Zeit verbrachte ich so manche Stunde in Möbelhäusern. Der Gedanke, mir eine vollkommen neue Umgebung zu schaffen, gefiel mir immer besser. Frank und Bärbel kannten eine Flüchtlingsfamilie, die dringend Mobiliar benötigte. Sie waren außer sich vor Freude, sich bei meinen ausgemusterten, aber gut erhaltenen Möbeln bedienen zu können. Ihr erster Besuch bei mir führte allerdings zunächst zu ausgiebigen, aufgrund der Sprachbarriere mit Händen und Füßen geführten Diskussionen, warum ich all diese schönen Sachen denn nicht selbst behalten wollte. Irgendwie gelang es mir, ihnen klarzumachen, dass zu viele traurige Erinnerungen daran hingen. Danach verstanden sie es zwar immer noch nicht wirklich, aber sie akzeptierten es und freuten sich über diese Gelegenheit.

Alle paar Tage wurden Möbel an meine neue Adresse geliefert, die ich mit Franks oder Erwins Hilfe aufbaute und auf die Zimmer verteilte. Manchmal waren auch beide da, um anzupacken, und so war alles rasch so weit vorbereitet, dass nur noch die Umzugskartons mit meinen persönlichen Sachen fehlten. Ein nagelneuer Kratzbaum wartete schon auf Baghira und etliche leere Balkonkästen darauf, von mir bepflanzt zu werden.

Am Umzugstag, einem Samstag, beluden wir einen Transporter, den ich gemietet hatte, mit den Kisten; auch Dennis war erschienen, um zu helfen. Ich war aufgeregt, denn dies würde meine erste Nacht in meinem neuen Zuhause werden. Baghira war seit drei Tagen bei Doris und Erwin, damit er am Sonntag, wenn ich schon so viel wie möglich ausgepackt und eingeräumt hatte, ohne viel Stress ins neue Heim ziehen konnte.

Doris und Bärbel hatten von mir die Schlüssel bekommen und warteten bei unserem Eintreffen schon mit einem opulenten Büfett, das Doris für uns zubereitet hatte. Als Bewirtungsvollprofi hatte sie sogar daran gedacht, Geschirr, Besteck und einige Küchengeräte mitzubringen, damit ich nicht in irgendwelchen Kisten wühlen musste.

Bereits mittags war alles erledigt. Der Transporter war leer geräumt, und wir saßen um den neuen Esstisch herum auf neuen Stühlen und stärkten uns mit Doris’ unvergleichlichen Frikadellchen und köstlichem Kartoffelsalat.

»Du gibst die Befehle, was als Nächstes anliegt«, sagte Bärbel, als alle satt waren. »Welche der Kartons sollen wir zuerst auspacken?«

Ich schüttelte den Kopf. »Lieb von euch, aber das mache ich alleine. Ihr würdet ständig mit irgendeinem Teil in der Hand vor mir stehen und mich fragen, wohin ihr es räumen sollt – und das weiß ich selbst noch nicht. Wegen Baghira melde ich mich morgen bei euch und hole ihn dann ab.«

»Nichts da, Schätzchen.« Doris tätschelte meine Hand. »Wir bringen ihn dir vorbei. Und ich backe heute noch einen schönen Kuchen, dann können wir morgen ein Stündchen zusammensitzen. Bist du ansonsten schon mit Lebensmitteln versorgt? Sonst gehen Erwin und ich noch wacker für dich einkaufen.«

Beinahe hätte ich vor Rührung losgeheult. Tatsächlich war mein Kühlschrank gut gefüllt, und ich wusste ganz genau, in welcher der zahlreichen Kisten meine Espressokanne, die Kaffeemühle und die Kaffeebohnen steckten. Außerdem hatte ich bereits herausgefunden, welche Imbissbuden es in der Nachbarschaft gab.

Ich war also bestens gerüstet.

Kapitel 3

Baghira checkt ausgiebig die Lage, und Loretta begegnet einem Mädchen mit einem merkwürdigen Namen

Nachdem meine Freunde sich verabschiedet hatten, ging es ans Auspacken, und bald türmten sich zusammengefaltete, leere Pappkartons. Das Schlafzimmer war ein Kinderspiel, das Bad ebenfalls. Das Balkonzimmer wollte ich als kleine Bibliothek – Schrägstrich Gästezimmer – nutzen, also standen dort ein Tagesbett und etliche Bücherregale. Im Wohnzimmer war mehr als genug Platz für Esstisch samt Stühlen, Sofa plus Sessel sowie meine Glotze. Sogar der Balkon war bereits möbliert.

Im Gegensatz zu meiner alten Wohnung hatte ich nun ein Gegenüber – sprich: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es Häuser, in deren Fenster ich blicken konnte. Zwar nicht allzu nah, da vor den Häusern jeweils Rasenflächen waren, aber immerhin. Daran würde ich mich erst einmal gewöhnen müssen, und mir war tatsächlich etwas unwohl bei dem Gedanken, dass nicht nur ich in andere Wohnungen, sondern deren Bewohner auch in meine gucken konnten. Ich brachte also an sämtlichen Fenstern Metalljalousien an; um zusätzliche Vorhänge wollte ich mich später kümmern.

Als ich die erste Ladung Kartons hinunter in den Keller brachte, fiel mir auf, dass ich noch keinen der Mitmieter zu Gesicht bekommen hatte. Als hätte sie meine Gedanken gehört, streckte Frau Schiller ihren Kopf zur Wohnungstür heraus, als ich auf dem Rückweg in die Wohnung daran vorbeikam.

»Herzlich willkommen«, sagte sie mit einem breiten Lächeln, »hat der Umzug gut geklappt?«

Ich nickte. »Bestens, vielen Dank. Ab sofort wohne ich hier. Umgemeldet bin ich auch schon.«

»Prima. Sie sehen: Ich habe mir bereits erlaubt, Ihre Klingel und Ihren Briefkasten entsprechend zu beschriften. Das mache ich immer für die neuen Mieter, damit die Schrift auf allen Schildern einheitlich ist. Das sieht so unordentlich aus, wenn alle irgendwas krakeln, finden Sie nicht? Haben Sie übrigens morgen ein Stündchen Zeit? So am frühen Abend? Ich dachte, wir treffen uns gemütlich im Garten und trinken auf Ihren Einzug ein Schlückchen Sekt zusammen. Ich habe schon allen Bescheid gesagt.«

Oh. Es schien so, als wäre Gegenwehr zwecklos. Ich seufzte innerlich; ich fühlte mich überrumpelt. Aber gut, dann hatte ich es wenigstens in einem Aufwasch hinter mir, alle Nachbarn kennenzulernen.

Also machte ich gute Miene zum bösen Spiel. »Das ist aber eine nette Idee, sehr gerne. Ich hatte damit gerechnet, heute einigen zu begegnen.«

Frau Schiller riss die Augen auf. »Oh, nein – dazu sind hier alle im Haus viel zu diskret. Hier weiß man, was sich gehört. Wenn jemand einzieht, respektiert man, dass derjenige im Stress ist. Das ist nun wirklich nicht der passende Moment, um sich vorzustellen.«

Ach was? Aber man könnte seine Hilfe anbieten, oder nicht? Aber vermutlich war die Hausgemeinschaft bereits durch Frau Schiller informiert, dass es keine Möbel zu tragen geben würde – das wusste sie von mir, denn sie hatte etliche meiner Möbellieferungen mitbekommen. Nicht nur das: Sie hatte sich netterweise erboten, die Lieferanten in meine Wohnung zu begleiten, während ich arbeiten war.

Aber ich konnte mir dennoch nicht vorstellen, dass mein Einzug unbemerkt vonstattengegangen war; bestimmt hatte der eine oder andere neugierig durch die Gardine gelinst …

Zum Abendessen holte ich mir aus einer nahe gelegenen Pizzeria eine hervorragende Pizza, und sofort wanderte die Speisenkarte – man konnte sich das Essen auch liefern lassen – an den Kühlschrank. Danach ging ich daran, den Inhalt der Küchenkartons einzuräumen. Irgendwann war meine Energie verpufft, und ich machte Schluss für den Tag.

Ich weihte die Dusche ein, plumpste ins frisch bezogene, nagelneue Bett und schlief umgehend ein.

Ich muss nicht extra erwähnen, dass ich beim Erwachen am nächsten Morgen zunächst ein paar Sekunden lang hochgradig orientierungslos war. Dass ich mich in einer fremden Umgebung befand, erkannte ich sogar, bevor ich mir die Hornbrille aufgesetzt hatte. Das Licht war anders, der Geruch war anders, und das Bett unter mir fühlte sich anders an. Außerdem quengelte mir kein Kater die Ohren voll.

Aber die Erkenntnis kam blitzartig: Ich war in meiner neuen Wohnung! Juhu!

Munter federte ich aus dem Bett und hüpfte los, wobei ich im Vorbeigehen den Fernseher einschaltete. In der Küche erlitt ich erneut einen kurzen Anfall von Orientierungslosigkeit: Wo hatte ich gestern Nacht im Halbschlaf mein Zeugs hingeräumt? Wo war das Besteck, wo die Tassen, wo die Frühstücksbrettchen? Alles war an anderen Stellen, als ich es gewöhnt war. Oder waren die Dinge, die ich jetzt benötigte, vielleicht noch in den Kartons, die bisher nicht ausgepackt waren? Ich suchte ein wenig herum, aber irgendwann saß ich am Tisch und frühstückte, während ich mit einer Hirnhälfte darüber nachdachte, welche meiner Fotos ich auf Leinwand drucken lassen sollte, um damit die Wände meines neuen Heims zu schmücken. Genug Material hatte ich ja.

Als das Telefon klingelte, fiel mir auf, dass mein Festnetzanschluss bereits freigeschaltet war – das hatte ich gestern zu checken vergessen. Da ich meine alte Nummer hatte mitnehmen können, landeten Anrufer nun problemlos in meiner neuen Wohnung.

»Na, wie war die erste Nacht?«, zwitscherte Doris. »Was hast du geträumt? Du weißt ja: Der erste Traum in der neuen Wohnung geht in Erfüllung.«

Oh … ich konnte mich an keinen Traum erinnern; ich hatte geschlafen wie ein Stein.

»Ich habe nichts geträumt«, erwiderte ich lahm. »Ist das schlimm?«

»Ach wo, Schätzchen. Der erste Traum, an den du dich erinnerst, zählt. Wann du ihn hast, ist egal.«

Dann war ja alles gut … obwohl: Ich wusste nicht, ob ich mir das wirklich wünschen sollte. Leider schlichen sich die gruseligen Erlebnisse vom letzten November noch immer ab und zu in meine Träume. Und ganz sicher wollte ich nicht, dass die Ereignisse sich wiederholten.

Wir verabredeten uns für später; dann machte ich mich daran, den Rest auszupacken. Als ich die letzten Kartons in den Keller brachte und in meine hübsche, übersichtliche Wohnung zurückkehrte, beglückwünschte ich mich ein letztes Mal dazu, dass ich mich vor dem Umzug so konsequent von allen Dingen getrennt hatte, die ich als Ballast empfunden hatte.

Jetzt musste ich nur noch den Ballast in meinem Kopf loswerden. Dafür brauchte ich nur einen großen Bogen um Mörder, Psychopathen, fehlgeleitete Liebende und andere Personen zu machen, durch die ich in Dinge geraten konnte, die mir nicht guttaten.

Und dazu war ich fest entschlossen.

Hörte sich gar nicht so schwer an.

Mit dem Handy machte ich einige Fotos von der Wohnung und sandte sie an Diana, damit sie auf dem Laufenden war. Kaum hatte ich sie abgeschickt, als sie auch schon anrief.

»Gratuliere, sieht klasse aus«, sagte sie. »Aber kein pinkfarbenes Sofa. Ich bin ein wenig enttäuscht.«

»Dafür aber eins, das so blau ist wie die Nordsee, wenn sich der wolkenlose Himmel in ihr spiegelt.«

»Oha – wann genau ist aus dir denn eine Poetin geworden? Aber du hast recht. Darüber an der Wand würden sich einige der Fotos, die du im Dezember hier am Strand geknipst hast, wirklich ganz hervorragend machen.«

Sie hatte recht. Und interessanterweise war den Bildern nicht anzusehen, ob sie im Sommer oder im Winter gemacht worden waren: weißer Sand, strahlend blauer Himmel, das endlose Watt, ein paar Möwen … wunderschön zu jeder Jahreszeit.

»Und was sagt der olle Baghira zum neuen Umfeld?«, fuhr sie fort.

»Er kennt es noch nicht, Doris und Erwin bringen ihn gleich vorbei.« Ich warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Oh, sie klingeln jeden Moment, sehe ich gerade. Wir telefonieren später noch mal, okay? Ich lerne nämlich heute noch meine Nachbarn kennen.«

»Ui – alle auf einmal?«

»Allerdings; es findet ein kleines Treffen im Hinterhof statt. Aber dann habe ich es wenigstens in einem Aufwasch hinter mir.«

»Na dann viel Spaß. Bis später.«

Kaum hatte ich aufgelegt, als es klingelte. Aha, so hörte sich also meine neue Türbimmel an – wieder was dazugelernt.

Baghiras lautstarkes Protestgeschrei hallte durch den Hausflur. Bestimmt fragte der arme Kerl sich, wohin er jetzt nun wieder verfrachtet wurde. Er fühlte sich bei Doris und Erwin wohl, aber er verabscheute es, im Transportkorb durch die Weltgeschichte gekarrt zu werden. Auch für ihn musste gerade alles fremd riechen; ganz sicher registrierte er, dass er nicht in sein altes, vertrautes Zuhause gebracht wurde.