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Hendrik Davids

Jenseits vom
Flammenkreuz

Die schicksalhafte Suche einer jungen Frau
nach Spuren der Vergangenheit

Roman

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Handlung und Personen des Romans sind – soweit nicht historische Personen oder Ereignisse aufgegriffen werden – frei erfunden. Jede Ähnlichkeit wäre rein zufällig.

Die Haupthandlung des Romans, dessen Urfassung im Jahr 1994 entstand, spielt etwa im Jahr 1993.

ImPrint eBook, Münster 2018
© 2018 ImPrint Verlag, Münster

info@imprint-verlag.de
www.imprint-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-945597-98-9

Inhalt

Teil I

Erstes Kapitel: Das zweite Leben der Olenka Debus

Zweites Kapitel: Engele auf der Galgenheide

Drittes Kapitel: Weg durch die Hölle

Viertes Kapitel: Die Spurensuche beginnt

Fünftes Kapitel: Die Engele, die in uns ist

Teil II

Sechstes Kapitel: „Kafkaesk“

Siebtes Kapitel: Die Errichtung des Reichs des Bösen

Achtes Kapitel: Der unheimliche Fremde

Neuntes Kapitel: Die verschwundene Kanzlei

Zehntes Kapitel: Das Vermächtnis

Teil III

Elftes Kapitel: Der gefallene Engel

Zwölftes Kapitel: … der werfe den ersten Stein

Teil IV

Dreizehntes Kapitel: Der Genesungsurlaub

Vorletztes Kapitel: Ein Wiedersehen

Letztes Kapitel: Das Weinen wiedererlernt

Schluss

Teil I

Erstes Kapitel

Das zweite Leben der Olenka Debus

Olenka schüttete den ganzen Inhalt des Tablettenröhrchens in ein Glas Wasser. Ein kurzes Aufschäumen. Es ist wie ein letztes Aufschäumen meines eigenen Lebenswillens, stellte sie nicht ohne Bitterkeit fest. Noch einmal ließ sie die Stationen ihres gescheiterten Lebens an sich vorbeiziehen, die ferne Kindheit in einer Stadt, die sie nie wiedergesehen hatte, die deutlicheren Schauplätze ihrer Jugendzeit, die wie Durchgangsstationen waren, die Künstlerparty, zu der ein Freund sie mitnahm, die ersten Aufnahmen, die ekstatischen Nächte … und dann die Gnadenlosigkeit des Abstiegs in eine Szene, in der man, um zu überleben, bei Filmangeboten nicht mehr wählerisch war, schließlich die Entziehungskur, die gescheiterte Ehe, das weggenommene Kind … Mit einem Ruck nahm Olenka ihren ganzen Mut zusammen und griff nach dem Glas. Auf einmal fühlte sie in sich eine unbestimmte Sehnsucht, zu Hause zu sein, ohne recht zu wissen, wo das war. Olenka fasste das Glas fester. Schade, dass sie nicht mehr erfuhr, wer da eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, an dem die rote Lampe leuchtete. Vielleicht sollte ich die Mitteilung einsprechen, dass es keinen Zweck mehr hat, eine Nachricht zu hinterlassen, dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor. Das erneute Klingeln des Telefons ignorierte sie. Mach endlich Schluss, Olenka, rein mit dem Zeug. Als aber das Telefon zum dritten Mal zu klingeln begann, siegte ihre Neugier. „Ja“, rief sie fast ärgerlich, und ihr war, als hörte sie ihre Stimme aus weiter Ferne.

Eine sonore Männerstimme klang aus dem Telefon. „Hier Schlesinger. Frau Debus, alles in Ordnung?“

„Alles okay“, antwortete sie, und es sollte doppelsinnig sein. „Ich probe gerade die Sterbeszene.“

„Dann rufe ich hoffentlich gerade zur rechten Zeit an, um den Part des Retters zu übernehmen, wenn ich Ihr Retter sein darf“, meinte Harry Schlesinger und deutete ein Lachen an, aber es klang etwas gequält. „Frau Debus, um ehrlich zu sein, ich freue mich außerordentlich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Diese Gefühlsintensität, mit der Sie sich in Ihre Rolle hineinsteigern – ja, wirklich, als ich den verzweifelten Unterton in Ihrer Stimme hörte, lief es mir kalt über den Rücken – da hatte man richtig das Gefühl, mit einem Menschen zu sprechen, der dem Tod ins Angesicht sieht.“

„Wenn ich aufrichtig sein darf, ich bin auch von den Ereignissen der letzten Tage etwas angegriffen“, gestand Olenka, und es gab ihr ein beruhigendes Gefühl, dass sie die Gelegenheit hatte, sich einem Menschen anzuvertrauen, der ihr zuhörte. „Mir ist kotzübel, wenn ich daran denke, dass ich am Montag vor der Kamera stehen soll.“

„Ich habe das in der Zeitung gelesen, dass Sie vor den Trümmern Ihres Privatlebens stehen“, klang es von weit her an ihr Ohr, während sie auf die einen unbestimmten Lichtreflex werfende Flüssigkeit in dem vor ihr stehenden Glas starrte, in dem sich ein weißes Zeug abzusetzen begann. „Unser Mitgefühl ist bei Ihnen, Frau Debus. Aber Sie müssen spielen! Nichts ist zufällig in diesem Film, auch die Besetzung nicht. Es wäre jammerschade, wenn ich mich nach einer neuen Hauptdarstellerin umsehen müsste.“

„Ja, ich verstehe“, erwiderte Olenka und spielte mit dem Glas. Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm, das so ruhig und gefasst zu sagen.

„Wenn ich Ihnen eine Regieanweisung geben darf, die zugleich der Rat eines Freundes ist, auch wenn wir uns nicht näher kennen – um Himmels willen, werfen Sie die Sterbeszene in die Ecke und proben Sie jetzt mal eine Auferstehungsszene“, redete Harry Schlesinger ermunternd weiter. „Aber vergessen Sie nicht, um 18 Uhr ins Flugzeug zu steigen. Damit Ihnen die Stunden bis dahin nicht zu lang werden, finden Sie im Briefkasten einen Videofilm, auf dem wir aus Probeaufnahmen einen Trailer zusammengeschnitten haben, um unseren Freunden einen Eindruck von dem Projekt zu vermitteln. Ich überlasse Ihnen die Cassette zur Einstimmung, versteht sich.“

„Yes, Sir“, hörte Olenka sich sagen, und sie wunderte sich, dass ihre Stimme einen festen Klang hatte, denn sie wusste, dass die Sekunden nach dem Ende des Telefongesprächs die entscheidenden sein würden, und eine unbestimmte Furcht führte dazu, dass sich ihre Hand unmerklich fester um das Telefon schloss, die Angst davor, die falsche Entscheidung zu treffen.

„Mir liegt sehr viel an Ihrer Stellungnahme“, bekräftigte Harry Schlesinger. „Wie Sie wissen, gehen die Anforderungen der Aufgabe, die Ihnen zugedacht ist, über die Anforderungen einer normalen Filmrolle weit hinaus. Ich nehme an, dass die Reise an den Drehort für Sie zu einer Reise in die eigene Vergangenheit werden wird. In diesem Sinne – bis heute Abend auf dem Flughafen.“

„Ja, bis heute Abend“, erwiderte Olenka, und ihre Hand griff mechanisch nach einer Zigarette. Das Glas stand unberührt auf dem Tisch, sollte es noch etwas warten. Bald darauf fand sie sich, auf dem Boden kniend, vor der Videoanlage wieder und starrte mit unbewegten Augen auf eine Reihe zerlumpter, mit grauen Kutten bekleideter Gestalten, die, von berittenen Männern in Landsknechtsuniform getrieben, mit zusammengeketteten Füßen in nicht endender Marschkolonne durch eine Landschaft zogen, die flach und irgendwie endlos war. Irgendwo im Hintergrund schimmerte friedlich das Wasser eines Sees.

Szenenwechsel. Ein Redner auf einem Podest hielt eine Predigt auf einem öffentlichen Platz und wiegelte das Volk auf, eine Frau zu verbrennen. Die Kamera schwenkte beiläufig durch die Menge und erfasste ein Mädchen, dem die Tränen aus den Augen traten. Als sie den Himmel anflehte, die Hinrichtung nicht zuzulassen, drohte man ihr damit, sie ebenfalls zu verbrennen.

Da wusste Olenka, dass der Mann am Telefon, den sie nur flüchtig kannte, gewonnen hatte. Entschlossen ergriff sie das Glas und schüttete den Inhalt in die Toilette. Dann wusch sie das Glas aus, immer wieder. Als sie mit den Fingern nachhalf, das Glas von dem schleimigen weißen Tablettenzeug zu reinigen, das zehnmal ausgereicht hätte, ihren Körper zu töten, fiel ihr Blick auf den Spiegel. Irgendwie fand sie das Gesicht mit wirren langen Haaren nicht unhübsch. Er wird sagen: „Ja, Frau Debus, Sie sehen wirklich sehr angegriffen aus“, stellte sie fest.

Als Olenka gegen Abend zum Flughafen kam, der erst vor kurzem als Ersatz für München-Riem neu erbaut worden war, regnete es. „Frau Debus, Sie sehen sehr reizvoll aus, wenn Sie etwas angegriffen wirken“, bemerkte Regisseur Schlesinger zur Begrüßung und führte sie zur Cafeteria, an der bereits Kollegen versammelt waren. „Die Maskenbildner werden das schon hinkriegen. Heute Abend feiert unser Team erst mal den Einstand. Morgen sehen wir uns Drehorte an. Dann haben Sie auch noch die Gelegenheit, einen Zug durch die 42 Kirchen zu unternehmen – oder durch die 650 Wirtshäuser, wenn Ihnen das mehr zusagt.“ Er lachte. „Am Montag geht es zur Sache. ‚Viel zu hübsch für den Strang‘, wird der Zuschauer hinterher sagen.“

Das Linienflugzeug war eine schon etwas ältere Propellermaschine, in der es etwas eng wurde. Mit geschultem Blick sah Olenka, einer Gewohnheit folgend, den Bewegungen der Stewardess zu. Eine Stewardessenrolle würde ich auch noch hinkriegen, stellte sie sich vor. Lange holperten sie über endlos erscheinende Zubringerstrecken. Ohne anzuhalten, rollte die Maschine hinaus auf die breite Betonbahn, deren schnurgerades Band sich weit draußen verlor, wo sich Himmel und Erde zu berühren schienen, sofort heulten die Propeller auf und zogen die zweimotorige Fokker 50 durch die Wolken in den blauen Abendhimmel hinein, unter dem die Oberfläche der Wolkendecke weiß wie Watte glänzte, und als der Flugkapitän die Maschine in eine Kurve zog, sah man den Schatten der Tragfläche tief unten. Nach dem Start wurde ein Piccolo serviert. Über die Bordlautsprecher gab der Captain irgendwelche Hinweise zur Reiseroute. Aber das hörte Olenka schon nicht mehr. Was sie in den letzten Tagen durchgestanden hatte, war über ihre Kräfte gegangen. Sie war eingeschlafen, der hübsche Kopf auf die Seite gerutscht, wo das Kabinenfenster war. Die Stewardess räumte leise den Piccolo ab und legte der Schlafenden den Sicherheitsgurt wieder an. Es war der Schlaf eines Menschen, der wieder erwachen will.

Als Olenka die Augen aufschlug, stieg ihr der würzige Duft von Kaffee in die Nase, den die Stewardess aus einer riesigen, silbrig glänzenden Vorratskanne ausschenkte. „Es war mein ausdrücklicher Wunsch, Sie bis jetzt schlafen zu lassen“, erklärte Harry Schlesinger väterlich im Vorbeigehen. Tief unten zogen Kraftwerke und Industrieanlagen vorbei, die riesige Rauchtürme in das leichte, dahintreibende Frühlingsgewölk aufsteigen ließen. Eine Autobahn war zu erkennen, dann wieder Wiesen und Felder. Olenka hatte das Gefühl, dass die Maschine ihre Reisehöhe bereits verlassen hatte. Bald würden am Horizont die Kirchtürme einer Stadt auftauchen, in der sie einmal zu Hause gewesen war, vor langer Zeit, und die sie nie wiedergesehen hatte außer auf verblassten Farbbildern aus ihrer Kindheit.

Im Sinkflug schwebten sie über eine Landschaft, die von verstreut daliegenden Bauernhöfen, Feldern, Wiesen und Wäldern übersät war. Olenka wartete darauf, dass der Anfang der Landebahn erschien, die sie aufnehmen würde. Es war noch nichts davon zu sehen, aber sie wusste, dass es nicht mehr weit war. Der Pilot erhöhte hin und wieder den Schub, damit sie nicht zu niedrig die Wipfel der Bäume überflogen. Und dann ging es plötzlich steil herunter, ein letztes Abfangen, und da wusste sie, dass gleich ein sanfter Ruck durch die Maschine gehen würde und dass die Reise zu Ende war.

Es ging die Treppe hinunter und zu Fuß über das Rollfeld in das Flughafengebäude, an dem sich immer noch keine Fluggastbrücken befanden. Da sie nicht durch den Transitbereich zu gehen brauchten, ging alles sehr schnell. Als Harry Schlesinger auf dem Weg durch das Abfertigungsgebäude zur Eingangshalle um eine Ecke bog, prallte er mit einem Reporter zusammen, der ihm ein Mikrofon hinhielt. „Herr Schlesinger, ein kurzes Statement, bitte, zu dem Film, den Sie drehen werden.“

„Es ist klar“, erklärte der Regisseur, „dass die Ereignisse, wenn man etwa an die Verführbarkeit der Massen denkt, durch die eine solche Herrschaft des Bösen erst möglich wurde, erschreckende Gemeinsamkeiten mit Vorgängen im 20. Jahrhundert aufweisen. Allerdings ist zu bedenken, dass die Menschen, die wir zeigen, Menschen des ausgehenden Mittelalters sind. Die Wiedertäufergeschichte der Jahre 1534/35 hat historische Wurzeln in den gesellschaftlichen Verhältnissen und religiösen Strömungen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Die Menschen fühlten sich im Stich gelassen von denen, von welchen sie in geistiger und politischer Hinsicht hätten geführt werden müssen, und waren offen für die aberwitzigen Irrlehren von Scharlatanen und falschen Propheten. Am Anfang war da eine aus dem Zusammenhang der Reformationsbewegung hervorgegangene Sekte, die wurde von den um die Erhaltung ihrer Macht fürchtenden Herrschenden verfolgt und radikalisierte sich, bis sie zur blutigen und menschenverachtenden Tyrannei entartete. Den Rest kennen Sie. Wir schildern das Ganze aus der Sicht eines Schaustellerpärchens, das in der Stadt Zuflucht gesucht hat und in den Strudel der Ereignisse hineingerät.“ Harry Schlesinger ergriff seinen Koffer, zum Zeichen, dass er weitergehen wollte. „Nur wenige Jahrzehnte nach der Niederschlagung der Wiedertäuferherrschaft erreichte übrigens ein weiteres furchtbares Kapitel religiösen Wahns seinen grausamen Höhepunkt, nämlich der Hexenwahn, der in dieser Gegend besonders schlimm wütete. – Oh, da kommt ja unsere in einem Lokalblatt als verlorene Tochter der Stadt bezeichnete Hauptdarstellerin.“

„Ich bin zwar keine Hexe, aber ich stehe für ein Interview zur Verfügung, da ich weiß, dass Sie mich sonst bis auf die Toilette verfolgen“, sagte Olenka. „Bedienen Sie sich.“

Der Reporter nahm sie auf die Seite. „Hat es eigentlich bei der Besetzung eine Rolle gespielt, dass Sie aus Münster stammen?“

„Kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe die Stadt nicht mehr wiedergesehen, seitdem ich vierzehn war.“

„Aber Sie werden natürlich Ihren Aufenthalt anlässlich der Dreharbeiten dazu benutzen, die Stätten Ihrer Kindheit wiederzusehen?“

„Ja, es gibt da zum Beispiel ein paar Gräber, die sicher verwildert sind, von Menschen, denen ich viel bedeutete und die mir viel bedeuteten“, sagte Olenka gedankenverloren. Sie kniete bei einem Hund nieder, der von irgendjemandem angebunden worden war, und streichelte ihn. „Ist ja gut, bald bist du nicht mehr allein.“

„Stimmt es, dass Sie einer Menschenrechtsbewegung angehören?“

Olenka überhörte die Frage und sagte, ohne aufzublicken: „Sehen Sie doch mal, sein Halsband ist viel zu eng.“

Der Reporter ließ nicht locker. „Nach einer Pressemeldung läuft bei Olenka Debus jetzt nichts mehr mit Drogen?“

Olenka Debus fuhr hoch und sah ihn scharf an. „Wer in seiner Jugend nie Haschisch geraucht hat und nie einen Alkoholrausch hatte, der werfe den ersten Stein.“

Der Reporter grinste. „Man soll nicht einen Stein auf Menschen werfen, die in Wirklichkeit unsere Hilfe brauchen“, räumte er ein, „Sie haben gewonnen.“

„Sie sollten die Dame nun mal weitergehen lassen.“ Die Worte kamen von einem jungen Mann, der sich aus der Passantenmenge schälte und zu ihnen herantrat. Er hatte kurz geschnittenes Haar, einen gepflegt aussehenden dunklen Vollbart und eine schlanke, durchtrainiert wirkende Bodybuilderfigur. „Ich bin der Bruder von Frau Debus.“

Olenka sah ihn überrascht an. „Max?“, rief sie, etwas unsicher.

Max, ihr Halbbruder aus einer ersten Beziehung ihres Vaters. Sie hatten sich nur wenige Male gesehen, zuletzt auf der Beerdigung ihres Vaters vor einigen Jahren.

„Ja, ich bin es, Schwesterchen.“ Max reichte ihr die Hand.

„Schön, dass du gekommen bist“, meinte Olenka. „Habe gar nicht damit gerechnet …“

„Ich habe aus den Lokalnachrichten erfahren, dass du in dem Film mitspielst, der in unserer Stadt gedreht werden soll“, erklärte Max. „Und es stand für mich sofort fest, dass es mir ein Herzensanliegen wäre, zu deiner Begrüßung hierher zu kommen. Auch wenn wir uns bisher nur selten gesehen haben … ich habe schließlich nur die eine Schwester.“

„Da hast du recht“, stellte Olenka fest. „Und es wäre sicherlich schön, wenn wir uns noch mal sehen könnten, solange ich in der Stadt bin. Eine Gelegenheit wird sich schon finden.“

„Ganz meine Meinung“, bestätigte Max. „Übrigens hätte ich dir auch nur zu gerne angeboten, dich ins Hotel zu bringen oder wohin du sonst willst. Aber leider ist mein Wagen in der Werkstatt.“

Das rettende Taxi, in dem sich Olenka nach der nervenzerreißenden Fragerei und dem Weg durch das Empfangsgebäude wiederfand, wurde von einem Studenten mit Langhaarfrisur gesteuert, der mitgekriegt hatte, wer sie war, und um ein Autogramm bat. Die Stadt lag im Glanz der letzten Sonnenstrahlen. Und auf einmal fühlte sich Olenka wie von einer unbekannten Macht dazu getrieben, den Fahrer zu einem Umweg zu veranlassen, und sie verließen die breite Durchgangsstraße und bogen in eine uralte Allee ein, die sich durch ein Villenviertel zog. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern der hohen Jugendstilvillen, die aus der Zeit der Jahrhundertwende stehengeblieben waren. Hinter einigen der verschnörkelten schmiedeeisernen Gartenzäune war man mit der Gartenpflege beschäftigt, und es roch nach geschnittenem Gras. Auch das verwilderte Grundstück, auf dem sie einst, in ihrer Kindheit, gespielt hatten, obwohl es streng verboten war, auf Trümmergrundstücken – den ganz wenigen aus dem Krieg noch verbliebenen – zu spielen, war noch da. Ihr Großvater hatte nur selten über das Grundstück gesprochen. Ein unbekanntes Angstgefühl ergriff Olenka, als sie sich vorstellte, dass da vielleicht noch Bomben gelegen hatten, die im Krieg nicht losgegangen waren.

Das Hotel, an dem die Taxifahrt endete, war ein schlichter Nachkriegsbau aus den Fünfzigerjahren, nicht eine der ganz teuren Nobelherbergen, aber es hatte den Vorteil, direkt am Rand der historischen Altstadt zu liegen, so dass die wichtigsten Drehorte nur ein paar Schritte entfernt waren. Sympathisch wirkte das Hotel außerdem auch deswegen, weil Tiere erlaubt waren. Das Vorrecht, in der teuersten Nobelherberge zu residieren, hatte man nur dem männlichen Hauptdarsteller, einem hochbezahlten internationalen Leinwandstar, zugestanden.

Olenka bezahlte das Taxi und stürmte in die Hotelhalle. Eine noch jugendlich wirkende Frau am Ende der Dreißiger, vielleicht zehn Jahre älter als sie, saß an der Rezeption. „Julika!“, rief Olenka, „dass man dich hier wiedertrifft!“ Und sie fiel ihr um den Hals.

„Ich bin seit einigen Jahren die Chefin dieses Hotels“, erklärte Julika, nachdem die stürmische Begrüßung vorbei war. „Wie lange haben wir uns nicht gesehen! Das ist Olenka, ganz wie früher!“

„Was ist aus Pascha geworden“, fragte Olenka, ohne Julikas Arm loszulassen, „lebt Pascha noch?“

„Es ist lange her, schon acht Jahre“, sagte Julika, plötzlich ernst. „Es dauerte lange, bis ich mir einen neuen zugelegt habe. Tiere sind manchmal treuer als Menschen.“

„Ja, ich weiß“, erwiderte Olenka vielsagend und nahm den Schlüssel in Empfang, der zu einer der relativ bescheiden ausgestatteten Suiten gehörte.

Später, als sie mit den anderen unten zusammensaß und eine kleine Petroleumlampe vor ihr auf der in zarten Blautönen und Altrosa gehaltenen Tafel entzündet wurde, da wurde ihr bewusst, dass diese Olenka, deren Spiegelbild ihr da für einen kurzen Moment bei der Make-upKontrolle entgegenblickte, nun schon während des ganzen Tages, an diesem verfluchten Tag, an dem sie sich fast umgebracht hätte, noch nichts Richtiges zu sich genommen zu haben schien. Das Angebot reichte von Balkanspezialitäten bis zu einer Seite mit typisch einheimischen Gerichten. Auf eine Bitte von Harry Schlesinger sprach ihnen der mit einer roten Samtjacke ausstaffierte Kellner die Namen der fremdländischen Gerichte vor. Sie übten sich der Reihe nach an den Zungenbrechern. Olenka wunderte sich, wie problemlos es ihr gelang, etwas zu ordern, was sich wie „Leskowatschka mutschkalitza“ anhörte.

Manche bevorzugten die Seite mit den einheimischen Spezialitäten. Einer von den Technikern bestellte etwas, was sich wie „halber Hahn“ anhörte, ohne auf den warnenden Blick zu achten, den Olenka ihm zuwarf, und war enttäuscht, als er ein Schnittchen bekam.

Auf einen Wink Julikas endete das Gelage mit einem süßen Schnaps, den man in ein Gläschen hineingezaubert hatte, das wie eine kleine Flasche geformt war und aus dem die Flüssigkeit langsam herausgluckerte und wie Honig über die Zunge lief.

Zum Begrüßungs-Umtrunk versammelten sie sich in einer alten Kneipe, die im Zentrum lag. Ein an der Wand hängendes Gemälde mit einer Dämmerschoppenszene zog die Aufmerksamkeit des Kameraassistenten auf sich. „Der Typ im Vordergrund passt nicht dazu“, stellte er fest.

„Mein Großvater hat erzählt, dass es sich um einen Parteibonzen handelte“, erklärte Olenka. „Er trug eine Armbinde mit dem Parteiabzeichen, und der Maler soll ihn so gemalt haben. Nach dem Krieg haben die Münsteraner die Sache mit dem auf dem Bild sehr deutlich sichtbaren Parteisymbol auf ihre Weise erledigt und ließen die Stelle mit der Armbinde überpinseln. Später fiel der Ölschinken mit der nun dem ersten Anschein nach den Eindruck normaler Kneipenidylle erweckenden Szene einem Gaststättenbrand zum Opfer, das Bild, das an der Wand hängt, ist nur eine Reproduktion.“

Später fanden sie sich tief unter dem Rathaus in einem mittelalterlichen Kellergewölbe wieder, das in düsteres Halbdunkel getaucht war und in dem sie eingezwängt saßen wie in einer Tonne. Auf Anregung Harry Schlesingers zeigte ihnen der Requisiteur, wie man mit einem Trinkhorn umzugehen hat. „Die Spitze muss immer auf euren Bauch gerichtet sein, wenn ihr euch daraus einen Liter Bier genehmigt. Sie darf beim Trinken nie nach oben gehalten werden.“ Ein junger Kerl, der einen Possenreißer und Scherenschleifer spielen sollte, wollte es natürlich nicht glauben und klatschte sich den ganzen Inhalt ins Gesicht, was der allgemeinen Belustigung diente. Olenka stellte fest, dass sie wieder lachen konnte. Sie verschluckte sich, hustete und lachte, bis ihr die Tränen in die Augen traten.

Als Olenka am nächsten Tag aufwachte, läuteten die Glocken mehrerer Kirchen. Sie begrüßte Julika unten an der Rezeption mit einem Kuss. „Es ist ein Brief für dich abgegeben worden“, sagte die Wirtin. Olenka nahm den Umschlag entgegen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein Schreiben des Journalisten, der sie wegen der Fragerei auf dem Flughafen um Nachsicht bitten wollte. „Ich stehe in Ihrer Schuld“, schloss der Brief. Das war Olenka noch nie passiert.

Nach dem Frühstück gingen sie eine schmale, kopfsteingepflasterte Gasse hinauf und standen direkt vor dem mächtigen gotischen Kirchenbau, an dessen Turm die Wiedertäuferkäfige hingen.

Harry Schlesinger war ganz in seinem Element. „Von da bis da wird der Platz abgesperrt“, erklärte er den Anwesenden, unter denen sich außer den Filmleuten auch Vertreter der örtlichen Presse und Schaulustige befanden. „Hier an der Kirche stellen wir das Podest hin, auf das der Prediger steigt. Dort bauen wir die Schiene für den Kran mit der Kamera auf. Die Kamera kommt von oben und fährt langsam in einem Bogen um ihn herum, wobei im Hintergrund die Menschenmenge im Bild ist. Eine heroische Musik, die einen mitreißt, eine Art Hymne, steigert die Wirkung der Volksverführungsszenen. Was er sagt, der Inhalt seiner Worte, ist Nebensache. Selbstverständlich kommt der Kirchturm mit den Wiedertäuferkäfigen nicht ins Bild.“ Er markierte mit Kreidestrichen eine andere Stelle unweit der Kirche. „Hier errichten wir den Scheiterhaufen, auf dem Elisabeth Wandscherer verbrannt wird.“

Der Brunnen auf dem Platz neben der Kirche war von jungen Leuten umlagert. Einige Obdachlose waren zu sehen. Als Olenka vorbeiging, stellte sie mit Schrecken fest, dass sie an einen Treffpunkt geraten war, an dem sich auch Süchtige trafen. Ihr Herz klopfte schneller, als ein Dealer sie ansprach. Sie zitterte. Sie nahm ihre Kraft zusammen, um die Situation zu überstehen. „Du spinnst wohl“, sagte sie, wandte sich ab und ging weiter. So erfuhr sie nicht, dass auf einen Wink Harry Schlesingers unbemerkt ein Mann vom Staff hinter sie getreten war, um sie im schlimmsten Fall zu beschützen.

Regisseur Schlesinger wandte sich dem Rathaus zu. „Es gab einen gescheiterten Aufstand gegen die blutige Herrschaft der Wiedertäufer, bei dem für kurze Zeit das Rathaus besetzt war. Das Ereignis hat bei Historikern wenig Beachtung gefunden, und die Aufständischen, die hingerichtet wurden, sind weithin vergessen. Für Reisende aus aller Welt verbindet sich mit diesem Rathaus vor allem der westfälische Friede von 1648. Es ist ein so symbolträchtiger Ort, dass später jener Diktator, der die Menschheit in den zweiten Weltkrieg stürzte, die Stätte angeblich als Kulisse für die Besiegelung seiner aberwitzigen Vorstellungen von einer neuen Weltordnung missbrauchen wollte.“ Seine Augen wanderten über die Anwesenden, er suchte Olenka. Sie war unter den gotischen Bogengang getreten, wo ein Bettler auf den hohen Stufen des Rathauses saß. Touristen aus aller Welt strömten an ihm vorbei, um den Raum zu sehen, der in die Weltgeschichte eingegangen war. Auf seinem Arm spielten zwei Ratten, die augenscheinlich Zwillinge waren, Albinos mit rosafarbenen Ohren. Jede von beiden wusste, wo ihr Platz an der Seite des Gefährten war. Legte man die beiden Tiere so nebeneinander, dass sie den Gefährten nicht an der gewohnten Seite hatten – wobei ein menschliches Auge keinen Unterschied sah –, so krabbelte eines der beiden über das andere hinweg. „Was ist, wenn eine Ratte ihren Gefährten verliert?“, wollte Olenka wissen.

„Dann sterben beide“, antwortete der Bettler.

Die Liebe hat etwas Furchtbares, dachte Olenka.

Als Schlesinger seiner Filmcrew alles für den Moment Wichtige gesagt, sie vor allem zu äußerster Konzentration, Vertrauen und Offenheit ihm gegenüber aufgefordert hatte, fand er eine Gelegenheit, wie zufällig ein paar Worte mit Olenka zu wechseln. „Warum sind Sie eigentlich so bleich geworden, als Sie am Lambertibrunnen standen?“, fragte er beiläufig.

„Der Brunnen erinnert mich an das Lambertussingen, zu dem wir uns trafen, als wir Kinder waren“, erzählte Olenka. Dass es da noch das Erlebnis mit dem Dealer gegeben hatte, sollten die Leute natürlich nicht erfahren. „Es war im Herbst nach Anbruch der Dunkelheit. Wir hatten einen Papierlampion und tanzten um den Brunnen. Die Szene hatte etwas Gespenstisches. Es wurden Lieder gesungen, von denen ich eines ziemlich abscheulich fand, wenn ich auch anfangs nicht wusste, warum.“ Sie sah Schlesinger an. „Es ist zum Kotzen, dass ich zunächst das Lied mitgesungen habe.“

„Später nicht mehr?“, fragte Harry Schlesinger.

„Es war das berüchtigte Lied von den drei Juden“, fuhr Olenka fort. „Hinterher fragte ich meinen Großvater, was ein Jude ist. Als ich ihm von dem Lied erzählte, überfiel ihn eine Traurigkeit, die ich noch nie an ihm gesehen hatte. ‚Du hast recht, Mädchen, es ist wirklich ein ganz entsetzliches Lied‘, sagte er. Als ich nach dem Gespräch mit meinem Großvater das Lied nicht mehr mitsingen wollte, zogen sich einige Spielkameraden, wahrscheinlich auf Veranlassung der Eltern, von mir zurück. Aber ich fand natürlich schnell andere Freunde. Die Sache kam mir erst später zu Bewusstsein. Mir fiel alles wieder ein, als zwanzig Jahre später in der Zeitung stand, dass es nun endlich ein wirksames Verbot geben soll, damit dieses abscheuliche Lied auch wirklich nicht mehr gesungen wird.“

Es fiel ihr nicht weiter auf, dass sich Harry Schlesinger während des Abends unmerklich in ihrer Nähe hielt, als sie am Rande der Altstadt über einen weiten Platz schlenderten, auf dem ein buntes Jahrmarktstreiben aufgebaut war. Schlesinger lud Olenka zum Besuch einer Wahrsagebude ein. Die alte Wahrsagerin, augenscheinlich eine Sinti, starrte lange auf ihre Hand und legte ihre Stirn in Falten. „Sie haben etwas Schlimmes hinter sich, Ihr Leben war in Gefahr“, erklärte sie. „Vielleicht haben Sie sogar mal an Selbstmord gedacht – na, wer hat das nicht.“

„Kann schon sein“, sagte Olenka und sah sie voll an.

„Ja, mein Kind, so wird es gewesen sein“, fuhr die alte Wahrsagerin fort, ohne ihre Hand loszulassen, „aber es war ein Freund da, der dich gerettet hat. Er wird dir noch einmal zur Seite stehen.“

Olenka blickte ihr ungläubig ins Gesicht. „Was – sehen Sie etwa schon wieder Selbstmordgedanken?“

„Aber nein, keine Sorge, mein Kind!“ Über das Gesicht der alten Schaustellerin huschte ein Lächeln. „Der unerkannte Freund, der als dein Retter in Erscheinung trat, hat in dir einen starken Lebenswillen geweckt. Nein, Gefahr droht dir von einer anderen Seite. Sei auf der Hut vor bösen Menschen, die dich vernichten wollen. Es wird Leute geben, denen du unbequem bist.“

Nachher entspannten sie sich auf einem alten Holzkarussell, auf dem Olenka schon in ihrer Kindheit gefahren war und das nur noch selten aufgebaut wurde, weil es unter Denkmalschutz stand. „Finden Sie das eigentlich schlimm, wenn ein Mensch schon mal Selbstmordabsichten hatte?“, fragte Olenka den Regisseur.

„Also doch“, stellte er fest, „ich habe es geahnt.“

Olenka ließ nicht locker. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Fast jeder von uns hat solche Erfahrungen hinter sich“, sagte Harry Schlesinger beruhigend, „wobei ich selbst keine Ausnahme bin.“

Zweites Kapitel

Engele auf der Galgenheide

Am Montagmorgen fuhren sie hinaus in eine abgelegene Gegend, die sich im Film die „Galgenheide“, in Wirklichkeit „Haskenau“ nannte, ein gottverlassener Landzipfel in einer Flussschere nordöstlich der Stadt. Es ging durch ein Waldgebiet, in dem ein Truppenübungsgelände war, an einem Sportflugplatz und einer Kaffeewirtschaft vorbei und weiter über Feldwege. Weit hinten sah man die Wälle eines alten Römerlagers. Außerdem erzählte man sich, dass es irgendwo in der Gegend ein Widerstandsnest gegen den Faschismus gegeben hätte, vielleicht auch nur ein verfallenes Gebäude, in dem sich Andersdenkende trafen, um heimlich ausländische Nachrichten zu hören. Weit draußen war ein Gittermast, eine Art Aussichtsturm, zu sehen, an der Stelle, wo die beiden Flüsse sich trafen.

Olenka rieb sich die Augen. Die Gegend kam ihr irgendwie bekannt vor, aber vielleicht war es nur von alten Fotos. Ein uralter Baum stand malerisch in der Landschaft. In der Ferne schimmerte das Wasser eines Flusses. Das war also die Galgenheide, der Ort, wo sie beinahe umgebracht werden sollte.

Es war alles zur Hinrichtung bereit. Zwei Landsknechte zerrten sie, die als Todeskandidatin an Händen und Füßen gefesselt war und höllisch aufpassen musste, um sich nicht ernsthaft zu verletzen, in die Nähe des Baumes, der mit seiner zerfurchten Krone malerisch und zugleich drohend die Landschaft beherrschte. Sie war nicht mehr Olenka, sie war Engele Kerckering, ein Mädchen aus dem 16. Jahrhundert, und ihre beiden Mitgefangenen, für die eben ein schnell herbeigerufener Priester eine letzte Gebetsformel herunterleierte, waren ihr Vater und ihr Bruder. Bei Nacht und Nebel hatte man sie abgeholt und, nachdem man ihren Hof verwüstet hatte, ein kurzes Verhör angestellt. Die Todesstrafe stand aufgrund einer Anordnung des Landesherrn ohnehin fest, da sie der Täufersekte angehörten. Außerdem war ihr Vater der Wortführer einer Protestbewegung unter den Bauern gewesen. Auch das sprach gegen ihn.

„Bald werdet ihr euch wiedersehen“, höhnte einer ihrer Peiniger, „im Wiedertäuferhimmel!“

Als die beiden Pferde durchgingen und zwei leblos im Winde hin und her baumelnde Leichen zurückließen, schrie Olenka herzzerreißend. Aber das Hinrichtungskommando ließ ihr, der Todgeweihten, nicht viel Zeit, sich zu fassen. Aus dem Munde blutend, mit weit aufgerissenen Augen, verfolgte sie, wie ihr einer der Landsknechte den Kragen ihres Kleides abzuschneiden begann. Wie aus weiter Ferne nahm sie wahr, dass einer sagte: „Lass die Haare ganz, die kann man noch verkaufen“, worauf der Kerl, der ihren Halsausschnitt gewaltsam für das Anlegen des Stricks vorbereitete, zur Antwort gab: „Na, was werden die schon wert sein.“ Mit nacktem Entsetzen in den Augen starrte Olenka in die Kamera, die in einiger Höhe auf dem stählernen Turm stand, der auf einmal eine verdammte Ähnlichkeit mit einem Wachturm zu haben schien. Der Regisseur Harry Schlesinger saß auf der Stahltreppe des Turms, baumelte mit den Beinen und hatte ein Megaphon in der Hand. Sein Blick schweifte scheinbar lässig über die Szene. Olenka wusste, dass weit hinten in der Ferne ein von einem Esel gezogener Karren zu sehen war, der sich langsam näherte. Der Landsknecht schnitt der Todgeweihten mit einem Ruck das letzte Stück vom Kleiderkragen unterhalb des Halses herunter und sah wutentbrannt die Schere an, drehte sie vor seinen Augen hin und her. „Du verdammtes Luder, hast uns auch noch die Schere versaut!“ Es traf sich gut, dass, wie sich herausstellte, der just in dem Moment langsam heranholpernde Eselskarren der Karren eines Scherenschleifers war. „He, du!“, rief einer der Landsknechte dem auf dem Wagen sitzenden Mann zu. „Wenn du ein Scherenschleifer bist, haben wir was zu tun für dich!“

Nach der Szene war Drehpause. Sie saßen um den Regisseur auf der unteren Plattform des Turms. „Nun steht aber in irgendeinem Schriftstück“, sagte Harry Schlesinger gerade, „dass sich während der Wiedertäuferherrschaft, 1534/35, ein fahrender Sänger, der zugleich Scherenschleifer war, in Münster aufhielt. Dieser Kasimir Kling hat immer die Phantasie der Literaten gereizt, denn er soll vorher im Münsterland eine Frau vor dem Galgen gerettet haben. Vermutlich taucht dieselbe Frau später in der Liste der 16 Frauen des Wiedertäuferkönigs auf.“

„Den hätte ich umgebracht“, sagte Olenka.

„Der Drehbuchautor erlaubt das nicht.“

Olenka zog an ihrer Zigarette. „Im Vietnamkrieg gab es Partisanenmädchen, die eine besondere Methode hatten, mit der sie, als sogenannte Rasierklingenmädchen, ihren Lovern zum Verhängnis wurden.“

„Wir sind hier nicht an einem Kriegsschauplatz des 20. Jahrhunderts“, erklärte der Regisseur ungehalten, „wir befinden uns mitten in der Zeit der bis zur Perversion gesteigerten geistig-religiösen Wirren des ausgehenden Mittelalters, und diese Gegend soll die Galgenheide darstellen.“

Olenka ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. „Die Stelle kommt mir irgendwie bekannt vor. Was hat nur ein Aussichtsturm in so einer Gegend zu suchen?“

„Aussichtsturm?“ Der Kameramann schüttelte den Kopf. „Scheint mir mehr ein alter Wachturm zu sein.“