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François-Henri Désérable

Ein gewisser Monsieur Piekielny

Roman

Aus dem Französischen
von Sabine Herting

C.H.Beck

Über das Buch

Ein junger Mann stößt in Vilnius zufällig auf das Geburtshaus von Romain Gary. Dessen Roman «Frühes Versprechen» und der rätselhaften Gestalt des unscheinbaren Monsieur Piekielny verdankt er eigentlich sein Abitur. Denn Garys Roman war der einzige auf seiner Liste, den er überhaupt gelesen hatte, und über Monsieur Piekielny konnte er tatsächlich ein paar Sätze sagen. Wer war dieser Mann?

Der vaterlose Gary, damals noch Roman Kacew, lebte in den 1920er Jahren mit seiner Mutter in Vilnius. Während der Ehrgeiz der Mutter, die in ihrem Sohn das zukünftige Genie sah, eher für Belustigung sorgte, lud Monsieur Piekielny den jungen Romain zum Tee ein und bat ihn, sollte er einst berühmt werden, sich seiner zu erinnern und ab und zu seinen Namen zu erwähnen – was Gary später tatsächlich immer wieder tat. Er hat Monsieur Piekielny niemals vergessen.

Désérables Roman ist ein leichtfüßiges, kenntnisreiches, bewegendes und melancholisches Meisterstück, eine Hommage an Romain Gary, an die litauischen Juden und nicht zuletzt an die Nebenfiguren, die Unscheinbaren und Kleinen in der Weltliteratur.

Über den Autor

François-Henri Désérable, geboren 1987, ist Eishockeyspieler und Schriftsteller. «Ein gewisser Monsieur Piekielny» ist sein dritter Roman. Désérable erhielt bereits zahlreiche Literaturpreise. Sein aktueller Roman, der sich in Frankreich über 30.000 Mal verkauft hat, wurde mit dem Grand prix de littérature de la ville de Saint-Étienne 2017 ausgezeichnet und war für alle wichtigen Preise nominiert. Ende des Jahres kommt eine Verfilmung von Romain Garys «Frühes Versprechen» in die französischen Kinos.

Über die Übersetzerin

Sabine Herting, geboren in Essen, übersetzt seit Anfang der 90er-Jahre aus dem Französischen und Englischen, darunter Werke von Jamaica Kincaid, Kazuo Ishiguro, Salman Rushdie und Olivier Rolin.

Inhalt

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

Dank

Abbildungsnachweis

Zitatnachweis

Fußnoten

Für die traurigen Mäuse

… denn besser könnte man es nicht ausdrücken.

Romain Gary, Gedächtnis mit Flügeln

ERSTER TEIL

1

Im Mai 2014 geriet ich durch allerlei Zufälle in die Jono-Basanavičiaus-Straße im litauischen Vilnius.

Ein Freund heiratete, und ich sollte sein Trauzeuge sein. Ich möchte, sagte er, dass du dich um meine Beerdigung kümmerst. Ich wendete ein, dafür sei es wohl ein bisschen zu früh, er habe doch noch die besten Jahre vor sich, zumal er sich einer robusten Gesundheit erfreue, doch gegebenenfalls würde ich mich seiner Witwe annehmen. Die meines Junggesellenlebens, stellte er klar. Ah, entgegnete ich, du meinst einen Spaziergang über die Champs-Élysées in Cowboy-Klamotten? Er meinte Striptease und Eishockey.

Wir kauften also Tickets nach Minsk, wo ein Eishockeyturnier stattfand. Es sollte uns als Vorwand dienen, denn siehst du, meine Liebste, was können wir denn dafür, dass der zukünftige Ehemann Schlittschuhe und Hockeyschläger so sehr liebt, dass er davon träumt, bei der Weltmeisterschaft dabei zu sein, die dieses Jahr in Weißrussland stattfindet, wo die Frauen so schön, so blond und so rasch bereit sind, sich auszuziehen? Außerdem schworen wir, Hand aufs Herz, die Finger gekreuzt, von Minsk sähen wir einzig die Eisbahn und unser Hotel. Wir waren zu viert, doch es gab nur noch drei freie Plätze im Flugzeug. Nicht schlimm, sagte ich, ich nehme einen Flug nach Vilnius und von dort den Zug nach Minsk. So kam ich nach Litauen.

2

Von Litauen hatte ich nur ein naives, dürftiges Bild mit unscharfen Konturen. Die Epochen verschwammen in meinem Kopf und prallten in einem verrückten folkloristischen Chaos aufeinander: Ich sah ein Getümmel aus Reitern, deren Pferde sich auf grauen Straßen aufbäumten, das Väterchen der Völker, das Gediminas am Schlafittchen packte, oder Apparatschiks, die sich mit dem Tatarenreich Schlachten lieferten. Das Ganze hatte weder Hand noch Fuß, und schnell wurde mir klar, dass Litauen mir gänzlich fremd war. Letztendlich wusste ich nur zwei, drei Belanglosigkeiten: dass man es ohne h nach dem t schreibt, dass es der größte der drei baltischen Staaten ist und knapp drei Millionen Einwohner hat. (Ehrlich gesagt, kannte ich auch den Namen seines besten Eishockeyspielers, doch da ich ahnte, dass er mir vollkommen unnütz sein würde, bemühte ich mich, ihn aus meinem Gedächtnis zu streichen – befreien wir uns von ihm ein für alle Mal, indem wir ihn hier niederschreiben, Dainius Zubrus, und reden wir nicht mehr davon.)

3

An jenem Tag in Vilnius streikte die Sonne, der Himmel war grau, verwaschen, und der Regen trommelte auf das Metall der Flugzeuge – ein köstliches, wenn auch leicht monotones Dröhnen zu meiner Begrüßung. Als ich meinen Koffer wieder in der Hand hatte, nahm ich ein Taxi und ließ mich vor dem Bahnhof absetzen. Es war Mittag, mein Zug nach Minsk würde erst in zwei Stunden abfahren, mir blieb also Zeit genug, essen zu gehen und dann meinen Fahrschein zu kaufen, doch ein Bummel durch die Stadt – schade, ein anderes Mal.

Ich betrat ein Restaurant in einem Kellergeschoss, eines dieser Lokale mit Bruchsteinwänden, verrauchter Decke und einem Kamin, in dem im Winter ein großes Feuer lodert: Die Feuerstelle, nun im Frühjahr unnütz, grinste mit ihrem weit aufgerissenen, verrußten Maul, während an der Decke zwei Glühbirnen knisterten und ein fahles Licht auf das alte gelbe Ölzeug des einzigen Gasts an jenem Tag warfen, eines jungen Mannes, der sich schwer auf den Tisch stützte, besser gesagt, der beinahe auf ihm lag, die Wange in die eine Hand geschmiegt, die andere um den Henkel eines Krugs gekrallt.

Ich wollte umkehren, doch unsere Blicke trafen sich, der junge Mann musterte mich aus erloschenen Augen, in deren Tiefe plötzlich so etwas wie eine Flamme erwachte: Die Kellnerin, geschminkt wie eine Königin, kam näher. Sie war jung, noch jünger als der junge Mann; sie hatte blondes, im Nacken zusammengebundenes Haar; eine weiße, weit ausgeschnittene Bluse und darunter üppige Brüste, schwer wie die Komplimente des jungen Mannes, der ihr ein wenig vergeblich den Hof machte (das stelle ich mir so vor, ich spreche kein Litauisch).

Mit einer souveränen, gebieterischen und wohlwollenden Geste wies mir die Königin einen Tisch in der Ecke. Ich studierte die derb plastifizierte Karte: Fingerspuren von früheren Gästen, die sie als unstrittigen Beweis ihres Besuchs an diesem Ort hinterlassen hatten, verkrusteten die Namen der litauischen Gerichte. Ich bestellte einen Burger. Und haben Sie Wi-Fi? Ja, sagte die Kellnerin und reichte mir einen Zettel, auf dem in winzigen Zeichen das Passwort stand (X-fh3_pH-38, das vergisst man nicht). Ich verzichtete darauf, diese absurde Kombination aus Zahlen, Buchstaben und allerlei Strichen einzutippen, zog ein Buch aus meinem Koffer, las einige Seiten (es war nicht sonderlich gut) und legte es auf den Tisch: Mein Burger war da. Dann bat ich um die Rechnung (acht Euro achtzig).

Warum ließ ich mein Portemonnaie, als ich ihm einen Zehneuroschein entnommen hatte und mit dem Geld in der Hand auf die Kellnerin zuging, gut sichtbar zwischen dem leeren Teller und dem übervollen Buch auf dem Tisch liegen? Manche Geheimnisse löst man nie. Jedenfalls ging ich, nachdem ich die Königin, die keine englische war, entlohnt hatte (Keep the change, hatte ich ihr gesagt, und sie hatte mir einen Euro zwanzig zurückgegeben), wieder an meinen Tisch, wo ich nur noch den Teller und das Buch vorfand: Mein Portemonnaie war nicht mehr da. Ich drehte mich zu dem jungen Mann, hatte er vielleicht etwas gesehen? Nein, er war verschwunden, auch er (ganz eindeutig, ich hatte kein Glück). Plötzlich stand ich ohne Geld da – ohne natürlich das unschätzbare Kapital zu berücksichtigen, das die Königin ihrem Pagen herausgegeben hatte –, an einem Ort, dessen Sprache ich nicht sprach und wo ich niemanden kannte außer Dainius Zubrus, und auch ihn nur dem Namen nach. Der Zug nach Minsk fuhr in einer knappen halben Stunde, und ich hatte noch keinen Fahrschein. Es regnete.

4

Mein Vater. Ich musste meinen Vater anrufen, ganz dringend, das war leider die einzige Lösung. In drei Sätzen schilderte ich ihm meine Lage, Vilnius, die Kneipe und den Regen, und bat ihn, mir so rasch wie möglich Geld per Western Union zu überweisen. Dann winkte ich ein Taxi heran, ließ mich vor der Niederlassung absetzen, die Fahrt bezahle ich, wenn ich mein Geld entgegengenommen habe, sagte ich. Hmm, machte der Fahrer in seiner Lammfelljacke auf Litauisch (der Mai war eher kühl). Ich fügte an, ich hätte ein Euro zwanzig, und wenn er es wünsche, sei ich bereit, sie ihm als Anzahlung zu überlassen. Hmm. Ich bin sofort wieder da, sagte ich, es dauert nur fünf Minuten. Fünfunddreißig Minuten später hielt ich das Geld für meinen Fahrschein in der Hand: Der Zug hatte nicht auf mich gewartet.

Ich bezahlte das Taxi und schickte es weg, weil es nun überflüssig geworden war. Regen peitschte mir ins Gesicht; im Lichtkegel des bereits fernen Taxis sah ich ihn böig fallen. Da der nächste Zug Vilnius – Minsk erst am Abend fuhr, hatte ich nun einige Stunden Zeit; ich konnte ganz nach Belieben durch die Stadt laufen. Um wohin zu gehen? Mit welchem Ziel? Man würde schon sehen. Ich ließ mich treiben; traurig tropfte es von den Bäumen; durchweichte Blätter lagen auf den Gehwegen; ich machte mich daran, die Stadt zu erobern, mit meinem Koffer, den ich hinter mir her zog und dessen Rollen zwei parallele, flüchtige Furchen zogen, die sich sogleich wieder schlossen. Ich ging geradeaus und schützte mich notdürftig mit meinem Buch vor dem Regen (als Schirm taugte es auch nicht mehr). An der ersten Kreuzung bog ich nach rechts in eine lange Straße, die ich dreihundert Meter entlangging, wobei ich unweigerlich die grünen Hauben einer orthodoxen Kirche links liegen ließ (als ich drei Jahre später zum vierten Mal nach Vilnius kam, sollten sie nicht mehr grün, sondern golden sein, so wie sie ursprünglich gewesen sind, ich würde denken, so wie er sie jeden Tag gesehen haben musste, wenn er aus dem Haus trat), um wieder nach rechts in die Jono-Basanavičiaus-Straße zu gehen. An der Nummer 18 befand sich an der gelben Fassade eines mit Stuck verzierten Gebäudes, dessen Toreinfahrt zu einem Innenhof führte, eine Plakette. Darauf stand auf Litauisch und Französisch:

DER FRANZÖSISCHE SCHRIFTSTELLER UND DIPLOMAT

ROMAIN GARY

(VILNIUS 1914 – PARIS 1980)

LEBTE VON 1917 BIS 1923 IN DIESEM HAUS,

DAS ER IN SEINEM ROMAN
«FRÜHES VERSPRECHEN» ERWÄHNT.

Verblüfft und triefend nass blieb ich stehen und sprach laut diesen Satz: «In der Großen Pohulanka Nr. 16 in Vilnius lebte ein gewisser Herr Piekielny.»

5

Dieser Satz war nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Ich musste ihn irgendwann gelesen und im Gedächtnis bewahrt haben, sodass er sich mir eingeprägt hatte und unveränderlicher Teil meiner Erinnerungen wurde, dieser zusammenhanglosen Fetzen, die hier und da im Vagen umherschwirren und manchmal unvorhergesehen zutage treten.

6

Ich stellte mich in der Toreinfahrt unter und sah im Internet – dieser Gedächtnisstütze – nach: Die Große Pohulanka war umbenannt worden. Sie hieß jetzt Jono Basanavičiaus, und die Nummer 16 von damals war nun die Nummer 18. Hier also, in einem dieser gelben Stuckhäuser, in der Nummer 18 der Jono Basanavičiaus, in der früheren Nummer 16 der Großen Pohulanka, hatte Romain Gary im Alter von sieben bis elf gewohnt, von 1921 bis 1925 (und nicht wie auf der Gedenktafel zu lesen war, vor der ich ein knappes Jahrhundert später triefend nass stand, von 1917 bis 1923), damals, als er noch nicht seinen Kampfnamen angenommen hatte, der sein Künstlername werden sollte, sondern noch den Namen trug, unter dem er geboren war, Kacew, Roman Kacew.

Es hörte auf zu regnen. Die eilig dahinziehenden Wolken trugen das Grau des Himmels davon. Die Sonne kam heraus, und ich betrat den Hof wie einen kultischen Ort, schweigend, mit entsprechend unwillkürlicher, steifer Ehrfurcht. Das Holzlager, in dem sich ein Jahrhundert zuvor ein weinendes Kind versteckt hatte, war verschwunden, ebenso die aufgetürmten Ziegelsteine, Überreste einer Munitionsfabrik. Auch die Schuppen gab es nicht mehr. Doch der Hof war noch dasselbe Ödland, zugeparkt mit Autos, auf deren regennass glänzenden Hauben sich der Himmel, die Bäume und die Firste der umliegenden Häuser spiegelten. In einem davon – in welchem? – hatte Roman Kacew gewohnt. In einem anderen, oder vielleicht auch im selben, ein gewisser Monsieur Piekielny.

7

Wie findet man heraus, was in den Bereich der Literatur gehört und was nicht? «Ein Buch, das man nicht wieder und wieder lesen kann, lohnt nicht, überhaupt in die Hand genommen zu werden», hat Oscar Wilde gesagt. Das ist ein subjektives Kriterium, ein maßloses, ein überaus maßloses, wie auch ein überaus exklusives; ich ergänze: Besteht der Wunsch nach Wiederlesen, handelt es sich um Literatur.

Ich habe Frühes Versprechen immer wieder gelesen: mitten im August unter der sengenden Sonne Apuliens, am Weihnachtstag in Vilnius, in der Mikro-Republik Uzupis, im tiefsten Winter in Jūrmala, an den verschneiten Stränden der Ostsee, ich habe es sogar auf einen Nepal-Treck mitgenommen und eines Morgens, mit dem Annapurna vor mir, einige Seiten darin gelesen. Ich habe es zu allen Zeiten und fast überall gelesen, und doch bin ich jedes Mal, wenn ich diese «gänzlich authentische und nicht im Geringsten romanhafte Autobiographie» wiederlese, auf ewig dieser junge Mann, der ausgestreckt auf den grün-weißen Laken seines Betts in dem kleinen Zimmer eines roten Backsteinhauses in der Chaussee Jules-Ferry 18 in Amiens sich darin vertieft hat.

8

Ich war siebzehn Jahre alt: Ich verbrachte die meiste Zeit mit Schlittschuhen an den Füßen und einem Hockeyschläger in den Händen auf dem Eis; ich las nicht. Ich war aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt, in die ich ein Jahr zuvor mit einer Hockeytasche voll trügerischer Träume als einzigem Gepäck aufgebrochen war. Der Direktor des Lyzeums La Providence in Amiens wollte mich nicht für die vorletzte Klasse zulassen. Ich hatte ein Jahr ausgesetzt – war nur auf einer amerikanischen Schule gewesen, wo ich freiwillig die unnützesten Kurse belegt hatte, zum Teufel mit Mathe und Chemie. Am Ende des Schuljahrs, erklärte der Direktor meiner Mutter, stehe das Abitur in Französisch bevor, und er fügte hinzu, mich direkt für diese Klasse zuzulassen, berge die Gefahr der Wiederholung in sich. Mein Sohn, Monsieur, sagte meine Mutter mit Nachdruck, hat keine Zeit zu verlieren: Ihn erwartet eine große Zukunft. Er wird eine Doktorarbeit schreiben, ergänzte sie und betonte das Wort, indem sie ihm einen heiligen Klang verlieh. Aber Madame, warf der Direktor ein. Kein Aber, Monsieur, beharrte meine Mutter. Gut, beugte sich der Direktor, ich habe Sie gewarnt.

Ich Armer bemühte mich redlich, dass er recht behalten sollte: In diesem Schuljahr legte ich ganz besonderen Wert darauf, nichts zu tun, vor allem in den Französischstunden. Etwa zwanzig Bücher standen auf dem Lehrplan, von denen ich nur ein einziges las. Vermutlich gehörten der Cid, Jacques der Fatalist oder auch Die Wörter dazu, ich hätte in eines davon einen Blick werfen können, doch nein, es war das Versprechen. Warum dieses statt eines anderen? Ich weiß es nicht. Der Einband sicherlich. Eine Fotografie des Autors als Soldat, als Bomberpilot, aufrecht wie ein I vor einem Flugzeug, das man schlecht erkennt, das vielleicht ein Doppeldecker ist oder auch nicht. Er trägt eine Mütze, eine Pilotenbrille und den Lederblouson, dank «dem sich so viele junge Menschen zur Luftwaffe gemeldet hatten». Es muss das Jahr 1942 oder 1943 sein. Was er im Versprechen erzählen wird, schreibt er noch nicht nieder: Er lebt es.

Ich könnte nicht sagen, was mir auf Anhieb an dieser Geschichte gefiel. Die Kindheit in Vilnius, dann in Nizza, der kleine Widerstand und der große, der Glanz der Vergeltung? Der Humor als «blanke Waffe der entwaffneten Männer»? Die Gestalt jener Mina Kacew, dieser erdrückenden, aufdringlichen, grotesken, tragikomischen, liebenden, zu sehr liebenden, maßlosen Mutter, die ihrem Sohn eine große Zukunft prophezeit? Oder vielleicht dieser recht verblüffende Zufall: Meine Mutter hatte mich auf den Tag genau im selben Alter bekommen wie Garys Mutter ihren Romain. Ich las das Versprechen und las es immer wieder, und bald schon standen in der Schule die Wiederholungsstunden an. Ich wiederholte nichts: Es erschien mir unsinnig, wie ein Schreiberling zu Hause zu bleiben, als der Frühling in den Sommer überging; draußen, auf den Straßen, in den Parks, wartete der Juni auf mich, und die Mädchen warteten. Ich wollte sie unterwürfig, untergeben, untertan; dass sich ein Aufschub zwischen der Äußerung meines Begehrens und seiner Erfüllung auftun könnte, war mir unerträglich. Meine Absichten waren eindeutig, meine Vorhaben klar wie der helllichte Tag, doch sie wurden ständig verschoben. Nach dem Abi vielleicht, sagten sie, aber jetzt, nein, die Wiederholungsstunden, verstehst du? Ihre Bücher dienten ihnen als Bollwerk gegen meine Lippen: Mit siebzehn ist man viel zu ernst. Ich wollte sie ausgestreckt auf meinem Bett sehen, hingebungsvoll und lasziv, wollte sie ausgiebig betrachten, sie behände umschlingen, stattdessen blieb ich unersättlich, unerfüllt, mit meiner Libido ad libitum in meinem Zimmer, mit all diesen ungelesenen Büchern und jenem von Gary, das ich unermüdlich las.

Die mündliche Abi-Prüfung in Französisch stand bevor. Meine Chance, sie zu bestehen, lag bei eins zu zwanzig. Ohne Hoffnung ging ich hin, wie der zum Tode Verurteilte, dem man die Hände hinter dem Rücken gefesselt und die Augen verbunden hat, den man fragt, ob er letzte Worte sprechen wolle, und der, als er mit geblähter Brust die Salve erwartet und den Offizier mit gezücktem Säbel und seine Henker mit dem Gewehr an der Wange erahnt, dem Erschießungskommando selbst den Befehl gibt und schreit: Feuer!

Kein Schuss löste sich. Es war ein Wunder. Was können Sie uns über das siebte Kapitel des Frühen Versprechens sagen? Da ich mit offenem Mund dastand, glaubte man zunächst, ich hätte es nicht gelesen. Sie wissen, erklärte die Prüferin, diese Passage über einen gewissen Monsieur Piekielny in dem Buch von Romain Gary. Ich schilderte ihr dann das Leben des Autors, ich analysierte den Text und zeichnete dessen Entstehung nach, ich sprach lang über diesen Monsieur Piekielny, und ich würzte das Ganze mit Stilfiguren, mit Metaphern, Periphrasen und Litotes (ich führte sogar ein Beispiel für ein Zeugma an). Die Prüferin gab mir ein Lob und dann Küsschen. Wir schieden als gute Freunde.

Als ich am Abend nach Hause kam, hielt es niemand für ratsam, sich zu erkundigen. Obwohl mein Vater wusste, woran er war, stellte er mir schließlich die Frage: Und wie war dieses Mündliche? Nicht übel, entgegnete ich, ich glaube, ich habe es gut bestanden. Wenn du es wirklich gut bestanden hast, sagte er und hob den Blick zum Himmel, sagen wir, wenn du mehr als sechzehn von zwanzig Punkten hast, kaufe ich uns Eintrittskarten für das Finale der Olympiade in Turin. Einige Monate später schlug Schweden Finnland im Finale drei zu zwei. Wir waren dabei.

9

Ich dachte an den Siegtreffer von Nicklas Lidström in der vierzigsten Minute, an den großartigen Schuss in die obere Ecke, dann verließ ich den Hof des Gebäudes und ging über die Jono Basanavičiaus in die Altstadt. An der Kreuzung stand die Bronzestatue eines tränenüberströmten Jungen – aber vielleicht waren es nur die Regentropfen.

Statue von Roman Kacew als Kind, Romualdas Kvintas, 2007, Vilnius, Litauen.

Diese Figur stellt Roman mit acht, neun Jahren dar, er blickt hoch in den Himmel, als wollte er ihn zum Zeugen nehmen. Vor dem Standbild lag an diesem Tag eine Rose. Es war nicht alles verloren: Es gab noch Menschen auf dieser schlechten Welt, die einem Schriftsteller Rosen zu Füßen legten.

10

Damals erinnerte ich mich nicht mehr, warum der kleine Bronze-Roman, der an jenem Tag im Regen triefte, sich einen Schuh an die Brust drückt. Zum x-ten Mal las ich das Versprechen. In Kapitel 11 löst sich das Rätsel: Er hatte ihn aufgegessen, um eine Dunkelhaarige mit hellen Augen, ein Mädchen namens Valentine, zu beeindrucken.

Aber nicht vergessen hatte ich die Passagen über seine Mutter, die ihn in Wilna allein und im Glauben an Frankreich großgezogen hatte; die Mathematik- und Geigenstunden, die Kurse in Tanz, Schauspiel, Malerei und Gesang, die sie ihm hatte angedeihen lassen, sie, die so wenig Geld hatte, ihm, der so wenig Talent zeigte (außer für die Literatur, «der letzten Zuflucht auf dieser Erde für alle, die nicht wissen, wo sie sich verkriechen sollten»); die Kräfte, die sie aufgeboten hatte, damit ihr geliebter Sohn ein Mann von Welt würde, die ihm schließlich zu Füßen liegen sollte; die Frauen, die sie ihm versprochen hatte (er würde «berühmte Tänzerinnen, die prime donne, die Rachels, die Duses» kennenlernen); den Ruhm, den sie ihm versprochen hatte (er würde ein Victor Hugo); das Geld, das sie ihm versprochen hatte (er würde sich in London kleiden); ihren unerschütterlichen Glauben, die Gewissheit, die sie hatte: Ihr Sohn Romuschka würde ein bedeutender Mann.

11

Ich erinnerte mich etwas weniger gut an die Damenhüte, die sie von Haus zu Haus geschleppt hatte, das «Gesicht erhellt vom unbezwingbaren mütterlichen Willen»; an die Nachbarn, die das Kommen und Gehen dieser Fremden, dieser aus Russland Geflohenen, mit ihren Koffern und Schachteln für geheimnisvoll und finster hielten; an die Hehlerei mit Diebesgut, derer man sie beschuldigt hatte, sie wurde entlastet, war aber zutiefst verletzt, und daran, wie sie ihren Sohn an der Hand vor die Wohnung, ins Treppenhaus, gezerrt hatte, wo sie von Tür zu Tür gegangen war, geklingelt, geklopft und geschrien hatte, dass sie, «diese bourgeoise Drecksbande», wohl nicht wisse, mit wem sie die Ehre habe zu sprechen. Ihr Romuschka werde «französischer Botschafter werden, Ritter der Ehrenlegion, ein berühmter Bühnenschriftsteller, Ibsen, D’Annunzio». Ich erinnerte mich nicht an «das gutmütige Gelächter der bourgeoisen Drecksbande». Hingegen erinnerte ich mich sehr gut an die Reaktion, die ein anderer Nachbar, ein gewisser Monsieur Piekielny, gezeigt hatte.

12

Das Gedächtnis ist tyrannisch, unbeständig und selektiv, willkürlich trifft es ganz nach Belieben eine Auswahl. So vergisst man nach und nach das Gesicht der Großmutter, aber die Partie Scrabble mit ihr bleibt lebendig, präzise und unwandelbar im Kopf. Wo ist da die Logik? Keine Ahnung. Man vergisst die Titel der Filme, die man gesehen, der Bücher, die man gelesen hat, und erinnert sich an eine Szene, an einen Satz oder an ein ganzes Kapitel. Das Kapitel 7 des Versprechens hatte ich nicht vergessen. Ebenso wenig natürlich den Namen Piekielny.

13

«Die dramatische Enthüllung meiner zukünftigen Berühmtheit hatte nicht auf alle Mieter in der Großen Pohulanka Nr. 16 die gleiche Zwerchfell erschütternde Wirkung gehabt. Unter ihnen war ein gewisser Herr Piekielny – was auf Polnisch ‹höllisch› bedeutet.» So beginnt das Kapitel 7 von Frühes Versprechen.

Gary erklärt sogleich, «niemals jedoch passte ein Name schlechter zu seinem Träger». Monsieur Piekielny schreibt er, «glich einer immer piekfeinen, ängstlichen Maus; er wirkte so diskret, so unscheinbar und entrückt, wie es nur ein Mensch sein kann, der durch die Macht der Dinge gezwungen ist, sich auch nur ein klein bisschen über die Erde zu erheben. Er war ein empfindsames Geschöpf, und die absolute Gewissheit, mit der meine Mutter ihre Hand auf meinen Kopf legte und den Hausbewohnern ihre Prophezeiung im reinsten biblischen Stil entgegenschleuderte, hatte ihn zutiefst beeindruckt».

Traf er den kleinen Jungen im Treppenhaus, blieb Piekielny stehen, um ihn ernst zu betrachten, manches Mal lud er ihn in seine Wohnung ein, schenkte ihm mal Bleisoldaten, mal eine Festung aus Pappe, Bonbons oder Rahat Lokums: «Während ich mich vollstopfte – man weiß ja nie, was das Morgen bringt –, saß das Männchen mir gegenüber und streichelte sein tabakverfärbtes Spitzbärtchen.» Und dann eines Tages, fährt Gary fort, folgte «die pathetische Bitte, der Herzensschrei, das Geständnis eines maßlosen verzehrenden Ehrgeizes, den diese liebenswürdige menschliche Maus unter ihrer Weste verbarg». Mit einem Blick, in dem «aberwitziger Ehrgeiz» aufflammte und der sich «stumm flehend» in Romans Augen senkte, sagte die traurige Maus dem Jungen, «Mütter spüren solche Dinge»: Vielleicht würde er tatsächlich ein bedeutender Mann und schriebe für Zeitungen oder gar Bücher. Daraufhin beugte er sich zu ihm herüber, legte ihm eine Hand aufs Knie und sagte mit leiser Stimme: «Nun gut! Wenn du dann Persönlichkeiten begegnest, bedeutenden Männern, versprich mir, das du ihnen sagen wirst … Versprich mir, dass du ihnen sagen wirst: In der Großen Pohulanka Nr. 16 in Wilna lebte ein gewisser Herr Piekielny …»

Gary lässt uns dann wissen, «die freundliche Maus aus Wilna hat schon längst zusammen mit Millionen anderer Juden ihre winzige Existenz in den Krematoriumsöfen der Nazis beendet», doch dass er bei jeder Begegnung mit den Großen dieser Welt sich gewissenhaft an sein Versprechen gehalten habe: «Von den Podien der UNO zur Botschaft in London, vom Bundeshaus in Bern zum Élysée, vor Charles de Gaulle und vor Wischinski, vor den hohen Würdenträgern und Erbauern ewiger Weltreiche habe ich es nie unterlassen, die Existenz dieses Männchens zu erwähnen, und habe sogar das Vergnügen gehabt, mehrmals auf den weitgespannten Netzen des amerikanischen Fernsehens vor Millionen Zuschauern zu verkünden, dass in der Großen Pohulanka Nr. 16 in Wilna ein gewisser Mister Piekielny wohnte. Gott sei seiner Seele gnädig.»

14

Man glaubt, es sei stets der Schriftsteller, der das Thema für seine Bücher wählt. Hat er die Absicht, die Sitten der Provinz zu beschreiben? So zieht er sich als Eremit nach Croisset zurück, schwitzt fünf Jahre lang Blut und Wasser und schenkt uns Madame Bovary. Entscheidet er sich, die Chronik von 1830 niederzuschreiben? Als das Volk Barrikaden baut, verbarrikadiert er sich in seinem Zimmer, und siehe da, es entsteht Rot und Schwarz. Will er lieber eine Gegenutopie entwerfen? So kehrt er in das zerstörte, verwundete London zurück und wirft der Welt, der furchterregenden, totalitären Welt, 1984 entgegen.

Doch das ist nicht immer der Fall, zumindest nicht oft, eigentlich nie. Aber wenn es schließlich dem Schriftsteller gefällt zu denken, er sei auf diesem Gebiet wirklich allmächtig, nichts hänge vom Werk ab, sondern allein von seinem Willen, dem reinen, unveränderlichen, der frei von jeglichen Zwängen sei, in wessen Namen sollte man ihm diese Freude nehmen? Warum sollte er sich nicht weiter in Illusionen wiegen? Muss man ihm tatsächlich sagen, in Wirklichkeit sei es das Thema, das ihn wähle, viel mehr als er das Thema wähle? Verschiedenartige, scheinbar nichtssagende Ereignisse, deren Logik ihm entgeht, folgen einander in einem trügerischen Wirrwarr; allmählich fügen sie sich perfekt zusammen, sie ergeben einen Sinn; die Idee keimt, schlägt aus, und der von ihrer Offensichtlichkeit verblüffte Schriftsteller schlägt sich an die Stirn, heureka, er hat sein Thema; das Buch ist da, in Gedanken kann er es bereits lesen: Er muss es nur noch niederschreiben.

15

Ich weiß nicht, ob ich an Gott oder an den Zufall glaube – und was ist der Zufall, wenn nicht der Gott der Ungläubigen? Doch damit die Idee für dieses Buch keimte, musste einiges sich perfekt zusammenfügen: dass Frühes Versprechen auf dem Lehrplan des Französisch-Abiturs gestanden hatte; dass diese Lektüre mich zutiefst berührt hatte; dass Jahre später ein junger Mann mein Freund wurde; dass er eine junge Frau kennen- und lieben gelernt hatte; dass diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruhte und dauerhaft war; dass er ihr an einem kroatischen Strand bei untergehender Julisonne einen Heiratsantrag gemacht hatte; dass er mich gebeten hatte, Zeuge ihrer Liebe zu sein; dass auch er ein großer Eishockey-Fan war; dass, was sich günstig traf, ein Turnier in Weißrussland stattfand; dass das einzige Flugzeug nach Minsk, so ein Pech, ausgebucht war; dass Vilnius; das Lokal; das Portemonnaie; Western Union; dass ich auf gut Glück diese und jene Straße entlanggegangen war; dass dort eine Gedenktafel hing; dass mir schließlich aus meinem nebulösen Gedächtnis ein Satz eingefallen war.

16

In dieser Reihe verschiedenartiger, scheinbar nichtssagender Ereignisse wollte ich ein Geflecht aus Aufforderungen erkennen. Wer war sie, diese «traurige Maus»? Wie hatte sie gelebt? Was war aus ihr geworden? Ich musste Nachforschungen anstellen, mir blieb keine andere Wahl. Man muss sich der Verknüpfung von Zufällen, die unser Leben regieren, zu beugen wissen. Nach und nach beschloss ich, mich auf die Suche nach einem gewissen Monsieur Piekielny zu begeben.

ZWEITER TEIL

17

Wer zur See fahren möchte, zieht ein Ringelhemd, eine Matrosenjacke an und setzt aus Koketterie eine weiß-blaue Mütze auf den Kopf – die, will man extravagant wirken, einen roten Bommel haben kann. Wer zu einem Tauchgang aufbricht, schlüpft in einen Anzug, streift Flossen über und hat eine Maske und einen Schnorchel dabei. Wer beabsichtigt, Nachforschungen anzustellen, kleidet sich mit einem Trenchcoat, setzt eine Melone auf, nimmt einige Züge aus der Schaumpfeife und besorgt sich eine Lupe – oder tut nichts dergleichen und geht zu Google.

18

Es heißt, man finde dort nahezu alles, was man wolle. Es heißt weniger, man finde dort auch – und vor allem –, was man nicht wolle, und gibt man «Piekielny» in die Suchmaschine ein, stößt man unter tausend anderen Dingen auf einen Videoclip eines polnischen Rappers, auf die Adresse des Piekielny Ruszt, eines Grillrestaurants, wo man außer Gegrilltem vermutlich polnische Küche und Bier serviert bekommt, das gute alte Piwo, das man in einem Zug leert, ehe man sich mit dem Ärmel den perlenden Schaum vom Mund wischt, oder weiter, auf der dritten Google-Seite – die Abgründe des Netzes –, auf ein Online-Wörterbuch, das bestätigt, was Gary im Versprechen geschrieben hat: «piekielny», polnisch, bedeutet tatsächlich «höllisch». Doch über einen gewissen Monsieur Piekielny aus Wilna – kein Wort.

19

Verfeinert man die Suche anhand von Schlüsselwörtern, findet man schließlich doch zwei Namen:

Johann Piekielny, geboren am 20. April 1907 in Łódź, Polen, nach Dachau deportiert am 6. Mai 1940. Laut einer anderen Seite soll er an einem unbekannten Datum in Mauthausen gestorben sein. Kann es sein, dass dieser Johann Piekielny genau der war, den Gary erwähnt? Daten und Ort passen nicht: Łódź liegt sechshundert Kilometer von Vilnius entfernt, wo Gary von September 1921 bis August 1925 gelebt hat. Johann Piekielny war zu der Zeit zwischen vierzehn und achtzehn Jahre alt. Da stellt man ihn sich nur schwerlich als ein Männchen mit tabakverfärbtem Spitzbärtchen vor.

Joseph Piekieliński, genannt Vater Piekielny, geboren 1897 in Szadek in Polen, nicht weit von Łódź, aber genauso weit von Vilnius gelegen. Zwischen 1932 und 1941 war er Priester der Gemeinde Jaworzno in Schlesien. Von den Deutschen verhaftet, wurde er nach Dachau deportiert, wo er im März 1942 umkam. Auch er ist nicht der Piekielny aus dem Versprechen, nicht der aus der Großen Pohulanka Nr. 16.

20

Wer war er also, dieser Monsieur Piekielny, und was wusste man über ihn? Google sagte nichts und Gary nicht sehr viel – und das wenige, das er über ihn sagte, war womöglich nicht einmal wahr: Jeder Absatz des Versprechens ist fragwürdig. Wenn aber doch der Paläontologe, der alles in allem nichts außer einem Vorderbeinknochen und zwei Wirbeln hatte, daraus den ganzen Dinosaurier rekonstruieren konnte, konnte ich es dann nicht ebenso mit einer Maus tun?

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Gary sagt uns, er gleiche einer traurigen Maus, sei immer piekfein und ängstlich. Er sagt uns auch, er wirke so diskret, so unscheinbar, um nicht zu sagen, entrückt. So viel zu seinem Äußeren – so viel man von seinem Äußeren weiß. Aus dem man folgern darf, dass er elegant gekleidet war, zumindest gemessen am Durchschnitt seiner Zeit und des Orts: stets saubere Schuhe, stets dasselbe Paar, aber stets glänzend, am Schabbes mit Spucke poliert; eine schwarze oder vielmehr anthrazitfarbene Hose, ein wenig zu weit, aber ohne dass es sonderlich auffiel; auf seinem etwas zu großen Hemd eine etwas zu kurze Krawatte, doch niemals verdreht, sie saß stets korrekt, und gebunden, wie sie stets zu binden war; Hosenträger, die er sich holen ließ, wenn er vergessen hatte, sie anzulegen (im Hof des Gebäudes gab es Kinder); eine Weste, darunter eine Kettenuhr für die vergehende Zeit und darüber gegen die Witterung ein Gehrock mit Biberfellkragen, ein schöner schwarzer Gehrock, gefüttert mit Persianer, dessen Schöße er ausbreitete, wenn er sich hinsetzte, und den er auch außerhalb der Saison trug, weil er ihm ausgezeichnet stand und er etwas eitel war – und weil er, so sagte er, ihm die alten Knochen wärme.

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Er war jedoch gar nicht so alt, dieser Piekielny. Gary macht keinerlei Angaben, doch man stellt ihn sich als tatterigen Greis vor, der im Juni unter den Linden verstohlen auf die Knöchel der jungen Mädchen schielt, wenn die Uschankas hinten im Schrank liegen, oder im Winter auf ihre von der Kälte geröteten Wangen, wenn die blattlosen Äste der Linden sich unter dem Weiß biegen und wieder die Zeit gekommen ist, die Uschankas aufzusetzen, um dann mithilfe eines Stocks wieder nach Hause zu humpeln.

Man täuscht sich. Er ist im Krieg umgekommen, sagt uns sein Biograph (wenn denn drei Seiten für eine Biographie herhalten können) etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre nach ihrem Zusammentreffen in der Großen Pohulanka Nr. 16 zu Anfang der Zwanzigerjahre. Somit war er kein Greis, zumindest nicht zu der Zeit, als Gary, der damals Kacew hieß, ihn in Vilnius, das damals Wilna hieß, kennenlernte, ihn, der Piekielny hieß. Wie alt mochte er gewesen sein? Das weiß niemand, und vielleicht hat es niemand je wirklich gewusst: Er war einer von denen, auf die die Zeit keinen Einfluss nimmt, die alterslos erscheinen, die sich das Recht herausnehmen, darüber Stillschweigen zu bewahren, und fragt man sie danach, sich elegant herauswinden – wozu über etwas reden, das sich ohnehin jedes Jahr ändert?

Er musste zwischen vierzig und fünfzig gewesen sein. Ich möchte annehmen, dass er immer etwas älter wirkte, als er war: Als junger Mann ließ ihn sein Dreitagebart um dreißig Jahre älter erscheinen; als älterer Mann fürchtete er, ließe er ihn wachsen, sähe er gleich drei Jahrhunderte älter aus; er entschied sich darum für den Spitzbart: In Paris trug man ihn so, das gab ihm den Anschein von Erlesenheit. Er sei vom Tabak verfärbt, sagt uns Gary – er rauchte also. Und tatsächlich sieht man ihn an einem Winterabend, er ist lange ohne Grund und ohne Ziel durch die Nacht spaziert, nur um, während er die Sterne betrachtete, den Schnee unter seinen Sohlen knirschen zu hören, kaum wieder zu Hause hat er die Schuhe ausgezogen, um sich die Füße am Ofen zu wärmen, und nun also entnimmt er einer silbernen Dose drei Prisen Tabak – ganz eindeutig, an diesem Abend versagt er sich nichts –, er stopft die Pfeife, zündet sie an und macht einige Züge, die den Salon mit Rauch füllen (so sehr und so gut, dass man ihn schon nicht mehr sieht).

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