image

Markus Claus

Eine Familie in unruhigen Zeiten

Die schicksalhaften Jahre im Leben von Josef und Bonscho bis zu Bonschos Selbständigkeit

Eine Geschichte, angeregt durch die Erinnerungen meines Großvaters. Alle Namen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit damals real existierenden Personen sind rein zufällig.

© 2018 Markus Claus

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN:978-3-7469-2873-9
978-3-7469-2874-6
978-3-7469-2875-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Josef

Vorwort

Geschichtlicher und geographischer Überblick

Beginn der neuen Siedlung

Das Leben in Czudin

Die junge Familie

Bonschos erste Jahre

Der Beginn einer Katastrophe

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf

Eine erschreckende Entdeckung

Veränderungen für Bonscho

Weitere Umwälzungen

Teil 2: Bonscho wird selbständig

Das Leben in Czernowitz

Ein unerwartetes Wiedersehen

Weitere Nachforschungen

Von Range

Bonschos Reaktion

Eine weitere Zuspitzung der Lage

Von Ranges Plan

Bonscho mischt sich ein.

Der weitere Ausblick

Teil 1: Josef

Vorwort

Geschichtlicher und geographischer Überblick

Nachdem die Habsburger im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts ihr Ziel nicht erreicht hatten, zur dominierenden Macht in West- und Mitteleuropa aufzusteigen, galt es für den Kaiser, sein Reich neu auszurichten. Eine Möglichkeit hierfür boten die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend im österreichischen Sinne verlaufenden Türkenkriege. Der hiervon betroffene südosteuropäische Raum hatte bereits lange unter den permanenten Auseinandersetzungen der Großmächte zu leiden. Eine wirkliche Erschließung dieses Raumes war darum nur schwer möglich gewesen. Als aber ein Aufstand der Szlachta, des polnischen Adels, gegen den von Russland eingesetzten König Stanislaw August die Großmächte zum Handeln zwang, sollte sich dies ändern. Sultan Mustafa III. ergriff ebenso Partei für den polnischen Adel, wie es auch Kaiser Joseph II. tat. Auf der Gegenseite unterstützte Russland selbstverständlich den von ihm eingesetzten polnischen König. Diesem Bündnis schloss sich auch Großbritannien an. Der Krieg verlief für die Osmanen nicht sehr gut. Russische Truppen besiegten ein türkisches Heer und besetzten die Moldauregion. Eine russische Flotte vernichtete die türkische Seemacht im Mittelmeer und zu allem Überfluss für die hohe Pforte schürte Russland erfolgreich Aufstände gegen die Türken im eigenen Reich. Im Sommer 1774 mussten die Osmanen schließlich um Frieden bitten und verloren unter anderem die Oberhoheit über die Krim, und auch auf dem Balkan mussten Gebiete aufgegeben werden.

In Wien hatte man mit einer solchen Entwicklung gerechnet. Militärisch hatte sich Joseph II. im Konflikt zwischen dem russischen und dem osmanischen Konkurrenten bewusst zurückgehalten, da sein Reich sich soeben darum bemühte, effizienter zu werden. Die zurückliegenden Kriege hatten den Bedarf an derartigen Anstrengungen aufgezeigt, und nun sollte dies durch eine aktive Gesetzgebung und eine Reform der Verwaltung in Angriff genommen werden, denn es galt, der russischen Expansion auf dem Balkan entgegen zu treten. Darum hatte Österreich bereits nach der ersten polnischen Teilung 1772 Missionen auf den Balkan entsandt, um sich mit den dortigen Begebenheiten zu befassen. Es sollte eine Landbrücke nach Siebenbürgen geschaffen werden, das bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts an Österreich gebunden werden konnte.

Nun, nach dem russisch-türkischen Krieg ergab sich also die Möglichkeit, als Preis für die Vermittlung eines Friedens ein territoriales Entgegenkommen von Seiten des Osmanischen Reiches einzufordern. Als geeignetes Gebiet wurde der nördliche Landesteil des Fürstentums Moldau erachtet. Dieser ca. 10000 km² große Raum war nicht sehr dicht besiedelt und weitestgehend bewaldet. Im Norden waren die Einwohner zum größten Teil ukrainischen Ursprungs, im Süden mehrheitlich rumänisch. Eine jüdische und armenische Minderheit lebte dort ebenfalls. Mit gerade einmal sieben Einwohnern auf dem Quadratkilometer war dies jedoch keine problematische Ausgangssituation für die neue österreichische Verwaltung. Die Siedlungen konzentrierten sich vor allem auf die Flusstäler. Begrenzt wurde die als Bukowina bezeichnete Region im Süden durch das Fürstentum Moldau, von dem sie abgetrennt worden war, im Osten durch das momentan russische Bessarabien, im Westen durch Transsilvanien mit den Karpaten und im Norden durch Galizien.

Die Landschaft verändert dementsprechend von West nach Ost ihren Charakter. Während der Westen als Karpatenvorland einen zunehmend bergigen Charakter aufweist, ändert sich das Bild, je weiter man nach Osten vordringt. Hier dominieren vor allem kleinere Hügel das Landschaftsbild. Das Land wird durchzogen vom Pruth im Norden, von dem Sereth und der Suczawa weiter südlich. Ganz im Südosten fließt die Moldau und im Südwesten die Goldene Beistritz. Da dieses Gebiet, wie die österreichische Militärverwaltung ziemlich schnell feststellen sollte, aufgrund der geringen Besiedlungsdichte nur schwer zu überwachen war, befasste man sich in Wien mit dem Gedanken an eine Ansiedlungspolitik.

Die momentane Bevölkerung von ca. 70 000 Menschen lebte weitgehend von der Viehzucht und betrieb Ackerbau lediglich für den Eigenbedarf. Eine hohe Mobilität der Bevölkerung ließ nur wenige größere Siedlungen entstehen. Dabei waren die Flussläufe und das Karpatenvorland stärker besiedelt als die bergigeren westlichen Landesteile. Um die neuen Siedler, die nötig waren, um das Land so zu erschließen, wie man es sich in Wien vorstellte, angemessen mit Grundbesitz ausstatten zu können, zog der Kaiser die Güter der griechisch-orthodoxen Klöster ein und gründete den griechischorientalischen Religionsfonds, den er unter staatliche Obhut nahm. Ausgehend von diesem Fonds konnte die Anwerbung von Siedlern beginnen. Im Rahmen der Zuwanderung sollte die bisher betriebene Viehwirtschaft der einheimischen Bevölkerung durch die Einführung von neuen Nutztierarten intensiviert werden. Zugleich sollten auch die guten Böden genutzt werden. In einer ersten Siedlungswelle entstanden in den Flusstälern zwischen Pruth und Moldau zahlreiche Dörfer, die durch modernere Methoden der Landwirtschaft nicht nur die Bevölkerungsdichte, sondern auch die landwirtschaftlichen Erträge deutlich steigerten. In weiteren Phasen der Besiedlung wurde das ansteigende hügelige Land in der Landesmitte durch Waldbauern erschlossen. Parallel dazu wurde in den für beide Nutzungen ungeeigneten Gebieten im Norden des Landes der Bau von Glashütten eingeplant. Die zwischen Pruth und Sereth gelegene Region war trotz ihrer für die landwirtschaftliche Nutzung ungeeigneten nassen und humusarmen Lehmböden noch reichlich bewaldet und konnte so die für Glashütten essentielle Holzkohle reichlich liefern. Dafür wurden erfahrene Handwerker aus Böhmen angeworben. Diese Phase der Erschließung der Bukowina begann um 1793. Jedoch war durch den Tod Josephs II. drei Jahre zuvor die Begeisterung für das Kronland Bukowina und dessen Besiedlung stark gesunken. 1803 schließlich war der österreichische Staat durch die heraufziehenden Kriege mit dem aufstrebenden republikanischen Frankreich schließlich gezwungen, seine Siedlungstätigkeiten in der Bukowina vollständig einzustellen, da man schlicht und ergreifend im Moment weder über Geld noch über Land verfügte, die Siedler mit einer ausreichenden Startgrundlage zu versorgen.

Beginn der neuen Siedlung

Bevor es zu dieser unglücklichen Entwicklung kam, gab es noch private Initiativen, das neue Kronland wirtschaftlich zu erschließen. So wurde in der Hoffnung, im Norden Glashütten aufbauen zu können, in Böhmen und in Galizien nach Fachleuten gesucht. Unter den Siedlern, die angeworben worden waren, um Glashütten in der Bukowina entstehen zu lassen, waren auch die Brüder Sebastian und Joseph Jakob, die gemeinsam mit Ihren Familien den Sprung ins Unbekannte wagten. Beide waren, obwohl erst in Ihren Dreißigern, bereits weit gereist. Bevor sie sich dazu entschlossen hatten, in das neue Kronland zu ziehen, waren sie schon einmal damit gescheitert, sich eine Existenz aufzubauen. Ursprünglich aus Eisenstein im Böhmerwald stammend, hatten sich beide dazu entschlossen, ihr Glück in Galizien zu suchen. Sebastian und Joseph, waren keine eigentlich für die Glasproduktion erforderlichen Handwerker. Der ältere Bruder Sebastian, war ein Lehrer, der in der dörflichen Gemeinschaft der Glashüttenarbeiter eine wesentliche Rolle spielte. Allerdings war er, genauso wie sein jüngerer Bruder Joseph, der sich als Krämer seinen Lebensunterhalt verdiente, auf ein funktionierendes Gemeinwesen, das um eine florierende Glashütte herum entstand, angewiesen. In ihrer bayerischen Heimat waren die Wälder weitgehend abgeholzt worden, und so galt es für die Hüttenarbeiter, sich eine neue Arbeitsgrundlage zu suchen. Auch die Brüder Jakob hatten sich entschieden, gemeinsam mit den Bekannten und Freunden auszuziehen, um sich nach neuen Möglichkeiten umzusehen. Nach erfolglosen Versuchen in Galizien kam der Gruppe eine Siedlungsinitiative für die Bukowina wie gerufen. Dabei wurde den Arbeitern Land und ein Eigenheim versprochen sowie zusätzlich der Lohn für Ihre Arbeit. Für den Rest der Gruppe - darunter war auch die Familie Jakob - blieb nur die Hoffnung auf das Gelingen des Projektes, da diese auf eigene Kosten Grund erwerben mussten, um sich ein Haus und ein Geschäft aufzubauen.

Die Gruppe um die Brüder Jakob gründete eine Glashütte nahe dem Sereth. Bereits vor der Besiedelung durch die Deutschböhmen hatte an diesem Ort das Jagdschloss eines einheimischen Fürsten gestanden. Nach diesem trug der Ort den Namen Krasna Ilski. Das Schloss war im Laufe der Zeit übriggeblieben. Von der Ansiedlung war lediglich die Kirche noch vorhanden. Zudem war hier ein Kloster entstanden. Das Kloster Putna mit seinem umfangreichen Besitz zwischen Czernowitz, der Provinzhauptstadt im Norden, und der Moldau, stellte einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar und konnte über seine umfangreichen Wälder zur Unterstützung der angestrebten Glasproduktion herangezogen werden. Die Neuankömmlinge machten sich umgehend daran, das Gebiet zu erschließen und gaben ihm den neuen Namen Althütte. 1797 ging die Glashütte bei Putna in Betrieb. Langfristig erwies es sich jedoch als nachteilig für die Glashütten, dass man bei deren Anlage nur an den Wald gedacht hatte. Alle anderen Rohstoffe für die Glaserzeugung musste man herbeischaffen. Kies und Ziegelleim zum Beispiel mussten aus dem benachbarten Galizien bezogen werden. Bei den damaligen logistischen Möglichkeiten ein aufwändiger und kostspieliger Prozess. So konnte sich von den entstandenen Glashütten nur eine einzige langfristig behaupten. Allein die Glashütte bei Putna konnte aufgrund der hohen Qualität ihrer Produkte überdauern. Der Rest musste bereits nach einigen Jahren wieder stillgelegt werden. Doch auch die Glashütte bei Putna hatte mit Problemen zu kämpfen. 1817 war der Wald im Umfeld der Hütte vollständig gerodet, so dass die Glasarbeiter einige Kilometer weiter im Norden eine neue Ansiedlung errichteten, die sie in einem Anflug ungeahnter Kreativität als Neuhütte bezeichneten. Bei diesem Umzug trennte sich der gemeinsame Weg der Brüder Jakob. Sebastian folgte seinem Sohn, der ebenfalls Lehrer war und die Möglichkeit ergriff, einen Posten als Lehrer in der Provinzhauptstadt Czernowitz anzunehmen. Sein Bruder Joseph hingegen machte mit seiner Familie den Umzug der Hütte mit, um sich ein neues Leben in Czudin, so war der Name der bei der neuen Hütte gelegenen Siedlung, zu schaffen. Augustin, Josephs Sohn, hatte den Krämerladen seines Vaters übernommen und hoffte, dass mit dem Entstehen einer neuen Glashütte und einer neuen Welle von Siedlern auch sein Lebensstandard steigen würde. Doch, obwohl die Glashütte noch ein paar Jahrzehnte gutgehende Geschäfte machen sollte, den erhofften Wohlstand für sich und seine Familie konnte er nicht erreichen. Aus diesem Grund erkannte Lorenz, Augustins 1842 geborener ältester Sohn, die Notwendigkeit, sich zusätzlich zum Krämerdasein eine weitere Einkommensquelle zu erschließen. Er merkte schnell, dass der auf ihrem Grundstück in Czudin fließende Bach eine Strömung hatte, die man für das Betreiben einer Mühle brauchen konnte. Nachdem er über die Kirchengemeinde Kontakt zu einem Müller bekommen hatte, sprach er den Bürgermeister darauf an, ob eine Mühle im Dorf nicht eine gute Sache wäre. Die Behörden fanden dies auch, und so machte sich Lorenz daran, mit von der Verwaltung zu Verfügung gestellten Mitteln eine Mühle zu bauen. Da er sich das nötige Wissen für den Bau einer solchen Mühle und auch die dazu erforderlichen Fähigkeiten neben dem Betreiben des Krämerladens, der die Lebenshaltungskosten erwirtschaftete, selber beibringen musste, gab es zahlreiche Rückschläge, aber am Ende hatte er es geschafft. Mit der einzigen Mühle im näheren Umkreis liefen die Geschäfte nun so gut, dass er gegen 1880 den Krämerladen aufgeben konnte. Zudem hatte er sich durch seine Initiative viel Vertrauen in der Gemeinde erworben. Als Dank an die Gemeinde organisierte er eine Spendenkampagne unter den Dorfbewohnern, damit man in Czudin eine eigene Kirche errichten konnte. Eine solche hatte es bis dahin nicht gegeben, und so musste man am Sonntag für den Gottesdienst einen längeren Fußmarsch von mehreren Kilometern auf sich nehmen, um Gottes Segen gespendet zu bekommen. So erfolgreich Lorenz auch in gesellschaftlichen und geschäftlichen Dingen war, so hatte er im Privaten weniger Glück. Er heiratete im Alter von fünfundzwanzig Jahren. Seine Frau, Maria, kam aus Althütte. Er hatte sie über die Kirchengemeinde kennengelernt. Ihre Ehe war glücklich aber kurz. Bei der Geburt ihres Sohnes Josef starb sie im Jahre 1869. Lorenz, der in seiner Jugend ein sehr freundlicher und allseits geschätzter Mann gewesen war, zog sich mehr und mehr zurück. Er verschrieb sich von nun an immer mehr der Religion. Seinem Sohn Josef, der ihn sehr an seine verstorbene Frau erinnerte, vermittelte er all die Kenntnisse, die er sich im Laufe seines Lebens hart erarbeitet hatte. Doch während er selbst an langen Winterabenden gerne in seiner Bibel las, interessierte sich sein Sohn mehr für die Welt außerhalb des kleinen Ortes. Als Lorenz ihm auf dem Markt eine alte gebrauchte Weltchronik erstehen konnte und sie seinem Sohn zum Geburtstag schenkte, verschlang der diese förmlich. Josef war fasziniert von den Daten und Fakten, die darinstanden, eröffneten sie ihm doch den Blick für eine völlig andere Welt. Er hatte bisher nur die Bukowina kennengelernt. Seine weiteste Reise war aufs Amt nach Czernowitz gewesen, und nun las er von den großen Städten der Erde: Paris, Wien und London. Er wollte unbedingt mehr wissen. All sein Geld, das ihm am Jahresende noch blieb, investierte er in neue Bücher und, als die ersten Zeitungen in Czernowitz veröffentlicht wurden, nutzte er jede Gelegenheit, sie zu lesen. Seinem sehr religiösen Vater wäre es zwar lieber gewesen, der Junge hätte sich mit etwas Anständigem beschäftigt, zum Beispiel der Bibel. Er war aber trotzdem stolz darauf, dass sein Sohn sich so wissbegierig zeigte. Nach einigen guten Jahren hatte er sogar so viel Geld gespart, um den Jungen über einen Hauslehrer mit Grundkenntnissen in Geschichte und Latein vertraut machen zu können. Das einzige, was ihm Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass Josef dadurch zu einem Eigenbrötler zu werden drohte. Er arbeitete hart in der väterlichen Mühle mit und verbrachte die übrige Zeit mit seinen Büchern oder auf dem Feld. Die Leidenschaft seines Vaters für die religiösen Dinge teilte er dagegen nicht. In einer Zeit, in der die Heiratsvermittlung noch über das Netz der Kirchengemeinde erfolgte, konnte dies zum Problem werden.

Gleichzeitig wuchs Lorenz das Geschäft in der Mühle langsam über den Kopf. Zwar half ihm sein Sohn Josef nach Kräften, aber auch, wenn er das Handwerkliche gut im Griff hatte, so war doch der wirtschaftliche Aspekt für einen Mann, der auf die sechzig zuging, nicht mehr leicht zu bewältigen. Rechnungen und Behördenschreiben waren anzufertigen. Von der neuen Eisenbahnlinie zum Beispiel versprach er sich zum einen geschäftliche Vorteile, zum anderen fiel dadurch einiges mehr an Arbeit an. Bis die Verwaltung eine Konzession dafür erteilte, waren noch etliche Behördengänge zu machen, und auch die Waldbesitzer mussten das Geld dafür noch auftreiben. Da auch das alltägliche Geschäft, das nicht gering war, nicht vernachlässigt werden durfte, entschied sich Lorenz dafür, Hilfe zu suchen. Ein Bekannter aus der Gemeinde hatte eine Tochter, die sich nach dem Tode seiner ersten Frau nicht so recht in die neue Familie, die er mit einer neuen, jüngeren Frau gegründet hatte, zu integrieren vermochte. Anna, so war ihr Name, wollte und sollte möglichst autark Ihr Leben bestreiten. Weniger höflich ausgedrückt, das mit Mitte zwanzig immer noch nicht verheiratete Mädchen wurde mehr oder weniger aus dem Haus gejagt. Da es sich bei Anna um eine intelligente und geschickte Frau handelte, wie sich anschließend herausstellen sollte, die aber zum Verdruss von Lorenz in den Jahren des permanenten familieninternen Kleinkrieges mit Ihrer Stiefmutter über ein hart erarbeitetes Durchsetzungsvermögen verfügte, bedeutete sie für den Mühlenbetrieb eine große Bereicherung.

Das Leben in Czudin

Anna war nicht nur fleißig und einfallsreich, sondern sie hatte auch noch eine ausgezeichnete Handschrift, so dass Lorenz sie auch immer mehr für die Buchführung der Mühle und auch des Haushalts einsetzen konnte. Eines Tages, als die drei sich zur Inventur des Lagers und zur Inspektion der Kosten an die Bücher machten, änderte sich die Arbeitsteilung in der Jakobschen Mühle jedoch radikal. Es war einer jener heißen Sommertage, wie sie in der Bukowina nicht selten vorkamen. Um sich bei der lästigen Arbeit trotzdem ein wenig Abkühlung zu verschaffen, wurden die Vorräte an Apfelmost konsumiert, die einer der Waldbauern als Zahlung geleistet hatte, da er den obligatorischen zehnten Teil seines hier gemahlenen Mehls, der sonst zur Zahlung verwendet worden wäre, offenbar selbst benötigte. Dementsprechend war die Stimmung der Arbeitenden gelöster als sonst. Als man sich nun die von Lorenz akribisch geführten Rechnungsbücher der Mühle vornahm, hatten zumindest zwei Drittel der Haushaltsmitglieder große Schwierigkeiten, das Geschriebene zu lesen. Auch Lorenz, der trotz seines Alters von achtundfünfzig Jahren noch sehr gut sah, konnte nicht immer auf Anhieb erkennen, was er niedergeschrieben hatte. Daraufhin begannen Anna und Josef gemeinsam zu spekulieren, ob Lorenz nicht vielleicht bei seinen Aufschrieben zum Zweck der Chiffrierung hebräische, kyrillische oder gar griechische Schriftzeichen zum Einsatz brächte. Solcherlei Spekulationen begannen Lorenz doch zu stören und er setzte zu einem Vortrag an, dass bereits Pfarrer Kugler in der Sonntagsschule von Althütte seine Schrift stets als vorbildlich für die ganze Klasse vorgeführt hatte. Überhaupt hätte er von diesem ein Angebot erhalten, im nahe gelegenen Kloster Putna in den Herbstferien wegen seiner herausragenden Begabung an einem Paläographie Kurs teilzunehmen. Im Verlauf seines Vortrages musste er jedoch seine Stimme immer weiter heben, um sich gegen das alberne Gekicher seiner beiden Mitarbeiter durchsetzen zu können. Als er schließlich auch noch von Seiten seines Sohnes das Wort „Hieroglyphen“ vernahm, war für ihn völlig klar, dass mit diesen beschwipsten und darum im höchsten Maße unvernünftigen und albernen Zeitgenossen keine Basis für eine intellektuelle Diskussion mehr vorhanden war. So verkündete er ihnen in angemessener Lautstärke, dass er nicht einsehen würde, warum er sich auf dieses Niveau herablassen solle, ging grantelnd zur Tür hinaus, schmiss diese lautstark ins Schloss und zog Richtung Wirtshaus hinweg. Als er am nächsten Tag wieder die Tätigkeit in der Mühle aufnahm, war er nach wie vor verschnupft. Schließlich hatte man ihn seiner Meinung nach völlig zu Unrecht und noch dazu in einer höchst ungehörigen Weise kritisiert. Er nutzte jedoch die Gelegenheit, die Führung der Bücher an Anna zu delegieren. Nicht nehmen ließ er es sich jedoch, von Zeit zu Zeit einen Blick in die Bücher zu werfen, die Richtigkeit der Zahlen, die Rechtschreibung, den Stil und die Zeichensetzung kritisch zu beäugen und Anna hilfreiche Tipps zu geben, wie sie die Arbeit noch besser machen könnte, als sie diese bereits verrichtete. Dabei war es ihm eine stille Genugtuung, zu beobachten, wie sich Anna bei den meisten dieser Gelegenheiten bemühte, ihren Unmut im Zaum zu halten.

Einige Zeit später wurde eine gänzlich andere Deutung dieser Ereignisse in Umlauf gesetzt. In dieser Version, deren Urheber namentlich nicht bekannt war, hieß es, dass Lorenz ganz bewusst und völlig ruhig die Mühle verlassen habe. Er habe die Zuneigung der jungen Leute zueinander wohl erkannt und wollte mit seinem Ausflug in die Dorfschenke den beiden lediglich eine Möglichkeit verschaffen, in der Mühle, die nur über wenige Räume verfügte, ungestört zu sein. Die Übergabe der Bücher an Anna stünde in keinem Zusammenhang mit den Ereignissen, und eine Beschwerde bezüglich der Lesbarkeit der Schrift habe es nie gegeben, weil es dies schlicht und ergreifend gar nicht geben könnte. Wer auch immer der Urheber dieser zweiten Version der Ereignisse war, das Verhältnis zwischen Anna und Josef, das bereits vorher ein sehr gutes gewesen war, wurde immer besser, so dass für das nächste Jahr die Hochzeit geplant wurde. Als die beiden schließlich im Winter 1901 heirateten, war Lorenz trotz vordergründigen Grummelns doch zufrieden, dass sein Sohn spät, aber doch noch rechtzeitig, eine Familie gründen würde. Für diesen Fall hatte er seinem Sohn versprochen, ihm die Mühle zu übergeben. Er selbst war gesundheitlich kaum noch in der Lage, die schwere Arbeit zu erledigen. Aber die harte Arbeit der letzten Jahre hatte genug Geld abgeworfen, so dass Josef plante, ein neues Haus zu bauen, das moderner, großzügiger und nicht ganz so abgelegen war wie das alte Mühlengebäude. Das neue Haus, das sich Josef vorstellte, sollte in Czudin liegen, sehr viel zentraler als die alte Mühle, die durch den für den Betrieb notwendigen Bach zwangsläufig etwas außerhalb des Ortes lag.

Der Ort Czudin war entlang der alten Armeestraße entstanden, die die Provinzhauptstadt Czernowitz mit der Garnisonstadt Radautz verband. Kurz vor dem Übergang über den Sereth hatten sich die Menschen angesiedelt. Zunächst als ein reiner Verwaltungsstandort der neuen „Besitzer“ des Landes gedacht, entstanden zuerst die Amtsgebäude entlang der nicht gepflasterten, sich durch die sanften Hügel schlängelnden Straße. Anfangs bestanden die offiziellen Gebäude im Ort aus der Post, dem Forstamt und der Gendarmerie. Mit der wachsenden Bedeutung Czudins kamen noch das Bezirksgericht, ein Rathaus und ein Finanzamt hinzu. Bis zum Jahre 1912, als man ein neues Gerichtsgebäude einweihte, dominierten selbst bei diesen Gebäuden mit wichtigen Funktionen einfache Fachwerkkonstruktionen. Ungefähr in der Mitte der Ortschaft wichen die Amtsgebäude von der Straße zurück und gaben einen Platz frei. Auf diesem Platz wurde jeden ersten Mittwoch im Monat ein Markt abgehalten, zu dem Händler und Kunden aus der ganzen Region kamen. Auch aus dem Kernland des Reiches reisten Viehhändler an, um Schlachtvieh zu erstehen. Durch das Fehlen einer vernünftigen Kirche im Ort, sei es nun eine orthodoxe oder eine katholische, machte die Siedlung einen leicht unchristlichen Eindruck. Die Existenz einer Synagoge war da nur ein schwacher Trost. Damit man hier seiner Mittelpunktfunktion gerecht werden konnte, wurde am Dorfrand Platz geschaffen, um repräsentative Kirchenbauten für die Katholiken und die Rumänen zu errichten. Bei der katholischen Kirche spielte, wie bereits erwähnt, Lorenz Jakob eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung der Pläne.

Doch neben den öffentlich zugänglichen Gebäuden gab es selbstverständlich auch noch die Häuser für die Bewohner. Da Czudin auf diese Weise langsam aber sicher eine gewisse Bedeutung für die ländliche Bevölkerung der Umgebung erlangte, wuchs der Ort streudorfartig durch Zuzug von neuen Siedlern. Der dabei prägendste Haustypus war derjenige, den die österreichische Verwaltung den Siedlern vorgab. Die Wohnfläche einer durchschnittlichen Familie sollte an die 35 m² betragen. Kinderlose Familien, von denen es nur wenige gab, mussten sich dagegen mit 26 m² begnügen. Aus hygienischen Gründen war eine Raumhöhe von 2,20-2,40 m vorgesehen. Das Dach dieser Siedlerhäuser sollte mit Holzschindeln gedeckt werden, und die Feuerstelle gemauert sein. Auch waren für die Vorratshaltung Kellergewölbe vorgesehen, die ihrerseits eine Deckenhöhe von 1,80 m haben sollten. Ein Toilettenraum musste außerhalb des Wohngebäudes, je nach den örtlichen Gegebenheiten, angelegt werden. Es galt, dass dabei möglichst wenig Material für die Produktion von Düngemittel verloren ging. Abgesehen von diesen grundlegenden Vorschriften erwies sich die Verwaltung als erstaunlich flexibel. Die Seitenwände, konnten je nach Möglichkeiten und Gewohnheiten des Siedlers entweder aus Schilf oder Korbgeflecht, Lehm oder Holz gebildet werden, Zwischenräume wurden mit Torfmull, Asche oder Schlacke aufgefüllt. Entscheidend war dabei nur, dass eine Mindestwandstärke von 35 cm erreicht wurde. Für die Wasserversorgung sollten entweder Fließgewässer oder Brunnen genutzt werden. Solche Siedlerhäuser konnten ohne nennenswerte Instandhaltungsarbeiten 40 bis 50 Jahre überdauern. Das gemeinsame Merkmal dieser Siedlerhäuser war ihre weit nach unten gezogene Dachkante, die in den langen heißen Sommertagen dafür sorgte, dass es vor dem Haus Schatten gab, und, dass es im Haus selber angenehm kühl blieb. Nun, da die Besiedlung dichter geworden war, waren solche Eigenheiten zwar überflüssig, nichtsdestotrotz wurde sie aber beibehalten, auch wenn bei Leuten von durchschnittlicher Größe durch unsanften Kontakt mit diesen niedrigen Dachkanten häufig Beulen an den Köpfen verursacht wurden.

Zwar waren Steinhäuser in den ersten Jahrzehnten der Besiedlung selten, da sie zu aufwändig und teuer gewesen wären, wer es sich aber leisten konnte, erreichte durch den Lehmverputz eine ansehnlichere Optik. Verfügten die frühen Siedler noch über die Starthilfe durch eine Zurverfügungstellung von Baustoffen durch die Provinzverwaltung und durch die Beamtengehälter, so hatte die einheimische Bevölkerung, die sich nach und nach in Czudin ansiedelte, weniger stattliche Häuser vorzuweisen. Je weiter man sich also von der Hauptstraße entfernte, desto kleiner und baufälliger wurden die Hütten. Zu Beginn der 20. Jahrhunderts erhielt Czudin dann schließlich noch einen zweiten Siedlungskern. Gut einen Kilometer vom Marktplatz entfernt, entstand am südlichen Ende des Ortes ein Bahnhof. Es war ein reiner Zweckbau und nur mäßig repräsentativ. Das Geld, das für eine Verschönerung des Bahnhofs nötig gewesen wäre, steckte man lieber in die permanente Sanierung der Straße, denn an Markttagen und, wenn das Sägewerk seine Holzlieferungen bekam, begann die Straße sich bevorzugt bei feuchtem Klima aufzulösen. Die Häuser, die in zweiter und dritter Reihe standen, waren ihrerseits durch ein Gewirr kleiner Gassen mit dem Zentrum an der Hauptstraße verbunden. Bei deren Anlage war jedoch jedes System über Bord geworfen worden, so dass man sich glücklich schätzen konnte, wenn man es fertigbrachte, auf Anhieb dorthin zu gelangen, wo man auch hingehen wollte. Durch das Fehlen einer Kanalisation und eine mangelhafte Planung war das Dorf trotz der geringen Höhe seiner Häuser im Einzelnen nur schwer zu durchschauen. Mal schnitt einem ein Abflussgraben den Weg ab, mal war der Weg plötzlich zu Ende, und ein anderes Mal stellte man fest, dass einem ein Misthaufen im Weg stand. All diese Missstände waren zwar für die Erwachsenen ein Ärgernis, da es so nicht garantiert wurde, dass man auf den unbeleuchteten Wegen nachts nach einem Kneipenbesuch auch wieder ohne Probleme daheim ankam. Auch Insider konnten schon mal gelegentlich bei einem Bekannten übernachten, der glücklicherweise sein Zuhause wiedergefunden hatte. Für eine Straßenbeleuchtung hatte man in der Provinzhauptstadt ebenfalls schon vorgesprochen. Die dortigen Ämter weigerten sich jedoch, eine solche zu genehmigen, bevor nicht das Wegenetz befestigt wurde und eine unterirdische Kanalisation installiert worden war. Die Kinder des Ortes freuten sich dagegen sehr über diese Zustände, konnten sie doch zum Ärger der Erwachsenen Staudämme bauen und so die ohnehin nie ganz reibungslos funktionierende Entwässerung ganzer Ortsteile zum Erliegen bringen. Zum allgemeinen Leidwesen der betroffenen Kinder wurde aber bereits früh, genauer gesagt, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, in Czudin eine Volksschule eröffnet, die es ermöglichte, die Kinder von genau diesem Tun abzuhalten.

Obwohl Lorenz sich als Czudiner sah, gehörte er nach offizieller Sicht der Dinge aber der Gemeinde Krasna Putna an. Die lag allerdings über sechs Kilometer entfernt. Die Entfernung nach Czudin betrug lediglich zwei Kilometer. Diesen Umstand hatte Lorenz nutzen können, da er Zuschüsse beider Gemeinden bei dem Bau seiner Mühle erhalten hatte. Der Ort Czudin selber hatte eine Mittelpunktfunktion für die umliegenden Waldbauern. Der Markt, der jeden Mittwoch abgehalten wurde, und, auf dem man mitunter sogar Viehhändler aus dem Ausland auf der Suche nach Schlachtvieh traf, besaß eine große Anziehungskraft. Auch fahrende Händler waren vertreten, so dass der Mittwoch stets zu den Höhepunkten der Woche zählte. Der geschilderten Mittelpunktfunktion des Ortes, sowohl was das ökonomische als auch das administrative Element in der Region anbelangte, verdankte Czudin auch seine heterogene Bevölkerung. Entlang der Hauptstraße reihte sich eine Vielzahl von Läden auf. Die meisten dieser Geschäfte waren in jüdischem Besitz. Die Konsequenz daraus war, dass am Sabbat das Geschäftsleben weitgehend zum Erliegen kam. Die Verwaltungsgebäude, das Forstamt, die Gendarmerie, das Finanzamt, die Post und die Eisenbahn waren fest in der Hand der österreichischen Beamtenschaft. Vom Siedlungskern ausgehend, wohnte die zum größeren Teil aus Rumänen bestehende einfachere Bevölkerung, die zumeist nur über ein geringeres Einkommen verfügte als die Beamten und die Geschäftsleute, eher in der Peripherie. Als Resultat der Bevölkerungszusammensetzung wurde der Gemeinderat von Czudin mehrheitlich von Rumänen gestellt, und auch der Bürgermeister entstammte ihren Reihen. Die sechsklassige Volkschule des Ortes wurde von sowohl rumänisch wie auch deutsch sprechenden Lehrkräften betreut. Die Verwaltungssprache war Deutsch, da die jüdische Bevölkerung sich dem deutschsprachigen Bereich zurechnete, und das Kaiserreich Österreich nun mal das Sagen hatte. In dem Gemeinderat, der wie bereits angesprochen, rumänisch dominiert war, konnte Lorenz durch seine rührige, engagierte Art eine wichtige Position erringen. Das Ausüben des Bürgermeisteramtes hätten zwar weder seine zeitlichen Möglichkeiten noch seine geschäftliche Beanspruchung zugelassen, er vermochte jedoch über sein charismatisches und energisches Wesen immer wieder neue Koalitionen zu schmieden, um die Entwicklung Czudins maßgeblich zu beeinflussen. Beim Bau der Mühle hatte er zahlreiche Kontakte geknüpft, teilweise sogar bis in die Provinzhauptstadt und auch beim Bau einer Kirche für den katholischen Bevölkerungsanteil hatte er sich sowohl Anerkennung, als auch Dankbarkeit erworben. In die Annalen seiner Heimatstadt gedachte er aber einzugehen, indem er den Fortschritt bzw., wie er selber es ausdrückte, die Zivilisation nach Czudin brachte. Diese, zugegebener Maßen, etwas großspurige Ausdrucksweise sollte bedeuten, dass er gemeinsam mit dem Pächterkonsortium die Provinzregierung davon überzeugen wollte, den unscheinbaren Marktflecken an das k.u.k. Eisenbahnnetz anzuschließen. Die Belebung des Viehhandels und auch des Handels mit Gläsern sollte die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigen und der ganzen Region zu ungeahntem Wohlstand verhelfen. Zwar war die beabsichtigte Lokalbahn, die von Koszczuja nach Czudin führen sollte, zunächst nur für den Güterverkehr geplant, sodass nicht im weiteren Umfeld abgeholzt werden musste, eine Ausweitung des Fahrbetriebes auf Passagiere war unter der Hand jedoch beabsichtigt.

Lorenz selbst hatte, wie bereits angemerkt, sein Haus am Rande Czudins neben seiner Mühle errichtet. Diese beiden Gebäude waren in einer ähnlichen Bauweise errichtet, wie die anderen Siedlerhäuser auch. Ein Gerüst aus Holzbalken war durch ein Schilfgeflecht miteinander verbunden und mit Lehm verputzt worden. Unter dem tiefgezogenen Dach erstreckte sich eine geräumige Wohnküche auf der linken Seite. Rechts, dort wo eigentlich Stallungen vorgesehen waren, hatte Lorenz mangels Viehbestandes drei Zimmer eingerichtet. Einstmals als Schlafzimmer, Kinderzimmer und Arbeitszimmer gedacht, hatte er nun eines der Zimmer an seinen Sohn und dessen Frau abgetreten. Da er das Geschäftliche stets drüben in der Mühle erledigte, war aus dem Arbeitsraum inzwischen eine Art Bibliothek geworden, in der die frommen Bücher von Lorenz und die Büchersammlung seines Sohnes standen. Das niedrige Dach ließ allerdings nur wenig Licht in die Räume gelangen. Deshalb waren hier nicht die besten Bedingungen zum Lesen und Schreiben. Dafür eignete sich das Mühlengebäude wesentlich besser. Beide „Flügel“ des Hauses waren durch eine große Diele verbunden. Das Wasser musste man vom nahen Bach holen. Von diesem Bach aus wurde auch das Wasser abgeleitet, das zum Betreiben der Mühle notwendig war, die circa fünfzig Meter vom Wohnhaus entfernt war. Dazu war jedoch eine Stauung des Wassers notwendig, um das unterschiedliche Niveau von Mühlhaus und Bach zu korrigieren. Gestaut wurde das Wasser mit einem recht einfachen Damm. Ähnlich wie die Wände der Siedlerhäuser auch, bestand dieser aus einem Schilfgeflecht. Die Flechtmatten wurden in mehreren Lagen so zwischen Holzpflöcken eingespannt, dass das Wasser die 1,5 Meter Höhendifferenz überwinden konnte. Diese Konstruktionsweise erwies sich nicht gerade als stabil, so dass nach jedem größeren Unwetter Schäden im Damm zu beheben waren. Da sich Lorenz und sein Sohn nicht als erfolgreiche Ackerbauern herausgestellt hatten, nutzten sie das zum Haus gehörende Grundstück zum Anlegen eines Schilffeldes. Auf diese Weise war stets ein Nachschub an Baumaterial vorhanden, falls Schäden am Haus oder der Mühle zu beheben waren. Die Mühle selber war ähnlich konstruiert wie das Wohnhaus. Mit Lehm verputztes Schilfgeflecht verband die stützenden Holzbalken miteinander. In dem 20 x 10 Meter großen Bau gab es drei Räume. Gleich am Eingang befand sich der Mühlenraum mit den Mühlsteinen. Daran schloss sich der Aufenthaltsraum für den Müller an, in dem Lorenz und später sein Sohn und seine Schwiegertochter die Bürokratie erledigten. Dahinter lag noch ein Lagerraum, in dem das Mehl gelagert wurde. Die Mühle hatte zwei Mühlräder, eines für ein feines Mehl und das andere für gröberes Mehl. Zu Anfang war noch eine Tuchwalke vorhanden. Da sich deren Betrieb jedoch nicht lohnte, hatte Lorenz diese kurzerhand geschlossen. Die Bezahlung für die Dienstleistung erfolgte zumeist in Naturalien, so dass die Familie Jakob zwar nicht zu den Reichsten im Dorf zählte, aber durch die zahlreichen Kontakte, die man durch den Mühlenbetrieb knüpfen konnte, war Lorenz ein sehr angesehener Mann, auch außerhalb der Kirchengemeinde, und er und sein Sohn Lorenz erfreuten sich großer Bekanntheit im Ort.

Die junge Familie

Nach dieser Einführung in das Buchenland, den Aufbau des Dorfes Czudin und die Verhältnisse der Familie Jakob befinden wir uns am Beginn unserer Geschichte im Jahre 1903. Es war Anfang November und die Ernte war eingebracht. Man hatte sich damit beeilt, denn der Oktober war regnerisch gewesen und das Wetter hatte sich rasch verschlechtert. Aber Lorenz hatte in den dreißig Jahren, in denen er seine Mühle nun schon betrieb, noch kein einziges Jahr erlebt, das die Landwirte der Umgebung als gutes Jahr bezeichnet hätten. Trotz allem konnte sich das Ergebnis sehen lassen. Der Lagerraum seiner Mühle war bis zur Decke voll mit den Kornsäcken, die ihm zum Mahlen gebracht wurden. Es waren die arbeitsreichsten Tage für einen Müller wie ihn. Alle Familienangehörigen mussten mitanpacken, um das Pensum zu bewältigen. Neben dem Korn, das bis zu den festgelegten Terminen gemahlen werden musste, war der Damm auszubessern, da das Herbstwetter diesen beschädigt hatte, und ein neuer Mühlstein musste eingesetzt werden. Auch die Mechanik der Mühle selber musste überholt werden, denn so stolz Lorenz auch auf seine Mühle war, so konnte er doch nicht bestreiten, dass es sich nicht im eigentlichen Sinne um eine Luxusmühle handelte. Durch die Verwendung von Materialien, die nicht unbedingt die am besten geeigneten waren, galt es jedes Jahr, nach altersschwachen Komponenten zu suchen und diese auszutauschen. Diese Aufgabe hatte sein Sohn bereits erledigt, so dass sich die gesamte Familie nun dem Mahlen zuwandte. Anna, obwohl hochschwanger, arbeitete wie immer in der Schreibstube. Die Schwangerschaft mochte vielleicht als Grund dienen, dass man nicht schwer heben konnte, abgesehen davon jedoch wurde sie als voll einsatzfähig angesehen. Schließlich war es allgemein so üblich, dass auch Schwangere ihren Teil bei der Arbeit beitrugen. Was als ganz normaler Arbeitstag begann, änderte sich jedoch schnell, als Anna gegen neun Uhr die ersten Wehen verspürte. Während der werdende Vater nervös wurde und am liebsten sofort den Arzt verständigt hätte, ging Lorenz, der bereits mehrere Geburten miterlebt hatte, gelassener an die Sache heran. Zuerst ließ er seinen Sohn die Hebamme verständigen, die jedoch keine große Eile zu haben schien, da bei Erstgebärenden im Allgemeinen nicht von einer Blitzgeburt auszugehen war. Als nächstes zog man die widerstrebende Anna von ihrer Arbeit ab. Trotz allem wollte sie nämlich noch so lange weitermachen, bis die Hebamme da war, denn alles, was sie jetzt nicht erledigte, würde sie später nachholen dürfen. Aber Lorenz und Josef gelang es schließlich gemeinsam, Anna davon zu überzeugen, dass es klüger sei, sich ins Wohnhaus zu begeben, in dem man bereits alles vorbereitet hatte. Jedoch war Anna in ihrem derzeitigen Zustand den hilfreichen Ratschlägen der zwei Herren nicht so aufgeschlossen, wie diese es sich vorstellten. Nach einigen bissigen Bemerkungen seiner Schwiegertochter zog es Lorenz deshalb vor, sich zurückzuziehen. Insgeheim bedauerte er seinen Sohn, dass er dies nicht genauso machen konnte. Aber er war der Ehemann, da musste er durch. Zumindest bis die Hebamme kam. Die traf um elf Uhr ein und sorgte als erstes dafür, dass Josef. der mit seiner Aufregung für eine ungesunde Hektik sorgte, des Raumes verwiesen wurde. Ersetzt wurde er durch die zur Hilfe eilende Nachbarin, die bereits während der Schwangerschaft Anna zur Seite gestanden hatte und die auch durch persönliche Erfahrung besser dazu geeignet war, einen beruhigenden Einfluss auf die werdende Mutter auszuüben.

Erstaunt und zugleich ein wenig beleidigt zog sich Josef in die Wohnküche zurück und lief rastlos durch den Raum. Da er seine schweren Arbeitsstiefel nicht ausgezogen hatte, als er seine Frau ins Wohnhaus brachte, knarrten unter jedem seiner Schritte die Bodenbretter. Sorgenvoll blickte er auf die Tür des Zimmers, dessen er soeben verwiesen worden war. Er versuchte das leise Murmeln zu verstehen und erschrak, wenn er seine Frau vor Schmerzen aufstöhnen hörte. Er konnte es einfach nicht fassen, dass ausgerechnet er nicht gebraucht wurde. Nachdem er circa zwanzig Minuten gewartet hatte, kam er langsam zu dem Schluss, dass er nun aber mal nachschauen müsse, wie die Dinge standen. Er glaubte, dass die Frauen nun zur Vernunft gekommen sein würden und eingesehen hätten, dass die Hilfe eines Mannes von Nöten war, um die Sache endlich zum Abschluss zu bringen. Es dauerte jetzt schon geschlagene dreieinhalb Stunden. Er war sich sicher, dass sein erneutes Erscheinen die Geburt entscheidend voranbringen würde. Entschlossen trat er auf die Türe zu, zögerte kurz und, nachdem seine Entschlossenheit wieder von ihm gewichen war, klopfte er zaghaft an. Für seinen ungeschickten Versuch, sich wieder einzubringen, wurde er mit einem scharfen Tadel aller drei Frauen bedacht und nun auch noch des Hauses verwiesen. Sein ständiges hin und her Wandern sei äußerst Nerv tötend, hieß es. Darüber hinaus teilte ihm Anna mit, dass er, falls er mit seinen dreckigen Arbeitsstiefeln die Wohnstube verunreinigt habe, diese selber putzen solle. Was auch immer sie ihm noch an den Kopf werfen wollte, ging aber in einer neuen Wehe unter. Daraufhin räumte der derart zurechtgestutzte Josef das Feld und gesellte sich zu seinem Vater, der es trotz der ungemütlichen Temperaturen und des hartnäckig anhaltenden Nieselregens vorgezogen hatte, sich im Schutz des Vordaches vor das Haus zu setzen. Er empfing seinen Sohn mit einem breiten Grinsen.

„Das habe ich mir gleich gedacht, dass die Frauen dich nicht bei der Geburt dabeihaben wollen. Du bist viel zu nervös, um helfen zu können. Ich habe schon zahlreiche Ehemänner erlebt, die keine große Hilfe bei der Geburt Ihres Kindes waren.“ Josef vermeinte bei diesen Sätzen seines Vaters ein leichtes Grinsen erkennen zu können und er bedauerte es auf einmal, sich nicht an seine eigene Geburt erinnern zu können, da er fest davon ausging, dass Lorenz bei dieser ähnlich unruhig und nur wenig hilfreich gewesen war. Aber, da er wusste, dass sein Vater sich gegen solche Vorwürfe nur allzu entschieden zur Wehr setzen würde, und man daraufhin an diesem eigentlich freudigen Tag seinen Frieden nicht mehr würde haben können, verzichtete er auf eine bissige Erwiderung und setzte sich still neben seinen Vater. „Nachdem euer Kind heute mit Gottes Hilfe gesund zur Welt kommen wird, solltest du dir Gedanken darüber machen, wen du für den Hausbau engagieren willst.“ Lorenz hatte versprochen seinem Sohn die Mühle zu überlassen, sobald das erste Kind geboren war. Mit seinen einundsechzig Jahren war er aber auch wirklich ein wenig alt für den Betreib. Schon jetzt konnte er kaum noch helfen, wenn es darum ging, die Mühle zu warten. Sein Sohn war bereits seit seiner Jugend im Umgang mit dem Gerät geschult und wartete dieses auch schon seit Jahren praktisch alleine. Seit die Buchführung zur Gänze an seine Schwiegertochter übergegangen war, musste sich Lorenz eingestehen, dass er nicht unersetzbar war. Außerdem gedachte er, seinen Lebensabend damit zu verbringen, noch frömmer zu werden, als er es ohnehin schon war. Dafür empfand er es als unbedingt notwendig, dass sein Sohn mit seiner Familie endlich auszog. Da auch Josef damit einverstanden war, hatte er bereits vor längerer Zeit ein Grundstück an der Hauptstraße gekauft, das sich zum Bau eines eigenen Hauses sehr gut eignete. Tatsächlich hatte er genügend Geld zusammengespart, um ein Haus zu bauen, das solide aus Stein errichtet werden konnte und darüber hinaus größer sein sollte als das alte Siedlerhaus von Lorenz. “Die Ziegelbrenner habe ich bereits angeworben. Wenn sie bei ihrer aktuellen Baustelle nicht mehr gebraucht werden, dann werden sie so schnell wie möglich bei mir beginnen. Wird voraussichtlich Mai werden. Um alles vorzubereiten, schicken sie aber eine Vorausabteilung Anfang April. Parallel dazu müsste mit dem Aushub begonnen werden.“ „Wie weit seid Ihr schon bei der Namensfindung?“ Damit sprach Lorenz einen Punkt an, der ihm sehr am Herzen lag. „Ich empfehle einen guten, christlichen Namen. Einen Namen, der die fundamentalen Werte, für die die ganze Familie steht, widerspiegelt. Außerdem sollte er nicht zu gewöhnlich sein. Die Tradition sollte man darüber hinaus nicht vergessen.“

Es war Josef bereits seit den ersten Monaten der Schwangerschaft seiner Frau klargeworden, worauf Lorenz mit diesem und zahlreichen ähnlichen Vorträgen hinauswollte. Sollte es ein Junge werden, so war es naheliegend, dass er bei mehreren Vornamen auf eine Kombination mit dem Namen Lorenz abzielte .Für das christliche Element hatte er bereits mehrfach den Namen Sebastian (zufälligerweise den Namen seines Großvaters) vorgeschlagen. Eigenartigerweise hatte er sich aber noch keine Überlegungen darüber gemacht, welche Namen einem Mädchen gegeben werden könnten. Josef ärgerte sich ein wenig über die Versuche seines Vaters, ihn gerade bei der Namenswahl in die eine oder die andere Richtung zu drängen. Denn was konnte man schon von einem Vater erwarten, der die oben beschriebenen Grundsätze bei der Benennung des Nachwuchses propagierte, aber bei seinem eigenen Sohn nicht über ein simples Josef hinausgekommen war. Das mochte ja vielleicht noch dem ersten Grundsatz genügen. Wenn er allerdings daran dachte, dass man in der Schule oder der Kirche meistens vier bis fünf Namensvettern hatte, so hatte sein Vater gerade, was das Außergewöhnliche anging, bei der Namensgebung auf ganzer Linie versagt. Darüber hinaus hatte er Zeit seines Lebens über den Namen Lorenz geschimpft, so dass es für Josef und Anna eine ausgemachte Sache war, diesen Namen nicht zu vergeben. Vielmehr hatten sich die zukünftigen Eltern auf die Suche nach ganz neuen Namen gemacht. Aber auch diese mit großen Ambitionen begonnene Suche war rasch zu einer überschaubaren Liste mit nicht direkt ausgefallenen Namen geworden.