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Der Autor

 

Prof. Dr. Timo Storck ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin und Psychologischer Psychotherapeut (AP/TP). Studium der Psychologie, Religionswissenschaften und Philosophie an der Universität Bremen, Diplom 2005. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Bremen (2006–2007), Kassel (2009–2015) sowie an der Medizinischen Universität Wien (2014–2016). Promotion an der Universität Bremen 2010 mit einer Arbeit zu künstlerischen Arbeitsprozessen, Habilitation an der Universität Kassel 2016 zum psychoanalytischen Verstehen in der teilstationären Behandlung psychosomatisch Erkrankter. Mitherausgeber der Zeitschriften Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung und Forum der Psychoanalyse sowie der Buchreihe Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie, Mitglied des Herausgeberbeirats der Buchreihe Internationale Psychoanalyse. Forschungsschwerpunkte: psychoanalytische Theorie und Methodologie, psychosomatische Erkrankungen, Fallbesprechungen in der stationären Psychotherapie, Kulturpsychoanalyse, konzeptvergleichende Psychotherapieforschung.

Timo Storck

Psychoanalyse nach Sigmund Freud

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030874-9

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-030875-6

epub:   ISBN 978-3-17-030876-3

mobi:   ISBN 978-3-17-030877-0

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Geleitwort zur Reihe

 

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Harald J. Freyberger (Stralsund/Greifswald)

Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)

Bernhard Strauß (Jena)

Inhalt

 

 

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. Einleitung
  3. 1 Ursprünge und Entwicklungen der Psychoanalyse
  4. 1.1 Freuds Psychoanalyse
  5. 1.1.1 Wurzeln
  6. 1.1.2 Psychoanalyse als Konflikttheorie
  7. 1.1.3 Konzeption struktureller Fähigkeiten und deren Beeinträchtigung
  8. 1.1.4 Traum und Traumdeutung
  9. 1.1.5 Psychoanalyse jenseits des Behandlungszimmers
  10. 1.2 Psychoanalyse auf Freuds Wegen
  11. 1.2.1 Anna Freud, Heinz Hartmann und der Weg der Ichpsychologie
  12. 1.2.2 Die Klein-Bion-Richtung
  13. 1.2.3 Französische Psychoanalyse am Beispiel von Laplanche und Green
  14. 1.2.4 Die »contemporary Freudians«
  15. 1.2.5 Weitere psychoanalytische Richtungen
  16. 2 Verwandtschaften mit anderen Verfahren
  17. 2.1 Verhältnis zu Psychiatrie und Psychosomatischer Medizin
  18. 2.2 Einfluss der Psychoanalyse auf die Entwicklung weiterer psychotherapeutischer Verfahren
  19. 2.3 Psychoanalyse und wissenschaftliche Interdisziplinarität
  20. 3 Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen
  21. 4 Kernelemente der Diagnostik
  22. 4.1 Das psychoanalytische Erstgespräch
  23. 4.2 Projektive Testverfahren
  24. 4.3 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD)
  25. 5 Kernelemente der Therapie
  26. 5.1 Regressionsförderung und psychoanalytisches Setting
  27. 5.2 Grundregeln
  28. 5.2.1 Gleichschwebende Aufmerksamkeit
  29. 5.2.2 Freie Assoziation
  30. 5.3 Agieren und Enactment
  31. 5.4 Abstinenz und Neutralität
  32. 5.5 Übertragung, Übertragungsneurose und Gegenübertragung
  33. 5.6 Widerstand
  34. 5.7 Deutung
  35. 5.8 Psychoanalytisches Verstehen
  36. 5.9 Behandlungsziele und Behandlungsprozess
  37. 5.9.1 Einsicht in unbewusste Konflikte
  38. 5.9.2 Korrigierende emotionale Erfahrung
  39. 5.9.3 Strukturelle Veränderung
  40. 5.9.4 »Durcharbeiten« heute
  41. 6 Fallbeispiel
  42. 6.1 Erstgespräch
  43. 6.2 Aus dem analytischen Prozess
  44. 7 Anwendungsgebiete
  45. 7.1 Allgemeine Fragen der Indikation
  46. 7.1.1 Bewusste und unbewusste Behandlungsmotivation
  47. 7.1.2 Förderlichkeit der Regression
  48. 7.1.3 Art der Übertragung
  49. 7.1.4 »Ichstärke«
  50. 7.1.5 Arbeitsbündnis
  51. 7.2 Psychoanalytische Nosologie und spezielle Störungslehre
  52. 7.2.1 Übertragungsneurosen
  53. 7.2.2 Aktualneurosen
  54. 7.2.3 Narzisstische Neurosen
  55. 7.2.4 Charakterneurosen
  56. 7.2.5 Suchterkrankungen und Essstörungen
  57. 7.2.6 Perversionen
  58. 8 Behandlungssettings
  59. 8.1 Ambulante Psychoanalyse
  60. 8.1.1 Psychoanalyse
  61. 8.1.2 Als analytische Psychotherapie
  62. 8.1.3 Analytisch begründete Verfahren und Modifikationen in Setting und Behandlungstechnik
  63. 8.2 Psychoanalyse im stationären und teilstationären Setting
  64. 8.3 Kinder- und Jugendlichenpsychoanalyse
  65. 8.4 Gruppenanalyse und Balintgruppenarbeit
  66. 9 Wissenschaftliche und klinische Evidenz
  67. 9.1 Evidenzbasierte Psychotherapie und Forschungslage
  68. 9.2 Psychoanalytische Konzeptbildung und Forschungskultur der Einzelfallstudie
  69. 10 Aus-, Fort- und Weiterbildung und institutionelle Strukturen
  70. 10.1 Institute und Fachgesellschaften
  71. 10.2 Struktur der Ausbildung
  72. 10.3 Psychoanalyse und universitäre Direktausbildung
  73. Literatur
  74. Sachwortverzeichnis

Einleitung

 

 

 

Die Psychoanalyse befindet sich in einer heiklen Lage. An den Universitäten ist sie sowohl im Studium als auch in der Forschung ins Hintertreffen geraten, vielerorts herrscht wenig Informiertheit darüber, dass es sich um mehr handelt als um einen Abschnitt in der Geschichte der Psychotherapie, um mehr als eine skurrile, wenn auch verdienstvolle Übergangsphase auf dem Weg zu deren Professionalisierung. Wenn beispielsweise Studierende der Psychologie an fast jeder deutschsprachigen Universität nur wenig darüber erfahren, dass die Psychoanalyse nach wie vor einen wichtigen Platz in der psychotherapeutischen Versorgung einnimmt und etliche Aspekte ihrer Theorie und Behandlungsweise empirisch fundiert sind, dann führt das auch zu einer problematischen Situation im Hinblick darauf, wie viele Absolventen1 der Psychologie, aber auch der Medizin oder Pädagogik überhaupt in Erwägung ziehen, sich in analytisch begründeten Verfahren auszubilden. Zudem kann auch auf Seiten derjenigen, die eine entsprechende Therapie in Anspruch nehmen könnten, konstatiert werden, dass zum einen wenig Wissen darüber vorherrscht, was in einer analytischen Behandlung vor sich geht und warum, und zum anderen auch eine zunehmend seltenere »Passung« des analytischen Behandlungsangebots (hohe Stundenfrequenz, lange Dauer, relative Ungesteuertheit des Prozesses) zu den Lebensrealitäten potenzieller Patienten gegeben scheint. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Psychoanalyse auf institutioneller Ebene zu einem nicht geringen Teil am eingeschlagenen Weg in ihre heutige Randständigkeit beteiligt gewesen ist.

Dem gelegentlichen Vorwurf, die Psychoanalyse grabe in der Vergangenheit herum, scheint dabei mittlerweile der Eindruck zur Seite zu stellen zu sein, die Psychoanalyse selbst sei das, was man allenfalls aus der Vergangenheit herauskramen könne – und ob nun Schatz oder Fossil: Was so gefunden würde, stammte aus einer alten Zeit und wäre allenfalls als Vorläufer des Aktuellen von Interesse. Wenn ich im vorliegenden Band nun von der »Psychoanalyse nach Freud« spreche, möchte ich einerseits einen Überblick über die Freudsche Psychoanalyse geben (mit dem Fokus auf Psychoanalyse als Behandlungsverfahren). Ich möchte mit dem doppeldeutigen »nach Freud«2 andererseits auch darauf hinweisen, dass sich die Psychoanalyse in Bewegung befindet: dass sie ihre Grundlagen kritisch prüft (empirisch wie konzeptuell) und weiterentwickelt und dass sie sich dabei zu anderen wissenschaftlichen Zugängen und anderen therapeutischen Verfahren ins Verhältnis setzt. Die leitende Frage ist daher im vorliegenden Zusammenhang die, wo die Psychoanalyse nach Freud rund 80 Jahre nach Freud steht – bzw. besser, denkt man an die Couch-Position: wie es um ihre Lage bestellt ist.

Ich werde dazu zunächst (Kapitel 1) die Wurzeln des Freudschen Denkens skizzieren und dabei seine Ausgangspunkte in der Medizin und Neurologie, sein Verhältnis zur Psychologie seiner Zeit, die Begegnung mit der Hypnose und seine meist impliziten Referenzen auf die Philosophie Franz Brentanos (und seine allgemein ambivalente Haltung gegenüber der Philosophie) darstellen. Im Anschluss werde ich dann die Grundzüge der Psychoanalyse als Konflikttheorie erörtern und dabei auf die konzeptuellen Säulen infantile Psychosexualität, Trieb, Objektbeziehungen, Wunsch/Verbot und Abwehr sowie auf die Theorie der Symptombildung zu sprechen kommen. Ich werde darlegen, weshalb Traum und Traumdeutung in der Psychoanalyse zentral geblieben sind und wie sich daran die wesentlichen Elemente einer psychoanalytischen Theorie unbewusster Bedeutung zeigen lassen. Nur in knapper Darstellung werde ich auf die Psychoanalyse jenseits der klinischen Situation zu sprechen kommen. Im Anschluss an diese Freudschen Grundlagen zeige ich einige der wichtigen Weiterentwicklungen seines Denkens auf und beschränke mich dabei auf diejenigen Autoren, die sich in einer stärker direkten Linie zu Freud setzen lassen und darin eigene Akzentuierungen vorgelegt haben.

Im darauffolgenden zweiten Kapitel stelle ich die »Verwandtschaften« des Freudschen psychoanalytischen Denkens heute dar und diskutiere das Verhältnis der Psychoanalyse zur Psychiatrie und zur Psychosomatischen Medizin in der Versorgungslandschaft sowie den Einfluss der Psychoanalyse auf die Entwicklung anderer psychotherapeutischer Verfahren. Ebenso werde ich auf die Ausrichtung der Psychoanalyse auf wissenschaftliche Interdisziplinarität zu sprechen kommen.

Darauf folgen einige knappe Bemerkungen zu den wissenschafts- und therapietheoretischen Grundlagen der Psychoanalyse (Kapitel 3), in denen es insbesondere um die Frage nach dem Verhältnis von Verstehen und Veränderung in psychoanalytischer Auffassung geht.

Kapitel 4 behandelt Diagnostik und Kapitel 5 die Therapie in der Psychoanalyse. Zunächst wird es dabei um die Figur eines Ineinander von Diagnostik und Intervention in der analytischen Erkenntnishaltung gehen, bevor ich genauer auf das Vorgehen im psychoanalytischen Erstgespräch und in projektiven Testverfahren blicke. Außerdem erfolgt ein Blick auf die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD). Hinsichtlich der im engeren Sinn behandlungstechnischen Konzepte und Konzeptzusammenhänge diskutiere ich die Bedeutung des regressionsfördernden Settings, der analytischen Grundregeln (gleichschwebende Aufmerksamkeit und freie Assoziation), Abstinenz/Neutralität, Übertragung/Gegenübertragung, Widerstand und Deutung. In der Erörterung der Behandlungsziele geht es schließlich um die Elemente der Veränderungstheorie der Psychoanalyse zwischen Einsicht in unbewusste Konflikte, der korrigierenden emotionalen Erfahrung und struktureller Veränderung, dies vor dem Hintergrund dessen, was heute mit analytischem »Durcharbeiten« gemeint sein kann. Dabei wird auch die Frage nach der Dauer analytischer Behandlungen berührt werden. Eine Veranschaulichtung erfahren die Bemerkungen zur Psychoanalyse als Therapie durch ein Fallbeispiel in Kapitel 6.

Im Anschluss daran gebe ich im siebten Kapitel einen Überblick über die therapeutischen Anwendungsgebiete der Psychoanalyse. Zunächst diskutiere ich Fragen der Indikation (Behandlungsmotivation, Nutzbarkeit der Regression, Art der Übertragung, die Frage nach der Ichstärke und die Qualität des Arbeitsbündnisses), bevor ich entlang der Struktur Freudscher Nosologie (Übertragungsneurosen, Aktualneurosen, narzisstische Neurosen und Charakterneurosen) Aspekte einer speziellen psychoanalytischen Krankheitslehre erörtere und dabei jeweils den Bogen vom Freudschen Verständnis zu heute gängigen nosologischen Einteilungen ziehe.

Kapitel 8 diskutiert schließlich verschiedene Behandlungssettings analytischer Arbeit. Hier differenziere ich zwischen analytischer Psychotherapie und »tendenzloser« Psychoanalyse und diskutiere kritisch die Frage nach der geforderten äußerlichen Unreglementiertheit der Psychoanalyse. Ich skizziere die Varianten analytisch begründeter Verfahren sowie die Modifikationen hinsichtlich des Settings und der Behandlungstechnik am Beispiel der Übertragungsfokussierten Psychotherapie und der Mentalisierungsbasierten Therapie. Es werden die Anwendung analytischer Technik im stationären Setting diskutiert sowie knapp die Grundzüge der Kinder- und Jugendlichenpsychoanalyse sowie der Gruppenanalyse gestreift.

Daran anschließend geht es im neunten Kapitel um Forschungsergebnisse die Psychoanalyse betreffend. Ich unterscheide dabei zwischen solchen hinsichtlich der Theorieentwicklung (»Konzeptforschung«) und solchen der evidenzbasierten Psychotherapie und plädiere für einen breitgefassten Begriff von Empirie, der forscherische Zugänge zu (vergleichender) Prozess- und Outcomeforschung ebenso umfasst wie die nicht minder methodengeleiteten Vorgehensweisen der klinischen Einzelfallforschung.

Ich beschließe die Überlegungen in Kapitel 10 mit Darstellungen zur institutionellen Situation und den Bedingungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung in Psychoanalyse und analytisch begründeten Verfahren, wobei auch eine Diskussion der Position der Psychoanalyse in einer zukünftigen universitären Direktausbildung Platz finden wird.

Ein großer Teil der konzeptuellen Überlegungen findet sich systematisch in der Buchreihe Grundelemente psychodynamischen Denkens (Storck 2018ff; zuerst: 2018a, b, c) vertieft. Überlegungen zur psychoanalytischen Auffassung psychosomatischer Erkrankungen (Storck 2016a; Kurzfassung in Storck und Warsitz 2016; Storck 2017a), zu Zwangserkrankungen (Storck, in Vorb.) oder zu psychoanalytischen Konzepten in der Behandlung psychotischer Störungen (Storck und Stegemann, in Vorb.) habe ich jeweils ausführlich an anderer Stelle dargestellt. Auch zum psychoanalytischen Verstehen habe ich andernorts eine Übersicht und einen Ausblick gegeben (Storck 2016b; Kurzfassung in Storck 2017b). Ich werde diese Quellen im Weiteren nicht im Einzelnen benennen, sondern belasse es bei diesem einführenden und weiterführenden Hinweis.

Ich bedanke mich bei Cord Benecke für hilfreiche Kommentare zum Manuskript und gemeinsame Diskussionen, ferner sind einzelne Passagen eng an sein Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie angelehnt (Benecke 2014). Dank gilt ferner Anita Brutler und Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag für die angenehme Zusammenarbeit.

Heidelberg, im Juli 2018
Timo Storck

1     Ich verwende im vorliegenden Buch das generische Maskulinum, womit kein inhaltlicher Akzent gesetzt werden soll; sofern nicht anders vermerkt ist jeweils auch die weibliche Form mitgemeint.

2     Diese Wendung spielt auch im Untertitel des Buches Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud (Quindeau 2008) eine Rolle.

1          Ursprünge und Entwicklungen der Psychoanalyse

 

 

Über die Psychoanalyse zu schreiben, ist nicht erst seit der innerpsychoanalytischen Pluralismusdebatte (Wallerstein 1992; Green 2005) schwierig geworden. Auch kann die lange Zeit gängige Unterteilung Pines (1988) in vier psychoanalytische »Psychologien« (Triebtheorie, Ichpsychologie, Selbstpsychologie und Objektbeziehungstheorie) nicht mehr alle Strömungen abbilden, die in der zeitgenössischen Psychoanalyse eine Rolle spielen (vgl. zu psychoanalytischen Schulen z. B. Mertens 2010; 2011). Im Weiteren beziehe ich mich auf die Freudsche Psychoanalyse und in der Darstellung von deren Entwicklung auf diejenigen Autoren, die eine zentrale Position hinsichtlich der Weiterführung einnehmen (und weniger auf diejenigen, die die Freudsche Theorie ergänzt haben, z. B. in Form der Narzissmustheorie Kohuts). Das ist zwar einerseits eine etwas künstliche Trennung, andererseits ermöglicht sie jedoch eine in diesem Zusammenhang nötige Akzentsetzung auf die Darstellung dessen, was aus den Freudschen Konzepten geworden ist. Und hier bieten sich diejenigen Autoren an, die meist in einer Linie mit Freud gesehen werde, etwa in einer Rede der Freud-Klein-(Bion-) Richtung, bei den sog. »contemporary Freudians« (unter denen Sandler als der wichtigste zu nennen ist) und schließlich diejenigen, die sich einer Re-Lektüre Freuds verschreiben (Lacan, Laplanche, Green), mit dem Ziel einer Fortführung (vgl. umfassender auch: Conci und Mertens 2016).

1.1       Freuds Psychoanalyse

Um »Freuds Psychoanalyse« soll es also gehen und damit ist nicht allein auf die folgende Darstellung der wissenschaftlichen und disziplinären Hintergründe und der konzeptuellen und behandlungstechnischen Entwicklung der Psychoanalyse durch Freud verwiesen, sondern auch auf die Verflechtung der Psychoanalyse mit Freuds Biografie und seiner Selbstanalyse (die ihn, nicht zuletzt über die Analyse seiner eigenen Träume oder die Reflexion der Bedeutung des Todes seines Vaters, in seiner Konzeptentwicklung beeinflusste). Dabei bleiben allerdings biografische Aspekte Freuds im engeren Sinn weitgehend außen vor (vertiefend dazu siehe z. B. Jones 1960; Schur 1972; Gay 1987; P. Schneider 1999).

Für die Diskussion der psychoanalytischen Grundkonzepte ab Abschnitt 2.1.2 ist auf die Arbeiten von Laplanche und Pontalis (1967), Zepf (2006a), Mertens (2014) oder Ermann (2015) zu verweisen.

1.1.1     Wurzeln

Medizin und Neuropathologie

Nachdem es zunächst Freuds Wunsch gewesen war, Jura zu studieren und Politiker zu werden (P. Schneider 1999, S. 27), entschied er sich dafür, 1873 in Wien ein Medizinstudium zu beginnen – und das, obwohl er als Kind »niemals ›Doktor‹ gespielt« hatte (Freud 1927a, S. 290)! Was die Ausrichtung des Medizinstudiums anging, war die Abgrenzung von der (Natur-)Philosophie besonders wichtig – dem gegenüber hatten Anatomie und Physiologie eine entscheidende Bedeutung. Auch die Darwinsche Evolutionstheorie dürfte im Hintergrund sehr spürbar gewesen sein. Das sog. »Manifest« der Helmholtz-Schule (ein Briefauszug Emil Du Bois-Reymonds), zu dessen Kreis Emil Brücke, einer der frühen Lehrer Freuds, an dessen physiologischem Institut er zwischen 1876 und 1882 arbeiten würde, gehörte, bezog sich auf das Programm, nur physikalisch-chemische Kräfte als im Organismus wirksam anzunehmen – und bisher unerklärte Phänomene durch die hinzugezogene Annahme »neue[r] Kräfte« zu erklären, »welche, von gleicher Dignität mit den physikalisch-chemischen, der Materie inhärent, stets nur auf abstoßende oder anziehende Componenten zurückzuführen sind« (zit. n. P. Schneider 1999, S. 28).

Zwar sind Freuds zoologische Forschungen zu den Geschlechtsorganen von Aalen nicht ohne historische Kuriosität, wichtiger in seiner Studienzeit ist allerdings die Beschäftigung mit der Neurophysiologie im Labor Brückes. Der Aufenthalt dort ist aus einem weiteren Grund für die Entwicklung psychoanalytischen Denkens wichtig gewesen, nämlich dahingehend, dass Freud dort auf Josef Breuer traf, mit dem er 1895 die Studien über Hysterie veröffentlichen würde, so etwas wie den Gründungstext psychoanalytischen Arbeitens. Zuvor schloss Freud 1881 sein Studium mit der Promotion ab, 1885 folgte die Habilitation im Fach Neuropathologie (in den Jahren dazwischen hatte Freud zunächst in einer Abteilung für Innere Medizin und dann im hirnanatomischen Labor Theodor Meynerts gearbeitet und geforscht). Mit einer akademischen Laufbahn sah es aus verschiedenen Gründen (Freuds Judentum ist einer unter anderen gewesen) schlecht aus, auch deshalb, weil Freud im Anschluss an seine Heirat mit Martha Barnays in 1886 den Entschluss traf, seine Familie eher durch das Einkommen aus einer nervenärztlichen Praxis finanziell versorgen zu können. Dieser Schritt ist für die Entwicklung der Psychoanalyse nicht unerheblich gewesen, ging es doch in seinen Studien nun weniger um Anatomie und Physiologie, sondern um »Fälle« von Hysterie, die er erforschte.

Die Philosophie Franz Brentanos

Mit Freuds Studienbeginn entfiel die Philosophie als Pflichtfach im Wiener Medizinstudium, nichtsdestoweniger besuchte er drei Jahre lang die Vorlesungen Franz Brentanos, der einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Phänomenologie Husserls haben sollte. Husserl besuchte die selben Vorlesungen Brentanos wie Freud, zog daraus aber letztlich Folgerungen fürs Bewusstsein statt für das Unbewusste. Am 1894 nach Wien berufenen Brentano, den Freud offenbar sehr bewunderte, ist weiter entscheidend, dass er als ehemaliger Priester nicht nur die Philosophie, sondern mit der Theologie noch einen zweiten Zweig repräsentierte, der zur anatomischen, physikalisch-chemischen Ausrichtung des Wiener Medizinstudiums und dem Anliegen des jungen Freud in einem deutlichen Gegensatz stand. Brentano beschäftigte sich, verkürzt gesprochen, mit Bewusstseinsakten und thematisierte dabei die Intentionalität des Bewusstseins, wie sie später bei Husserl weiter ausgearbeitet werden würde. Gemeint ist damit im Wesentlichen, dass »Bewusstsein« (sofern man es nicht schlicht als das Gegenteil von Bewusstlosigkeit versteht, also nicht als bloße Vigilanz) nicht losgelöst von Bewusstseinsakten steht und damit immer Bewusstsein von etwas ist (vgl. z. B. Stegmüller 1975, Kap. 1; in der Relevanz für die Psychoanalyse besonders Schöpf 2014, S. 33ff.). Hier liegt im Übrigen auch die Ablehnung Brentanos gegenüber unbewusster Seelentätigkeit begründet: Einer Aktpsychologie in diesem Sinn muss es als ein Widerspruch erscheinen, dass es Unbewusstheit von etwas geben sollte. »Intentionalität« ist dabei nicht als auf physikalische Phänome gerichtet zu beschreiben (wie etwa die Wahrnehmung von etwas), auch wenn es sich auf etwas in der Welt richtet. Brentanos Lehre markiert dabei einen Überschneidungsbereich zwischen Psychologie und Philosophie – liest man dies als eine Abkehr von spekulativer Naturphilosophie oder Metaphysik, sind die Anreize, die es für Freud hatte, Brentano zu hören, leicht ersichtlich: die Empirie einer »deskriptiven Psychologie« und die naturwissenschaftliche Methode, sowie eine Diskreditierung von romantischer Naturphilosophie oder deutschem Idealismus. Der Einfluss Brentanos auf Freud ist lange Zeit unterschätzt worden (vgl. Gödde 2009, S. 93ff.).

Freuds ambivalente Haltung zur Psychologie

Einerseits kann also davon gesprochen werden, dass Freud über Brentano eine gewisse Art von Psychologie als Theorie des Psychischen nahegebracht wurde, d. h. der Gedanke einer methodisch naturwissenschaftlichen, empirischen Sicht darauf, dass auch eine Innenperspektive jenseits der Wahrnehmung erforschbar ist (Urteile z. B. oder andere Bewusstseinsakte). Ebenso hatten Helmholtz, Brücke und Du Bois-Reymond und anders auch Gustav Theodor Fechner, dessen Einfluss auf Freuds frühes Denken ebenso wenig übergangen werden sollte, Berührungspunkte mit der Psychologie. Die Psychologie als akademische Disziplin entwickelte sich zudem parallel zu Freuds Medizinstudium, deutlich etwa an der Begründung des Wundtschen Labors in Leipzig im Jahr 1879. Bereits 1872/73, zeitgleich also mit dem Beginn von Freuds Medizin-Studium in Wien, war Wundts Arbeit Grundzüge der Physiologischen Psychologie erschienen. Auch Theodor Lipps wurde ein Bezugspunkt Freuds und es war Stanley Hall, der ihn 1909 in die USA einlud.

Und auch wenn Freud sich zweifellos mit der Psyche beschäftigte, dem empirischen Grundgedanken der Psychologie nahe stand und in seinen Überlegungen einige wichtige Figuren in der Anfangszeit der akademischen Psychologie als Referenzpunkte zu erkennen sind, und auch wenn er die Ausarbeitung der Gedanken aus verschiedenen Manuskripten und den Briefen an Wilhelm Fließ Entwurf einer Psychologie nennt (Freud 1950), so wird doch nicht zuletzt durch den Umstand, dass er dieses Buch nicht veröffentlicht sehen wollte, Freuds Bemühen um die Abgrenzung von der Psychologie als Fach ersichtlich. Damit ist noch nicht einmal gemeint, dass Freud die Bemerkung abgab, in der Psychologie komme »die konstitutionelle Untauglichkeit des Menschen zu wissenschaftlicher Forschung in vollem Ausmaß zum Vorschein« (1933, S. 4), sondern es geht vielmehr darum, dass Freud unter Psychologie im Wesentlichen Bewusstseinspsychologie verstand. Im fiktiven Dialog eines Analytikers mit einem unparteiischen Zuhörer in Die Frage der Laienanalyse lässt Freud den Erstgenannten auf die Frage nach der Begründung einer »neuen Psychologie« durch die Psychoanalyse sagen, »daß es auf psychologischem Boden sozusagen keinen Respekt und keine Autorität gibt. Jedermann kann da nach Belieben ›wildern‹. […] Wahrscheinlich gibt es auf diesem Gebiet keine ›Fachkenntnisse‹. Jedermann hat sein Seelenleben und darum hält sich jedermann für einen Psychologen. Aber das scheint mir kein gültiger Rechtstitel zu sein.« Und Freud meint weiter, die »Schulpsychologie« habe niemals »den mindesten Beitrag zur Aufklärung« der »Anomalie« leisten können, dass bei einigen Personen die »Gedanken ihre eigenen Wege gehen, so daß sie gezwungen sind, über Probleme zu grübeln, die ihnen furchtbar gleichgültig sind«. Auch den »Sinn der Träume« habe die Schulpsychologie nie angeben können (1926e, S. 219). Diese Ansicht vertritt Freud deshalb, weil in ihr das Unbewusste keinen Platz hatte; er schreibt: »Die Daten der bewussten Selbstwahrnehmung, die ihr [der »Bewusstseinspsychologie«; d. Verf.] allein zur Verfügung standen, haben sich überall als unzureichend erwiesen, um die Fülle und Verwicklung der seelischen Vorgänge zu durchschauen« (1940a, S. 126).

Freud bezeichnet seine Gedanken aus dem Entwurf einer Psychologie als seine Psychologie. Und man kann darin durchaus ein Zusammenwirken dessen erkennen, was er als dynamisches Kräftespiel bei Brücke gelernt hatte, und dem, was die Aktpsychologie Brentanos als grundlegend annimmt – beigemengt ist dem der Fokus auf das Unbewusste, die Frage also, wie sich ein Kräftespiel dort zeigt, wo es um Bewusstwerdung und dessen Verhinderung geht.

Es ist anhand dessen zu sagen, dass Freud die Psychoanalyse durchaus als Psychologie des Unbewussten versteht, als eine Lehre des Psychischen unter Einbezug des Unbewussten, aber dass er insofern eine ambivalente Haltung der Psychologie gegenüber einnimmt, als er die Psychoanalyse sowohl gegenüber der Alltagspsychologie als auch der »Schulpsychologie« abgegrenzt sehen will. Die Psychoanalyse ist für Freud eine Psychologie wie es sonst keine Psychologie gibt. Dabei dürfte es, angesichts von Freuds wiederholter impliziter und expliziter Bemühungen, die Psychoanalyse und ihr Vorgehen wissenschaftlich zu legitimieren, einen Einfluss gehabt haben, dass in wissenschaftstheoretischen Entwürfen, die zu Freuds Zeiten etwa durch den Wiener Kreis ab 1907 gewissermaßen in der Luft lagen, die Psychologie eine Rolle im Entdeckungs-, nicht aber im Begründungszusammenhang inne hatte, als Intuition kam ihr die Hypothesenbildung zu, mehr aber nicht. Das mag neben Einflüssen Brückes oder Fechners eine Rolle dabei gespielt haben, dass Freud das Kräftespiel des Seelenlebens in quasi-physikalischem Duktus ausarbeitet und oft Figuren aus der Hydraulik o. ä. verwendet.

Und doch gibt er seiner Theorie den Namen Metapsychologie, als »Name[.]« für »meine hinter das Bewußtsein führende Psychologie« (Freud 1985, S. 329; offenbar eine Formulierung von Wilhelm Fließ aufgreifend). Die Metapsychologie enthält die theoretischen Annahmen der Psychoanalyse und beschreibt »einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen« (Freud 1915c, S. 281). Schmidt-Hellerau (2000, S. 450) meint, es stünden dabei, »[n]icht die psychischen Phänomene als solche und ihre Bedeutung für das Individuum […] zur Debatte, sondern die Konzeptualisierung ihres Zustandekommens mit Hilfe theoretischer Konstrukte«. Gill (1976, S. 962) rückt die Metapsychologie gerade von der Psychologie überhaupt ab und betont ihre Zusammensetzung aus einer »Reihe von biologischen und neurologischen Hypothesen«.

Ein anti-psychologischer Impetus der Psychoanalyse ist bei späteren Autoren deutlicher, am stärksten bei Lacan, für den »das Unbewußte der Psychologen […] verblödend auf das Denken« wirkt (1964a, S. 210). Hier geht es in erster Linie darum, dass das Interesse der Psychoanalyse sich nicht auf eine synthetische Einheit des Erlebens oder des Ichs richtet, sondern in analytischer Absicht auf dessen Zerlegung, das allerdings wiederum nicht in einem irgendwie atomistischen Sinn, sondern in Freilegung der Kräfteverhältnisse.

Hypnose bei Charcot

1885 reiste Freud nach Paris, um, so nahm er an, bei Charcot Hirnanatomie zu lernen. Er musste feststellen, dass dieser sich in anderen Gebieten betätigte, und war umso gefesselter von Charcots Überlegungen zur Behandlung der Hysterie. Unter Hypnose, so konnte Charcot zeigen, ließen sich hysterische Symptome hervorbringen und verschwinden lassen. Die Gedanken zur Therapie blieben in Paris aber nebensächlich, so dass Freud die Anregung aus Paris mitnahm, Hypnosebehandlungen bei hysterischen Patientinnen durchzuführen. In der Folgezeit führten ihn die Tätigkeit in seiner Praxis und der Austausch mit Breuer zur Untersuchung der Sexualität in der Ätiologie der Hysterie und anderer Neurosen. Der Weg dahin lief über die Hypnose, daran anschließend die sog. »Druck-Prozedur« (in der Freud seine Patientinnen nicht mehr hypnotisierte, aber ihnen, während sie auf der Couch lagen, auf die Stirn drückte, in der Annahme und unter der Empfehlung, was ihnen als nächstes einfalle, wäre die Bedeutung des Symptoms und der Weg zu dessen Aufgabe; vgl. Freud 1895d, S. 270ff.) und schließlich der »kathartischen Methode«, deren Grundannahme darin bestand, dass die Abfuhr eines »einklemmten« und von der Vorstellung abgetrennten Affekts die neurotischen Symptome zum Verschwinden bringen könne. Von diesen Modellen, die bei Charcot ihren Ursprung haben, behielt die Psychoanalyse das Couch-Setting bei, ebenso wie die Versuche, Erlebnisweisen jenseits des Bewussten einzubeziehen und schließlich den Gedanken einer spontanen, ungesteuerten und von den diskursiven Regeln der Alltagskommunikation (relativ) entlasteten Rede (s. u. zur freien Assoziation).

Freuds ambivalente Haltung zur Philosophie

Die Philosophie Brentanos ist nicht der einzige philosophische Einfluss gewesen, der auf Freud wirkte, aber einer der wenigen, die Freud anerkannte und nutzte. Wie oben geschildert, dürfte das mit der Stellung Brentanos zu Empirie, deskriptiver Psychologie und naturwissenschaftlicher Methode zu tun gehabt haben – ein Denkansatz, zu dem Freud die Psychologie des Unbewussten hinzufügen konnte. Dem stehen weitere philosophische Strömungen zur Seite, die sich dezidiert mit dem Unbewussten beschäftigten und vermutlich von Freud gekannt und gelesen wurden, aber sich als benennbare Einflüsse weniger anboten. Zu nennen sind in erster Linie Schopenhauer und Nietzsche (vgl. zu dieser »Traditionslinie« des Unbewussten besonders Gödde 2009).

Dass Freud diese Linien nicht stärker aufgriff, dürfte einmal mehr mit seinem Ansinnen zu tun gehabt haben, sich von »Spekulation« abzugrenzen. Das war nicht nur politisch nötig, um der Psychoanalyse Geltung zu verschaffen, sondern hatte auch mit Freuds Blick auf sich selbst zu tun. Gegenüber Ernest Jones bemerkte er etwa, in seinen »jungen Jahren« sei seine »Neigung zur Spekulation« so groß gewesen, dass er »ihr um keinen Preis nachgeben wollte« (durch das Lesen philosophischer Werke) (Jones 1960, S. 49). Allerdings scheint es, als wäre Freuds Wunsch, neben der Medizin noch Philosophie zu studieren, vor allem daran gescheitert, dass er nicht gleichzeitig für Zoologie und Philosophie eingeschrieben sein durfte (Gödde 2009, S. 95).

Es lassen sich psychoanalytische Deutungen der Philosophie, wie Freud sie sah, finden, etwa wenn er formuliert: »Man ist bereit zu verfolgen, welche Erfüllungen dieselben [der Wünsche; d. Verf.] sich in den Leistungen der Kunst, in den Systemen der Religion und der Philosophie geschaffen haben, aber man kann doch nicht übersehen, daß es unrechtmäßig und in hohem Grade unzweckmäßig wäre, die Übertragung dieser Ansprüche auf das Gebiet der Erkenntnis zuzulassen. Denn damit öffnet man die Wege, die ins Reich der Psychose, sei es der individuellen oder der Massenpsychose, führen« (1933a, S. 172).

Freud übergeht, dass die Beschäftigung mit dem Unbewussten, das ihn in Kontrast zur Psychologie seiner Zeit brachte, ihn gerade in die Nähe der Philosophie rückt (ausführlich Gödde 2009), wenn auch nicht die Brentanos. Was bei Brentano fehlt, ist der Trieb – und irgendetwas muss ein Brückesches Kräftespiel ja bestimmen – und zwar gerade an der Grenze zwischen Physiologie und Psychologie. Dem ging Freud nicht im Gefolge Nietzsches nach, wie es sich angeboten hätte, sondern in eigener Weise.

1.1.2     Psychoanalyse als Konflikttheorie

Im Folgenden geht es um die Darstellung einiger wichtiger theoretischer Konzepte der Psychoanalyse Freuds. Im Versuch einer Orientierung daran, was man am ehesten als Konsens in der Geschichte der Psychoanalyse verstehen könnte, wird die Darstellung etwas kohärenter klingen als es in den meisten der Freudschen Schriften der Fall ist, in denen oft ein Ringen mit Widersprüchen, Revisionen und ähnlichem zu finden ist.

Eine knappe Bemerkung ist ferner dazu zu machen, von welchem Verständnis eines Konzepts ich im Weiteren ausgehe. Meiner Auffassung nach geht es in den psychoanalytischen Konzepten (wie in allen anderen wissenschaftlichen Konzepten auch) darum, dass durch sie Erkenntnisse über Phänomene formulierbar werden sollen (allerdings in einem breit gefassten Verständnis von »Phänomen«, das auch psychische bzw. Erlebnis-Phänomene einschließt). Das heißt im Wesentlichen, dass ein Konzept nicht in der empirischen Realität aufgefunden werden kann: Auch in der psychoanalytischen klinischen Situation lässt sich nicht ein »strenges Über-Ich« oder eine »projektive Identifizierung« beobachten oder spüren. Vielmehr zeigen sich Phänomene, wie etwa, dass ein Analysand überaus selbstkritisch und selbstbestrafend mit sich umgeht und Schuldgefühle erlebt, oder auch, dass der Analytiker ein intensives, sich fremd anfühlendes Erleben bei sich spürt, von dem er den Eindruck hat, sein Analysand würde sich selbst davon freihalten wollen. Die Konzepte sind verwoben mit einer Methode, sich der Empirie (hier: der Erfahrungswelt) zuzuwenden, sie stehen in einem argumentativen Zusammenhang, sie lassen sich günstigenfalls operationalisieren und in dieser Form potenziell prüfen (mit »empirischen« Methoden im engeren Sinn). Freud hat, folgt man dieser Auffassung, daher auch nicht »die Verdrängung entdeckt« oder ähnliches, sondern Konzepte entwickelt und plausibel gemacht, mittels denen uns Phänomene wissenschaftlich zugänglich werden sollen.

Außerdem ist zu beachten, dass ich den Charakter der psychoanalytischen Theorie als einer Konflikttheorie ins Zentrum setze. Was es dabei mit Triebkonflikten, Wunsch-Verbots-Konflikten oder Konflikten zwischen den psychischen Instanzen auf sich hat, wird im Weiteren deutlich werden. Es ist zudem der Hinweis wichtig, dass eine Gegenüberstellung von »Konflikt oder Struktur«, wie sie im zeitgenössischen psychodynamischen Denken manchmal vorkommt, nicht derart missverstanden werden sollte, darunter klinisch trennscharf abgrenzbare Unterscheidungen zu verstehen. Auch im Rahmen der sog. »strukturellen Störungen«, z. B. der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung, lässt sich eine konfliktbezogene Sicht sinnvoll einbringen, etwa hinsichtlich eines Konflikts aus Nähewünschen und Näheängsten, zwischen Autonomie und Abhängigkeit oder zwischen verschiedenen Selbst- oder Objektrepräsentanzen; sie steht hier allerdings nicht derart im Zentrum wie bei denjenigen psychischen Störungen, die zu Freuds Zeiten als Neurosen bezeichnet wurden und auf die er seine konflikttheoretische Sicht gründet: Hysterie, Zwangsneurose, Phobie und neurotische Depression (image Kap. 7).

Infantile Psychosexualität und psychosexuelle Entwicklung

Die wesentliche Akzentsetzung Freuds, die ihn berühmt und berüchtigt machte, ist das Herausarbeiten des Stellenwerts der Sexualität – in erster Linie für die Ätiologie der Hysterie, aber darüber hinaus auch für die Neurose und schließlich für das Psychische des Menschen an sich (vgl. Storck 2018b). Dabei ist es durchaus zutreffend zu behaupten, in der Psychoanalyse drehe sich alles um Sex – aber nur dann, wenn man den spezifischen Charakter des psychoanalytischen Verständnisses von Sexualität in Betracht zieht. Bei Freud ist die infantile Psychosexualität entscheidend – was die ganze Sache nicht unbedingt weniger skandalös machte, ging es doch immerhin darum, sexuelle Regungen bei Kindern und Kleinkindern zu postulieren. Dabei ist nun zu beachten, dass im Freudschen Verständnis »Sexualität« als ein Geschehen zwischen bzw. unter Beteiligung von Lust und Unlust zu begreifen ist, er vollzieht eine »Erweiterung des Begriffes der Sexualität« (1905d, S. 32). »Sexuelle Wünsche« des Kindes bedeuten damit nicht (notwendigerweise) die Vorstellungen genitalen Geschlechtsverkehrs, sondern in allgemeiner Weise eine Auseinandersetzung damit, dass der eigene Körper – in Relation zu den Körpern anderer – erregbar ist: Dass Gestreichelt-Werden sich lustvoll anfühlt, macht es zu einem sexuellen Akt, aber eben in einem infantil-sexuellen Sinn, d. h. »prägenital«, mit anderen Quellen und Vollzügen als denen der Genitalität. Infantile Sexualität bedeutet bei Freud daher auch »polymorph-perverse« Sexualität (1905d, S. 91f.). Damit ist gemeint, dass sich die sexuellen Wünsche noch nicht unter dem sog. Genitalprimat vereinigt haben (einer etwas normativen Vorstellung davon, dass der genital-sexuelle Akt zwischen zwei gegengeschlechtlichen Partnern eine Art von Synthese partieller Luststrebungen darstellen soll), sondern erstens vielgestaltig und zweitens in dem Sinn »pervers« sind, dass sie jeweils partialtriebhafte Ziele verfolgen (s. u. zu Trieb und Partialtrieb). Eine Perversion im Sinne der Triebentwicklung (nicht als nosologische Kategorie) bedeutet psychoanalytisch die Ersetzung einer »Endlust« durch eine »Vorlust«: Pervers wäre also orale Befriedigung zwischen zwei Partnern aus Freuds Sicht deshalb, weil (bzw. dann, wenn) sie die volle Befriedigung des genitalen Geschlechtsverkehrs umgeht und eine Komponente auf dem Weg dahin als Endpunkt nimmt (vgl. Freud 1905d, S. 48f.).

Ein wichtiges Merkmal, das den konflikthaften Charakter der Freudschen Sexualitätstheorie deutlich werden lässt, besteht darin, dass in diesem Verständnis Lust und Erregung als Gegenspieler verstanden werden. Für Freud empfinden wir Lust bzw. Befriedigung beim »Absinken« eines Reizes, Unlust hingegen bei Steigerung eines Reizes (vgl. 1915c, S, 212f.). Das bedeutet, dass (sexuelle) Erregung als das Streben nach (Trieb-)Befriedigung zumindest ab einem gewissen Punkt als unlustvoll erlebt wird. Wir streben also nicht nach immer mehr Erregung (außer im Rahmen einer perversen Dynamik), sondern gerade nach (relativer) Entlastung davon. Da jedoch der Trieb als »konstante Kraft«, die permanent wirkt, verstanden wird, ist es mit der bloßen Entlastung von Triebspannung nicht getan.

Freud entwickelt eine Theorie der psychosexuellen Entwicklung (besonders in Freud 1905d). Hierin werden die Phasen des primären Narzissmus und die des Autoerotismus, sowie die orale, anale und phallisch-ödipale Phase gefasst, außerdem die sich an die Latenz anschließende genitale Sexualität. Es ist ein wiederkehrendes Missverständnis anzunehmen, dass diese Phasen gemäß einem biologischen Programm abliefen. Vielmehr sind es mit physischen und kognitiven Entwicklungen einhergehende Formen körperlicher Interaktionen mit den ersten Bezugspersonen, die bestimmte Themen aktuell werden lassen: der Stillvorgang bzw. anderweitige Nahrungsaufnahme samt Reizung von Lippen, Zunge und Mundschleimhäuten, das Erkunden der Welt mit dem Mund, das Erproben von Lauten in der oralen Phase, die Sauberkeitserziehung, Trotz, Abgrenzung in der analen Phase, das Erkennen des Geschlechtsunterschieds, das Erproben von Rivalität und das Anerkennen der Begrenzungen eigener Allmacht und Potenz in der phallisch-ödipalen.

Ferner ist diejenige infantile Sexualität, für die sich die Psychoanalyse interessiert, die Psycho-Sexualität. Das bedeutet, es geht um das Verhältnis zwischen Erregung und deren Erleben bzw. um die psychische Repräsentation von Lust und Unlust. Aus diesem Grund hat das Konzept der erogenen Zonen in der Freudschen Psychoanalyse eine prominente Bedeutung: Ohne Zweifel legt die menschliche Anatomie es nahe, an bestimmten Körperstellen intensivere Lustgefühle zu erleben als an anderen. Für die Sexualität im psychoanalytischen Sinn ist allerdings entscheidend, dass körperliche Berührung und die begleitenden Empfindungen das Psychische allererst aufrichten, indem nämlich eine Repräsentanz dessen gebildet wird, dass dies lustvoll ist und entsprechend gewünscht werden kann. »Erogene Zone« ist damit in dem Sinn ein psycho-somatisches Konzept, dass es sich auf die Repräsentation von Körperbereichen bezieht, an denen Lust erlebt werden kann.

Triebtheorie

Erleben