Cover

Titel

Bettina Brömme

Weißwurst für Elfen

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Ausgewählt von

Claudia Senghaas

 

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2011

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze/René Stein

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von © Irum / sxc.hu und

»rote pumps high heels« von © Kramografie / fotolia.de

ISBN 978-3-8392-3670-3

1. Hassen

Verbrauch: 987 Kalorien

Sie war schön. Wunderschön. So richtig wunderschön. Ich wusste sofort, ich würde sie hassen.

Meine Finger krampften sich um die Butterbrezel und ich bemerkte nicht, wie hunderte kleiner Salzkörnchen für immer zwischen den Ritzen meiner Computertastatur versanken.

Die Frau, von der ich mir wünschte, dass sie mir bis zum Ende meines Lebens vollkommen unbekannt geblieben wäre, sah angeekelt auf meine mit Butter verschmierten Hände.

Feierlich sagte nun Wim: »Natascha, darf ich dir deine neue Kollegin vorstellen: Das ist Elisabeth Kraska, sie arbeitet ab heute mit uns. Also, herzlich willkommen, Elisabeth!«

Die Brezel entglitt meiner Hand, während Wim diese Neuzeit-Aphrodite an den Schreibtisch geleitete, der meinem direkt gegenüberstand.

Ich würde sie nicht nur kennenlernen, ich würde sie den ganzen Tag anschauen müssen.

Mechanisch nahm ich das Kauen meines etwas verknitterten Laugengebäckstücks wieder auf, während ich fischstumm beobachtete, was weiter geschah.

Aphrodite setzte sich mit einer eleganten Bewegung auf den Bürostuhl und sah demütig zu Wim hinauf. Sie öffnete den Mund – vielleicht hatte sie die krächzende Stimme eines Raben? – und flötete engelsgleich: »Danke schön. Sagt doch bitte ›Li‹ zu mir. So nennen mich alle meine Freunde.«

Beinahe wäre mir die Butterbrezel wieder hoch gekommen. Ich hustete wild und fuchtelte mit den Armen, wobei ich den Kakao-Tetrapak neben meiner Computertastatur gefährlich zum Schwanken brachte. In letzter Sekunde erwischte ich ihn und begann, hektisch am Strohhalm zu ziehen. Wim schmunzelte.

»Natascha gehört hier quasi schon zum Inventar«, erklärte er Aphrodit-Li nun nonchalant. »Gell, Natascha?« Am liebsten hätte ich mit »Wuff« geantwortet, nickte aber nur und zog erneut am Strohhalm, was ein gurgelndes Schmatzen verursachte.

Wim ließ sich auf Lis Schreibtischkante nieder und sein Blick glitt so unverhohlen in ihr Dekolleté, dass ich rot anlief. Li dagegen blickte ihm sphinxhaft schweigend ins Gesicht. Wim räusperte sich.

»Also, wenn du Fragen hast – wende dich an Natascha, sie kennt den Laden und wird dir sicher gerne weiterhelfen. Oder, Natascha?«

Sein kurzer Blick zu mir hinüber war gemein. Hundsgemein. Dieses ganz leichte, schelmische Lächeln, das kleine feine Fältchen neben seine Mundwinkel zauberte, das markante Kinn noch markanter erscheinen ließ und die grauen Augen zum Leuchten brachte, sodass er wie ein Siebenjähriger aussah, der heimlich den Schokopudding aufgegessen hat und dem man so gerne eine Standpauke halten würde, es aber einfach nicht hin bekommt: dieser »Wim-macht-Natascha-schwach«-Blick. Montagmorgens war ich diesem Blick besonders hilflos ausgeliefert, weil ich ihn ja ein ganzes ödes Wochenende lang entbehrt hatte.

»Gut.« Wim stand vom Schreibtisch auf, tätschelte Lis Oberarm und nickte hoffnungsfroh. »Und du, Natascha, denkst daran, dass die Einladungen an die Bäcker-Bagage heute raus müssen.« Nun war es an mir, mein schönstes Lächeln aufzusetzen, an einer Haarlocke zu drehen und unbefangen zu erwidern: »Das ist bereits am Freitag passiert. Ich hab schon die ersten Zusagen.«

»Brav«, nickte Wim und nun wurde auch mir ein Oberarm-Tätscheln zuteil, das meinen Körper gleichzeitig zum Schaudern und Erhitzen anregte. Dann verließ er das Zimmer und ich war allein. Allein mit dieser Frau.

 

Die nächsten Minuten blieben wir beide stumm. Li sah sich interessiert in unserem Büro um, das mit seinen vielleicht 15 Quadratmetern nicht allzu viel zum Schauen hergab. Regalwände voller Ordner, ein Kühlschrank mit einer Kaffeemaschine darauf, ein paar Plakate von glanzvollen Events unserer Agentur. Das Schönste war vielleicht der Blick aus dem Fenster. Wir thronten im obersten Stockwerk eines Jahrhundertwende-Altbaus, der erst vor zwei Jahren komplett saniert worden war. Durch die bodentiefen Fenster erkannte man – wenn man sich die Nase an der Scheibe platt drückte – eine Ecke des Gärtnerplatzes. Man konnte aber auch sehr viel Himmel sehen, eine echte Rarität in der Münchner Innenstadt.

Während ich vorgab, dringende E-Mails beantworten zu müssen, beobachtete ich Li beim Beobachten. Sie war wirklich erstaunlich schön. Ihr längliches, schmales Gesicht wurde von feinen Wangenknochen gleichmäßig moduliert. Die großen, saphirblauen Augen, umrahmt von passendem Mascara und Kajal, leuchteten unter dunklen, aber nicht zu dominanten Augenbrauen. Die schmale Nase war griechischen Göttinnen abgeschaut und die Lippen waren voll, ohne künstlich aufgepumpt zu wirken. Ober- und Unterlippe bildeten in der Mitte eine ganz kleine Lücke, die ihr etwas kindliches geben würde, wäre es nicht so sexy. Ihr Gesicht strahlte eine absolute Ebenmäßigkeit und Harmonie aus. Allerdings auch viel Kühle. Arktische Kühle. Antarktische Kälte gar, wobei ich mir zugegebenermaßen unsicher war, ob es in der Antarktis noch kälter ist als in der Arktis. Jedenfalls verwunderte es mich, dass die Spitzen ihrer dunkelblonden Haare, etwas unterhalb des Kinns fedrig abgeschnitten, nicht zu Eiskristallen gefroren waren.

Dass sie groß und sehr, sehr schlank war – muss ich es noch erwähnen? Ihr Alter ließ sich nicht ganz einfach schätzen. Etwas älter als ich, vielleicht. Zweite Hälfte der 20er. Ende zweiter Hälfte, hoffentlich.

In dem figurbetonten, fliederfarbenen Hosenanzug mit den dezenten Nadelstreifen und dem vorsichtig hervorlugendem, beinahe durchsichtigem, weißen Top darunter, hätte Wim sie zu jeder Präsentation, zu jedem Abendevent und na ja – zu sich nach Hause mitnehmen können. Und sicher auch wollen. Ich bemerkte, wie mein Blick vom Beobachtungsmodus wieder in den Hass-Modus wechselte. Und wie sie mich nun anstarrte. Schnell griff ich nach meiner Tasche und …

 

… zog einen Marsriegel hervor. Einen Marsriegel!! Diese Frau tat den ganzen Vormittag nichts anderes als essen. Wie wollte sie einen Event organisieren, wenn sie ständig nur aß? Vielleicht war sie ja aber auch fürs Catering zuständig und testete immer und immerzu, ob die Qualität der Lieferanten (Bäckereien, Süßigkeitenhersteller, Milchmischgetränkemixer etc.) konstant blieb. So wie sie diesen Wim vorhin angehimmelt hatte, hatte sie sicher selbstlos ihren Körper zur Verfügung gestellt, um diese Aufgabe zu bewältigen. Eine musste es ja tun, warum nicht sie? Immerhin schien es ihren ureigensten Interessen sehr nahe zu kommen.

Während sie scheinbar geschäftig auf ihren Computerbildschirm starrte, musste ich mich von dem kleinen, gelblich-braunen Karamell-Fädchen losreißen, das zwischen ihrem Mundwinkel und dem hängenden Schweinebäckchen eingeklemmt war und mir Brechreiz verursachte. Ihre ganze Erscheinung war dermaßen … – mir fehlten die Worte! Mir! Grisselige Haare, leicht verfettet und strähnig, hingen über ihre Schultern, bis über ihre Ellenbogen und verschwanden irgendwo zwischen den Falten ihres Bauches. Die Farbe erinnerte an verschrumpelte Blutorangen und harmonierte aufs Widerwärtigste mit der senfgelben Klein-Mädchen-Haarspange, die knapp überm Ohr die Masse zurückhalten sollte. So konnte man leider ihr Gesicht besonders gut sehen. Der Begriff ›flächige Wangen‹ beschrieb die Ausmaße ihrer Backen nur unzureichend. Zwischen diesen teigigen Fladen versteckte sich eine winzige Nase, die man nur aufgrund des Knubbels an der Spitze und der großen Nasenlöcher wahrnahm, die leicht gen Himmel strebten. Darüber standen eng zusammen kleine, missgünstige Augen, verwaschen braun und matt. Weil sie ständig die Stirn in Falten zog, rutschten die Augen noch dichter aneinander, so dass sie beinahe wie ein Zyklop aussah. Irgendwo weiter unten, über einem weiteren dicken Knubbel, der wohl das obere der beiden Kinne darstellen sollte, saß ein spitzes, rundes Mündchen in blassem Rosa, mit dem sie in einem fort gleichmütig ihr Essen zermahlte. Sie musste alle hässlichen Gene ihrer Vorfahren von Jahrhunderten an sich gerissen haben! Glücklicherweise sah ich nur ihren dicken Kopf und ein senfgelbes T-Shirt, das ihren Hals unschön einklemmte. Der Blick auf den unteren Teil ihres Körpers blieb mir erspart. Vielleicht, hoffte ich, war sie mit ihrem Bürostuhl so verwachsen, dass sie immer und ewig dort säße. Eine Sekretärinnenpuppe, die mit Süßigkeitengaben künstlich am Leben erhalten wurde.

Was tat ich nur hier? Ich saß einer fetten Schlampe gegenüber, die sich einen Dreck um mich scherte. Sie fraß den ganzen Tag und war nicht in der Lage, mir irgendwie zu erklären, was meine Aufgabe in dieser Bude sein sollte. Zugegeben, der Blick aus dem Fenster war ganz hübsch, aber beileibe nicht tagfüllend. Ich sah – hoffentlich gelassen wirkend – auf meine Fingernägel. Dank aufwendiger Arbeiten am Vorabend schimmerten sie dezent mattgrau. Da entdeckte ich, dass sich die Farbe am kleinen, linken Finger schon wieder gelöst hatte. Mistzeug. Ob es stören würde, wenn ich diesen Makel ganz kurz ausbessern würde? Ich wüsste nicht wen. Die dicke Tippse interessierte sich sowieso nur für ihre Naschereien und ihren Computer, und sonst war hier ja niemand.

Aus meiner frisch auf eBay ersteigerten Jimmy-Hendrix-Bag kramte ich unauffällig meinen Nagellack hervor und ging ans Werk. Das – garantiert unmusikalische – Body-Double von Beth Ditto bekam solche Stielaugen, dass ihr schokoladenhaltiges Kakaogetränk nun endgültig umfiel, als sie sich unauffällig zu mir hinüber beugen wollte. Leider war es leer und ›wie war doch gleich wieder ihr Name?‹ warf das Päckchen in den Abfalleimer unter ihrem Schreibtisch.

Noch immer war kein Wort zwischen uns gewechselt worden. Dafür öffnete sich die Tür und Wim trat ins Zimmer, einen Stapel mit Mappen unter dem Arm. Erstaunt sah er zunächst auf das kleine grau-triefende Nagellackpinselchen in meiner Hand, dann auf – ja, ich musste sie ab heute so nennen – meine Kollegin.

»Och, Natascha«, maulte Wim. Mir wurde klar, warum ich mir ihren Namen einfach nicht hatte merken können. Natascha – das klang nach braunäugigem Reh. Die Namensträgerin dagegen sah eher nach braunäugiger, trächtiger Hirschkuh aus.

»Natascha, gib der Li doch ein bisschen was zu tun. Zeig ihr, wie dein Gästelistenmanagement funktioniert oder wie die üblichen Einladungskarten hergestellt werden. Hm?«

»Sie schien nicht daran interessiert«, konterte die Hirschkuh gar nicht mal unschlagfertig, und ich beschloss, einen Schmollmund zu ziehen.

»Du hattest auch mal deinen ersten Tag hier und warst froh, dass dich Annette unter ihre Fittiche genommen hat«, stauchte Wim sie zusammen. XL-Bambi murmelte etwas Unverständliches (vielleicht hatte sie schon wieder etwas im Mund?). Wim legte mir den Stapel Mappen vor.

»Hier, Li. Das sind Konzepte, Produktionshandbücher, Wordings und so Sachen unserer letzten Events. Lies dir das mal in Ruhe durch. Du bist ja Kommunikationsprofi. Heute Nachmittag stelle ich dich dann dem restlichen Team vor, okay?« Er zwinkerte jovial. Gerade noch rechtzeitig zog ich den Arm weg, bevor er ihn erneut tätscheln konnte.

Big Wim hielt sich für eine ganz heiße Nummer, das hatte ich sofort gemerkt. Sicher, er sah nicht schlecht aus. Groß, markantes Gesicht, graue Schläfen – aber irgendwie ein bisschen schäbig teddybärenhaft. Und ein Schwätzer war er obendrein.

Als mein Vater vor zwei Wochen angekommen war und erklärt hatte, er hätte jetzt ein Vorstellungsgespräch bei der Eventagentur wow für mich vereinbart, dachte ich, er mache einen Witz. Agentur – okay. Aber wow? Wie albern!

»wow« stehe für »we organize whatever« hatte mir Wim Otto Werner, der Inhaber der Agentur, ein paar Tage später erklärt. Und wie sehr er sich freuen würde, mich im Team begrüßen zu dürfen. Zu diesem Zeitpunkt wusste er gerade mal mein Alter, dass ich Kommunikationswissenschaften und Marketing studiert hatte und meine Promotion nicht so gelaufen war, wie sie hätte sollen. Offen gesagt, hatte ich sie nach eineinhalb Jahren Rumgequäle einfach abgebrochen.

Mein Aussehen schien ihm als Referenz zu genügen, was mich allerdings nicht weiter erstaunte. Ich hatte bisher jeden Job bekommen, den ich wollte. Okay, allzu viele hatte ich bisher nicht gewollt. Jos Großzügigkeit und gelegentliche Modeljobs hatten mich bisher vor den Niederungen der Arbeitswelt verschont. Aber mit 31 Jahren, so mein Vater, sollte ich doch mal auf eigenen Beinen stehen – lang genug seien sie ja, wie er gerne kalauerte. Ja, er hatte ja recht, den ganzen Tag mit Powerpilates, Thai-Boxen und Bhangra-Aerobic zu vertun, war auf Dauer nicht ausfüllend. Und nach Mann und Kindern stand mir nun auch nicht gerade der Sinn. Kinder? Die gehörten bei mir in die Kategorie ›uuhhhh‹. Sicher war es viel lustiger, große Abendveranstaltungen aufzumischen und Champagner kredenzt zu bekommen.

Ich schielte kurz auf die Uhr. Halb elf erst. Noch zu früh für mein mittägliches Mango-Lassi. So schnappte ich mir geschäftig die Produktionshandbücher und war froh, mich von den mahlenden Unterkieferbewegungen meiner Kollegin ablenken zu können, die schon wieder an irgendeinem Dreck knabberte.

Erneut vergingen quälend lange Minuten der Stille, bis ich vor Schreck zusammenzuckte. Dabei war es nur das Telefon, das klingelte. Die Dicke warf ihre hüftlange Lockenpracht nach hinten und hob ab: »Agentur wow, Teamassistenz. Natascha Döpke, grüß Gott. Was kann ich für Sie tun?« ›Döpke‹ – wie passend! Ich grinste ihr frech ins Gesicht und sie warf mir prompt …

 

… einen bösen Blick zu. Konnte ich was dafür, dass meine niedersächsische Mutter für romantische russische Literatur geschwärmt hatte, als sie mit mir schwanger war?

Ich versuchte, dem Anrufer – trotz des Bananenstückchens in meiner linken Wangentasche – deutlich zu antworten. Nur mit Deutlichkeit wurde man diese Art Anrufer nämlich wieder los.

Er: »Hi, meine Name ist Arthur Mändler, ich bin Schauspieler und wollte mal fragen …«

Ich: »Hi, Arthur, danke für Ihren Anruf. Wenn Sie sich bewerben wollen, schicken Sie uns doch mal unverbindlich Ihre Setkarte, eine DVD und so Sachen.«

Er: »Ja, hm, gerne, das mit der DVD ist grad ein bisschen schwierig, mein Gerät, das ist, äh, kann ich nicht lieber mal vorbei kommen? Das ist doch auch für Sie ein ganz anderer Eindruck, wenn ich so in echt …«

Ich: »Ja, schon, klar. Aber wissen Sie, wir müssen leider auf eine DVD bestehen.«

Er: »Schon klar, klar. Weiß ich alles. Aber, verstehen Sie …«

Und so geht das dann endlos und der ach so tolle Schauspieler meint, wir haben den lieben langen Tag nur darauf gewartet, dass er sich bei uns vorstellt, um als großer Moderator oder Entertainer in die Analen der Eventgeschichte einzugehen. Klingt die Stimme nett, mache ich ihm gleich klar, dass es verlorene Liebesmüh ist, unsere knackevolle Kartei noch mehr zu strapazieren. Klingt er grausam, ermuntere ich ihn, einfach mal die Setkarte zu schicken, um zu sehen, was für ein Schnulli hinter dieser Stimme steckt. Man braucht ja auch mal ein bisschen Freude im Alltag.

Es ist nicht so, dass mir mein Job keinen Spaß macht. Er macht schon Spaß. Auch nach beinahe drei Jahren noch. Die Stimmung in der Agentur ist meist ganz gut, außer wenn wir kurz vor einem Hyper-Event stehen, dann liegen alle Nerven blank. Das ist etwa ein Mal im Monat so. Und während die Herren und Damen Senior Project Manager eine kreative Idee nach der anderen in ihre Konzepte knallen, darf die Teamassistentin für die Umsetzung geradestehen. Telefonieren, E-Mails schreiben, recherchieren, kopieren, den Zeitplan im Visier behalten und überall einspringen, wo’s gerade brennt. Und dafür hatte ich meinen Bachelor in Eventmanagement gemacht. Was hatte ich mich auf einen abwechslungsreichen Job gefreut. Na ja, inzwischen hatte ich erkannt, dass mein Büroschreibtisch immer derselbe war. Ob ich nun abhakte, ob der Vorstandsvorsitzende von BMW zum Incentive kommt, oder – wie aktuell – Bäckermeister Knust die Jahrestagung der Bäckerinnung wahrnimmt – das gab sich nicht viel.

Die Kollegen dagegen fahren oft mit raus, vor Ort. Zu Sportturnieren und Incentives mit Bergwanderung oder Paragliding (worum ich sie ehrlich gesagt nicht allzu sehr beneide), zu Seminaren, Präsentationen und Galadinners (um die ich sie schon deutlicher beneide).

Aber wer weiß, vielleicht könnte ich in Zukunft ja meiner neuen Kollegin die eine oder andere Fleißarbeit übertragen. Sie musste ja noch lernen. Vielleicht beging sie weitere Nagellack-Fauxpas und würde erst richtig beweisen müssen, dass sie etwas anderes konnte, als hübsch aus der Wäsche zu gucken.

»Als was bist du denn eingestellt worden?«, richtete ich nun das erste Mal direkt das Wort an sie. Sie sah erschrocken vom siebten Produktionshandbuch hoch, in das sie vertieft war.

»Als Praktikantin?«

Ihr Lächeln enthüllte eine selbstverständlich tadellose Reihe weißer Zähne. »Na, Wim sagte, wenn es gut mit uns hier klappt, könnte ich als Junior Project Managerin einsteigen.« Nicht blass werden, dachte ich. Unterkiefer oben halten. Ich schob mir ein grünes Haribo-Ungeheuer in den Mund und tat so, als erinnerte ich mich wieder.

»Ach, stimmt, der neue Praktikant soll ja erst Mitte des Monats anfangen«, tat ich gelassen und wandte mich wieder meinem Bildschirm zu.

2. Mango-Lassi

44 Kalorien

»Will jemand mit zum Essen?«, rief Susan Meyer, die wie immer ohne zu klopfen die Tür aufriss. »Wir wollten mal wieder ins Zappeforster.« Ich schüttelte den Kopf und wies auf Li.

»Aber unsere neue Kollegin geht sicher gerne mit«, beeilte ich mich zu sagen. Eine Stunde ohne sie – was für eine Aussicht! Doch Li zierte sich, natürlich.

»Ach, danke. Ich bin nicht so die Mittagesserin.«

Natürlich nicht.

»Da kann man auch nur was trinken.«

»Ich hab was dabei. Beim nächsten Mal. Danke.«

»Dich muss ich ja eh nicht fragen, Natascha«, schmunzelte Susan und schloss die Tür wieder.

Ich muss das erklären. Ich esse nicht so gerne Hauptmahlzeiten, wenn mir Menschen dabei zusehen. Ich komme mir dabei so nackt vor. Als würden alle bei jedem Bissen, den ich mir in den Mund schiebe, sagen: »Reicht das nicht? Du hast doch schon genug! Schau dich doch an.« Genau das will ich aber nicht, mich ansehen. Ich will essen und in Ruhe gelassen werden. Beziehungsweise, eigentlich will ich überhaupt nicht essen. Aber weil das ja nicht so geht wie mit dem Rauchen – aufhören und sich nie wieder damit beschäftigen –, muss ich essen. Ich will mich ja nicht zu Tode hungern. Ach, das Essen und ich – das ist eine komplizierte Beziehung. Am besten hat es funktioniert, als ich noch klein war. Da konnte ich futtern, was ich wollte, und alle sagten, süß, die Kleine mit ihrem Babyspeck. Als ich aber in die Pubertät kam und mein Bruder sagte, normalerweise bekämen Mädchen ab 12, 13 Brüste und keine Doppelkinne, war mein Verhältnis zum Essen erstmalig gestört. Meine Mutter – auch nicht gerade eine zierliche Elfe – schleppte sofort die Brigitte-Diät an und ich wurde im Kalorienzählen angelernt. Daheim beim Essen zählte ich also, wie wahnsinnig wenig Paprika-Kalorien und Salat-Kalorien und Hühnchen-Kalorien ich doch so zu mir nahm, aber kaum war meine Zimmertür zu, hörte ich auf mit dem Zählen und begann zu essen. Richtig zu essen. Da ich in meinem Zimmer schlecht kochen konnte, fiel die Auswahl etwas einseitig aus: Süßigkeiten und Knabbereien brachten mich durch die Schule und jenseits der 70-Kilo-Grenze. Vielleicht stammt aus dieser Zeit mein Bedürfnis, heimlich und unbeobachtet zu essen.

Jedenfalls zog ich es vor, über Mittag allein in der Agentur zu bleiben. Ich begründete es meist damit, dass ich für alle das Telefon übernehmen könne. Die Kollegen dachten nicht weiter darüber nach und überließen mich meinem Schicksal.

Ich liebte diese eine, kurze Stunde allein in der Agentur. Die Telefone ließ ich klingeln, stattdessen schob ich mir ein leckeres Fertigmenü in die Mikrowelle. Ich brauchte mittags einfach etwas Warmes, nichts Aufwendiges, eine Lasagne, ein Fischfilet in Kräuterrahmsoße, ein asiatisches Reisgericht mit Kokosmilch. Und einen Nachtisch. Den besorgte ich mir meist wochenweise und hortete ihn in meinem Schreibtisch: Kleinigkeiten, einen Schokoriegel, ein paar Prinzenrollen-Kekse oder – mein Favorit – eine Tüte mit Malteser-Kugeln. Ohhh! Erst waren sie so schön schokoladig süß, dann krachten sie zart-verführerisch, wenn man in sie hineinbiss. Gerne saß ich dabei in der Sonne auf unserer kleinen Dachterrasse, die durch den Umbau vor zwei Jahren entstanden war. Kein Mensch sah einen, man selbst hörte aber die halbe Stadt. Kinder, die auf der Straße lärmten, gelegentlich Musikproben aus dem benachbarten Gärtnerplatztheater, Männer, die Politessen anschrien, der ganze großstädtische Geräuschekanon eben.

Die Dachterrasse war in den letzten zwei Jahren für jeden von uns eine Art Fluchtpunkt geworden. Wo man einfach Mensch sein konnte. Ich saß hier zu meinen einsamen, genussvollen Mittagessen. Wim führte Kunden bei überhitzten Vertragsdiskussionen zum Abkühlen und für »Unter-vier-Männeraugen«-Gespräche hierher. Jan und Karin heckten die besten Ideen für besonders schwierige Events unter diesem Stück des Münchner Himmels aus. Tracy und Reinhard dagegen stritten dort lautstark, wenn sie mal wieder meinte, er würde planlos das Budget überziehen oder er ihre Akkuratesse als Kreativitätskiller verschrie.

Und nun sollte ich diesen Claudia-Schiffer-Verschnitt dorthin zum Mittagessen mitnehmen? Sie zusehen lassen, was und wie ich aß? Nachher wollte sie auch noch etwas abhaben! Nie und nimmer! Ich würde Erledigungen vorschieben, ganz einfach. Mir in der Nähe des Viktualienmarktes, der ja nur einen Steinwurf entfernt lag, ein leckeres Sub-Sandwich mit Thunfischcreme holen und dazu einen gesunden, frisch gepressten Saft.

»Natascha, bist du so gut …« Wims edles Profil erschien in der Tür und ein schalkhaftes Lächeln ließ meine Knie weich werden. »Sei so lieb, du meine Beste, kümmer dich um unsere Li, damit sie nicht ganz alleine hier sitzen bleiben muss. Vielleicht könnt ihr euch ja zusammen den Kopierer vorknöpfen, der zickt schon wieder.« Er winkte lässig und zog mit den anderen Damen und Herren gen Zappeforster davon.

»Du brauchst dich nicht um mich zu kümmern«, sagte nun die kühle Blonde. »Ich muss eh noch ein paar Erledigungen machen. Sag mal, wie lange hockt ihr denn abends hier immer so?« Hm, gute Frage. Ich lächelte vermeintlich gutmütig.

»Na ja, heute wird’s wohl ein normaler Tag, also so bis sieben, halb acht. Gegen Ende der Woche wird es natürlich immer hektischer. Gerade Galas finden ja gerne mal am Freitagabend statt. Gelegentlich musst du dir auch mal ein Wochenende frei halten, für eine Sportveranstaltung oder so. Mit Minimum 50 Stunden pro Woche musst du schon rechnen, aber das war dir sicher klar, oder?«

Die Schöne zog wieder ihr Schnütchen, bestaunte den reparierten Fingernagel und tat, als sei dies alles kein Problem.

»Weißt du«, warum sah sie mich eigentlich nicht an, wenn sie mit mir sprach – oder sprach sie vielleicht zu ihrem Fingernagel? »Lange Tage finde ich völlig okay. Bei meinem letzten Job hatten wir manchmal zwei Shootings an einem Tag – gleich morgens bei Sonnenaufgang, da kommt der Teint besonders gut, und für die Bademodenkollektion haben wir den Hotelpool genutzt und eine abendliche Poolparty gestellt. Da fragt auch keiner, wie lange man schon auf den Beinen ist …«

»Warst du da als … wie sagt man, warst du fürs Make-up zuständig? Weil du dich so gut mit Nagellack auskennst.« Ich lächelte scheinheilig. Sie zuckte nicht einmal.

»Nein, nein. Ich war das Model. Schon mal gehört? Eine von denen, die fotografiert werden. Egal, ich wollte nur wissen, wann ich hier raus komme, damit ich mein Training darauf einstellen kann.«

Ich hätte nicht gedacht, dass sie tatsächlich so lange an einem Stück reden konnte. Und dabei so viel Information weitergab, die ich garantiert nicht gewollt hatte.

»Schön«, sagte ich, stand auf und ging in Richtung Zimmertür, wobei mir leider mein Mülleimer in die Quere kam. Quer segelte er durch den Raum …

 

… und eine Lawine von leer gegessenen Tüten, Bananenschalen und Kakaotetrapaks begrub das Parkett unter sich. Ich zwängte mich an dieser Mensch gewordenen Dampfwalze vorbei und eilte an die frische Luft. Sollte sie doch allein in ihrem Chaos ersticken.

Glücklicherweise befand sich gleich um die Ecke das »Slips«, eine meiner Lieblingsboutiquen. Dort konnte ich mich für diesen grauenhaften Morgen sicher ein wenig entschädigen. Nicht, dass ich wirklich etwas gebraucht hätte, aber warum nicht mal nach diesem Sugar Body Polish schauen, von dem diese Jasmin, oder wie sie hieß, neulich in der Umkleidekabine so geschwärmt hatte. An den Ellenbogen fühlte sich meine Haut unangenehm rau an. Ich musste dringend etwas tun. Zuerst zog ich jedoch mein Mango-Lassi aus meiner Bag. So warm, wie es inzwischen geworden war, warf ich es aber nach zwei Schlucken weg. Pah, ekelhaft süß das Zeug, wenn es nicht eiskalt war. Egal, für heute Abend hatte mich mein Vater zum Essen eingeladen, und da musste ich etwas bestellen, auch wenn ich nicht den geringsten Appetit haben würde.

Ich spazierte also zu »Slips«, schnupperte am Sugar Body Polish, blieb dann aber an einem entzückenden Schlüsselring aus echtem Silber hängen. An dem baumelte ein etwas schwerfällig wirkendes Herz, das die Handwerkskunst irgendwie besonders authentisch hervortreten ließ. Ich kaufte es kurz entschlossen und trat wieder auf den sonnigen Platz. Nebenan holte ich mir in der San Francisco Coffee Company einen Espresso und ein Wasser und setzte mich. Während ich beinahe schon wieder meine Fingernägel ruinierte bei dem Versuch, meine neueste Errungenschaft an meinem Schlüsselbund zu befestigen, hauchte mir eine tiefe Stimme ins Ohr: »Na, schöne Frau, so ganz allein?«

»Nein, mein Espresso unterhält mich prächtig, danke«, fauchte ich. Trotzdem kam der Mund, der zu der Stimme gehörte, immer näher. Leicht spröde Lippen drückten sich auf meine Wange.

»Franz«, rief ich aus. »Lass das, ich kann es nicht leiden, wenn du dich so von hinten anschleichst!«

»Nicht?«, fragte er aufreizend, ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen und die Beine über eine der Armlehnen baumeln. »Wieso bist du um diese Uhrzeit nicht in deinem Fitnessstudio?«

Ich verdrehte die Augen und erzählte ihm von dem Gefängnis, in dem ich seit heute Morgen eingesperrt war, bewacht von einer drei Zentner schweren Zerbera mit Wallelocken und Schweinchennase. Franz’ Mitleid war schlecht gespielt. Er sah es glücklicherweise schnell ein und ruckelte stattdessen näher an mich heran.

»Wann sehen wir uns denn mal wieder?«, zischelte er und stellte die Füße zurück auf den Boden.

»Na, ich seh dich gerade ganz gut«, erwiderte ich schmunzelnd. Er rieb seine Stirn an meinem Oberarm.

»Du weißt, was ich meine.« Sein Gesichtsausdruck bekam etwas hündisches. Irgendwo zwischen Welpe und Rottweiler.

»Ach, Franzl.«

»Ach, Li.«

Ich wiegte den Kopf und sah weit hinaus über den Gärtnerplatz bis ans andere Ende der Stadt. Ich würde ihm sagen müssen, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Im Bett. Außerhalb hatten wir eh nie viel miteinander zu tun gehabt. Ich hätte nie gedacht, dass gerade er so anhänglich sein würde.

»Schau mal, das wird doch eh nix mit uns«, versuchte ich es.

»Was soll denn auch werden?«, fragte er leicht unwirsch. »Ich will dich doch nur ein klein wenig mit meiner überbordenden Zärtlichkeit verwöhnen. Da kannst du doch nichts dagegen haben. Oder suchst du plötzlich einen Prinzen, der dir hundert Kinder macht?« Ich schüttelte lachend den Kopf.

»Findest du es nicht ein wenig langweilig, wenn man sich immer nur für das eine trifft?«

Jetzt schüttelte er den Kopf und seine entzückenden Kräusellöckchen schüttelten sich mit. Ich vergrub meine Finger darin. Er packte meinen Unterarm und zog mich dicht an sich heran. Er roch ein kleines bisschen nach Schweiß. Was ich seltsamerweise sehr mochte.

»Heute Abend habe ich keine Zeit, muss mit dem Alten essen gehen«, sagte ich. Mir war klar, dass ich schon verloren hatte.

»Dann morgen«, grinste er und ich spürte das Kitzeln meiner Haarspitzen am Kinn, als ich nickte. Er hauchte einen Abschiedskuss auf meine Stirn und trollte sich.

Franz Greitner. Ein Name, der längst nicht so sexy klang, wie sein Träger tatsächlich war. Ich kannte ihn seit ein paar Jahren, irgendwas zwischen zwei und vier, so genau wusste ich das schon gar nicht mehr. Am Anfang hatte ich gedacht, es könnte was Ernstes werden zwischen uns. Wie so oft blieb es bei der Bettgeschichte. Körperlich verstanden wir uns prächtig. Als Mensch war er mir fremd. Mit seinen kurzen braunen Haaren und den großen ebenso braunen Augen entsprach er schon meinem Beuteschema. Er war kaum älter als ich. Die scharfen Längsfalten neben seinen Mundwinkeln gaben ihm etwas Dominant-männliches und es machte mir großen Spaß zu sehen, wie er in meinem Bett dankbar für jede Zärtlichkeit war, die ich ihm gnädig zuteilwerden ließ. Da war alles Machohafte gewichen.

Im restlichen Leben war er mir zu großtuerisch. Er wirkte so überzeugt von sich, er war so mit sich selbst beschäftigt, dass ich nicht glaubte, dass er sich für mich – oder jede andere – ernsthaft interessieren konnte. Aber immerhin war er unterhaltsam und ein guter Liebhaber. Und das war ja auch schon eine Menge. Dieses Pärchen-Getue ging mir eh auf den Zeiger. Ständig musste man sich abstimmen, ständig Rücksicht nehmen. Etwa begründen, warum man lieber allein zum Sport ging, als einen lahmarschigen Bummel durch den hoffnungslos überfüllten Englischen Garten zu machen.

»Darf ich die neue Frau Kollegin mit zurück ins Büro nehmen?«, riss mich eine ältliche, schon recht grauhaarige Frau mit rosa Hamsterbäckchen aus meinen Überlegungen. »Wim hat es nicht gern, wenn wir die Pause zu lange ausdehnen.« Ein wenig wie ertappt stand ich auf und folgte ihr in Richtung Büro.

»Ich bin Annette Bleibtreu«, erklärte sie. »Wenn’s ums Geld geht – bei mir bist du richtig.«

»Druckst du es selbst oder überfällst du Banken?«, fragte ich. Annette grinste.

»Wenn du brav bist und gut schweigen kannst, überweis’ ich sogar was auf dein Konto.«

Na, anscheinend gab es auch ein paar ganz patente Menschen in der Agentur. Jetzt war ich auf die restlichen neuen Kollegen doch gespannt.

 

Wims »Montags-Meeting« bot mir reichlich Gelegenheit, die Leute, mit denen ich nun den Großteil meiner Tage verbringen sollte, näher in Augenschein zu nehmen. Nachdem er alle mit einem Glas Prosecco auf eine gute Zusammenarbeit mit der neuen Kollegin hatte anstoßen lassen, ging es an die Wochenplanung. Die Senior Projekt Manager referierten den Stand der Dinge, was die Events betraf, die sie gerade betreuten.

Zunächst erklärte ein Reinhard Gienger völlig humorfrei den Ablauf der Jahrestagung der Bäckerinnung am kommenden Freitag. Emotionslos ratterte er die einzelnen Punkte der Veranstaltung herunter: Empfang mit Aperitif, Eröffnungsrede durch den Landesinnungsmeister, diverse Referenten, Durchführung der Wahlen, Abendessen, Showakt mit Balletteinlage und gemeinsames Verzieren einer Riesentorte zur Steigerung des Zusammengehörigkeitsgefühls, anschließendes Versteigern der Tortenstücke für einen guten Zweck (Kinder!) und Ausklang mit Feuerwerk. Klang ja spannend.

Ob ich vorschlagen sollte, dass man einen Streit zwischen Innungsvorstand und einfachen Mitgliedern provozieren sollte? Dann könnten sich alle bei einer zünftigen Tortenschlacht wieder versöhnen. So würde eine solche Veranstaltung sicher Jahrzehnte im Gedächtnis bleiben. Ich entschied mich für weiteres stilles Zuhören und interessiertes in die Runde Blicken. Annette verdrehte die Augen während Reinhards Vortrag und tuschelte abwechselnd mit einer etwas spießig wirkenden Karin auf der einen Seite und mit Miss Piggy auf der anderen. Die war wohl fürs Protokoll zuständig, denn sie kritzelte eifrig etwas auf ihren Block. Gelegentlich legte sie pikiert den Zeigefinger vor den Mund, um die Buchhalterin neben sich zum Schweigen zu bringen. Sicher war sie in der Schule vor allem durch ihre fiese Figur und das Strebertum aufgefallen. Sie hatte garantiert zu diesen Spaßbremsen gehört, die durch die ganze Klasse »pscht« zischten, wenn ein Klassenclown den langweiligen Unterricht störte. Bestimmt hatte man sie oft gequält und ihr ihre Süßigkeiten weggenommen. Vielleicht hatte sie aber auch als dralle Elfjährige ihre sprießenden Brustknospen gegen eine Tafel Schokolade den Jungs aus der Parallelklasse gezeigt, die sie dann im Konfirmationsunterricht Jahre später damit lächerlich gemacht hatten.

Ich stieg wieder ein, als Susan Meyer, die mich vorhin zum Mittagessen hatte mitnehmen wollen, die Menüfolge für die Bäcker erläuterte. Sie schwelgte in Sößchen an irgendwelchen Gemüschen und Spanferkelchen vom offenen Grillfeuerchen mit Dauphin-Kartöffelchen. Ich hatte den lebhaften Tagtraum, Natascha würde gleich geifernd und sabbernd ihr Protokollblättchen von sich werfen, vor ihr in die Knie gehen und um Essen betteln. Stattdessen schob sie vermeintlich unauffällig ein Schokobonbon in den Mund, schrieb brav mit und …

 

… träumte vom Abendessen, während sich Tracy und Reinhard gerade mal wieder in die Haare bekamen, ob es moralisch und vom Budget her zu vertreten sei, Reste der Riesentorte wegzuwerfen, falls nicht alle Stücke versteigert werden sollten. Reinhard meinte salopp: »Weg mit dem Plunder«, Tracy konterte: »… aber dann bekommst du die Reste auf den Schreibtisch gekippt« und plötzlich hörte man den ersten Beitrag von Li. Ich glaubte, nicht recht verstanden zu haben. Nicht nur, weil sie so leise sprach: »… vielleicht sind die Reste bei Natascha besser aufgehoben?«

Kurzes betretenes Schweigen. Ich spürte, wie mein Kopf rot anlief. Hochrot. Flammend rot. Sag was, dachte ich und konnte nur empört japsen.

Reinhard dagegen ließ seinen Bass vernehmen. Er lachte die ganze Tonleiter rauf und runter. Susan fiel ein. Dann sogar Tracy. Wim hob die Hände wie ein Dirigent, der den letzten Schlussakkord ankündigt.

»Mal wieder ernst«, befahl er. Ich dankte ihm still mit einem ergebenen Blick und fixierte dann wieder mein Protokoll vor mir.

»Da wird schon nichts übrig bleiben, die Bäcker wollen schließlich nicht als Geizkrägen dastehen«, beendete er die Diskussion. »Nächster Punkt. Karin, wie sieht es denn mit eurem Konzept für das Bergincentive in drei Wochen für Jaspers aus?«

So ging es noch eineinhalb Stunden und rasch hatte ich sechs Seiten Protokoll zusammengeschrieben. Als sich das Meeting auflöste, huschte ich in mein Büro, das nun unser Büro war – das von mir und der Pest. Ich hackte wie verrückt auf meiner Computertastatur rum und sprach – wenn jemand anrief – betont fröhlich in den Hörer. Die Pest mir gegenüber würdigte ich keines Blickes. Von mir sollte die etwas lernen? Hassen – das konnte sie von mir lernen!

3. Auto fahren

Verbrauch: 23 Kalorien

Als endlich der Feierabend eingeläutet wurde – ich durfte immer erst gehen, wenn mir Wim persönlich erklärte, es gäbe für seine Lieblingsteamassistentin (Wirklich! So nannte er mich! Nur mich!) für heute nichts mehr zu tun –, brauste ich mit der angestauten Wut des Tages in meinem mellow yellow Mini-Cooper aus der Tiefgarage heraus. Immerhin hatte ich Glück: Die Einfahrt war heute nicht zugeparkt (was sie an drei von fünf Werktagen war). Stattdessen krachte ich beinahe in ein neonorangefarbenes Rennrad, das gerade die Ausfahrt querte. Vor Schreck drückte ich auch noch auf die Hupe, woraufhin mir die Fahrradfahrerin den ausgestreckten Mittelfinger zeigte. Unter dem windschnittigen schneeweißen Fahrradhelm hatte ich sie beinahe nicht erkannt. Mist! So leicht hätte ich die Pest aus der Welt schaffen können, und diese schöne Chance war nun auf immer vertan. Nur wegen meiner verdammten Zurückhaltung, Menschlichkeit und ein paar Sekunden, die ich zu früh gebremst hatte. Dabei wusste ich doch, dass Fahrradfahrer das personifizierte Böse waren. Nicht nur, weil sie grundsätzlich bei Rot vor einem über die Kreuzung huschten, sich in Einbahnstraßen entgegen der Fahrtrichtung an einem vorbei drängten, weil sie neben dem Fahrradweg auf der Straße fuhren und zwar so, dass man sie nicht überholen konnte – nein, vor allem weil jeder ihrer kraftvollen Pedaltritte ein Tritt in meinen dicken Hintern war: »Fau-le-Sau-fau-le-Sau-fau-le-Sau« schien ihr rhythmisches Treten mir sagen zu wollen. Ich wunderte mich keineswegs, dass die Pest zur Rasse der Fahrradfahrer gehörte. Umso mehr wunderte ich mich, wie sie ihren Hosenanzug unzerknittert und ihre Achselhöhlen schweißfrei ins Büro gebracht hatte. Vielleicht war der Hosenanzug aus bügelfreiem Material und sie selbst eine ebenso schweiß- wie charakterlose Schaufensterpuppe.

Ich fuhr durch die Klenzestraße in Richtung Fraunhofer, um dann an der Isar entlang Richtung Passauer Autobahn endlich meiner Wohnung näher zu kommen. Kurz nachdem ich bei der Agentur angefangen hatte, war ich aus der WG mit Christine ausgezogen und von der Au in die Messestadt Riem gezogen. Der Weg zur Arbeit war damit zwar drastisch länger, aber dort konnte ich mir wenigstens eine etwas größere Zweizimmerwohnung für mich ganz alleine leisten und hatte für meinen Mini-Schnuckel – ein Geschenk meiner Großmutter zum Studienabschluss – einen Tiefgaragenstellplatz.

Trotz gewisser Vorbehalte, die ich gehabt hatte, in die Vorstadt zu ziehen, muss ich sagen, dass ich mich dort ganz wohl fühlte. Es war ein wenig anonym und niemand beobachtete, was ich tat und vor allem was nicht – zum Beispiel sonntags morgens um halb neun im kurzen Hemdchen die Isar entlang joggen. Der Park zwei Querstraßen weiter lud zu gemächlichen Spaziergängen ein, den See hatte man mit wenigen Zügen durchschwommen und an seinem Strand wurde kein Model-Contest abgehalten, wie am Eisbach oder in den Isarauen. Familien und Rentner wohnten hier, Migranten und Akademiker und sogar so ein paar Singles wie ich. Außerdem hatte ich Maja dort kennengelernt – eine echte Freundin und gleichzeitig meine Nachbarin, alleinerziehende Mutter von Klein-Natalie. Manchmal hatte ich zwar ein ganz klein wenig den Eindruck, Maja schätzte meine Freundschaft vor allem deshalb, weil ich mich immer wieder breitschlagen ließ, auf Klein-Natalie aufzupassen. Aber ich musste sie doch irgendwie unterstützen, wenn sie sich mal wieder hoffnungsfroh mit einem Kandidaten für ihr persönliches Casting »Maja sucht den Super-Papi« treffen wollte. Und dass sie gelegentlich sonntagmorgens um kurz nach sieben Natalie zu mir schickte, weil sie wenigstens einmal – einmal in der Woche – ausschlafen wollte, wer konnte ihr das verübeln? Außerdem war Natalie ja auch ein süßer Fratz und es störte mich nicht einmal, dass sie bei unseren gemeinsamen Frühstücken im Bett meine weiße Satin-Bettwäsche mit Nutella verschmierte. Ihr Geschrei, wenn sie ihr Nutella-Brot nicht im Bett hätte essen dürfen, hätte nur sämtliche Nachbarn geweckt und deren Gemecker wäre sicher noch viel unangenehmer geworden.

Während ich im abendlichen Stau parallel zur Isar in Richtung Ludwigsbrücke schlich, das Fenster weit runtergekurbelt, eine CD mit Musik von Burt Bacharach laut gedreht, bemerkte ich im Rückspiegel, wie der smarte Herr im Wagen hinter mir zu mir nach vorne grinste. Erst dachte ich, er würde vielleicht telefonieren und über einen Witz seines Gesprächspartners lachen. Aber nein – kein Handy oder Headset zu entdecken. Ich wusste, er konnte nur meine Augen und meine Haare sehen und ich stellte den Spiegel ein wenig schief, damit er erkennen könnte, dass ich zurücklächelte. Nun winkte er sogar lässig mit den Fingern, die über das Lenkrad lugten. Die Ampel schaltete auf Grün und ich kam endlich wieder ein Stück vorwärts. Mit einem halsbrecherischen Manöver zwang sich mein Hintermann auf die linke Fahrspur und holte auf, bis er auf meiner Höhe war. Vorsichtshalber nahm ich den im Fensterrahmen abgestützten Arm herunter – nicht, dass er als Erstes schwabbelndes Fleisch sah. An der Kreuzung musste ich rechts abbiegen und ich fuhr so langsam, dass die Ampel prompt auf Rot schaltete. Kaum waren wir zum Stehen gekommen, wagte ich den Blick nach links. Ich strich meine Haare nach hinten und lächelte. Ganz sanft. Burt Bacharach ließ »what the world needs now, is love sweet love …« singen und mein Herz klopfte ein wenig. Ich bemerkte durch all die Abgase sogar, wie betörend süßlich die Lindenbäume dufteten, die am Gehweg nebenan die Isar säumten.

Mein Nachbar fing mein Lächeln auf. Doch als er es sah, knüllte er es zusammen und warf es achtlos zurück. »Vergiss es, Fetti«, hörte ich ihn zischen und dann ging die Scheibe seines Beifahrerfensters nach oben. Laut dröhnte ein fieser Rap aus seiner Richtung. Hinter mir hupte es. Ruckartig gab ich Gas. So ein Arsch. Was bildete der … schwungvoll nahm ich die Kurve auf die Ludwigsbrücke. Bremsen quietschten. Ich trat auf meine. Sanft wurde mein kleines Auto durchgerüttelt, als eine Faust auf sein Dach schlug. Verwirrt blickte ich hinaus.

Heute war nicht mein Tag. Schon wieder ein Fahrradfahrer. Und ich hatte ihm beim Abbiegen die Vorfahrt genommen. In München kam das noch vor den sieben Todsünden. Der wutentbrannte Fahrer beugte sich zu mir hinunter: »Hast du keine Augen im Kopf? Mann!« Er musste kurz nach Luft schnappen. Seine Stimme kam mir bekannt vor.

»Was?«, stotterte ich, einerseits allerallerschuldbewusstigst, andererseits in der Hoffnung, diese Stimme noch einmal zu hören.

»Nicht nur du hattest Grün – ich auch!«, schrie er. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er redete, wenn er nicht so zornig wäre.

»Entschuldigung«, sagte ich und es klang sehr zerknirscht. »Ich war abgelenkt. Mich hat grad …« Am liebsten wäre ich in Tränen ausgebrochen, hätte ihm erzählt, dass ich heute den ganzen Tag nur beleidigt worden war, dass sich alle über mich lustig gemacht hatten und er hätte mir beruhigend seine Hand auf den Kopf gelegt und gesagt: »Kleine Hanna, alles wird gut.« Genau! Daher kannte ich seine Stimme. Es war tatsächlich DIESE STIMME!! Fassungslos sah ich ihm das erste Mal bewusst ins Gesicht. Ein großer Mann, Anfang 30 vielleicht, klare, blaue Augen und ein theoretisch gutmütiges, sympathisches Gesicht.

»Ja, ja, schon gut«, brummelte er nun mürrisch, klopfte noch einmal auf mein Autodach und war fort.

Vorsichtig gliederte ich mich wieder in den fließenden Verkehr ein. Ich hatte fast Klein-Hannas Vater vom Fahrrad geschossen. Klein-Hanna, die in jeder Siebenminutenfolge vor oder manchmal auch nach dem Sandmännchen mit ihrem zärtlichen, fürsorglichen, verständnisvollen, warmherzigen, klugen und überhaupt sehr sympathischen Vater kleine Zeichentrick-Kinderabenteuer bestand. Und dieser Fahrradfahrer gerade eben – das musste der Sprecher des Vaters gewesen sein, der Grund für meine »Klein-Hanna«-Schwärmerei.

Es ist nicht so, dass ich im Fernsehen ständig Kika anschaue. Aber wenn ich auf Klein-Natalie aufpasse, na, dann hilft mir schon manchmal der Fernseher dabei. Und unsere Lieblingsserie ist eben »Klein-Hanna«, weswegen ich auch immer »Klein-Natalie« sage, die ja selbst gar keinen Vater hat, zumindest keinen, der anwesend wäre, was in ihrem Fall sicher auch besser so ist. Jedenfalls lieben Natalie und ich diese schnuckelige kleine Zeichentrickserie – jede von uns aus anderen Gründen – und ich habe sogar zwei DVDs mit den Abenteuern von Klein-Hanna und ihrem Papa. Die schaue ich aber nur an, wenn es mir so richtig dreckig geht. Wenn ich nur noch auf dem Sofa vor dem Fernseher liegen kann, abwechselnd Schokolade und Chips in mich reinfuttere und einfach verrückt werde bei dem Gedanken, dass mein Leben manchmal so schaurig leer und wund ist. Dann verschmelzen die Stimme von Hannas Papa und das Gesicht von Wim, und je mehr ich mich danach sehne, von diesem so völlig fantastischen Prinzen in den Arm genommen zu werden, um so mehr wächst die Überzeugung, dass dies niemals geschehen kann und wird. Und ich habe die böse Vorahnung, dass genau heute Abend wieder ein solcher Drecksabend bevorsteht.