cover

BERND SCHMID

SYSTEMISCHES COACHING

EHP – HANDBUCH SYSTEMISCHE PROFESSIONALITÄT UND BERATUNG

Hg. Bernd Schmid

Der Autor:

Dr. phil. Bernd Schmid (Jg. 1946) leitet das INSTITUT FÜR SYSTEMISCHE BERATUNG, Wiesloch/Deutschland (seit 1984). Er studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte in Erziehungswissenschaften und Psychologie; seit 1979 Lehrtrainer der europäischen und der internationalen Gesellschaften für Transaktionsanalyse; langjähriger Vorsitzender des Weiterbildungs- und Prüfungsausschusses der Deutschen Gesellschaft für Transaktionsanalyse; Berufenes Mitglied der Systemischen Gesellschaft, Mitbegründer der Gesellschaft für Weiterbildung und Supervision (GWS), des NETZWERKES SYSTEMISCHE PROFESSIONALITÄT und des Deutschen Bundesverbandes Coaching e.V. – DBVC; Lehr- und Vortragstätigkeit im Bereich Psychotherapie, Coaching, Supervision, systemische Beratung sowie Organisations- und Personalentwicklung. Zahlreiche Veröffentlichungen in Schrift und Ton; Mitherausgeber der Zeitschrift Profile; gegenwärtiger Arbeitsschwerpunkt: seelische Entwicklung und berufliche Wirklichkeiten. www.systemische-professionalitaet.de

Bernd Schmid

SYSTEMISCHES COACHING

Konzepte und Vorgehensweisen

in der Persönlichkeitsberatung

E H P

– 2009 –

Umschlagentwurf: Gerd Struwe

Inhalt

Vorwort
I. KONZEPTE UND VORGEHENSWEISEN
1. Antreiber-Dynamiken – Persönliche Inszenierungsstile und Coaching
1.1 Einleitende Gedanken
1.2 Antreiber 1: »Ich bin OK, wenn ich perfekt bin!«
1.3 Antreiber 2: »Ich bin OK, wenn ich stark bin!«
1.4 Antreiber 3: »Ich bin OK, wenn ich anderen gefällig bin!«
1.5 Antreiber 4: »Ich bin OK, wenn ich mich anstrenge!«
1.6 Antreiber 5: »Ich bin OK, wenn ich mich beeile!«
1.7 Beratungsstrategien bei Antreiber-Dynamiken
1.8 Wurzeln des Antreiber-Konzepts
2. ICH-DU- und ICH-ES-Typen
2.1 Ich-Du-Typ
2.2 Ich-Es-Typ
2.3 Wenn Ich-Du-Typ und Ich-Es-Typ zusammentreffen
2.4 Ein Beispiel
2.5 Die Balance von Thema und Bezogenheit in persönlichen und professionellen Beziehungen
2.6 Zusammenfassung
3. Symbiotische Beziehungen
3.1 Verantwortung
3.2 Symbiotische Beziehungen
3.3 Symbiotisches Verhalten
3.4 Bedeutung für die Beratungspraxis
3.5 Schuld und Würde
4. Zwickmühlen
4.1 Definitionen und Zwickmühlenlogik
4.2 Beispiele für Zwickmühlen-Zusammenhänge
4.3 Der Dilemmazirkel
4.4 Dilemmadynamik beim Umgang mit Zwickmühlen Konstellationen
4.5 Lebensgeschichtlicher Hintergrund
4.6 Entdecken von Zwickmühlen
4.7 Therapeutischer Umgang mit der Dilemmadynamik
4.8 Der Gebrauch von Bildern und Metaphern
5. Komplexität, Dilemmata und Sinn
5.1 Herausforderungen in Zeiten des Wandels
5.2 Effektivitätsfallen
5.3 Die Entstehung von Dilemmata durch nicht bewältigte Komplexität
5.4 Der Dilemmazirkel
5.5 Der Sinnzirkel
5.6 Kultur als Medium der Komplexitätssteuerung
5.7 Integration und Integrität als Kernbegriffe von Kulturbildung
6. Kontrolldynamik, Treibsand und fiktive Wirklichkeiten
6.1 Kontrolldynamik
6.2 Treibsand
6.3 Fiktive Wirklichkeiten
6.4 Ein mehrdimensionales Fallbeispiel
7. Wirklichkeitskonstruktive Traumarbeit
7.1 Einleitung
7.2 Die Relevanz von Träumen
7.3 »Wo bin ich hier eigentlich?« – Beispiel einer Traumarbeit
7.4 Warum Traumarbeit in der Beratung?
7.5 Traumarbeit als Medium für kulturorientierte Kommunikation
7.6 Bedeutungsanreicherung am Beispiel der Traumarbeit
7.7 Der Traum als Inszenierung
8. Zur Architektur von Traumwirklichkeit
8.1 Der Traum: eine Erzählung
8.2 Der Traumkorpus
8.3 Der Traum im Kontext
8.4 Beispiele für Wirkungen
8.5 Träume in der Professionalisierung
9. Arbeit mit geleiteten Phantasien und Trance
9.1 Mein gegenwärtiges Verständnis von Beratung und wachstumsfördernder menschlicher Beeinflussung
9.2 Gestaltungsschema und methodische Aspekte bei der Leitung von Phantasien
9.3 Anwendungsmöglichkeiten
10. Umgang mit einschränkenden Identitätsüberzeugungen
10.1 Identifikation einschränkender Identitätsüberzeugungen
10.2 Ein Beispiel zum Umgang mit einschränkenden Identitätsüberzeugungen
10.3 Methodischer Umgang (Passamtsarbeit)
10.4 Identität verstanden als Mosaikspiegel
11. Geschlechtsidentität – eine seelische Perspektive
11.1 Traumserie einer Frau
11.2 Animus und Anima als Perspektive
11.3 Spiegelung
11.4 Entwicklung geschlechtlicher Identität
11.5 Homo- und Heterosexualität
11.6 Wesensschau – eine Übung
11.7 Traumserie eines Mannes
II. COACHING
12. Coaching im Bereich Organisationen
12.1 Coaching als Begriff
12.2 Coaching als Berufswunsch
12.3 Coaching als Markt
12.4 Horizonte für Coachingweiterbildungen
13. Persönlichkeitscoaching
13.1 »Das ist ein weites Feld …«
13.2 Verantwortung
13.3 Orientierung
13.4 Drei Welten und Persönlichkeiten
13.5 Horizonte und Perspektiven
13.6 Persönlichkeit und Lebensqualität
13.7 Beraterqualifikation und Lebensweisheit
14. Fünf Perspektiven für erfolgreiches Coaching
14.1 Coaching als persönliche Dienstleistung
14.2 Coaching als gemeinsame Sinnerzählung
14.3 Coaching als Medium für kulturorientierte Organisationsund Personalentwicklung
14.4 Coaching als professionelle Identität
14.5 Die systemische Perspektive im Coaching
15. Varianten des Coachingbegriffs
15.1 Die Führungskraft als Coach
15.2 Der Berater als Coach
15.3 Konzepte für Persönlichkeitscoaching
15.4 Coaching als Perspektive
16. Kontraktgestaltung im Coaching
16.1 Der Dreiecksvertrag im Coaching
16.2 Beispiel eines Coachingverlaufs
16.3 Häufige Fragen im Zusammenhang mit Kontrakten
17. Coaching als Begegnung von Wirklichkeiten und Kulturen
17.1 Zweckorientierte Inhalte und Kultur der Begegnung
17.2 Kommunikation als Kulturbegegnung
17.3 Konfrontation
17.4 Vier Stufen der Übereinkunft im Bezugrahmen
18. Seelische Leitbilder im Coaching und in der Organisationsentwicklung
18.1 Einleitung
18.2 Das Konzept der seelischen Leitbilder
18.3 Lebenserzählung und Coaching
18.4 Mein Rahmen für Coaching
18.5 Falldarstellung: Coaching und Unternehmensentwicklung
III. ENTWICKLUNG DER PROFESSIONALITÄT
19. Erfahrungen und Hintergründe einer Weiterbildung (1984-1989)
19.1 Vorwort: Fiktives Interview – warum?
19.2 Interview
19.3 Zwischen-(Ein)fälle
19.4 Das Traumseminar (1986/87)
19.5 Im Prozess des »Erwachsenwerdens« (1987/88)
19.6 Das letzte Ausbildungsjahr (1988/89)
19.7 Die Prüfungsvorbereitungszeit
19.8 Das Examen
19.9 Die Zeit danach
LITERATUR
INHALT HANDBUCH-BAND:
»Systemische Professionalität und Transaktionsanalyse«

VORWORT

Der erste Band dieser Reihe hat sich mit den Fragen der Beratung, der systemischen Professionalität und der Transaktionsanalyse befasst. Das Inhaltsverzeichnis von Band 1 finden Sie am Ende dieses Bandes.

In diesem zweiten Band werden nun Konzepte und Vorgehensweisen aus der Persönlichkeitsberatung und aus dem Coaching im Organisationsbereich erläutert. Dabei wurden die Konzepte ausgewählt, die sich in unserer Arbeit im Bereich Persönlichkeit und Coaching über die Jahre als entscheidend wirksam bewährt haben.

Das Spektrum reicht von vielen handwerklichen Fragen des professionellen Coachings bis hin zur Grundfrage, wie Menschen auch im Beruf das unverwechselbar Eigene finden können. Berufswege sind entscheidend wichtige Lebenswege und ihre Integration mit Karrierewegen in Organisationen und mit dem Privatleben werden in unserer »zentrifugalen Zeit« für viele Menschen zu einem immer anspruchsvolleren Kunststück.

Die vorgestellten Konzepte, Vorgehensweisen und Praxisberichte sind entsprechend vielschichtig, wie es die persönliche Auseinandersetzung mit der professionellen Persönlichkeit, mit den beruflichen Lebenswegen und Identitäten eben erfordert. Dennoch sind ihr Verständnis und ihre Nutzung nicht von einer spezifischen Vorbildung abhängig. Im Gegenteil ist es mir ein Anliegen, wertvolle Erfahrungen und Konzepte aus verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen und allen Professionellen zur Nutzung anzubieten.

Natürlich sind Weiterbildungen in diesem Metier hilfreich, insbesondere solche, die sich undogmatisch und nahe an gesellschaftlichen Wirklichkeiten und an konkreten Lebensvollzügen bewegen. Außer mit Fach- und Kontextkenntnissen sollte die Schatzkiste der Professionalität v.a. mit aufbereiteter Lebenserfahrung und mit den Stärken der eigenen unverwechselbaren Persönlichkeit bestückt sein. Inspiration, freimütiges Ausprobieren, Umsicht und Respekt vor der Expertise der Klienten sowie Eingebundensein in eine förderliche Professionskultur sind die besten Garanten für kreative Entwicklungen bei gleichzeitigem Schutz aller Beteiligten. Ganz nebenbei sind diese Haltungen vorbildlich für die Menschen, die für die Bühnen ihres Berufs- und Privatlebens aus dieser Kiste versorgt werden sollen.

Gerade deshalb sind die vorliegenden Texte nicht unbedingt leichte Kost. Es lohnt sich, wieder und wieder auf ihnen »herumzukauen«. Dabei werden sie mehr und mehr das an Geschmack und Vielfalt entfalten, was zunächst eher intuitiv begriffen wird. Auch erfahrene Berater werden vieles in Worte gefasst finden, was ihnen in ihrer Arbeit mit Menschen begegnet und wertvoll geworden ist. Das ausführliche Inhaltsverzeichnis soll zum Schmökern einladen, dort, wo die Überschriften ansprechen.

Die Darstellung eines mehrjährigen Ausbildungsprozesses von Christiane Gérard stammt aus dem Bereich der psychotherapeutischen Beratung. Solche Berichte sind seltsamerweise selten, obwohl doch Weiterbildung ein so großer Markt ist. Die dortigen Beschreibungen innerer Vorgänge und der Beziehungen zu Lehrtrainern erscheinen vielleicht aus der Perspektive der wesentlich kürzeren, dichteren und mehr auf die Außenwelt bezogenen Weiterbildungen im Organisationsbereich wie Betrachtungen durch ein Vergrößerungsglas. Doch spiegeln sie Dimensionen, die auch im Organisationsbereich – wenn auch hintergründig – Bedeutung haben.

Nur wenige Wochen nach Erscheinen dieses Bandes geht ein weiteres Manuskript an den Verlag. Im dritten Band dieser Reihe (zusammen mit Arnold Messmer) wird das Spektrum um systemische Perspektiven der Personalentwicklung, der Organisationsentwicklung und der Kulturentwicklung in Organisationen erweitert.

Ich danke denen, die an den Texten mitgewirkt haben und allen Mitarbeitern des Instituts für systemische Beratung Wiesloch, die weitertragen, was geworden ist und möglich gemacht haben, dass für diese Veröffentlichungen Kraft geblieben ist. Unsere Lektorin Ingeborg Weidner hat auch diesen Band sorgfältig und liebevoll redigiert.

Mein ganz privater Dank gilt meiner Frau Irene und meiner Tochter Judith, die meinen Lebensweg in Liebe mit mir gehen. Die Titelbilder der ersten fünf Bände dieser Reihe stammen von unserem Sohn Peter Schmid, den wir am 23.11.2001 im Alter von 17 Jahren der Ewigkeit überlassen mussten. Unsere Liebe und der Schmerz werden wohl für immer zu unserem Leben gehören.

Bernd Schmid

Wiesloch im März 2004

I.

KONZEPTE UND VORGEHENSWEISEN

1. ANTREIBER-DYNAMIKEN – PERSÖNLICHE INSZENIERUNGSSTILE UND COACHING 1

1.1 Einleitende Gedanken

Jede Neurose ist ein unerlöstes Talent

Das Konzept des Antreibers ist ein wertvolles Modell zur Analyse von Persönlichkeits- und Beziehungsdynamiken. Bisher wurde das Konzept vorwiegend im therapeutischen Bereich verwendet. Es eignet sich aber durchaus auch für die beratende Arbeit in Organisationen, insbesondere im Coaching. Im Folgenden wird das Konzept um systemische und ressourcenorientierte Aspekte erweitert.

Viele Menschen fühlen sich v.a. in Stress und Belastungssituationen als Menschen nicht vollwertig, geschätzt oder liebenswert. In der Regel entwickeln Menschen Strategien, diesem »Nicht-OK-Gefühl« zu entrinnen. Solche Strategien sind meist mit illusionären Ideen verbunden: »Ich wäre (wieder) OK, wenn …«. Die Ideen, repräsentiert als verinnerlichte Anweisungen, werden als Antreiber bezeichnet. Der Name »Antreiber« weist darauf hin, dass Menschen diesen »Geboten« nahezu zwanghaft folgen. Wenn sie bei einem Vortrag unter Stress geraten, glauben sie beispielsweise, keinen Fehler machen zu dürfen, um von den Zuhörern anerkannt zu werden. Die Verheißung der Antreiber bleibt aber letztlich unerfüllt. Antreiber lösen das »Nicht-OK-Gefühl« nicht, sondern verstärken oder verwalten es nur.

Taibi Kahler (1977) unterscheidet fünf Antreiber-Dynamiken:

1. Ich bin OK, wenn ich perfekt bin.

2. Ich bin OK, wenn ich stark bin.

3. Ich bin OK, wenn ich gefällig bin.

4. Ich bin OK, wenn ich mich anstrenge.

5. Ich bin OK, wenn ich mich beeile.

Während die verschiedenen Antreiber-Dynamiken in der Literatur oft als Typen beschrieben werden, wird aus systemischer Perspektive der Kontext bedeutsam, in dem der Antreiber ausgelöst wird. Niemand steht ständig unter dem Einfluss von Antreibern. Sie steuern Menschen nur in bestimmten Situationen oder bestimmten Personen gegenüber. Diese Kontextunterschiede geben bereits wichtige Hinweise für die Diagnose und Interventionen im Coaching. Wenn wir die kontextspezifischen Antreiber-Dynamiken in dieser Arbeit zum Teil dennoch zu Prototypen verdichten, so dient dies lediglich der vereinfachten Darstellung. Die beschriebenen Dynamiken werden als Merkmale persönlicher Inszenierungsstile dargestellt. Man kann sie jedoch auch als Merkmale von Teams oder größeren Organisationen beschreiben.

Bezüglich der Diagnose von Antreibern zeigt sich, dass es nicht ausreicht, sie an Wortfloskeln oder Gesten festzumachen, wie dies gelegentlich gelehrt wird. Wichtiger scheint, ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche spezifische Atmosphäre durch Antreiberverhalten in einem sozialen Raum entsteht, welche emotionalen Dynamiken, Beziehungsmuster und Wirklichkeitslogiken aktualisiert werden. Jede der einzelnen Antreiber-Dynamiken erschafft eine Wirklichkeit, in die man als Gegenüber mit einiger Wahrscheinlichkeit eintritt. Oft denken Mitspieler, sie würden sich aus der Dynamik heraushalten oder etwas dagegen tun und merken nicht, dass sie dabei doch innerhalb der Logik agieren. Aus systemischer Sicht könnte man sagen, dass sich die Dynamik durch die kommunikativen und verhaltensmäßigen Beiträge der Beteiligten zirkulär stabilisiert und durch deren Ideen über Wirklichkeit aufrechterhalten wird.

Für die Arbeit im Coaching bedeutet dies, Antithesen zu formulieren, d.h. Beziehungsangebote und Wirklichkeitsvorschläge anzubieten, die nicht nur andere Spielarten innerhalb der Antreiber-Inszenierung sind, sondern eine andere Dynamik aktivieren bzw. Lösungen 2. Ordnung im Sinne Watzlawicks darstellen. Die Kenntnis der einzelnen Dynamiken und die Diagnose der eigenen Reaktion (soziale Diagnose) können helfen, nicht in die Logik der Antreiber-Inszenierung einzutreten, sondern Lösungen 2. Ordnung und damit antreiberfreie Inszenierungen zu aktivieren.

Diesen wirklichkeitskonstruktiven und beziehungsanalytischen Aspekten soll in der vorliegenden Arbeit nähere Beachtung geschenkt werden.

Wirklichkeitsanalytische Perspektive

• Wie entwerfen Menschen in Antreiber-dynamiken ihr Bild von der Welt?

• Welche Grundannahmen über sich und andere liegen ihrem Denken zugrunde?

Beziehungsanalytische Perspektive

• Wie reagieren Mitspieler auf die Beziehungsangebote der verschiedenen Antreiber-dynamiken?

• Welche Gefühle, Ideen und Verhaltensweisen werden bei ihnen ausgelöst?

© Schmid 2004

Abb. 1: Wirklichkeitsanalytische Perspektive

1.2 Antreiber 1: »Ich bin OK, wenn ich perfekt bin!«

1.2.1 Erkennungsmerkmale

Menschen in dieser Dynamik rechtfertigen sich häufig oder versuchen Dinge noch genauer und besser zu machen. Ergänzungen, Kritik und was noch zu erwägen wäre, wird gerne vorweggenommen, um vorsorglich zu verhindern, dass jemand sagt: »Du hast es nicht perfekt genug gesagt, begriffen oder getan.« Nonverbale Elemente sind ein ernster Blick sowie eine aufrechte und starre Haltung, verbunden mit einem angespannten Körpergefühl.

1.2.2 Soziale Diagnose

Beim Gegenüber entsteht durch diesen Antreiber der Eindruck, nicht gut genug zu sein. Den um Makellosigkeit bemühten Ausführungen des Perfektionisten lässt sich nichts mehr hinzufügen. Kommunikationspartner beginnen nach und nach ihre Aufmerksamkeit abzuziehen. Auf das ausgelöste Nicht-OK-Gefühl von der Qualität. »Das erreiche ich sowieso nie« oder »Ich bin nicht gut genug« reagieren manche Mitspieler mit Abwertung und Ausschluss des Perfektionisten. Oft wird im Umgang mit Perfektionisten wenig Kontakt, Beziehung und Austausch erlebt, weil dessen perfekter Arbeit nichts mehr hinzuzufügen ist. Oder man versucht in Kontakt zu kommen, wofür aber eher Begegnungsformen wie Unterordnung, Besserwissen, Relativieren oder Kritisieren nahe liegen.

1.2.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

Perfektionisten haben das unterschwellige Grundgefühl, als Person nicht liebenswert zu sein und niemanden zu finden, der genügend Anteil an den Interessen und Ideen nimmt, mit denen sie ihr Selbstwertgefühl verbinden. Sie versuchen dann, statt dem, was sie sind, anzubieten, was sie leisten können. »Da fraglich ist, ob ihr mich schätzen könnt, biete ich eine solche Leistung, dass man ihr die Anerkennung nicht verweigern kann.« Sie glauben von anderen Menschen nur dann anerkannt zu werden, wenn sie perfekt sind und keine Fehler machen. Ihre Hoffnung ist, dass sie dann doch noch geliebt werden.

Dieses Verhalten provoziert Widerspruch und Wettbewerb. Die immer neuen Absicherungen ziehen genau das auf sich, was sie zu vermeiden suchen: Kritik an der Person oder an der Leistung, was als gleichbedeutend empfunden wird. Der Effekt, Anerkennung für Leistung zu bekommen, tritt um so weniger auf, je perfekter es versucht wird. Die Adressaten fangen sogar an, die Leistung oder das Verhalten zu kritisieren, oft mit inhaltlich fragwürdigen Argumenten. Die Kritik gilt mehr der erlebten Beziehungsdynamik als den Inhalten. Diese kommt aber in der Perfektions-Atmosphäre nicht leicht zu Bewusstsein und zur Sprache.

In der inneren Logik des Perfektionisten bedeutet diese Kritik: »Es hat deswegen nicht dazu geführt, dass sie mich lieben, weil sie selbst unfähig sind oder weil ich es noch nicht perfekt genug gemacht habe.« Dies führt wiederum zu verächtlicher Belehrung oder erneuter Anstrengung, es noch perfekter zu machen. Ertappt sich der Perfektionist dann doch noch bei einem Fehler oder verweisen andere auf Fehler, scheint die Berechtigung auf Anerkennung absolut und schlagartig verloren.

1.2.4 Antithesen zum »Sei-perfekt-Antreiber«

In der Transaktionsanalyse wurde die Intervention der »Erlauber« entwickelt. In der Coachingbeziehung wird eine Haltung eingenommen, die es dem Gegenüber ermöglicht, bestimmte Glaubenssätze (z.B.: Ich muss Perfektes leisten) aus einer fürsorglichen Position heraus aufzulösen. Die Glaubenssätze des »Sei-perfekt-Antreibers« lauten: »Ich bin nur dann OK, wenn ich perfekt bin« oder »Ich muss perfekt sein«, statt »Ich darf mein Bestes geben und das ist OK« oder »Nur durch meine Leistung kann ich wertvoll sein«, »Ich bin wertvoll durch das, was ich bin«.

Aus systemischer Perspektive handelt es sich bei Erlaubern um Botschaften, die diese Logik und ihre Verknüpfungen umkehren. Sie stellen damit Lösungen 2. Ordnung der Antreiberlogiken dar. Für den »Sei-perfekt-Antreiber« lautet die Umkehrung der Antreiber-Glaubenssätze: »Du bist wertvoll und liebenswert und ich schätze auch, dass du etwas leistest und dich bemühst, das Beste zu geben.« Eine erleichternde Botschaft an sich selbst lautet: »Ich darf auch Fehler machen und daraus lernen.«

Ein Problem ist, dass oft Mitmenschen die »erlösende« Botschaft ahnen, aber nicht realisieren, was an Tugenden in der »Sei-perfekt«-Dynamik enthalten ist. Der Perfektionist, dem die Einstellung »Lass doch mal Fünfe gerade sein« empfohlen wird, fühlt sich in seinem Sinn für Komplexität und seinem Streben nach Vollkommenheit nicht verstanden. Beides ist für ihn aber wesensgemäß und daher wichtig für das Gefühl, angemessen anerkannt zu werden. Es zeigt sich zwar als übertriebene Tugend, die damit zum Laster wird, entspricht aber dennoch einer wesensgemäßen Haltung. Allein die Erlaubnis zu geben, »Du brauchst nicht so perfekt zu sein« wäre daher keine hilfreiche Beziehungsantwort für Perfektionisten. Leicht ankoppeln können dagegen Mitmenschen, die aus einer Wertschätzung heraus das Bemühen um Genauigkeit als Dienst am Menschen und einer besseren Welt würdigen können.

Im Kontakt mit dem Perfektionisten entsteht aber eben leicht ein Nicht-OK-Gefühl, aus dem heraus man nicht die Souveränität hat, ihn in seiner – wenn auch unerlöst erscheinenden – Tugend zu würdigen. Im eigenen OK-Gefühl angekratzt, versucht man, ihn den eigenen Vorstellungen von Beziehung zu unterwerfen oder zumindest in der vorgetragenen Überlegenheit zu demontieren. Notwendig ist aber eine liebende Haltung und die Würdigung der Wesensart des Perfektionisten.

1.2.5 Ressourcen des »Sei-perfekt-Antreibers«

Wie oben bereits angeklungen, haben Perfektionisten einen Sinn für Vollkommenheit. Sie sind in der Regel, was ihren Lebensvollzug und ihr Denken anbelangt, sehr gut organisiert und können beispielsweise leicht komplexe Systeme begreifen oder bedienen. Bei der Flugsicherung und im Operationssaal etwa wünscht man sich Personen dieses Schlages. Wichtig ist darauf zu achten, dass sie diese Tugend in Dingen leben, die ihnen wichtig sind, und in einem Maß, dass sie dabei in ihrer Menschlichkeit nicht verloren gehen.

1.2.6 Konterdynamik: »Alles egal«

Von Konterdynamik spricht man, wenn sich jemand zwar an der Logik einer Dynamik ausrichtet, aber versucht, ihr durch verneinendes Verhalten auszuweichen. Zyniker sind z.B. oft hoffnungslose Idealisten. Perfektionisten flüchten sich gelegentlich in »Alles egal«-Haltungen, wenn sie den Versuch, durch Perfektsein zu wesensgemäßer Würdigung zu kommen, aufgeben. Sie bilden dann eher Gegenpole zu »aktiven« Perfektionisten und ziehen deren »Förderung« oder Kritik bezüglich Ansprüche und Leistung auf sich. Beide sind sich jedoch ähnlich und profitieren von den gleichen Antithesen.

1.3 Antreiber 2: »Ich bin OK, wenn ich stark bin!«

1.3.1 Erkennungsmerkmale

Menschen in dieser Dynamik versuchen innere Bewegtheit zu verbergen. Sie verwenden Sprache und Sprechweise, um eigene Stärke und Unangreifbarkeit zu vermitteln. Es scheint, als gingen sie zur eigenen Empfindsamkeit und der anderer auf Distanz. Sie erwecken einen eher angespannten Eindruck, als wollten sie ihre Umgebung im Auge behalten um jederzeit »gewappnet« zu sein. Sie tun dies u.a. durch aufrechte Haltung, etwas maskenhafte Gesichtszüge, gelegentlich monotone Stimme und Gestik.

1.3.2 Soziale Diagnose

Der »Sei-stark-Antreiber« führt dazu, dass sich die Mitspieler unter Druck gesetzt fühlen, evtl. Angst bekommen oder wütend werden. Sie treten ein in eine Szene, in der es um Kampf, Kontrolle und Überlegenheit geht. Manche Mitspieler/innen kämpfen mit, antworten mit Gegenkontrolle, andere ziehen sich ängstlich zurück oder beschwichtigen. Die Beziehungswirklichkeit, in die Mitspieler/innen eingeladen werden, lautet: »Wer nicht aufpasst, wird verlieren, sich unterwerfen oder kontrollieren lassen und jede muss dafür sorgen, dass sie es nicht ist.« Es handelt sich also um ein Beziehungs-Nullsummenspiel, bei dem die eine verliert, wenn die andere gewinnt. Man fühlt sich in Konkurrenz als distanzierenden »Kampf gegeneinander« und nicht als bezogenes »Messen aneinander« hineingezogen. Um nicht zu verlieren, möchte man sich selbst stark und ungreifbar machen. Man verliert den Impuls sich in menschlicher Begegnung erreichbar zu machen oder sich den anderen zu nähern.

1.3.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

Die Angst in der »Sei-stark-Dynamik« ist es, in emotional bedeutsamen Situationen nicht stabil zu sein, wenn man sich nicht starr macht bzw. zu kollabieren, wenn man Kontrolle loslässt. Man erwartet, als Person und in den eigenen Anliegen nicht berücksichtigt zu werden, wenn man sich nicht dafür stark macht. Entsprechend schwer ist es dann, das eigene Angewiesensein auf nicht beherrschbare Menschen und Geschehnisse zu akzeptieren. Gefühlsmäßige Bezogenheit und Sich-Einlassen auf Menschen und Vorgänge ohne Kontrolle werden als Unterwerfung und Schwäche missverstanden. Von der Umwelt werden weder Verantwortung mit menschlichem Maß noch Fürsorglichkeit, sondern rücksichtloses Verhalten und harte Herausforderungen erwartet. Dies wird als (diffuse) Bedrohung erlebt, wogegen man meint, sich mit entsprechenden Haltungen schützen oder durchsetzen zu müssen.

Mit diesen Grundannahmen kann man anderen auch gar nicht erst die Chance lassen, eigene empfindsame Anliegen zu erkennen und zu berücksichtigen. Die provozierte Kampfdynamik nährt auch dann, wenn man sich in der stärkeren Position erlebt, unterschwellige Angst, es könnte mal nicht so sein. Erlebte Berücksichtigung eigener Anliegen wird nicht als freiwilliges Entgegenkommen und Friedfertigkeit erlebt, sondern als Wirkung der eigenen Sei-stark-Dynamik: »Wäre ich nicht fit gewesen, hätte der andere mich untergekriegt.« Die Sehnsucht nach Aufgehobensein, Entgegenkommen und Fürsorge bleibt ungestillt.

1.3.4 Antithesen zum »Sei-stark-Antreiber«

Das Bedürfnis, anderen zu vertrauen und durchlässig zu sein und damit gute Erfahrungen zu machen, bleibt in der Antreiber-Dynamik unversorgt. Dazu, wie diesem Bedürfnis in der Sei-stark-Dynamik begegnet werden kann, gibt es aber einige Missverständnisse. Am intensivsten reagieren gefühlvolle Menschen auf »Sei-stark-Menschen«. Sie wünschen sich von ihnen, sie mögen sich doch mal fallen lassen oder Emotionen zeigen. Dies wird jedoch oft in einem emotionalen Stil verlangt, der eher nicht ihrer Wesensart entspricht, oder sie missverstehen Wünsche in dieser Weise. Sie haben oft leisere Gefühlsregungen und diskrete Arten, sich in Beziehungen einzulassen. Sie sind sich aber der Gleichwertigkeit dieses Stils nicht gewahr und meinen »mehr« bringen oder sich an den Stilen anderer messen lassen zu müssen. »Sei-stark-Menschen« nützten Situationen, in denen ohne Anspruch konkret und mit ihrem Sicherungsbedürfnis verträglich erläutert wird, was es gerade meint, sich zu öffnen und anzuvertrauen und welche Abstufungen hier möglich und erlaubt sind. Wenn einmal eine emotionale Erschütterung geschieht, ist die Verarbeitung eines solchen Erlebnisses entscheidend. Es kann als Niederlage mit nachträglichem Katzenjammer erlebt werden. Es kann auch als erleichternd erlebt werden. Allerdings ist wichtig darauf zu achten, dass damit nicht ungeeignete Maßstäbe an Gefühlsintensität und Emotionalität in Beziehungen bestärkt werden. Nicht die Intensität von Gefühlen ist hier entscheidend, sondern deren Gehalt.

Wichtig im Kontakt ist, dass Mitspielerinnen nicht aus Schwäche weich und liebevoll sind, sondern aus Stärke. Wenn der »Sei-stark-Mensch« beim Gegenüber nur eine ängstlich-beschwichtigende Sanftheit wahrnimmt, straft er dies mit Verachtung. Das ist nicht die Art der Begegnung, die ihn interessiert.

Die Erlaubnis für die »Sei-stark-Dynamik« lautet: »Du darfst offen sein und vertrauen. Du bist mit dem zu dir passenden Gefühls- und Beziehungsstil wertvoll und liebenswert. Daneben schätze ich deine kraftvolle Art, dich für Menschen und Anliegen einzusetzen.«

1.3.5 Ressourcen des »Sei-stark-Antreibers«

»Sei-stark-Menschen« können kurzfristig situativ hohe Leistungen erbringen. Sie haben einen Sinn für kraftvollen Umgang mit Aufgaben und genügend Widerstandskraft und Kampfgeist, Dinge voranzubringen, auch wenn es schwierig ist. In dieser Sparte sind Helden und Heldinnen zu finden. In der »erlösten« Form können sie aber auch loslassen, wenn es nichts mehr zu kämpfen gibt. Sie können freundlich sein mit ihren Gegenübern und kämpfen nur, wenn es erforderlich ist.

1.3.6 Konterdynamik: »Mit mir könnt ihr’s machen!«

»Sei-stark-Menschen« suchen manchmal im Gegenbild eine Lösung. Sei es, dass sie fürchten, Kämpfen oder der Übernahme von Kontrolle nicht gewachsen zu sein und es sicherer finden, ihre Anliegen unvertreten zu lassen oder sich zu unterwerfen. Sei es, dass sie glauben, auf Stärke und Potenz verzichten zu müssen um gefühlvoll oder beziehungsfähig zu erscheinen. »Sei-stark-Frauen« spielen Kätzchen und »Sei-stark-Männer« bieten Softsein als neue Männlichkeit an.

1.4 Antreiber 3: »Ich bin OK, wenn ich anderen gefällig bin!«

1.4.1 Erkennungsmerkmale

Menschen in dieser Dynamik zeigen sich sehr bemüht, das Wohlbefinden anderer sicherzustellen und eine freundliche, niemanden beunruhigende Atmosphäre herzustellen. Allerdings wirkt dies eher als von einer Unsicherheit denn von einer in sich ruhenden Freundlichkeit getrieben. Menschen in der »Sei-gefällig-Dynamik« verwenden oft Redewendungen, die versuchen, die Wünsche und Erwartungen der Gegenüber zu erkunden oder Anpassung daran signalisieren. Nonverbal sind gewohnheitsmäßiges zustimmendes Nicken, gewinnende Gesten und irritierte Blicke, wenn nicht unmittelbar Wirkung erzielt wird, häufig.

1.4.2 Soziale Diagnose

Dieser Antreiber lässt dem Adressaten häufig keinen Spielraum, über Distanz zu entscheiden. Da der »Sei-gefällig-Mensch« Bezogenheit anbietet, aber keine oder fast keine Konturen zeigt, kommt es nicht zu echtem Kontakt. Es bleibt unklar, wo die angebotene Bezogenheit anfängt und wo sie aufhört. In Diskussionen ist es beispielsweise schwer, mit ihnen einen Standpunkt abzugleichen, weil sie unscharf formulieren, Ausflüchte suchen, irgendwie immer alles möglich ist und insgesamt keine eigene Position hindurch zu spüren ist (»Nagel mal einen Pudding an die Wand«).

Gegenüber haben Schwierigkeiten zu orten, wer dieser Mensch ist, der da Bezogenheit anbietet. Da Kontur als mögliche Kontaktfläche fehlt, wird Nähe als unangenehm erlebt. Es können sich auch Phantasien bilden, missbraucht zu werden oder nicht als Person gemeint zu sein (z.B. »Die rückt nicht wirklich damit raus, was sie von mir will«). Meist reagieren Menschen darauf mit Rückzug.

Zur Selbstdiagnose kann die Frage dienen: »Könnte ich »nein« sagen, auch wenn ich »ja« sagen könnte? Wenn »Sei-gefällig-Menschen« beispielsweise gefragt werden, ob Sie Lust haben, in die Kneipe mitzukommen, und nichts im Terminkalender steht, müssen sie »ja« sagen. Oder sie sagen »ja« und merken erst in der Kneipe, dass sie eigentlich hätten »nein« sagen müssen. Auch in beruflichen Rollen zeigt sich die Dynamik oft darin, nicht »nein« sagen zu können.

1.4.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

Das Nicht-OK-Gefühl des »Sei-gefällig-Menschen« hat damit zu tun, in emotionalen Stresssituationen nicht genau zu wissen, wer er ist und was er will. Diese Menschen haben zu wenig Konturen, Selbstvertrauen und (Rollen-)Identität ausgebildet oder halten ihre Konturen für unverträglich mit den Interessen anderer. Eigene Ansprüche und Vorstellungen werden verleugnet oder sind nicht präsent.

Der innere Glaubenssatz bei diesem Antreiber lautet: »Ich kann mich in Beziehungen aufgehoben und wertgeschätzt fühlen, wenn ich mich in andere einfühle.« Die assoziierte Grundannahme lautet: »Ich werde als Individuum nicht geschätzt. Ich habe nur eine Funktion für das Wohlbefinden anderer.« Diese Annahme wird durch eigenes Verhalten und dadurch ausgelöste Reaktionen anderer immer wieder bestärkt. »Sei-gefällig-Menschen« bieten keine Konturen, die das Gegenüber wertschätzen könnte, d.h. die Logik, mit der sie Wertschätzung suchen, hat keine Aussicht auf Erfolg. Sie bieten Gefälligkeit. Wenn sie dazu noch falsche Vorstellungen davon haben, was anderen wirklich gefällt, oder nicht-persönliche Notwendigkeiten der Situation schlecht begreifen, ernten sie leicht Abneigung, ja sogar Verachtung, was ihre Befürchtung, nicht wertgeschätzt zu werden, bestätigt. »Gefällig-Menschen« glauben häufig, keine Identität oder keine Konturen zu besitzen, die interessant sind für andere.

Häufig besteht wirklich ein Nachholbedarf darin zu lernen, wie man eigene Präferenzen und Konturen entwickelt oder in bestimmten Zusammenhängen aktualisiert. Die Anfälligkeit für diese Antreiber-dynamik kann für bestimmte Kontexte, Rollen oder Situationen spezifisch sein. Beruflicher Rollenwechsel (z.B. vom Meister zur Führungskraft) und die damit einhergehende Verunsicherung können dieses Antreiberverhalten auslösen. Menschen orientieren sich dann an ihren Phantasien, was andere wollen, und lassen eigene Konturen vermissen. So sind sie beispielsweise als Abteilungsleiter gefällig und immer um Harmonie bemüht, anstatt zu führen oder Ansprüche zu formulieren.

1.4.4 Antithesen zum »Sei-gefällig-Antreiber«

Die passende Erlaubnis für »Sei-gefällig-Menschen« lautet: »Du darfst dir selbst und anderen gefallen, du darfst eigene Maßstäbe und Konturen zeigen« und »Du darfst dich zumuten«. »Ich und die anderen sind wichtig« statt »Ich bin wichtig, indem ich rauszufinden versuche, was die anderen wollen«. Oft muss auch die Idee redefiniert werden, wie viel Gefallen notwendig ist, um angenommen zu sein. »Sei-gefällig-Menschen« neigen hier zu übertriebenen Erwartungen. Weitere implizite Erlaubnis liegt in der Aufforderung an diese Menschen, zu zeigen, wer sie sind und Identität in einer bestimmten Rolle zu entwickeln, wenn hier Nachholbedarf besteht.

Hierfür können diese Menschen bestärkt werden, zunächst nach eigenen Ansprüchen und Vorstellungen zu suchen und zu lernen, diese auszudrükken, damit andere ihren Gefallen daran prüfen und spezifisch ausdrücken können. Nachdem »Sei-gefällig-Menschen« ohnehin kaum von ihrer Ausrichtung auf Gefallen abzubringen sind, kann man ihnen klar positiv sagen, was gefallen könnte. Ansprüche können bei ihnen zwar zunächst Irritationen auslösen, weil sie unsicher sind, ob sie diese Wünsche bedienen können. Sie haben dann aber die Sicherheit zu wissen, wie sie gefallen können. Das Bedürfnis, gefällig zu sein, wird genutzt, um ihnen zu helfen, eigene Konturen auszubilden. So kann beispielsweise einer Führungskraft im Coaching Anweisung gegeben werden, wie sie eigene Zielvorstellungen gegenüber Mitarbeitern vertreten und umsetzen kann. Diese Art eines rollenspezifischen Umgangs führt zu einer deutlichen Abschwächung der Antreiber-dynamik innerhalb der Rolle. Zudem sind Streueffekte in andere Lebensbereiche zu erwarten. Konkrete Rollenanweisungen zu geben bedeutet eine effektive und schlanke Strategie im Umgang mit dem »Seigefällig-Antreiber«.

Eine Gefahr der »Sei-gefällig-Dynamik« findet sich im Kippen von einer übermäßigen Rücksicht in eine übermäßige Rücksichtslosigkeit. Diese Menschen halten ihre Interessen oft übermäßig zurück, um diese Zurückhaltung irgendwann als Rabattmarke auszuzahlen. Es besteht die Gefahr, dass dann die Schattenseite des freundlichen Entgegenkommens gelebt wird. Die Lösung für eine Polarisierung von Fremd- und Eigeninter-esse liegt in einer ausgeglichenen Kombination von Selbstbeachtung und Entgegenkommen. Wichtig ist daher, diese Menschen dazu einzuladen, auf sich und auf andere Rücksicht zu nehmen.

Bei der Entwicklung des »Sei-gefällig-Menschen« hin zur Verwirklichung eigener Ansprüche muss unter Umständen auch mit Missfallen der Umwelt gerechnet werden. Diese hat zum Teil die Gefälligkeit als durch -aus bequem erlebt und ist über das plötzliche Auftreten eigener Ansprüche des »Sei-gefällig-Menschen« nicht unbedingt erfreut. Im Coaching ist es daher um so wichtiger, systemseitige Rahmenbedingungen mitzubedenken.

1.4.5 Ressourcen des »Sei-gefällig-Antreibers«

Die Tugend des »Sei-gefällig-Menschen« ist seine soziale Wahrnehmung, die ihm ermöglicht, auf die Bedürfnisse anderer im Prozess einzugehen. Er kann sehr sensibel für Gruppenprozesse, soziale Stimmungen und Reaktionen sein. Diese Fähigkeit erleichtert ihm, sich an andere Menschen und Systeme anzukoppeln. Wichtig ist, dass er die Außenwelt auf seine eigene Welt bezieht, sie dadurch relativiert und als Information nutzen kann, damit sie nicht reflexhaft seine Steuerung beeinflusst.

1.4.6 Konterdynamik: »Besser garstig als ein Niemand!«

Menschen mit der »Sei-gefällig-Dynamik« können sich ins Gegenteil flüchten und trotzig Nichtgefallen provozieren. Mit der gleichen Mentalität und dem gleichen Eifer, aber mit verkehrten Vorzeichen wird Missfallen erweckt. Für das Aufgeben des Versuches zu gefallen, wird der scheinbare Gewinn gesucht, wenigstens Täter und nicht Opfer zu sein und so dem enttäuschten Trotz und rachsüchtiger Verachtung Ausdruck zu geben. All dies kann sehr diskret und unterschwellig mitschwingen.

1.5 Antreiber 4: »Ich bin OK, wenn ich mich anstrenge!«

1.5.1 Erkennungsmerkmale

Wenn es um Herausforderungen geht, spüren diese Menschen einen Leistungsdruck. Es entsteht eine Atmosphäre von Anstrengung mit erheblichen Zweifeln am Gelingen. Lustvolle Leistung und Freude auch am spielend erreichbaren Erfolg scheinen ausgeschlossen oder zumindest als oberflächlich. Kennzeichnende Redewendungen für diesen Antreiber sind etwa: »Ich müsste es versuchen«, »Das ist wirklich sehr schwer«, »Wenn ich mir Mühe gebe« etc. Der Sprecher verspannt z.B. die Muskeln am Hals und im Kehlkopfbereich, so dass die Stimme etwas belegt oder gequält klingt. Das wirkt oft unfrei, so als müsse der Sprecher gegen einen inneren Druck ankämpfen und sich zu jeder Silbe neu zwingen. Sie sprechen gelegentlich in hydraulischen Metaphern von Druck und Gegendruck.

1.5.2 Soziale Diagnose

Der »Streng-dich-an-Antreiber« wirkt lähmend. Man hat den Eindruck, gegen einen unsichtbaren Widerstand anzukämpfen. Die vorwiegende Intuition, die bei Mitspielern ausgelöst wird, ist: »Der/die schafft es nicht bzw. kommt nie an.« Schwere und Anstrengung scheinen nicht länger als notwendiges Mittel für Leistung und Erfolg, sondern scheinen geradezu ein Eigenleben und einen eigenen Wert zu entwickeln. Bei Mitspielern entsteht kein Zutrauen in die Leistungsfähigkeit oder -bereitschaft des »Strengdich-an-Menschen«. Impulse, die Sache zunächst durch Auflockerung oder Ermunterung voranzubringen, bleiben stecken. Mitspieler geraten selbst in Anstrengung, reagieren mit Hilfsangeboten oder Ungeduld, die dann beim »Streng-dich-an-Menschen« zu noch mehr Anstrengung führen. In einer Arbeitsbeziehung erwartet man eher eine Zusatzbelastung als eine Erleichterung.

1.5.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

»Streng-dich-an-Menschen« sind erfolgreich darin, ihren Gegenübern den Glauben zu vermitteln, sie wären nur unter Mühen und mit fraglichem Ergebnis leistungsfähig. Aus einer gewohnheitsmäßigen Sorge »ich schaffe es nicht« heraus, wird die Dynamik organisiert. In Situationen, in denen eine Leistungsbewährung ansteht, taucht der Zweifel an der eigenen Leistungsfähigkeit auf. Das drohende Nicht-OK-Gefühl wird mit der Idee: »Ich schaffe es, wenn ich mich sehr anstrenge« verwaltet. Wird das Ziel nicht erreicht, bedeutet das in dieser Logik, dass man sich noch nicht genügend angestrengt hat. Lebensenergie wird damit übersetzt in Anstrengung (»Ich mühe mich, also bin ich«). Auch wenn der Vorgang nicht mit Schwere belastet erscheint, spürt man doch untergründig Zweifel am Erfolg.

Es entsteht auch leicht Besorgnis, Chancen leichtsinnig zu verspielen. Dies soll dann durch Bemühtsein abgewendet werden. Wenigstens kann niemand Vorwürfe erheben, denn man hat sich ja Mühe gegeben. Schaffen es die »Streng-dich-an-Menschen« trotz der Mühe, glauben sie aber, es wegen der Mühe geschafft zu haben. Sie anerkennen dann auch eher die Mühe als die erbrachte Leistung. Ihre Einschränkung tritt besonders bei Aufgaben in den Vordergrund, die einen »leichten Sinn« benötigen. »Streng-dich-an-Menschen« sehen in dieser Haltung Aufgaben gegenüber »Leichtsinn«.

Blickt man in die persönliche Geschichte, sind sehr oft Überforderungssituationen zu identifizieren. Es handelt sich beispielsweise um Kinder, die früh Aufgaben übernehmen mussten, für die sie eigentlich noch zu klein waren, oder um jüngere Geschwister, die Dinge so können wollten wie ihre älteren Geschwister.

Beziehungsanalytisch betrachtet, wählen sich »Streng-dich-an-Menschen« häufig Partner, die ihnen eine Leistung abverlangen. Werden diese dann hingehalten, wenden sie sich nach oben beschriebenen Zwischenstationen genervt ab, gelegentlich mit nachsichtiger oder anklagender Bestätigung der Grundannahme: »Du bringst es nicht!« »Streng-dich-an-Menschen« leben oft den Mythos der Vergeblichkeit. In Anfangsphasen von Projekten können sie sehr aktiv sein, doch wird nach und nach alles zur Mühsal. Sie ackern, solange der Boden noch gefroren ist, kommen aber nicht auf die Idee, reife Früchte zu pflücken.

1.5.4 Antithesen zum »Streng-dich-an-Antreiber«

Die Erlaubnis zu »streng-dich-an« lautet: »Du darfst es gelassen tun und vollenden. Ich habe Vertrauen in deine spontane Leistungsfähigkeit. Dabei darfst du dich auch anstrengen. Es ist aber auch wertvoll, wenn es leicht geht.« Damit wird der Glaube in die eigene Unfähigkeit, ein Ziel zu erreichen, als auch die Idee, Leistung könne nur mit Anstrengung erbracht werden, redefiniert. Die Schwierigkeit besteht darin, an die Leistungsfähigkeit des »Streng-dich-an-Menschen« zu glauben, obwohl er sich so quält. Im Coaching ist es wichtig, die Persönlichkeitsanteile anzusprechen, die das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit rechtfertigen.

Einige hilfreiche Vorgehensweisen im Umgang mit »Streng-dich-an-Menschen«:

• Es müssen Vereinbarungen über realistische Ziele getroffen werden. »Streng-dich-an-Menschen« neigen dazu, Ziele so zu stecken, dass sie nicht erreichbar sind.

• Die Zeit sollte immer mitberücksichtigt werden. »Streng-dich-an-Menschen« laden dazu ein, das eigene Zeitmanagement aus dem Auge zu verlieren.

• Menschen in der »Streng-dich-an-Dynamik« werden um so langsamer, je mehr sie sich dem Ziel nähern. Wie bei Sisyphos rollen sie den Stein immer langsamer, je weiter sie nach oben kommen, und man muss aufpassen, dass sie den Stein nicht wieder loslassen, kurz bevor sie am Ziel angekommen sind. Hier ist es wichtig, Teilziele oder Meilensteine zu definieren: »Angenommen wir erreichen heute nur dieses Teilziel, wie können wir sicherstellen, dass wir uns rechtzeitig vertagen und organisieren, wie es weitergehen soll.«

• Eine interessante Hilfestellung ist auch die Veränderung der Körperhaltung beim Umgang mit Aufgaben. In entspannten Haltungen lassen sich die »Streng-dich-an-Dynamiken« oft nicht in gleicher Weise aktivieren. Dadurch werden Erfahrungen möglich, wie es ohne Anstrengung leicht gehen kann.

• Phantasiereisen eignen sich ebenfalls, die Erfahrung zu machen, mit leichtem Sinn Wesentliches zu erreichen.

1.5.5 Ressourcen des »Streng-dich-an-Antreibers«

Tugenden der »Streng-dich-an-Menschen« sind ihr Durchhalte- und Beharrungsvermögen. Gerade in Zeiten, in denen alles »easy« gehen muss und bei der geringsten Mühe »weitergezappt« wird, können sie mit einer angemessenen Beharrlichkeit für Dinge sorgen. Sie verfolgen Aufgaben mit Beständigkeit und haben den nötigen Sinn für Gründlichkeit und Ausdauer. Sie sind nicht so stark lustgesteuert. Eine nötige Mühsal kann für sie sogar zum stillen Genuss werden. Diese Menschen stehen für die Nachhaltigkeit von Realität dort, wo sie gebraucht wird.

1.5.6 Konterdynamik: »Alles easy!«

Auf der anderen Seite vom Pferd gefallen sind »Streng-dich-an-Menschen«, die betont leichtfertig und nachlässig an Aufgaben herangehen. Sie scheuen selbst angemessene Anstrengung und verfolgen damit ebenfalls ein »Ich schaffe es nicht«-Programm, das aber weniger leicht zu identifizieren ist. Eine andere Spielart der Konterdynamik sind »Von-der-Welt-Entrückte«. Sie machen es als Gegenreaktion zum Kult, Leistung nicht zu erbringen nach dem Motto: »Ist doch alles nicht so wichtig«. Wenn diese Menschen ihre lockere Haltung gegenüber Leistung ablegen, geraten sie mit einiger Wahrscheinlichkeit in die »Streng-dich-an-Dynamik«.

1.6 Antreiber 5 »Ich bin OK, wenn ich mich beeile!«

1.6.1 Erkennungsmerkmale