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Helmut Seidel

Baruch de Spinoza
zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1994 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: Archiv für Kunst und Geschichte

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-044-2

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-644-6

2. Auflage 2007

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1.Spinoza im philosophischen Diskurs der Gegenwart

2.Spinozas philosophische Lebensform

3.Der Weg zum wahren Gut oder Über die Methode

4.Substanz – Attribut – Modus

5.Inadäquate und adäquate Ideen

6.Affekt und Vernunft

7.Spinoza und das Entfremdungsproblem

8.Amor Dei intellectualis

9.Spinozas Stellung zur und in der Geschichte der Ethik

10. Spinoza und die Politik

11. Die Methode der Bibelauslegung

12. Naturrechtslehre

13. Spinozaforschung im Aufwind

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

»Man rede nach der Fassungskraft der Leute […].
Wir können nämlich nicht wenig Vorteil von ihnen
erlangen, wenn wir soweit wie möglich ihrer
Fassungskraft Rechnung tragen; hinzu kommt, dass
man auf diese Weise die Menschen dazu bringen
wird, der Wahrheit Gehör zu schenken.«

Baruch de Spinoza

1. Spinoza im philosophischen Diskurs der Gegenwart

Auf dem Markte, auf dem moderne und postmoderne Produkte philosophischer Arbeit angeboten werden, hat Spinoza nicht den günstigsten Stand. Seine Stimme – wie die der Vernunft klar und leise – scheint im lärmenden Getriebe unterzugehen. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen die Aufsicht führenden Mächte ihn wie einen räudigen Hund vertrieben. Seit Lessings Zeiten hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der niederländische Philosoph die geistige Kultur Europas mitgeprägt hat, dass namentlich die klassische deutsche Literatur und Philosophie ihm verpflichtet sind. Kaum eine Philosophiegeschichte daher, die Spinoza nicht achtungsvoll begegnen würde. Doch in vielen Fällen ist dies eine Achtung, die kostbaren Antiquitäten entgegengebracht wird. Man erfreut sich der kunstvoll geprägten Münze, deren Schau- und Sammlerwert im Glasschrank steigen mag, die allerdings längst außer Kurs gesetzt ist. Ist Spinoza aber nicht mehr als eine »Antiquität«, die nur von Kennern und Liebhabern geschätzt wird?1

Dass die herausragende Stellung Spinozas in der Philosophiegeschichte allgemeine Anerkennung gefunden hat, ist erfreulich; dass nach seiner Bedeutung für uns Heutige noch viel zu wenig gefragt wird, ist bedauerlich.

Könnte es nicht sein, dass der Meister des Aphorismus, Georg Christoph Lichtenberg, mit seiner Bemerkung, dass die Philosophie der Zukunft ein geläuterter Spinozismus sein werde, recht behielte? Oder war dies nur die überspannte Erwartung eines vom Geist der Aufklärung inspirierten Göttinger Professors für Experimentalphysik? Jedenfalls verwies zwei Jahrhunderte später ein anderer Physiker – sein Name: Albert Einstein – darauf, dass sich die Philosophie Spinozas bisher nur deshalb nicht durchsetzen konnte, weil »[…] hierzu nicht nur Konsequenz des Denkens, sondern auch eine ungewöhnliche Lauterkeit, Seelenstärke und – Bescheidenheit gehört«2.

Auch wenn der Fluch, der einst auf Spinozas Grab gespien wurde, noch nicht gänzlich seine Wirkung verloren hat, so wäre es nicht gerechtfertigt und auch spinozianischer Denkungsart zuwider, jenen Unredlichkeit vorzuwerfen, die in Spinoza keinen zeitgemäßen Denker sehen; zumal dann nicht, wenn diese für ihre Haltung nicht zu ignorierende Gründe anzugeben vermögen.

Ist nicht jeder Denker, so könnte mit Hegel gefragt werden, ein Sohn seiner Zeit, der eben diese in Gedanken fasst? Wenn Gegenwart eingeholte und überholte Geschichte ist, wie sollte dann ein Metaphysiker des 17. Jahrhunderts unserem postmodernen Zeitalter noch etwas zu sagen haben? Ist es nicht – besonders an deutschen Universitäten – ausgemacht, dass Kants Transzendentalphilosophie jeglicher metaphysischer Dogmatik und also auch dem Spinozismus das Lebenslicht ausgeblasen hat? Ist nicht Spinozas Philosophie in der Kritik, die Fichte, Schelling und Hegel, Feuerbach und Marx an ihr übten, aufgehoben worden? Schließlich: Der respektlose Nietzsche zollte zwar Spinoza hohen Respekt, aber er hat ihn wohl eher und in vieldeutiger Weise als einen »Unzeitgemäßen« angesehen.

Es scheint also ganz in der Ordnung der Zeit, wenn Heidegger und Wittgenstein im Zentrum gegenwärtigen Philosophierens stehen. Die Intentionen hingegen, aus Spinoza einen modernen Denker machen zu wollen, scheinen reichlich überspannt. Überspannt sind diese jedoch nur, wenn Spinozas Philosophie in unvermittelter Weise auf den Boden unserer Gegenwart verpflanzt würde. Dann allerdings käme ein Neo-Spinozismus heraus, ähnlich der Neo-Scholastik, die es noch gibt, oder dem Neukantianismus, den es kaum mehr gibt. Die Folge wäre eine Spinoza-Orthodoxie mit dem dazugehörigen Kult um den Meister, bei dem die Wahrheit wie eine Münze daliegt, die nur noch einzustreichen ist. Wer im letzten halben Jahrhundert die Geschichte des Marxismus begleitet hat, weiß um die Gefahren, die in derartigem Umgang liegen.

Nicht um unreflektierte Übernahme der Philosophie Spinozas geht es, sondern um deren kritische Befragung, eine Befragung, die ihren Ausgangspunkt in Grundproblemen unserer Zeit hat. In der Konfrontation spinozistischer Philosophie mit unserer Gegenwart muss sich erweisen, ob sie Denkansätze beinhaltet, die für heutiges Philosophieren von Relevanz sind.

Dass die ökologische Krise, die die Menschheit an den Rand der Zerstörung ihrer Lebenswelt bringt, ein Grundmerkmal unserer Zeit ist, wird wohl kaum noch bestritten. Wenn die zügellose Ausbeutung der Natur durch den Menschen nicht fortgesetzt werden soll, dann ist ein verändertes Verhältnis zur Natur unabdingbar. Voraussetzung einer solchen Veränderung ist die Analyse bisheriger Verhältnisse und die Kritik jener philosophischen Gedanken, die diese stützen. Ein neuer Naturbegriff, der ein neues Verhältnis zur Natur zu begründen vermag, fällt nicht vom Himmel. Es ist an der Zeit, historisch aufgetretene grundlegende Naturbegriffe intensiver zu untersuchen. Könnte es nicht sein, dass in Spinozas Substanz-Auffassung Ansätze enthalten sind, die die Entwicklung einer ökologisch orientierten Philosophie zu fördern vermögen?

Die ökologische Krise ist keine Krise der universellen Natur, sie ist eine Krise des Menschen, seiner praktisch-gegenständlichen und ideellen, besonders kognitiven Tätigkeit. Alle Zerstörungen, die der Mensch seiner Lebenswelt zufügt, setzen Naturgesetzlichkeit nicht außer Kraft, im Gegenteil, sie vollziehen sich auf ihrer Grundlage. Wenn Regenwälder abgeholzt werden, ergeben sich »natürlich« Klimaveränderungen; wenn der Treibgasausstoß zunimmt, vergrößert sich »natürlich« das Ozonloch.

Die Kraft und Notwendigkeit der Natur ist stärker als das Vermögen ihrer Teile, zu denen eben auch der Mensch gehört. Nicht die Natur als Ganzes, nur ihre Modifikationen unterliegen dem ständigen Entstehen und Vergehen, nur sie sind zerstörbar oder erhaltbar.

Der ökologischen Krise setzen die Theologen die Forderung entgegen, die Schöpfung zu bewahren. Diese Forderung ist selbstverständlich zu unterstützen, wenn damit auf menschliche Tätigkeits- und Verhaltensweisen gezielt wird, die der Erhaltung der menschlichen Gattung und ihrer Lebensbedingungen dienen. Die exorbitante Form dieses Postulats ist selbst vom theologischen Standpunkt aus zu hinterfragen. Sie hätte nämlich dann einen merkwürdig kleingläubigen Gottesbegriff zur Voraussetzung, aus dem dessen Allmacht herausfiele. Es sei denn, der Mensch würde als Endzweck der Schöpfung betrachtet, dann würde allerdings mit der Selbstzerstörung des Menschen der Sinn von Schöpfung in Frage gestellt. Wird der Mensch als Endzweck begriffen, so ist letzthin eine teleologische Naturauffassung die Konsequenz. Wird er als Ebenbild Gottes verstanden, was ja immer eine Ähnlichkeit Gottes mit dem Menschen einschließt, dann hat dies eine anthropomorphe Sichtweise auf Gott und seine Wirkungsweise zur Konsequenz.

Ein Charakteristikum der Philosophie Spinozas besteht in der durchgängigen Kritik der Teleologie und des Anthropomorphismus. Ist diese Kritik hoffnungslos veraltet?

Dass aus einem bestimmten Gottes-, Substanz-, Natur- oder Materiebegriff sich logisch ein entsprechendes Menschenbild ergibt, ist ein nicht zu bezweifelndes Faktum der Philosophiegeschichte. Das in der Ethica dargestellte System von Spinoza scheint hierfür ein Paradebeispiel zu sein. In den ersten beiden, »Grund-legenden« Teilen, die von Gott und dem Ursprung des Geistes handeln, stehen anthropologische Gedanken keineswegs im Vordergrund. Das hat Generationen von Spinoza-Rezipienten und -Kritikern dazu verleitet, den Substanz-Begriff in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stellen. Die längst nicht überwundene Einseitigkeit in dieser Interpretation besteht darin, dass die Darstellungsweise mit der Genese des Systems in eins gesetzt wird, was zur Ignorierung der ursprünglichen Intentionen eines Denkers führen kann. Um die simple Tatsache, dass Philosophie von Menschen für Menschen gemacht wird, kommt keiner herum. Wo es kein Selbstbewusstsein beim Produzenten und kein Bewusstsein vom Adressaten gibt, dort ist keine Philosophie.

Bei Spinoza handelt es sich um Philosophie auch deshalb, weil er nicht nur von der Substanz auf den Menschen, sondern auch vom Menschen auf die Substanz schließt. Von der wechselseitigen Abhängigkeit von Ontologie und Anthropologie, die im Grunde jede Genese eines philosophischen Systems charakterisiert, hat Spinoza ein klares Bewusstsein; ja, er macht diese Einsicht zu einem methodischen Prinzip. Es ist richtig gesagt worden, dass seine Theorie »[…] einen doppelten Ausgangspunkt hat: den Ausgang von Gott und den Ausgang vom Menschen«3.

Das Erregende bei Spinoza ist nun gerade, dass dieser doppelte Ausgangspunkt, dieser »Perspektiven-Dualismus«, mit der Überwindung jenes philosophischen Dualismus verbunden ist, der Sein und Denken als getrennte Bereich fasst, die nur von einer transzendenten Ursache zu vermitteln sind.

Wer annimmt, Spinozas Schritt über Descartes hinaus bestünde nur darin, dass er die res extensa und die res cogitans als Attribute der einen Substanz versteht, hat nur eine sehr allgemeine und abstrakte Vorstellung von seiner Philosophie. Die Überwindung des Cartesianismus findet eben nicht nur in der Ontologie statt; in konkreter Weise erfolgt sie in der Anthropologie.

Angesichts der Grundthese dieser Anthropologie, wonach der Mensch Teil der Natur und deren Gesetzmäßigkeit unterworfen ist, ist Spinoza nicht selten der Vorwurf gemacht worden, dass daraus Fremdbestimmtheit und Unselbständigkeit des Menschen folgten, letztlich also Fatalismus. Verbleibt man auf dieser Denkebene, dann müsste allerdings auch zugegeben werden, dass die Leugnung dieser These die Selbstbestimmung des Menschen, seine Selbständigkeit auf den Boden eines heillosen Subjektivismus stellt.

Spinozas Intention ist darauf gerichtet, die scheinbare Antinomie: entweder Fatalismus oder Subjektivismus aufzulösen. Seine Fragestellung lautet: Ist in einer durchgehend determinierten Welt, die zu leugnen aller Wissenschaft den Boden entziehen würde, Selbstbestimmung des Menschen möglich? Und wenn ja, in welcher Weise? Es ist dies die alte, aber keineswegs veraltete Frage nach dem Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit.

Die Antwort des Amsterdamers fällt prinzipiell anders aus als die, die später vom Königsberger gegeben wurde.

Die von Kant vorgenommene scharfe Grenzziehung zwischen Natur- und Sittengesetz ist vom Standpunkt spinozianischer Denkweise nicht nachvollziehbar. Nicht auf der Autonomie des menschlichen Willens und dessen Bestimmung allein durch unsere Vernunft gründet sich bei Spinoza menschliche Freiheit, sondern auf Erkenntnis der Gesetze der Natur, einschließlich der Gesetze der menschlicher Natur, und entsprechender Tätigkeits- und Verhaltensweise. Tugend ist bei Spinoza nicht jenseits des Natürlichen angesiedelt, sie ist die eigentliche Natur des Menschen, sofern dieser die Macht hat, etwas zu bewirken, was nur durch die Gesetze seiner eigenen Natur begriffen werden kann.

Nun mag man zu einer normativen Ethik, wie sie sich aus dem kantschen Ansatzpunkt ergibt, oder zu einer nicht-normativen Ethik, wie sie aus dem spinozistischen Ansatzpunkt folgt, stehen, wie man will. Mit Fichte wird allerdings anerkannt werden müssen, dass beide Systeme hinsichtlich ihrer Begründung und der Konsequenz ihrer Durchführung die herausragenden der Neuzeit sind. Und daraus darf dann wohl die Forderung abgeleitet werden, dass nicht nur eines von ihnen im ethischen Diskurs der Gegenwart mit Aufmerksamkeit bedacht werden darf.

Wer berücksichtigt, dass die menschliche Vernunft sich ständig vor den partiellen Interessen, denen zumeist Begierden zugrunde liegen, blamiert, der wird die »List der Vernunft« nicht zu hoch veranschlagen. Ist unsere Gegenwart nicht gerade dadurch charakterisiert, dass die von Affekten getriebene rastlose Tätigkeit des Verstandes und seine Vergegenständlichungen zu höchst unvernünftigen Resultaten führen? Gleicht unsere Lage nicht der Situation jenes Zauberlehrlings, der die gerufenen Geister nicht mehr los wird? Wo aber ist der alte Meister, der sie zu bannen vermag?

Anders gefragt: In welchem Maße sind Tätigkeit und Verhalten der Menschen von ihren Affekten, die aus der Kraft und Notwendigkeit ihrer Natur hervorgehen, bestimmt? Und in welchem Maße ist die menschliche Vernunft in der Lage, die Affekte im Zaume zu halten? Die landläufige Meinung, wonach der »Rationalismus« Spinozas gerade in der Postulierung der absoluten Macht der Vernunft über die Affekte besteht, verfehlt das Wesen seiner Psychologie. Einer derartigen Idealisierung des menschlichen Wesens hat Spinoza nie das Wort geredet. Affekte sind nicht durch Vernunft, sondern immer nur durch andere Affekte zu begrenzen, so wie ein Ding immer nur durch andere Dinge und ein Begriff immer nur durch andere Begriffe zu begrenzen sind. Die menschliche Natur ist nicht zu beweinen und nicht zu verlachen, sie muss verstanden werden.

Dass die Zahl heutiger Psychologen, die in Spinoza einen ihrer Stammväter sehen, im Wachsen begriffen ist, hat seinen Grund darin, dass sich seine Affektenlehre als realistisch erweist, dass von ihr aus das Verhältnis von Affekt und Vernunft aufgehellt werden kann. Kann dies im heutigen philosophischen Diskurs unberücksichtigt bleiben?

Die Aktualität Spinozas wird noch dadurch verstärkt, dass seiner Affekten- und Vernunftlehre eine Toleranzauffassung innewohnt, die fern jeglicher Illusion ist. Bedarf nicht unsere Gegenwart, in der die Intoleranz nach wie vor schreckliche Triumphe feiert, eines Toleranzverständnisses, das nicht wie ein schönes Ideal wirkungslos über der Realität schwebt, sondern sich der Schwierigkeiten seiner Verwirklichung voll bewusst ist? Der dem Affekt Liebe gegenüberstehende Affekt Hass ist der wirkungsvollste, der Toleranz gefährdet. Trotz zweitausendjähriger Predigten über Nächstenliebe ist er, wie die Erfahrungen zeigen, nicht ausgerottet. Spinoza findet für dieses Faktum eine Erklärung: Affekte, die aus der Kraft und Notwendigkeit der Natur entspringen, können nicht abgeschaltet werden. Affekte wie Liebe und Hass gehören zum Wesen der menschlichen Natur. Wohl aber kann der intolerante Charakter der Affekte eingeschränkt werden. Hat dazu Spinoza nicht Wege gewiesen?

Spinozas Toleranzauffassung beschränkt sich nicht auf die Frage nach den Verhältnissen von Mitgliedern von Religionsgemeinschaften, aber natürlich hat ihn diese, die in seinem Jahrhundert Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen war, stark berührt. Sein Verhältnis zur jüdischen und christlichen Religion, das von Dissens und Konsens charakterisiert war, erschütterte sein Jahrhundert und rief ein ganzes Heer intoleranter Kritiker auf den Plan. Obwohl die Hektik dieser Diskussion in unseren Tagen abgeflaut ist, bleibt die kritische Religionsphilosophie Spinozas immer noch nachdenkenswert.

Spinozas Gottesbegriff, der angesichts des Deus sive natura den etablierten Religionsgemeinschaften unannehmbar schien, legte zwar den Grund für sein philosophisches System, aber die Pole, um die sich sein Denken drehte, waren Ethik und Politik.

Erst in unserer Zeit hat die politische Philosophie Spinozas wieder an Interesse gewonnen. Das hat seinen Grund darin, dass der Demokratiebegriff, der im politischen Denken unserer Tage einen zentralen Platz einnimmt, bei Spinoza fest in seine Naturanschauung und in seine Anthropologie eingebunden ist. Es stellt sich daher die Frage, ob nicht Spinozas Demokratieverständnis festere philosophische Grundlagen hat, als dies bei John Locke und den ihm folgenden Aufklärern, auf die sich die heute gängigen Demokratieauffassungen letztlich stützen, der Fall ist.

Schließlich ein letzter Gedanke, der die Notwendigkeit der stärkeren Einbeziehung Spinozas in den gegenwärtigen philosophischen Diskurs zu bekräftigen vermag: An philosophischer Literatur ist in unserer Zeit kein Mangel, philosophische Haltungen dagegen sind weit seltener anzutreffen. Wer eine solche erwerben will, kann selbstverständlich in die Schule des Sokrates gehen; er sollte aber die des Spinoza keinesfalls auslassen.

2. Spinozas philosophische Lebensform

Von Seneca wird berichtet, er habe auf den Vorwurf, dass seine Lehre seiner Lebensart widerspreche, dass er Wasser predige, aber Wein trinke, so geantwortet: Ich bin ein Wegweiser; von diesem aber kann nicht verlangt werden, dass er den gewiesenen Weg auch geht. Dagegen gleicht Spinoza einem Spurenleger, der nicht nur die Richtung kennt, sondern den Weg gerade dadurch weist, dass er ihn selbst zurücklegt.

Seit Sokrates und einigen seiner Schüler (Kyniker) ist die Übereinstimmung von philosophischer Denkweise und existentieller Lebensform nirgends so überzeugend demonstriert worden wie von Spinoza. Philosophie ist ihm vorzüglich Ethik, die nicht nur die Möglichkeit von Tugend theoretisch begründen, sondern gelingendes Leben bewirken will. Mit den Stoikern, von denen ihn vieles trennt, ist er sich darin einig: Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern diese selbst.

Wie stark Spinoza seine Grundintention auf seine eigene Person bezieht – was in anderen Fällen keineswegs seine Art war –, davon zeugt die Einleitung in seiner frühen Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes.

»Nachdem die Erfahrung mich gelehrt hat, dass alles, was im täglichen Leben sich gewöhnlich ereignet, nichtig und wertlos ist, und da ich sah, dass alles, vor dem ich mich fürchtete und das ich fürchtete, nicht etwas Gutes oder Schlechtes in sich selbst enthielt, sondern nur insofern, als das Gemüt davon bewegt wurde, so beschloss ich endlich zu erforschen, ob es irgendetwas gäbe, das ein wahres Gut sei, dessen man teilhaftig werden könne und von dem allein, unter Zurückweisung alles anderen, das Gemüt erfüllt werde; ja, ob es etwas gäbe, durch das ich, wenn es von mir entdeckt und erlangt wird, eine beständige und höchste Freude auf ewig genießen könne.« (TIE, S. 7)

Das hier skizzierte Forschungsprogramm ist nicht nur von existentieller Bedeutung, es trägt ebenso alternativen Charakter. Vorausgesetzt ist nämlich, dass die Alltäglichkeit keineswegs schon gelingendes Leben, dass der Ängste bewirkende Druck des Seienden nicht überwunden und dass das wahre Gut noch nicht gefunden ist. Schon dies musste jene erschrecken, die ihr Leben in der Ordnung fanden und das höchste Gut in ihre anthropomorphe Gottesvorstellung einbezogen sahen.

Die theoretische und praktische Erfüllung des Programms machte Spinoza zum bestgehassten Mann seiner Zeit. Die ersten Angriffe gegen seine Denk- und Lebensweise kamen von Vertretern der jüdischen Religion, in deren Geiste der Knabe erzogen worden war. Mit wachsender intellektueller Reife entfernte er sich von ihr.4 Da er nie ein Angepasster war, der wider besseres Wissen handelte, brach er mit den von dieser Religion vorgeschriebenen Lebensregeln. Den großen Bannfluch, mit dem er aus der jüdischen Gemeinde ausgestoßen wurde, hat er gelassen aufgenommen. Er kroch weder zu Kreuze, noch suchte er den Schutz anderer Religionsgemeinschaften, deren Lehren und Riten seiner Denkweise nicht adäquat waren. So wurde er zum ersten Konfessionslosen, was ihm in seiner Zeit, deren Geist vom religiösen Bewusstsein dominiert wurde, natürlich den Ruf eines furchtbaren Atheisten einbringen musste.

Im Konflikt mit den religiösen Mächten unterscheidet sich Spinozas Haltung sowohl von der des Giordano Bruno wie von der des Galileo Galilei. Der italienische Physiker widerrief in äußerlicher Form seine das alte astronomische Weltbild revolutionierenden Erkenntnisse, ohne seine innere Überzeugung, dass die Erde sich doch bewege und dass der sanften Gewalt der Vernunft auf die Dauer keiner widerstehen könne, preiszugeben. Bei Spinoza findet sich nicht die Spur eines Widerrufes. Mit bewundernswürdiger Konsequenz hat er nicht nur seine philosophischen Anschauungen entwickelt und verteidigt, sondern ebenso für allgemeine Denkfreiheit gestritten. In ihren Handlungen unterliegen zwar die Individuen den Gesetzen des Staates, nicht aber in ihrem Denken.