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Ein lila Donnerwetter

Feine Sonnenstrahlen sprenkelten den Waldboden. Holly streckte die Hand aus und berührte einen der hohen Wächtersteine, die auf der Lichtung einen Kreis bildeten.

Ein heißer Strahl durchfuhr sie. Überrascht riss Holly die Hand zurück. Der Stein glühte. Als hätte er die Wärme des ganzen Sommers gespeichert. Im gleichen Moment spürte sie einen Luftzug. Kühl und etwas faulig. Das stämmige Einhorn neben ihr beschnupperte interessiert ihre Hand. Zärtlich kraulte Holly seine mausgrauen Locken. Total verfilzt! Wie schaffte Zottel das bloß? Echt eine Leistung, wenn man zweimal täglich gestriegelt wurde.

Hollys Blick wanderte über die Lichtung. Abgesehen von Zottel trotteten noch drei weitere Einhörner rund um die Steine.

Kosmo war fast noch ein Fohlen. Er hatte türkisfarbenes Fell und einen Kristall auf der Hornspitze. Das Horn war eine Fälschung, was jedoch kaum jemand wusste. Darunter wuchs allmählich ein echtes nach.

Nachtschatten dagegen war groß, elegant und hatte schimmerndes, dunkelblaues Fell.

Snorri war zwar ausgewachsen, aber so klein geraten, dass sein Bauch fast den Boden berührte.

Noch immer hatte Holly sich nicht daran gewöhnt, wie unterschiedlich die Einhörner waren. Obwohl sie jetzt schon mehrere Wochen auf der Felseninsel im Schloss von Königin Bernadette lebte, dem einzigen Ort, an dem Einhörner und deren Hüterinnen ausgebildet wurden. Seit Kurzem war auch Holly eine von drei Schülerinnen, die hier alles über Einhörner und ihre Magie lernten. Unglaublich! Davon hatte sie ihr Leben lang geträumt.

Sie gähnte. Von der harten Stallarbeit allerdings weniger. Doch die gehörte ebenso dazu wie die meist schlechte Laune ihrer Lehrerin Dolores, der Königlichen Oberhüterin der Einhörner.

Während sie auf die anderen wartete, bummelte Holly von einem Wächterstein zum nächsten. Wie viele waren es – zwölf? Sie zählte stumm nach. Halt, da war noch einer. Fast verdeckt vom hohen Gras und nur halb so groß wie die übrigen. Mit dem geschrumpften waren es also dreizehn.

Holly betrachtete den lächerlich kurzen Wächterstein. Zählte der wirklich? Den konnte man ja kaum ernst nehmen.

Hm. Nicht für voll genommen werden – das Gefühl kannte sie.

Eigentlich war Holly eine Hexe. Nicht nur irgendeine, sondern zufällig die Tochter von Mahina, der mächtigsten Hexe Balisaliens und aller angrenzenden Königreiche. Da sollte man doch meinen, sie hätte Mahinas Talent geerbt. Zumindest ein winziges bisschen. Von wegen! Keiner anderen Hexe gelang so selten ein Zauber wie ihr.

„Hey, Zwergstein“, sagte Holly leise, „ich mag dich.“

Im selben Augenblick wieherten die Einhörner. Holly fuhr herum.

Dolores marschierte in den Steinkreis, mit wild abstehenden Haaren und einem braungrünen Kleid, in dem sie ein bisschen aussah wie eine Erdkröte. Hinter ihr tauchten die anderen beiden Schülerinnen auf: Luise, die Tochter von Königin Bernadette und Thronerbin von Balisalien. Und Yvonne, Tochter von Sir Conrad, dem Verwalter des Schlosses.

Holly musterte ihre beste Freundin. Luise war blass, das glatte, schwarze Haar ungekämmt. Ihr blaues Kleid hatte mehrere Schmutzflecke, auf dem Ärmel klebte sogar verkrustetes Eigelb. In dem Aufzug wäre Luise normalerweise nicht mal vor die Tür ihres Prinzessinnengemachs getre-ten.

Doch zurzeit war eben nichts normal. Holly seufzte. Das lag natürlich an Penelope. Die zarte, fliederfarbene Einhornstute mit der violetten Mähne war Luises Liebling. Und seit einigen Tagen spurlos verschwunden.

„Was stehst du da rum und träumst?“, bellte Dolores und baute sich vor Holly auf. „Hast du den Sternkugel-Lauch gepflückt?“

Holly kniff die Augen zusammen. Ohne das Begleitbuch der 99 Großen Weisheiten für den Hexenalltag, die sie von Geburt an (jedenfalls gefühlt) hatte auswendig lernen müssen, wäre sie längst verloren gewesen. Lektion 37: Nicht jeder Kampf lohnt sich.

Also sparte sie sich eine Antwort und zeigte auf ein Körbchen, das sie auf dem höchsten Wächterstein abgestellt hatte. Damit Snorri, Nachtschatten und Kosmo bloß nicht auf die Idee kamen, das Material für ihre nächste magische Unterrichtsstunde vorzeitig zu verspeisen. Nur bei Zottel machte sie sich keine Sorgen. Der fraß zwar auch die Algen, Früchtesnacks und anderen Köstlichkeiten, die die Einhörner serviert bekamen. Aber richtig lecker fand er alles, was kurz vor dem Verzehr noch geatmet und gezappelt hatte.

Da fiel Holly plötzlich die sengende Hitze des Wächtersteins ein, den sie vorhin berührt hatte. Ziegenspeck und Krötendreck! Hoffentlich waren die kugelförmigen Blüten – so violett wie Penelopes Augen – nicht verschmort! Sie hielt den Atem an, als Dolores nach dem Korb griff. Den halben Vormittag hatte sie gebraucht, um auf der Insel genügend Sternkugel-Lauch zusammenzusuchen.

Glück gehabt! Nach einem kurzen Blick in den Korb schnaufte Dolores zufrieden und winkte ihre Schülerinnen zu sich. Mit einem Satz stand Yvonne neben ihr.

Holly stöhnte. Eigentlich war Yvonne ganz in Ordnung. Aufrichtig, verschwiegen und immer bereit, mit anzupacken. Wäre sie nur nicht so verflixt ehrgeizig!

Streber konnte Dolores allerdings nicht ausstehen. Mit einem gefährlichen Grunzen brachte sie Yvonne auf Abstand.

Luise schlurfte näher und starrte mit leerem Blick zu Boden. Holly versetzte ihr einen aufmunternden Stoß.

„Lass das“, zischte Luise gereizt.

Bevor Holly etwas erwidern konnte, verbreitete sich ein scharfer Geruch auf der Lichtung. Wie auf ein Stichwort setzten sich die Einhörner in Bewegung, stellten sich zu einem Kreis auf und streckten erwartungsvoll die Köpfe zur Mitte.

Holly blinzelte verwirrt. Was war denn jetzt los?

In jeder magischen Unterrichtsstunde mussten die Einhörner einen Kreis bilden, was meistens der mühsamste Teil war. Und jetzt machten sie einfach so mit? Freiwillig?

Dolores grinste. „Wir haben eine neue Lieferung Mondkraut bekommen. Taufrisch“, erklärte sie und holte eine silberne Dose in der Form eines Halbmondes aus der Tasche ihres Krötenkleides. „Ein echter Leckerbissen für die Schätzchen, das Kraut zergeht extrascharf auf der Zunge.“

Holly hustete, als Dolores ihnen mehrere tiefblaue, goldgetupfte Blätter in die Hand drückte. Yvonne wimmerte, und Luise zog die Nase hoch. Nur Snorri, Kosmo, Nachtschatten und Zottel scharrten begierig mit den Hufen.

„Nehmen wir mal an, ihr verirrt euch im Wald“, sagte Dolores, ohne den stechenden Geruch des Mondkrauts zu beachten. „Was macht ihr?“

Yvonne öffnete den Mund, doch ausnahmsweise war Holly schneller.

„Nach dem Weg fragen, natürlich“, sagte sie. „Am besten einen Klauenkobold. Die trifft man doch an jeder Ecke, und sie kennen sich überall aus. So lange man ihren Pranken nicht zu nahe kommt, kann nichts passieren.“

„Falsch.“ Dolores’ Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ihr werdet zu Einhorn-Hüterinnen ausgebildet. Da könnt ihr nicht jeden dahergelaufenen Kobold befragen. Vor allem, wenn ihr mit einem Einhorn unterwegs seid. Stellt euch vor, ihr seid auf der Suche nach Mondkraut. Wollt ihr wirklich riskieren, dass jemand hinter euch herschleicht und euch das Kraut abnimmt? Oder, noch schlimmer, herausfindet, wo es wächst?“

Holly schwieg betreten. Das Geheimnis des Mondkrauts wurde streng gehütet. Nicht mal Sir Conrad wusste Genaueres.

Jedes Einhorn hatte magische Kräfte. Mithilfe des Mondkrauts ließ sich die Magie verstärken oder in eine gewünschte Richtung lenken. Natürlich nur, wenn das Einhorn auch mitmachte.

Doch was, wenn das Mondkraut jemandem wie Lord Brandur in die Hände fiel? Der rücksichtslose Herrscher von Karneol ließ keine Gelegenheit verstreichen, noch mehr Macht an sich zu reißen. Bisher hatte er es nicht geschafft, eines der scheuen Einhörner in sein Reich zu locken. Aber wenn es ihm gelänge, das sagenumwobene Kraut zu bekommen?

„Mithilfe des Sternkugel-Zaubers könnt ihr euch überall orientieren“, belehrte Dolores sie. „Selbst bei Schneestürmen, Nebel oder in der tiefsten Nacht. Außer dem Mondkraut braucht ihr eine Blüte des Sternkugel-Lauchs. Um den Zauber zu bewirken, müsst ihr an violette Wolken denken. Aber sie müssen klein sein!“

Das war alles? Holly lächelte. Da hatten sie schon deutlich schwierigere Aufgaben bewältigen müssen.

Sie trat mit Luise und Yvonne vor die Einhörner und schnupperte erst am Mondkraut, dann am Sternkugel-Lauch, dessen große Blütenkugeln aus vielen einzelnen Blüten bestand, die alle wie winzige Sterne aussahen.

Übermütig stieß Kosmo sein Horn in die Luft.

„Geht ja schon los“, beruhigte Holly ihn und gab ihm seine Portion Mondkraut, während Luise und Yvonne Nachtschatten, Zottel und Snorri versorgten.

Holly schloss die Augen. Mit jedem Mal fiel es ihr leichter, sich im Geist mit den Einhörnern zu verbinden. Diesmal dachte sie an dünne, lilafarbene Seidenfäden, die sich wie ein Spinnennetz über den Steinkreis legten.

Und jetzt die Wolken. Holly stellte sich lavendelfarbene und dunkelviolette Wölkchen vor. Es klappte ganz gut, nur die Größe stimmte noch nicht. Sie mussten deutlich kleiner werden. Was leider gar nicht so einfach war. Neben ihr ächzte Luise leise.

Plötzlich war ein hohes Pfeifen zu hören. Holly öffnete die Augen. Eine fette, lilafarbene Wolke waberte über der Lichtung. Wenn das kein Erfolg war!

Dolores jedoch wirkte leider weniger erfreut. Überhaupt nicht erfreut, um genau zu sein. Sie zeigte vorwurfsvoll auf die immer tiefer sinkende Wolke. Nach einem kurzen Blick hinauf verkrümelten sich die Einhörner eilig hinter die Wächtersteine. Das hätte Holly jetzt auch gern getan.

„Viele KLEINE Wölkchen, doch nicht so ein Riesenmonstrum“, beschwerte sich Dolores. Bevor sie noch etwas nachschieben konnte, löste sich die Wolke mit einem PLOPP! auf. Ein Schwall zäher Schleim pladderte vom Himmel. Dolores fluchte und machte einen Satz zur Seite, bekam aber trotzdem eine großzügige Portion ab.

„Ich weiß nicht, wie ich aus euch jemals Hüterinnen machen soll“, zeterte sie und zeigte mit dem Finger auf Luise. „Du hast mit offenen Augen geträumt, ich hab’s genau gesehen. Die ganze Woche geht das schon so. Reiß dich gefälligst zusammen.“

Luises Hautfarbe wechselte von Käsig-Weiß zu Dunkelrot. „Ich hab mich wirklich angestrengt“, verteidigte sie sich.

„Das reicht nicht“, polterte Dolores, „da muss schon mehr kommen.“

„Quatsch.“ Luise stampfte mit dem Fuß auf, wie immer, wenn sie sich fürchterlich ärgerte. „Und überhaupt: Bin ich die Einzige hier, die sich Sorgen um Penelope macht? Lilu ist auch immer noch weg. Wieso zaubern wir blöd herum, anstatt die Einhörner zu suchen?“

„Blöd herumzaubern?“ Dolores schnaubte. „Wir tun, was wir können, um die Einhörner wiederzubekommen.“

„Ach ja?“, rief Luise empört. „Davon habe ich überhaupt nichts gemerkt.“

„Das musst du auch nicht“, schnappte Dolores und machte einen Schritt auf Luise zu. „Jetzt reicht’s! Geh gefälligst …“ Den Rest des Satzes bekam keiner mehr mit. Leider! Denn Dolores rutschte auf einem der dicken Schleimbatzen aus.

„Oh nein!“, rief Yvonne entsetzt und schlug sich die Hände vor den Mund.

Holly und Luise sprangen vor, um Dolores aufzufangen, doch die lag längst bäuchlings in der lilafarbenen Pampe. Mühsam rappelte sie sich wieder auf, über und über mit Schleim und Grashalmen bedeckt.

Auweia! Jetzt kam bestimmt die längste Strafpredigt ihres Lebens.

Doch Dolores begutachtete nur ausdruckslos ihren Knöchel.

„Der wird ja ganz dick“, bemerkte Luise.