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Michael Rohde

SCHÄTZE DER BIBLISCHEN ZEIT

50 ARCHÄOLOGISCHE ENTDECKUNGEN RUND UM DIE BIBEL

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In ehrendem und dankbarem Gedenken an
Prof. Dr. Martin Metzger
* 11. Januar 1928 † 10. Juni 2018

INHALT

Über den Autor

Geleitwort

Vorwort

  1. Dornen und Disteln auf dem Acker des Faulen
Weise Sprüche vor 4000 Jahren

  2. Auf der Jagd nach Unsterblichkeit
Das Gilgamesch-Epos und die Sintflut-Erzählung

  3. Der König der Gerechtigkeit
Der Codex Hammurabi als berühmte Rechtssammlung

  4. Dünger gesucht, Lehmklumpen gefunden
Das Kanzleiarchiv der Tontafeln von Amarna

  5. Erotische Liebeslieder oder Anbetungssongs?
Sexualität im alten Ägypten und im Hohelied

  6. Alles XXL: Das Goldene Zeitalter von Amenhotep III.
Das »Schasu-Land von Jahu« in ägyptischer Inschrift

  7. Die älteste außerbiblische Spur des Volkes Israel
»Israel« in der Inschrift des Pharao

  8. Die Sonne soll der einzige Gott sein!
Echnaton, sein Monotheismus und sein Sonnengesang

  9. Beten mit starker Jenseitshoffnung
Amenmoses Osiris-Gebet, das wie ein Psalm klingt

10. »Die Braut Syriens« und das Kalb von Aschkelon
Von Ägyptern, Philistern und einem Stierkalb vor seinem Haus

11. Es blitzt und donnert, wenn in Kanaan Götter kämpfen
Baal in Erzählungen und als Statue

12. Götterkarriere und Menschenwürde
Enuma Elisch erzählt von Schöpfung, Götterwelt und zweckdienlichen Menschen

13. Millionen von Ziegeln: Der »Turmbau zu Babel«
Der Schatz eines deutschen Architekten

14. Herzbeschwerden und Augenbrennen in Babylon
Wie eine Prozessionsstraße den letzten Funken Glauben rauben kann

15. Wie ein Leidender mit seinem Freund spricht
Der Babylonische Dialog über Pessimismus

16. Wenn Gott Leiden verfügt und wieder aufrichtet
Der »Babylonische Hiob« – Ludlul bel nemeqi

17. 155-mal gesiegt: Triumphales Prahlen
Der Pharao Schischak beraubt Jerusalem

18. Schreibübung auf einem Notizzettel
Der Bauern-Kalender von Gezer

19. Von Hinkelsteinen zum Beten und Marktplätzen des Orients
Die Toranlage und die Steinmale von Gezer

20. Eine assyrische Gewaltorgie bei Qarqar?
König Ahab von Israel in der Kurkh-Inschrift von Salmanassar III.

21. Puzzle mit drei Teilen: Das »Haus Davids«
Die einzige außerbiblische Erwähnung von David auf der Tel-Dan-Stele

22. Wertvoller als Gold
Die Mescha-Inschrift und Omri, der König von Israel

23. Kniefall eines Königs auf staatlicher Litfaßsäule
Jehu und der schwarze Obelisk von Salmanassar III.

24. Sensationeller Beweis oder mittelmäßige Fälschung?
Wie König Joasch und Salomos Tempel in die Nachrichten kamen

25. Eine Frau neben Gott?
Wenn Beter »Jahwe und seine Aschera« anrufen

26. Graffiti von Bauarbeitern zum Eintauchen in die Geschichte
Tunnelbau eines Reformkönigs in Jerusalem

27. Gefangen wie ein Vogel im Käfig
Hiskia, Sanherib und die Bewahrung der Stadt Jerusalems

28. Aberglaube aus politischen Gründen
Als König Manasse glauben musste, was der Sieger vorschrieb

29. Unheilvoller Wandspruch eines Sehers
Die Bileam-Inschrift von Sukkot

30. Besiegelt von Baruch, dem Gesegneten Jahwes
Zwei Tonbullen des Sekretärs von Jeremia

31. Segen auf Silber: Segenswünsche auch für den Toten
Ein Amulett entpuppt sich als der älteste erhaltene Bibeltext

32. Wenn man sich selbst ein Prachtgrab meißelt
Der Staatsschreiber Schebna und die Inschrift des Haushofmeisters

33. Wenn der babylonische König betet
Nabonid, Belschazzar und Daniel

34. Grünes Licht aus Persien für den Jerusalemer Tempel
Wie Kyrus als idealer Herrscher Macht und Toleranz verbindet

35. Fern der Heimat anders glauben als erlaubt
Die jüdische Kolonie in Elefantine und ihr Vielgötterglaube

36. Amtlicher Notizzettel mit Prophetenspruch
Die Verwaltungsdokumente aus Lachisch – eine spannende Lektüre

37. Der Jahrhundertfund von Qumran
Von Schmugglerhöhlen, Dattelbauern, frommen Schreibern und fehlenden Versen

38. Wie Fischer den Fang ihres Lebens machen
Das »Jesus-Boot« am See Genezareth – oder: Wenn Schlamm ein Schiff konserviert

39. Endlich einmal keine Fälschung: Die Knochenkisten des Kaiphas und seiner Enkelin Mirjam
Warum zwei Inschriften auf Gebeinskästen ein Glücksfall für Historiker sind

40. Wenn nicht die Kanalisation kaputtgegangen wäre …
Wie ein moderner Zufallsfund die Geschichte des Teichs Siloah neu schreibt

41. In der Ferse ein Nagel
Was die Gebeine eines jungen Mannes uns über die Kreuzigung Jesu sagen

42. Was steckt unter der weißen Synagoge?
Das Gotteshaus aus Kafarnaum – und was Jesus damit zu tun hat

43. Wohnte Petrus in diesem Haus?
Wo man in Kafarnaum Gottesdienst feiert(e)

44. »Jakobus, Sohn von Josef, Bruder von Jesus«: Wie eine Knochenkiste vom Wohnzimmermöbel zum Sensationsfund gemacht wird

45. Pilatus – als Fußabtreter herabgestuft
Die Inschrift über den römischen Präfekten: ein Zufallsfund

46. Archäologischer Krimi zum Golgathafelsen
Was Mauern und Steinbrüche mit dem Ort der Kreuzigung zu tun haben

47. Der römische Prokonsul Gallio als Glücksfall für Paulus
Wie der Mut eines Politikers dem Apostel das Leben rettet

48. Groß ist die Artemis von Ephesus!
Wenn ein Apostel auf eine olympische Göttin trifft

49. Wenn die Gemeinschaft ein eigenes Gebäude braucht
Die Theodotos-Inschrift aus einer Synagoge zur Zeit Jesu in Jerusalem

50. Großes Kino oder der »Thron des Satans«?
Der Pergamon-Altar und die Offenbarung des Johannes

Anhang

Schlagwortverzeichnis (Orte, Namen, Funde, Stichworte)

Erwähnte Bibelstellen

Literatur in Auswahl

Nachweis zitierter Texte

Bildnachweis

Über den Autor

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Prof. Dr. Michael Rohde war von 2007–2015 Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Elstal und zuvor Dozent für Hebräisch an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und an der Theologischen Hochschule Ewersbach. Er ist leitender Pastor der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Hannover-Walderseestraße und findet die Bibel alles andere als veraltet, sondern lebendig, frisch und lebensnah.

Geleitwort

Wer sich anschickt, die Bibel, besser zu verstehen …

… der muss die »Welt der Bibel« besser verstehen, sie entschlüsseln und beleuchten. Michael Rohde unternimmt in seinen fünfzig Schlaglichtern die dankbare Funktion eines Brückenbauers. Denn die biblischen Schriften haben nach wie vor nichts an Aktualität und Bedeutung verloren. Auch wenn mitunter die »gefühlte Wahrheit« anders aussieht: Das am häufigsten abgeschriebene, verlegte und gedruckte sinnstiftende Buch der Menschheitsgeschichte hat seinen Einfluss über Jahrtausende hinweg nicht eingebüßt – keine andere Schrift hat Literatur, Musik und bildende Künste (Malerei, Bildhauerei), aber auch Staatsauffassung, Gesetze und Philosophie so entscheidend geprägt wie die Bibel. Und auch heute noch erkennt man die entscheidenden Treibladungen für Demokratie, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Freiheit zwischen den zwei Buchdeckeln der einen, zweigeteilten Heiligen Schrift versammelt.

Allerdings: Die Bücher der Heiligen Schrift sind nicht in »unserer« europäischen Heimat entstanden – sie sind ganz und gar orientalisch: »Das Christentum ist keine abendländische Religion. Jesus war ein Morgenländer«, gibt Navid Kermani im Januar 2015 im Deutschlandfunk Kultur zu bedenken. Das gilt in noch viel stärkerem Maße von der Hebräischen Bibel, dem Ersten Testament. Es ist ein »Best of Alter Orient und Ägypten«. Natürlich – und das ist entscheidend – kein »copy and paste«-Produkt, also kein billiges Plagiat. Die Bibel erzählt nicht von Amun, Atum, Marduk oder Enki. Denn die antike Theologie der Hochkulturen wird unter der Sichtweise des »Einen Gottes« von Jerusalem beleuchtet, gedeutet und ausformuliert. Hier gehören entscheidende Aktzentverschiebungen und Eigenwege zum Programm. Es ist die Geschichte von JHWH von Jerusalem (im Ersten Testament), der als Vater Jesu Christi auch den entscheidenden göttlichen Rahmen des Zweiten Testaments bildet.

Rohde wagt den Blick in die Vergangenheit. Dabei nutzt er einen wertvollen Schlüssel: Die Kultur der Antike, so wie sie uns in archäologischen Funden entgegentritt, wird von ihm nach signifikanten Beispielen durchforstet. Dabei wird auch den Rahmeninformationen stets Raum zugestanden. Auf diese Weise werden nicht nur umfangreiche Textfunde vorgestellt – wie z. B. das Gilgamesch-Epos (Kapitel 2), der Codex Hammurabi (Kapitel 3) oder Enuma Elisch (Kapitel 12) –, sondern auch kürzere Inschriften wie beispielsweise aus Gezer (Kapitel 18) oder Kuntillet Ajrud (Kapitel 25). Belege aus der Frühzeit Israels (Kapitel 6 und 7) sind ebenso präsent wie die Elefantine-Dokumente aus der persischen Zeit (Kapitel 35). Rohde untersucht auch, wie sich die archäologischen Entdeckungen einerseits und die biblische Überlieferung andererseits zueinander verhalten. Dabei zeigt sich, dass beide jeweils als »Schätze« zu begreifen sind.

Einige Grundlagen sind hier vorausgesetzt:

1. Ein Buch, das in den Kirchen gelesen und verkündigt wird, muss verstanden werden. Ohne den historischen Entstehungskontext wären Missverständnisse an der Tagesordnung. Die »Schätze der biblischen Welt« sind also Erklärbeiträge. Sie tragen im reformatorischen Sinne zur besseren Kenntnis der Bibel und ihrer Bedeutung bei.

2. Die antike Theologie in unseren Heiligen Schriften ist mit den Theologien und Religionen der umgebenden Kulturen äußerst vernetzt. Denn diese Kulturen standen miteinander in regem Austausch und lassen sich heute zur gegenseitigen Erklärung heranziehen. Nichts anderes leistet Rohde mit den Beispielen aus dem Orient, die aufgrund ihrer Vernetzung einen Erkenntnisgewinn für uns bereithalten.

3. Der beschrittene Weg ist noch lange nicht zu Ende. Mehr als 300 Ausgrabungen pro Jahr in Israel fördern eine beachtliche Menge an Daten und Artefakten (Kulturgegenständen) zutage. Diese erleichtern das Entschlüsseln manch einer – heute nur schwer verständlichen – biblischen Textpassage.

Wer also die Texte aus dem Orient und damit auch die Bibel verstehen will, muss sich mit den materiellen Hinterlassenschaften der Religionen und Kulturen beschäftigen. Dies tut Michael Rohde, der das Heilige Land intensiv bereist hat und sich die Feldarchäologie am eigenen Leib aneignen konnte. Alttestamentlich solide, aber zugleich gesamtbiblisch orientiert macht er sich auf den Weg. Das letzte Drittel der Ausführungen beschäftigt sich mit den neutestamentlichen Zusammenhängen: Kenntnisreich – mitunter mit einem Augenzwinkern – vermittelt er den interessierten Lesenden wichtige Grundlagen anhand bedeutender Schriftfunde und bildlicher Dokumente. Dabei ist die Einstiegsschwelle bewusst nicht zu hoch angesetzt. Ein ausgewähltes Literaturverzeichnis hilft, dem ersten Einstieg einen zweiten mit weiterführender Fachliteratur folgen zu lassen.

Religion hat immer eine sicht- und greifbare Ausdrucksform. Beide gehören aufs Engste zusammen. Wer den Blick über den Tellerrand wagt, wird manch eine Kriminalgeschichte und auch etliche Überraschungen antreffen. Michael Rohde illustriert auf diese Weise mit seinen fünfzig Kurzkapiteln die Welt der Bibel anschaulich für alle, die heute in der Bibel lesen – ein kleines Einstiegslexikon en miniature und darüber hinaus in Erzählform präsentiert. Man wünscht diesem Werk zahlreiche Leser und einen soliden Einfluss auf unser Verständnis der Bibel.

Florian Lippke

Kurator BIBEL+ORIENT Museum

Freiburg im Uechtland (CH)

Nachbemerkung

Die Widmung des Buches ist aktueller denn je: Im Juni 2018 wurde Dr. Martin Metzger, Professor, Pastor und Prediger, ins himmlische Jerusalem gerufen. Die »Schätze der Bibel« erinnern auf diese Weise an einen großen Gelehrten und faszinierenden Vermittler der biblischen Welt. Alle, die mit ihm Kontakt pflegten, waren von seiner Gelehrsamkeit, seiner Leidenschaft, aber auch gerade von seiner Menschlichkeit und Frömmigkeit tief beeindruckt. Möge die Erinnerung an Martin Metzger ein Segen sein (auf Hebräisch: zichrono livracha).

VORWORT

Faszination Bibel und Faszination Archäologie

Die Bibel fasziniert mich seit meiner Kindheit. Erzählungen von Gott und seinem Volk Israel und davon, wie Jesus von Nazareth Menschen begegnet, habe ich von Kindesbeinen an gehört und sie haben mich im besten Sinne gefesselt. An »Archäologie« kann ich mich aus dieser Zeit kaum erinnern, höchstens an eine Bibelausstellung.

Die Faszination Archäologie beginnt mit einer Führung mit Martin Metzger zum Pergamonaltar und durch die Prachtstraße von Babylon im Vorderasiatischen Museum Berlin. Metzger erzählt von den alten Steinen, Statuen und Figuren, als wären sie noch lebendig. Dem bibelgeprägten Kind wird spätestens als Theologiestudent klar, dass die Bibel nicht ohne Zusammenhang vom Himmel auf die Erde gefallen ist: Was in Worten geschrieben steht, besitzt eine Umwelt, ein gedankliches und ganz irdisches Klima. Manche Geschichte der Bibel ist weniger einzigartig, wenn man weiß, dass es ähnliche Geschichten gibt, die älter sind, und zugleich begreift der Bibelleser besser, worin das Einzigartige »seiner« Texte besteht.

Während dieses Buch im Lektorat war, hat mich Martin Metzger angerufen, um mir mitzuteilen, dass er sich auf seine letzte Reise vorbereiten muss und er es nicht mehr schafft, ein Geleitwort für dieses Buch zu verfassen. Im Alter von 90 Jahren ist er heimgerufen worden. Ihm sei dieses Buch im ehrenden Gedenken, großer Dankbarkeit und in der Hoffnung auf ein Wiedersehen in Gottes himmlischer Welt gewidmet.

Endgültig hat mich die Faszination Archäologie vor mehr als zehn Jahren erfasst: Am 6. August 2007 entdecke ich bei meinem ersten Einsatz bei einer archäologischen Grabung einen Henkel. »Der stammt aus der mittleren Bronzezeit«, wird mir mitgeteilt, und ich halte begeistert ein Stück Tonkrug in der Hand, das mehr als 3500 Jahre alt ist! Später lerne ich, dass Tonscherben auf einer Grabung wie dem Tell Ziraa in der Nähe des Sees Genezareth etwas Alltägliches sind (www.tallziraa.de). Die Teilnahme am Lehrkurs des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes, geleitet von Dieter Vieweger und Jutta Häser, gibt mir 2007 diese Möglichkeit, an einer archäologischen Grabungskampagne teilzunehmen und Jordanien sowie Israel unter archäologischem Blickwinkel zu bereisen.

Der Autor mit einem typischen Krughenkel, wie man sie bei fast jeder Ausgrabung findet.

Archäologie im Land der Bibel

Um 1850 nach Christus beginnt die systematische Erforschung der Region der Bibel, von Palästina und seinen Altertümern. Als Erstes werden Überreste, die man an der Oberfläche findet, untersucht, die Region für Landkarten genau erfasst und Ortsnamen mit Stätten, die in der Bibel erwähnt werden, in Verbindung gebracht. Grabräuber und Schatzsucher wildern seit eh und je, aber jetzt wird systematisch geforscht und gesucht. Der Brite Sir Flinders Petrie gräbt mit den Mitteln seiner Zeit. Ab 1890 kann er die Struktur eines Siedlungshügels gut beschreiben. Wenn eine Siedlung zerfällt oder zerstört wird, entsteht nach und nach ein Ruinenhügel, arabisch »Tell« genannt. Die übereinanderliegenden Schichten an Schutt aus der Vergangenheit bilden einen von Menschen gemachten Tell. Nachfolgende Siedlungen nutzen (manchmal nach einer längeren Unterbrechung) das oberflächliche Material zum Weiterbauen und Neubauen. Für Kinder vergleicht Dieter Vieweger einen Tell mit einem »Spaghetti-Eis«, bei dem man durch verschiedene »Schichten« zum ältesten Kern zurückgraben kann.

Typischer Ruinenhügel einer Stadt – hier Tel Bet-Schean. Durch mehrmalige Zerstörung und Wiederaufbau der Stadt sind die Schutthügel im Laufe der Jahrhunderte mächtig angewachsen.

Archäologie im Land der Bibel ist von Beginn an nicht nur von Abenteuerlust und wissenschaftlicher Entdeckerfreude geprägt. Es gibt häufig eine religiöse Motivation, biblische Texte zu erhellen oder sogar ihren wahren Kern »beweisen« zu wollen. Zu Beginn sind viele Forscher im Land der Bibel ohne Spezialausbildung unterwegs, um »Schätze der Bibel« zu entdecken. Bis zur Gründung des Staates Israel 1948 treiben US-amerikanische und westeuropäische Forschungsinstitutionen und Kolonialmächte die archäologische Spurensuche im Land der Bibel voran. Die britische Mandatsregierung gründet 1924 eine eigene Antikenverwaltung, deren Arbeit 1948 durch das israelische Department of Antiquities and Museums fortgesetzt wird.

Archäologie und Bibel

1842 werden in Assyrien und besonders in Ninive rund 30 000 Tafeln und Fragmente mit Keilschrift aus der Bibliothek des Königs Assurbanipal gefunden. Gelehrte entziffern etliche der Texte und finden Orts- und Personennamen, welche in der Bibel erwähnt werden, bestätigt. Zugleich wächst das Wissen um andere Religionen und Könige in der Region enorm. Das Israel der Bibel und seine Könige können in einen viel größeren Zusammenhang eingeordnet werden, nämlich den einer Weltmacht und einer konkurrierenden Religion. Als 1873 der Assyrologe G. Smith in London öffentlich davon spricht, dass er einen Keilschrifttext gefunden hat, der älter als die Texte der Bibel ist und von einer Sintflut erzählt, schockiert das viele. Die Archäologie im »Land der Bibel« ist nicht mehr nur Magd der Bibel, sondern kommt zu ganz eigenen Ergebnissen, die auf Augenhöhe diskutiert werden müssen. Das Verhältnis von Babylon zu Israel wird von einigen sogar umgekehrt gesehen und das Alte Testament als »babylonischer Text« herabgestuft. Hitzige Debatten werden über den »Babel-Bibel-Streit« geführt, gefördert auch durch Vorträge, die Friedrich Delitzsch 1902 in Berlin vor der Deutschen Orientgesellschaft in Anwesenheit des Kaisers hält. Wie geht man mit Ähnlichkeiten und Unterschieden in Vorstellungen und Texten des Alten Orients um?

Unterschiedliche Herangehensweisen

Letztlich haben die heißen Debatten der Anfangszeit dazu geführt, dass Theologie und Archäologie, die Erforschung der Bibel und die Erforschung der materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit sich zunächst selbstständig weiterentwickeln. Bibelwissenschaft und Archäologie sind jetzt unterschiedliche Methoden und Herangehensweisen an »Schätze« der Vergangenheit. Beide müssen frei sein, an ihren Objekten zu forschen, Fragen zu stellen und Vermutungen und Deutungen zu wagen. »Biblische Archäologie« ist im besten Sinne heute kein Sklave oder Bittsteller der Bibel mehr, sondern eine eigene Kulturwissenschaft mit umfassenden naturwissenschaftlichen Methoden. Moderne Archäologie untersucht zunächst die Oberfläche von Gegenden, alte Wege und Naturgegebenheiten. Nach solchen Oberflächenbegehungen graben Archäologen exemplarisch in die Tiefe und tragen in quadratischen Feldern Schicht um Schicht ab. Gefunden werden von Menschen bearbeitete Objekte wie Steinmesser und Tierknochen oder bewegliche Habe wie Werkzeuge, Behälter, Schmuck oder Bilder. Man stößt auf unbewegliche Installationen wie einen Pfosten, Lehmofen oder eine Vorratsgrube sowie komplexe Architektur von Wohn- oder Stadtanlagen. Bilder und Texte finden sich auf Tonscherben, Papyrusrollen, Wandreliefs und vielen anderen Medien. Jeder Fund gehört in einen Zusammenhang und wird erst durch die »Schicht«, in der er gefunden und datiert wird, und das Miteinander mit anderen Funden zu einem Befund. Ist ein aufrecht stehender Stein ein Grenzstein, eine Wegmarkierung oder ein Altar für religiöse Zwecke? Die Funktion eines Gegenstands in der Vergangenheit ist nicht eindeutig, sondern muss gedeutet werden, genauso wie Texte zwar gelesen werden können, aber ihre Absicht erst gedeutet werden muss.

Ausgrabung in der kanaanäischen Stadt Gath. Senkrecht von oben sind die Grabungsquadranten mit den dazwischen stehengelassenen Stegen zu erkennen.

Die Stege zwischen den Grabungsfeldern, hier in Megiddo, sind mit Sandsäcken abgedeckt, damit sie in der heißen Sonne nicht zerfallen.

Archäologie kann eine »staubtrockene« Arbeit sein – die Ergebnisse bringen oft Farbe in das Bild von der Vergangenheit.

Was dieses Buch will

Das vorliegende Buch »Schätze der biblischen Zeit« will Neugier wecken und erzählen, was für bedeutende Funde es im Land der Bibel gibt. Eine Auswahl von 50 Kapiteln ermöglicht eine gewisse Vielfalt, aber selbstverständlich keine Vollständigkeit: Ohnehin wären alle archäologischen Funde der bisherigen Erkundungsgeschichte des Heiligen Landes nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was es in der Vergangenheit der Jahrtausende gegeben hat. Wir verfügen nur über wenige Teile eines riesigen Puzzles, aber diese wenigen Puzzleteile können schon die Aufmerksamkeit fesseln. Beispielhaft kann man am sogenannten Tel-Dan-Fragment erkennen, welchen Unterschied es macht, ob man einen einzigen Bruchstein oder zwei weitere in den Händen hält, und offen muss bleiben, was wäre, wenn man die fehlenden Teile fände (siehe Kapitel 20).

Die Funde werden in diesem Buch als »Schätze« tituliert, nicht weil sie aus Gold wären, sondern weil sie immer wertvolle Einblicke in die Lebensweise zur Zeit der Bibel geben und manchmal das Verstehen von Bibeltexten verbessern. Es geht in diesem Buch nicht darum zu »beweisen«, dass die Bibel doch recht habe. Denn die Texte der Bibel bezeugen auf vielfältige Weise Gott, und wenn es Gott ist, dann kann man ihn nicht verstehen oder etwa »beweisen«, sondern er steht höher als menschliche Vernunft. Es geht in diesem Buch auch nicht darum, die sachlichen Schwächen oder die Menschlichkeit der Bibel zu »beweisen«. Texte und Steine sind nicht objektiv. Bibel und Archäologie benötigen immer eine Erklärung und Deutung. So wirkt der Mensch an jeder »Entdeckung« durch seine Augen und Ohren mit.

Für »Schätze der biblischen Zeit« wünsche ich mir Leser aller Generationen. Eine Testleserin ist die 12-jährige Mieke, der ich für ihre ermutigenden und kritischen Kommentare dankbar bin. Ebenso danke ich Olaf Zintarra für seine genaue Lektüre.

Im Wintersemester 2016/17 habe ich ein Seminar »Biblische Archäologie« am Institut für Evangelische Theologie und Religionswissenschaft der Leibniz Universität Hannover durchgeführt. Bei der »Werkstatt Theologie« im Herbst 2017 an der Theologischen Hochschule Elstal habe ich von Fachkolleginnen und Kollegen der Theologie letzte wichtige Hinweise erhalten. Dankbar bin ich meiner Frau Antje und meinem Dienstgeber, der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Hannover-Walderseestraße, dass sie meine Faszination so unterstützt haben, dass dieses Buch erscheinen kann. Schön, dass einige Beiträge als Serie »Schätze der Bibel« schon im Magazin »Faszination Bibel« erscheinen konnten. Alexander Schick hat den Verlag bei der Besorgung von passendem Bildmaterial besonders unterstützt und Ulrich Wendel hat das Buch durch sein Lektorat hilfreich begleitet.

Nun wünsche ich Vermehrung des Wissens und der Faszination an Biblischer Archäologie, frische Neugier auf das Lesen der Bibel – und hin und wieder ein Schmunzeln über verrückte Fundgeschichten von Kanalarbeiten und verbauten Treppenstufen.

Michael Rohde
Hannover, 15.1.2018

1. DORNEN UND DISTELN AUF DEM ACKER DES FAULEN

WEISE SPRÜCHE VOR 4000 JAHREN

Die Wiege der Schrift

Die Wiege der Schrift steht zwischen Euphrat und Tigris, im Zweistromland. Im Süden dieser wasserreichen Gegend sind es die Sumerer, die nachweislich vor mehr als 6000 Jahren lebten. Sie sprechen eine »verklebte« oder »verklumpte« Sprache. Worte werden Silbe für Silbe länger und enthalten so immer mehr Informationen. Häufig wird eine Nachsilbe angefügt und ergänzt so die Bedeutung. So wird z. B. aus einem Wort für Schule mehrere Schulen und sogar »in den Schulen«.

Apropos Schule: Tatsächlich sind es die Sumerer, welche die Schrift als Erste erfinden. Motoren der Entwicklung sind Wirtschaft und Handel. Wenn der Handel blüht und Waren geliefert werden, entsteht die Notwendigkeit von Listen. Zunächst werden ganz einfache bildliche Darstellungen von Tieren und Gegenständen benutzt und als Zählsteine verwendet. Aus diesen Steinen (»Tokens«) für einen Rinderkopf oder einen Krug werden stilisierte Bilder. Das Bild zusammen mit Zahlen – schon ist die Liste fertig. Drückt man die Zeichen in eine weiche Tontafel, wird das Ergebnis abstrakter, und nun besteht der Rinderkopf aus keilförmigen Strichen. Aus Bildzeichen (Piktogrammen) werden Wortzeichen (Logogramme) und letztlich Laute: Es entsteht eine Silbenschrift mit mehr als 900 Zeichen und unzähligen Zeichenvarianten.

Die Sumerer schreiben Listen. Warenlisten stehen am Anfang. Listen von Gegenständen, Naturphänomenen und Götterlisten kommen hinzu. Die Wiege der Schrift bringt unzählige Kinder hervor. Ehrgeizige Forscher der Moderne machen sumerische Texte leicht verfügbar. Wissenschaftler der Universität Oxford erfassen 4000 Jahre alte Tontäfelchen nach allen Regeln der Kunst und stellen sie frei verfügbar ins Internet – in der Umschrift der Keilschrift und in englischer Übersetzung, Zeile für Zeile. 35 000 Textzeilen werden in neun Jahren erfasst und so leicht zugänglich gemacht. 2005 wird zum ersten Mal überhaupt eine umfassende Sammlung sumerischer Literatur samt detailreicher Analyse für jeden abrufbar: http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/

Eine Aufzählung von Tieren in sumerischer Keilschrift.

Typische sumerische Keilschrifttafel (stark vergrößert).

Lesen und Schreiben lernen

Lesen und Schreiben – das kann in Sumer nicht jedes Kind. Schulen in unserem Sinne gibt es im Orient erst im 1. Jahrhundert v. Chr. Kinder lernen in den alten Gesellschaften – auch bei den Sumerern – viel. Jungs nimmt der Vater mit zur Feldarbeit oder zeigt ihnen, was beim Hüten von Schafen und Ziegen zu beachten ist. Mädchen unterstützen die Mutter bei allen Tätigkeiten im Haushalt oder helfen in den Weinbergen. Die Eltern sorgen für das Lernen der Kinder und ihre Allgemeinbildung. Das Wichtigste ist das lebensnotwendige und alltägliche Wissen. Lesen und Schreiben gehören bei der Landbevölkerung lange Zeit nicht zur Allgemeinbildung und eine Schulbank müssen nur zukünftige Schreiber und Beamte drücken. Schreiben ist elitär, kein Alltagswissen. Beamte am königlichen Hof und Priester am Tempel werden zu Schriftgelehrten, Schreiben ist also eine Kunst der Oberschicht. Neben Briefen und Rechtsurkunden werden Tafeln angefertigt, die sich mit der Schöpfung, Gebeten und Lebensweisheit beschäftigen. In Schreiberschulen wird die zukünftige Elite ausgebildet. In solchen Lernwerkstätten werden auch Texte kopiert, die als Schreibübung dienen. Und beim Abschreiben und Aufschreiben lernen die zukünftigen Funktionäre inhaltlich, was weise macht.

Weise werden

Die Frage nach der Weisheit stellt sich nicht nur in Sumer. Nach Auskunft der Weisheitsbücher der Bibel ist Einsicht in die Ordnungen der Welt und des Lebens notwendig, um weise zu werden. Solches Wissen beruht auf Erfahrung und Beobachtung. Daher sind die Weisheitssprüche häufig als Erfahrungssätze formuliert. Der Weise erzählt von seiner Beobachtung und zieht daraus eine Lehre. Beispielsweise beobachtet der Dichter der Sprüche, dass auf dem »Acker des Faulen« und dem »Weinberg des Dummen« Dornen und Disteln wachsen, und zieht daraus die Konsequenz, dass auch er in der Gefahr steht zu verarmen, wenn er lange schläft und die Hände in den Schoß legt (Sprüche 24,30-34). Gern werden auch Naturbeobachtungen zu Gleichnissen für das Leben: Der Weise beobachtet Papyrusstauden und ihm fällt auf, dass sie im Sumpf gut wachsen und außerhalb verdorren – damit vergleicht er den Gottvergessenen, der ohne Kontakt zu Gott (dem Wasser) vergeht (Hiob 8,11-13). Die Weisheit speist sich nicht durch Eingebung, Träume und Visionen von Gott, sondern aus Beobachtung und Erfahrung. Das ist im alten Sumer genauso wie im späteren Israel. Daher ist Weisheit international und kommt in ganz verschiedenen Kulturen zu gleichen Erkenntnissen.

Der Dornbusch, der auf dem »Acker des Faulen« wächst, kann manchmal ganz schön groß werden!

Spruchsammlungen

Zwischen 1889 und 1900 haben Ausgräber die Spruchweisheit der Sumerer im Süden des Zweistromlands entdeckt. Eine Fülle an Tontafeln ist gefunden worden. Die per Klick zugängliche Plattform der Oxforder Wissenschaftler bietet allein 28 Sammlungen von Sprüchen an und weitere fünf Sprüchekollektionen, die diesen Sammlungen nicht zugeordnet werden können. Aus der Zeit 1900–1800 v. Chr. stammen 202 Sprüche der Kollektion 1. Von ihnen sind 120 vollständig lesbar. Die Schreibschüler waren fleißig, allein von dieser Sammlung gibt es 80 Kopien. Der Zahn der Zeit hat trotzdem an den Tafeln genagt, und zahlreiche Brüche und Beschädigungen erfordern eine wissenschaftliche Puzzlearbeit. Eine besonders gut erhaltene Tafel zeigt die Sprüche mit Trennlinien voneinander abgesetzt und vier Spalten auf der Vorder- und vier auf der Rückseite. Die Kollektion 1 ist der beliebteste Schultext der Schreiberschulen: Die erhaltenen Tafeln sind mehr als eine Kladde, es sind Musterstücke der Ausbildung.

Kostproben

Kostproben der sumerischen Spruchweisheit gefällig? Der Versuch, die einzelnen Sprüche thematisch zu ordnen und einen roten Faden zu erkennen, ist zum Scheitern verurteilt. Dem Leser bieten sich einzelne Wahrheiten, manche mit ähnlichem Thema. Wie redet man recht? »Du sprichst nicht aus, was du gefunden hast, du sprichst über das, was du verloren hast« (1,11). Oder die Empfehlung »Sprich nicht über das, was dich verletzt!« (1,14) oder »Was im Geheimen ausgesprochen wurde, wird offenbar im Kreis der Frauen« (1,82). Welche Eigenschaften hat Reichtum? »Wer viele Dinge besitzt, ist ständig auf der Hut« (1,16). »Reichtum und Zugvögel finden nie einen Ort zu bleiben« (1,18). Was ist beim Heiraten zu beachten? »Eine verschwenderische Frau zu heiraten und einen verschwenderischen Sohn zu zeugen, führen zu einem unglücklichen Herzen« (1,151). »Mit einer verschwenderischen Frau in einem Haus zu leben, ist schlimmer als alle Krankheiten« (1,154). »Heiraten ist menschlich, Kinder zu bekommen ist göttlich« (1,160).

Sucht man für solche und andere Spruchweisheiten Parallelen, dauert es nicht lange, bis man zu den Weisheitssprüchen der Bibel kommt, sei es im Buch der Sprüche, des Predigers oder bei Hiob. Allgemein ist nicht anzunehmen, dass die Gelehrten der biblischen Zeit unmittelbar die Keilschrifttexte der Sumerer vor Augen hatten. Doch macht die Fülle der Vergleichsmöglichkeiten eins ganz deutlich: Israels Weisheit ist im Allgemeinem nicht außergewöhnlich, sondern beschäftigt sich mit ähnlichen Fragen und Themen wie schon zuvor die Sumerer (und Ägypter). Die Antworten fallen oft ähnlich aus. Lebensklugheit ist nicht auf eine Region und Zeit beschränkt, sondern überschreitet Grenzen. Dabei sind die Werte der Weisheit bewahrend und fordern keine Revolution. Erst die Skepsis, ob die herkömmlichen Antworten in allen Lebenslagen tragen, mischt die alten Antworten auf. Die »Babylonische Theodizee« (siehe Kapitel 16) und das Buch Hiob können ein Lied davon singen.

Die einzelnen Weisheitssprüche der Bibel haben häufig keinen ausdrücklichen Bezug zu Jahwe. Bei der Zusammenstellung der Weisheitsbücher ist ein solcher Gottesbezug jedoch deutlich erkennbar. Das Buch der Sprüche bezeichnet als Beginn jeder Erkenntnis die Furcht vor Jahwe. Die Gottesfurcht als Anfang der Weisheit rahmt als theologisches Thema das Buch der Sprüche, indem im ersten Teil (Sprüche 1,7; 9,10), in der Mitte (15,33) und am Ende (31,30) davon die Rede ist. Das Buch Prediger ist vergleichsweise zurückhaltend mit einer Gesamtdeutung des Lebens in Bezug auf Gott, aber es schließt mit der Aufforderung, an Gott als Schöpfer zu denken (Prediger 12,1), ihn zu fürchten und seine Gebote angesichts des Gerichtes Gottes zu halten (12,13-14).

Nach Sprüche 8 wird die Weisheit von einer Frau verkörpert, die zu Wort kommt und schon bei der Schöpfung mit Gott zusammen wirkt. Diese Weisheit setzt vor Beginn der Zeit an und ist ewig, also nicht rein menschlich, sondern göttlich. Jede einzelne weisheitliche Einsicht kann daraufhin befragt werden, inwiefern sie mit der »Furcht vor Jahwe« verbunden ist oder allgemein menschlich für sich steht.

Die Weisheit der biblischen Dichter schöpft aus der altorientalischen Weisheit – und die Funde der sumerischen Keilschrifttafeln zeigen, wie international und interkulturell sie geprägt ist.

2. AUF DER JAGD NACH UNSTERBLICHKEIT

DAS GILGAMESCH-EPOS UND DIE SINTFLUT-ERZÄHLUNG

Tontafel mit einem sumerischen Flutbericht.

Eine bewegende Männerfreundschaft: Die Abenteuer von Gilgamesch und Enkidu bieten Stoff für eine ganze Filmstaffel. Gilgamesch ist als Held ein echter Longseller. Erste Tontafeln mit seinem Namen in sumerischer Keilschrift stammen aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. Seine Geschichten werden bis ins 12. Jahrhundert v. Chr. herausgegeben, und die vollständigste Edition stammt aus Ninive, aus der Bibliothek von König Assurbanipal von Assyrien, also noch weitere 300 Jahre später. Gilgamesch ist ein Held auf der Suche nach Unsterblichkeit. Die ersten Episoden erzählen davon, wie er durch heldenhafte Taten unvergessen werden will. Alle sollen sich an ihn erinnern, und zwar durch das, was er getan hat. Die Abenteuer mit seinem Freund Enkidu können mit jeder heutigen Actionserie mithalten. Gilgamesch und Enkidu wollen durch den Zedernwald reisen, aber Humbaba, den Wächter des Zedernwalds, bringt das zum Brüllen. Sie streiten und kämpfen mit ihm, Humbaba winselt um Gnade, doch Enkidu rät Gilgamesch zum kurzen Prozess. So tötet Gilgamesch den Zedernwaldwächter …

Gilgamesch, ein mutiger Kämpfer. Er nimmt es mit jedem auf. Die Göttin Ischtar macht Gilgamesch schöne Augen und will ihn heiraten, aber dieser Held kann sogar ein solches Angebot ablehnen. Die Verschmähte schickt aus Zorn ihr gefährlichstes Wesen zu ihm, den Himmelsstier. Die beiden Freunde besiegen ihn – selbstverständlich. So muss Ischtar ertragen, dass auch Enkidu sich über sie lustig macht und sie verschmäht.

Die gemeinsamen Abenteuer der beiden Freunde finden ein jähes Ende. Der Tod von Enkidu durch einen Dämon ist nicht aufzuhalten, denn die Götterversammlung hat seine Beseitigung beschlossen. Gilgamesch kann seinem Freund, der ihm geholfen hat, seinerseits nicht helfen und muss seinen Tod verkraften. Sieben Folgen Männergeschichten von Risiko und Thrill, von Sieg und Niederlage. Ab Folge acht auf Tafel 8 muss Gilgamesch allein bis ans Ende der Welt weiterziehen. Alles drängt ihn, bis zu dem Menschen zu gelangen, welcher die Sintflut überlebt hat. Von ihm will er wissen, wie man unsterblich wird. – Sintflut? Das Gilgamesch-Epos und die Noah-Erzählung der Bibel berühren sich spätestens hier, auf Tafel 11.

Lehmspuren der Sintflut?

Fluterfahrungen sind für das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris nichts Ungewöhnliches. 1929 stößt der britische Archäologe Leonard Woolley in der alten Stadt Kisch im heutigen Irak auf eine mehrere Meter dicke Ablagerungsschicht: Lehm, Lehm und wieder Lehm. Schlamm, den Wasser abgelagert hat, und der sich verdichtet hat. Von Kisch bis Ur (im südlichen Zweistromland gelegen) findet man immer wieder fette Lehmlagen. Die Funde sorgen für weltweite Schlagzeilen – vorschnell wird berichtet, die Sintflut »gefunden« zu haben, aber selbst Woolley distanziert sich später davon und spricht lediglich von Belegen für lokale Überschwemmungen.

Fragment des Gilgamesch-Epos (Replikat).

Das Wort »sint« hat die deutsche Sprache aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen geerbt. Es bedeutet »gesamt«, »allgemein«. Die »Gesamtflut« nach 1. Mose 6–9 erzählt davon, wie Gott fast alle Menschen durch enorme Wassermassen vernichtet. Durch die Flut hindurch rettet Gott aber Noah mit seiner Großfamilie, indem er ihn beauftragt, einen »Kasten« (eine Arche) zu bauen und Tierpaare mitzunehmen. Obwohl der Mensch als »böse von Jugend auf« charakterisiert wird, auch nach dem Ende der Sintflut, verpflichtet Gott sich selbst, ein solches Unglück nicht mehr zuzulassen. Sein Kriegsbogen, den er in die Wolken gehängt hat, soll ihn an sein Versprechen erinnern. Die Erzählung der Urgeschichte von Noah und der Flut ist seit Jahrtausenden bekannt. Daher waren der neue Fund und die Übersetzung des Gilgameschepos 1872 eine Sensation.

Ein weiteres, weniger gut erhaltenes Fragment (Replikat).

Überraschung auf der elften Tafel

Das Gilgamesch-Epos – die eingangs erwähnte Heldengeschichte – ist auf elf Tafeln eingeritzt, und die Edition wurde später um eine zwölfte Tafel erweitert. Geschätzt sind es 3300 Zeilen. Geschätzt, weil manche Stellen lückenhaft sind. Die Elf-Tafel-Edition konnte aus verschiedenen Bibliotheken im Zweistromland zusammengesammelt werden, darunter aus den berühmten Städten Assur, Babylon, Uruk und Ur und sogar aus Hattusa (in der heutigen Türkei). Die Tontafeln zu entziffern war keine leichte Übung. Gefunden waren manche der Exemplare schon Mitte des 19. Jahrhunderts bei Ausgrabungen in Ninive, aber dann lagen sie mehrere Jahrzehnte unbesehen in Kisten im Britischen Museum. So lange, bis der Assistent George E. Smith sie erst einmal von Schmutz befreite und dann 1872 entdeckte, dass die elfte Tafel eine Flutgeschichte enthält – aber nicht irgendeine Story von Wassermassen, sondern im Rahmen der Abenteuer des Gilgamesch von einer Flut, die außergewöhnliche Ähnlichkeiten zur Bibel aufweist.

Die elfte Tafel ist etwas größer als eine Postkarte (15 mal 13 Zentimeter) und stammt aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Im Dezember 1872 löste Smith Begeisterung aus, als er das vorhandene Fragment mit den Zeilen 55-106 und 108-269 dieser Tafel bei der Gesellschaft für Biblische Archäologie vorstellte. Die fehlenden Zeilen ließen ihm keine Ruhe, und er begann, selbst Ausgrabungen in Ninive voranzutreiben. Eine Woche, nachdem er begonnen hatte, fand er am 14. Mai 1873 das größte Stück der fehlenden Zeilen! Erstaunlich, dass er überhaupt, dazu noch in so kurzer Zeit, das fehlende Puzzleteil entdeckt hat.

Verschiedene Sintfluthelden

Die zehnte Tafel des Epos erzählt von der Heldenfahrt über das Todeswasser: Damit Gilgamesch dem Sintflutüberlebenden Utnapischtim überhaupt begegnen kann, muss er weitere Abenteuer bestehen. Mithilfe eines Fährmannes kann er die Todeswasser passieren, um am Rand der Welt Utnapischtim zu treffen. Der Sintflutheld ermahnt Gilgamesch, den Tempelkult für die Götter nicht zu vernachlässigen. Gilgamesch will vor allem wissen, wie Utnapischtim Unsterblichkeit erlangt hat. Dieser berichtet daher von seiner Sintfluterfahrung: Durch einen Traum gibt Gott Ea die Warnung vor der Flut und die Anweisungen, ein Schiff zu bauen. Utnapischtim belädt das Schiff mit seinem Besitz, seinen Verwandten, Handwerkern und Tieren. Es wütet ein Sturm, der sogar den Göttern Angst macht, und erst nach sechs Tagen endet dieser. Das Boot kommt auf dem Berg Nimush (Nisir) zum Stehen (er wird mit Pir Omar im heutigen Irak identifiziert). Nach weiteren sieben Tagen lässt Utnapischtim zunächst eine Taube ausfliegen, die zurückkehrt, dann eine Schwalbe, die ebenfalls zurückkehrt, bis er einen Raben ausfliegen lässt, der nicht wiederkehrt. Daraufhin gibt Utnapischtim ein Opfer und es heißt von den Göttern, dass sie das Opfer riechen und sich wie Fliegen auf das Opfer stürzen. Die Gottheit Enlil betritt danach das Boot und segnet den Sintfluthelden und seine Frau: Beide Menschen werden unter die Götter aufgenommen und sind von nun an unsterblich.

Gilgamesch ist fasziniert von dieser Geschichte und möchte wissen, wie er ebenfalls unsterblich werden kann. Utnapischtim fordert ihn als Probe dazu auf, sechs Tage und sieben Nächte wach zu bleiben. Aber Gilgamesch gelingt das keineswegs, er fällt sofort für sieben Tage in einen tiefen Schlaf und besteht diesen Test nicht. Bevor Gilgamesch den Rand der Welt mit seinem Boot wieder verlässt, verrät Utnapischtim, dass am Meeresboden ein geheimnisvolles Kraut wächst, das neues Leben schenkt. Gilgamesch gelingt es, hinunterzutauchen und das Kraut der Verjüngung zu ergattern. Doch noch bevor er das Kraut kosten konnte, stiehlt eine Schlange das Kraut. Gilgamesch bleibt nur die Trauer über die verpassten Chancen, unsterblich zu werden, und kehrt zurück in die Stadt Uruk. Etwas »Bleibendes« aber verweist auf Gilgamesch als Held: Die große Stadtmauer von Uruk ist sein Werk und soll an ihn und seine Heldentaten erinnern.

Ähnlichkeiten und Unterschiede

Die Helden von Fluterzählungen im Zweistromland haben in den Keilschrifttexten unterschiedliche Namen, Ziusudra im sumerischen Text, mehrere Jahrhunderte später Atrahasis, und im Gilgamesch-Epos Utnapischtim. Ihre Rettung durch die Flut ist der Erzählung von Noah zu ähnlich, um rein zufällig zu sein. Die elfte Tafel des Gilgamesch-Epos und 1. Mose 6–9 ähneln sich: Beide erzählen von einer großen Flut, welche die Menschheit vernichtet, und vom Auftrag an einen Helden, durch den Bau einer Arche mit seiner Familie zu überleben. Beide erwähnen den Umstand, dass die Arche nach der Flut auf einem Berg hängen bleibt, eine dreifache Vogelprobe und ein abschließendes Opfer des Helden. Erhebliche Unterschiede sind ebenfalls deutlich. Der Beschluss zur biblischen Sintflut erfolgt angesichts der umfassenden Bosheit der Menschheit. Warum das Herz der großen Götter des Gilgamesch-Epos entbrennt, wird nicht begründet. Die Maße der Arche, die Länge der Flut und die Reihenfolge der Vögel sind unterschiedlich. Sogar innerhalb der biblischen Fluterzählung sind unterschiedliche Stränge von zwei Erzählungen rekonstruierbar. Wenn am Ende der Flut im babylonischen Mythos die Götter sich wie Fliegen auf das Opfer stürzen, entsteht der Eindruck, die Menschen sind dafür geschaffen, die Götter zu versorgen. Beide Texte noch genauer unter die Lupe zu nehmen, wäre spannend. Insgesamt zeigt sich: Die Erzählungen sind unterschiedlich genug, um selbstständig überliefert worden zu sein, und zu ähnlich, um völlig unabhängig voneinander zu sein.

Satellitenaufnahme von Mesopotamien. Wie der Name »Zweistromland« zustande kam, ist auf diesem Foto gut zu erkennen.

Es gibt immer wieder Versuche, Reste der Arche auf dem Ararat zu finden (oder auch auf dem Cudi Dağı in der Türkei), und in den letzten Jahrzehnten werden dafür modernste Untersuchungsmethoden angewandt. Ein unanfechtbarer Beweis einer weltweiten Flut oder der Reste der Arche sind bisher nicht erbracht worden. Auch wenn es sich beweisen ließe, wäre die Aussage, dass Gott Anfang und Ende der Flut bewegt hat, in jedem Fall Glaubenssache und nicht beweisfähig.

Auf dem Weg begegnet Gilgamesch nach der zehnten Tafel des Gilgamesch-Epos einer Wirtin, die ihm Weisheiten und Rat weitergibt. Sie stellt fest, dass die Götter die Unsterblichkeit für sich behalten haben und der Mensch sterblich bleibt. Was für eine Lebensphilosophie kann der Mensch daraus ableiten? Sie wünscht Gilgamesch einen vollen Bauch und dass er sich an Tag und Nacht ergötzen könne. Der Mensch möge jeden Tag ein Freudenfest feiern und das Leben mit Kind und Ehefrau genießen. Solche Lebensweisheit kennt auch der biblische Prediger, der kein ewiges Leben, sondern nur das Diesseits vor Augen hat, das der Mensch ausschöpfen möge (Prediger 9,7-9).

Das uralte Gilgamesch-Epos wirft ein neues Licht auf die biblische Rettungsgeschichte von Noah durch die Sintflut. Einerseits sind Fluterfahrungen ein allgemeiner Stoff des Orients, andererseits unterscheidet sich die alttestamentliche Erzählung markant in ihrem Menschen- und Gottesbild von dem im Zweistromland.

3. DER KÖNIG DER GERECHTIGKEIT

DER CODEX HAMMURABI ALS BERÜHMTE RECHTSSAMMLUNG

Hammurabi hebt anbetend seinen rechten Arm. Detail einer Votivstele aus Kalkstein.

Geradezu abgesoffen ist die Zeit des Königs Hammurabi (1792–1750 v. Chr.) von Babylonien – im wahrsten Sinne des Wortes. Für Archäologen sind die Gesteinsschichten der altbabylonischen Zeit in der ehemaligen Hauptstadt Babyloniens kaum erreichbar, denn sie liegen unterhalb des Grundwasserspiegels des Euphrats.

Trotzdem gibt es zahlreiche Quellen, die ein verlässliches Bild der Zeit Hammurabis nachzeichnen lassen. Das Königreich Hammurabis war anfänglich sehr übersichtlich: ein kleines Territorium im Zweistromland rund um die Stadt Babylon herum. Durch geschickte Kriegsführung konnte Hammurabi sein Reich in den 42 Jahren seiner Regierung immer weiter vergrößern und sich selbst zu Recht als »König der vier Weltgegenden« betiteln. Das politische Zentrum seines Reiches war Babylon; von seinem Palast aus organisierte der König seinen wachsenden Einfluss. Für den Forscherdrang der Historiker ist interessant, dass schon im 17. Jahrhundert v. Chr. der König einen Hofstaat mit Wesiren, Ratgebern und »Ministern« unterhielt. Der »Schreiber der Geheimhaltung«, der oberste Sekretär des Königs, war für die recht umfangreiche Korrespondenz verantwortlich. Lokale Gouverneure sorgten dafür, dass an die Zentrale Steuern und Abgaben gezahlt, also Getreide, Vieh und Geld eingetrieben wurden.

Der Gesetzgeber und sein steinernes Gesetzbuch

Hammurabi war der einzige König seiner Ära, dem es gelang, Mesopotamien in einem übergreifenden Reich zu vereinen. Er beherrschte ein Imperium, das aus einer enormen Vielfalt an Sprachgruppen bestand. Bereits kurz nach seinem Tod gab es Gebietsverluste und das Reich schrumpfte kontinuierlich, bis es 1595 v. Chr. verschwand. Er ging als »kluger Diplomat, ausgezeichneter Stratege und effizienter Verwalter« (Baptist Fiette) in die Geschichte ein. Vor allem gilt es als »König der Gerechtigkeit« – und da Gerechtigkeit und Gesetzgebung für das Alte Testament eine bedeutende Rolle spielt, ist es aufschlussreich, nach Parallelen und Unterschieden zwischen Hammurabi und Mose zu fragen.

Aus dem Schutt der Vergangenheit ragt eine Stele besonders hervor: die 2,25 Meter hohe Basaltstele mit dem sogenannten »Codex Hammurabi«.

Die Stele mit dem Codex Hammurabi.

Im Winter 1901/02 fand ein französisches Archäologenteam drei große Blöcke aus Diorit, und zwar im Bereich der ehemaligen Akropolis (Stadtburg) der Stadt Susa. Sie ließen sich zu einer Stele zusammensetzen und der eingemeißelte Text konnte leicht entziffert werden. Susa war die Hauptstadt der Elamiter, die als Zeichen des Triumphs über die Babylonier die Stele des Hammurabi in ihre 500 Kilometer entfernt liegende Hauptstadt verschleppten und dort präsentierten. Mit der Verschleppung wollte man das babylonische Reich auf magische Weise schwächen und die Blüte und Macht Babylons sollte nach Elam gebracht werden. Das Original dieser Stele ist heute im Louvre, Paris, zu bewundern, eine Replik auch im Pergamonmuseum zu Berlin.

Die Visitenkarte des Königs