Buchcover

Will Berthold

Auf dem Rücken des Tigers

SAGA Egmont






Heute abend werde ich sterben.

Außer mir kennt nur noch der Mann in der Todeszelle seine letzte Stunde; sie könnte durch Gnadenerweis oder durch Hinrichtungsstopp ausfallen oder verschoben werden.

In meinem Fall sind solcherlei Zufälligkeiten ausgeschlossen:

Ich bin zugleich Richter, Henker und Opfer.

Ich verlasse diese Bühne des Lebens, weil mir das Stück mißfällt. Die Zeit hat mein Ableben schon ein paarmal geprobt. Nach einem einschlägigen Aberglauben soll die Premiere glänzend verlaufen, wenn die Proben vor der Aufführung verunglücken.

Ich bin übrigens kein Schauspieler, wenigstens nicht mehr als jeder andere auch auf dieser Schmiere.

Ich gelte als Exzentriker.

Ein solcher Ruf verpflichtet; deshalb habe ich einige ungewöhnliche Vorbereitungen getroffen: Ich habe das Telefon auf Tonband umgestellt, Eiswürfel auf Vorrat eingefroren und meine Whiskymarke in großer Menge bereitgestellt.

Alle Gläser, die ich in meiner kleinen Schwabinger Mansardenwohnung finden konnte – es sind vierunddreißig –, stehen auf dem Tisch, gefüllt mit Schnaps. In eines habe ich Gift geträufelt.

Blausäure, auch Zyankali genannt. Ich habe die Gläser durcheinandergeschoben, immer wieder. Der Zufall soll die Hand führen, wenn es an der Zeit ist. Im Falle eines Treffers dauert der Rest dann sieben Sekunden – oder acht. Je nach körperlicher Kondition. Meine ist nicht sehr gut. Vielleicht schaffe ich es rascher.

Jedenfalls: Mein Tod kommt on the rocks.

In einer Stunde, höchstens in zwei.

Wenn mich ein Anrufer bei dem letzten Akt stören sollte, wird ihm meine Stimme vom Tonband antworten: „Christian Schindewolff-Bamberg ist unterwegs. Danke für Ihren Anruf. Das Gerät schaltet jetzt ab.“

Diesen kleinen technisch-zynischen Scherz wollte ich mir noch erlauben am Ende meines Lebens, an einem Tag, dessen Schlagzeilen sich so lesen:

In Amerika wurde ein Bekannter Negerführer, Vorkämpfer der Gewaltlosigkeit, erschossen … Die Bundeswehr verlor ihren 83. starfighter … In stockholm konnte eine deutsche Automobilfirma Sicherheitsexperimente mit Leichen erfolgreich abschliessen … In Holland traute ein katholischer Priester zwei homosexuelle Männer … In Biafra verhungern täglich mindestens 500 Kinder … Die Herzogin von Windsor liess in ihrem Rolls-Royce Anschnallgurte für ihre Möpse einbauen … Der Papst zog sich zum Gebet in seine Privatkapelle zurück …

Und die Gesellschaft wird einen Außenseiter verlieren, der einen lange währenden Selbstmord in Raten durch einen letzten Coup abschließt.

Sie wird ihm – mir – nicht wie im Mittelalter nachträglich einen Pfahl durch den Leib rammen. Bei einigem Geschick der Angehörigen kann er sogar in geweihter Erde beigesetzt werden.

Meine Angehörigen haben in jedem Fall Geschick. Außerdem sind sie reich. Unermeßlich reich. Vermutlich könnten sie für so viel Geld sogar einen Bischof engagieren. Die Kirche hat, laut Goethe, einen großen Magen.

Mein letzter Abend. Die Dämmerung füllt den Raum mit Finsternis. Der Verkehrsstrom wird dünn. Der Lärm verebbt. Vom Fenster aus wirkt die Großstadtstraße unter mir wie ein ausgetrocknetes Flußbett.

Auf einmal beginnt es in meinem Kopf zu rauschen, zu strömen, wild und tosend.

Gegenüber meinem Hauseingang, auf der anderen Seite des Ufers, habe ich ihn wiedergesehen: den Burschen mit dem braunen Schlapphut, mit dem vom Eckenstehen geprägten Gesicht, in dem sich die Leere kumuliert.

Er wird mich künftig nicht mehr verfolgen.

Heute wartet er vergeblich.

Ich werde dieses Haus nur noch einmal verlassen: mit den Füßen voraus.

Wer ist hinter mir her? Was wollen diese Burschen von mir? Wer bezahlt sie? Sehe ich überhaupt noch richtig? Oder belügen mich meine Augen? Oder ist mein Gehirn schon angekränkelt?

Jedenfalls bemerke ich in den letzten Monaten und Wochen immer die gleichen Gesichter in meiner Nähe. Will ich sie greifen, verschwinden sie. Beruhige ich mich, kehren sie zurück. Sie wechseln täglich dreimal. Ein Schlapphut. Eine Schirmmütze. Eine Stirnglatze.

Sie kauern neben mir an den Bars. Sie lauern vor meinem Haus. Sie sehen beiseite, wenn ich ihre Augen suche. Sowie ich eine Bekanntschaft schließe – Menschen haben mich bis in die jüngste Zeit noch interessiert –, fürchte ich einem Verfolger in die Hände zu arbeiten.

Der Kerl ist übrigens gerade abgelöst worden.

Bis jetzt habe ich eine halbe Flasche getrunken: unvergällten Schnaps.

Ich bin nicht gerade ein Alkoholiker, aber ein Gewohnheitstrinker. Schnaps ist mein ständiger Begleiter. Seit ein paar Jahren. Ich bin nicht sein Sklave, aber er ist mein Erfüllungsgehilfe. Ich benutze ihn, um die harten Konturen zu schleifen, um das Bild der Wirklichkeit zu verwischen, bevor diese mich foltert.

Wer trinkt, zerstört sein Leben; wer aber nicht trinkt, lebt nicht.

Keineswegs möchte ich so kurz vor Toresschluß noch ein Plädoyer für die Trunksucht halten.

Es soll auch keine Verteidigung des Selbstmordes werden. Als aufgeklärter Mensch lehne ich ihn natürlich in der Theorie ab, wenn ich auch seine Praxis exerzieren werde.

Eigentlich komme ich dabei nur dem Lauf der Dinge zuvor. Wir sterben alle seit der Geburt. Wir proben es beim Einschlafen. Wir erfahren es mit jedem Zahn, der uns ausfällt. Wir sterben ein wenig, sowie wir ein Haar verlieren. Ob wir das Leben lieben oder hassen, ob wir uns mit ihm arrangieren oder uns von seiner Krankheit zu Tode foltern lassen:

Wir sind alle zum Tod verurteilt.

Der Selbstmord ist für die Gesellschaft ein Tabu und für die Kirche eine Sünde. Das Leben komme von Gott, lehrt sie. Wer es wegwerfe, lästere ihn. Ein großartiger Standpunkt, der mich überzeugen würde, hätte dieselbe Kirche nicht bei den meisten Gelegenheiten die Waffen gesegnet, mit denen menschliches Leben vernichtet wurde. Wer das Schwert erhebt, kommt durch das Schwert um, hatte Christus gelehrt; seine Erbfälscher nahmen das Schwert, weihten es und stießen es ihm durch das Herz.

Alle hehren und profanen Institutionen sind sich in der Einhaltung des Tabus einig. Auch der Staat verurteilt moralisch den Selbstmord. Obwohl er ihn im Bedarfsfall ganzen Generationen pragmatisch als Übung à la Langenmarck auferlegt. Die Gesellschaft lehnt den Suizid ab, weil sie sich ungern an das Sterben erinnern läßt; und der von ihr geformte Mensch schiebt diesen Gedanken weit von sich, jederzeit bereit, zwecks Verschiebung des Ablebens sich ein neues Herz einsetzen zu lassen, auch wenn schließlich dadurch aus einer Leiche zwei würden.

Es ist jetzt zwanzig Uhr.

Zeit zu trinken, Zeit zu sterben. Bevor ich mit dem russischen Roulett beginne, in einer Spielart, die in jedem Fall letal sein wird, weil ich notfalls das ganze Magazin leeren werde, möchte ich mit dieser Aufzeichnung zu Ende kommen.

Übrigens schreibe ich zum erstenmal seit vielen Jahren wieder. Damals hatte ich aufgehört, als ich merkte, daß mein Kopf schneller dachte, als meine Hand schreiben konnte. Zumindest hatte ich mir das eingeredet, aber dann erfuhr ich, daß Schreiben oder Nicht-Schreiben, vom Nutzen her betrachtet, gleichgültig ist, sofern es nicht darum geht, Honorare einzukassieren.

Als ich das begriffen hatte, war ich ein Autor gewesen, der gelesen worden war; kein Romancier, ein Journalist. Während ich mich daran erinnere, falle ich automatisch in die handwerklichen Usancen dieses umstrittenen Berufes zurück: Ich bin fast 46, unverheiratet, Junggeselle von Natur, nicht durch Scheidung oder Witwerschaft.

Außerdem: Kriegsteilnehmer, Wohlstandsbürger, Fleischesser, Gelegenheits-Christ und Linkshänder. Die Karteikarte des von mir gemiedenen und nunmehr auch überflüssigen Arzt-Freundes nennt mich zudem lebergeschädigt und infarktbedroht.

Ich könnte diese Liste meiner Eigenschaften noch erweitern, aber ich habe keine Zeit mehr. Denn nun greife ich zum ersten Glas, und dieses Prost gilt einem Beruf, den ich verließ, als er mich verlassen hatte.

Das Glas ist beschlagen vom Eis. Oder von der Angst? Sie sinkt zusammen wie eine Stichflamme. Ich halte das leere Glas in der Hand: Fehlanzeige. Es wäre auch eine mathematische Ungerechtigkeit gewesen, hätte mich sofort der Tropfen Gift ereilt.

Ich will zum Schluß kommen, aber so wiederum eilt es auch nicht, und eine halbe Stunde Leben sind doch noch sieben oder acht Doppelte, großzügig gemessen.

Sie werden den Blick schärfen und einen barmherzigen Schleier über den Verstand legen. Einem Jünger der Flasche geht es nach den ersten Schlucken wie einem Vampir, der Blut gesaugt hat. Die Speicheldrüsen arbeiten schneller; sonst kontrollierte Nerven werden vegetativ, und das Herz hämmert schnell wider die Rippen.

Ich zelebriere mein Ende eigentlich ganz vulgär. Kein Kerzenlicht. Keinerlei makabre Feierlichkeit. Ich habe mich mit meiner Tat abgefunden, die Angst ertränkt, das Bewußtsein wattiert.

An die Einsamkeit bin ich längst gewöhnt.

Ich kenne ihre Spielarten, ihre Gaukeleien, ihre Versuchungen.

Einsamkeit schmeckt am Abend nach gärender Magensäure und am Morgen nach schalem Whisky.

Und sie ist stumm, am Morgen wie am Abend.

Diese Ruhe quält mich. In der Stille werden die Gedanken laut. Ich muß diese Ruhe töten. Fast hätte ich vergessen, mich von der Musik in das Dunkel geleiten zu lassen.

Ich werde einige Platten auflegen: keineswegs Beethovens Schicksals-Symphonie und schon gar nicht Wagners Götterdämmerung. Aretha Franklin ist vielleicht das richtige, ihr Gospelsong „The day is past and gone“. Während ich ihr zuhöre, schließe ich die Augen, schlürfe den nächsten Whisky, fast unbewußt. „While the blood runs warm“, singt die zärtlich-wilde Stimme.

Die Platte ist abgelaufen, dreht sich zweck- und tonlos.

Da fällt mir Dinah Washington ein, die Stimme einer Toten, die lebt: „The song is ended“, füllt negroide Schwermut den Raum. Stimme einer Frau, die mir mit dem schlechten Beispiel vorangegangen ist.

Während ich auf ihre Erinnerung trinke, wird mir bewußt, daß die Spannung beim Griff nach dem Glas schwächer wird. Auch die Hast. Ich setze es nicht mehr so schnell an den Mund wie bisher. Ich habe Whisky gewählt, weil sein rauchiges Aroma den leichten Mandelgeruch des Zyankali noch am besten überlagert. Whisky schmeckt nach Medizin; Medizin ist bitter.

Ich hatte mich früher, rein beruflich und dadurch theoretisch, mit dem Phänomen Suizid befaßt. Es wurde mir klar, daß ich nach der Papierform kein Kandidat des Freitods bin:

Ich bin nicht arm, sondern reich.

Ich ersticke auch nicht an der Übersättigung, weil ich mir aus Geld nichts mache. Eingentlich brauchte ich nur ein paar hundert Mark für Schnaps, und meine letzte Rechnung ist beglichen. Zwar bin ich nicht gesund, aber auch nicht unheilbar krank. Außerdem bin ich gänzlich frei von Liebeskummer, der, nach der Lehre der Psychologen und Statistiker, jeden zweiten Lebensmüden in den Tod jagt.

Die Suizid-Theoretiker wissen, daß der gefährdete Mensch sich tötet, wenn er seinen Höchstwert verloren hat. Diese Frage dürfte sich in meinem Fall recht interessant gestalten.

Einer meiner Höchstwerte hieß Laura, war eine Frau von dreißig und stand mir so nahe, daß ich mich ein einziges Mal in meinem Leben in den Wunsch und Wahn hineinsteigerte, mit ihr für immer zusammen leben zu wollen.

Ein anderer Höchstwert war die naive Vorstellung, der letzte Tote des Zweiten Weltkriegs sei die Barbarei gewesen. Als dritter – und vielleicht dümmster – Höchstwert hatte sich der Irrtum entlarvt, man könnte durch Schreiben die Welt ändern oder – ich wage es kaum hinzuschreiben – verbessern. So verblendet kann ein Mann sein, dessen Intelligenzquotient in seinen allerbesten Jahren Spitzenwerte erreicht hatte.

Ich habe in der letzten Stunde abwechselnd geschrieben und getrunken. Es ist vielleicht an der Zeit, eine kleine Zwischenbilanz zu machen: noch 24 Gläser stehen auf dem Tisch.

Ich schiebe sie wieder durcheinander, bevor ich mein Los greife. Das nächste Glas erhebe ich auf die Frauen und Mädchen. Abgesehen von der Geschichte mit Laura hatte ich mit dem schönen Geschlecht nie Schwierigkeiten gehabt. Als ich jung war, erntete ich reichlich Gunst. Später, als ich sie nicht mehr umsonst erhielt, suchte ich sie nicht vergebens, denn ich bin ein Mann mit Geld.

Auf die Frauen also, die von allen Menschen noch dem sozialen Ausgleich am nächsten kommen, weil sie Männern, die sie mögen, alles schenken und sich an weniger geliebte zu Höchstpreisen verkaufen.

Meine Gläser sind gezählt, und ich möchte keineswegs versäumen, im einseitigen Zwiegespräch einen Trinkspruch auf Erik auszubringen.

Er ist mein Halbbruder, gleicher Vater, verschiedene Mütter. Wir waren mehr als Brüder: Wir waren Freunde. Wir waren mehr als Freunde: Wir waren Brüder. Und wir waren mehr als Freunde und Brüder zusammen: Wir gingen uns aus dem Weg, um diese seltsame Verbundenheit nicht zu gefährden.

Während ich Eriks Bild beschwöre, fällt mir automatisch der Bewacher vor der Haustüre ein.

Ich gehe noch einmal ans Fenster.

Die Straße ist leer, das Flußbett ausgetrocknet. Am jenseitigen Ufer schlendert Arm in Arm ein Liebespaar dahin.

Nein – der Fluß donnert.

Der Widerling kommt aus der Kneipe an der Ecke. Es ist der Kerl mit der Schirmmütze. Er sieht aus wie ein Taxifahrer, aber in seinen Wagen möchte ich nicht steigen.

Schickt ihn Erik hinter mir her?

Bin ich dem Freund-Bruder womöglich zu lange aus dem Weg gegangen? Er hat mich schon einmal zur freiwilligen Einweisung in ein Sanatorium überredet. Will Erik mich jetzt zwangsweise einem Irrenhaus überantworten?

Ist vielleicht mein Vertrauen zu Erik der Höchstwert, der zum Teufel ging?

Dieses Glas setze ich so abrupt und hart auf den Tisch, daß es zerbricht. Es macht nichts. Es hat seinen Zweck erfüllt. Morgen brauche ich keine Gläser mehr. Und Scherben bringen Glück. Ich möchte Glück mit Erik ins Grab nehmen. Ich möchte nicht glauben, er könnte seiner Frau so verfallen sein, daß er seinen Freund und Bruder jagen läßt.

Ein paar Sekunden lang überlasse ich mich dem Triumph über Eriks bestürztes Gesicht, wenn er meine Todesnachricht erhält. Dabei überlege ich, wer mich nach dem letzten Glas auffinden wird und wie ich aussehen werde. Zwar ist die Leichenkosmetik schon sehr weit fortgeschritten, aber einen angenehmen Anblick dürfte ein an KCN Gestorbener nicht bieten.

Es hat keinen Sinn, sich durch ästhetische Erwägungen vom Grundsätzlichen abhalten zu lassen. Schließlich bin ich nicht der einzige, der mit Erfolg die Notbremse zieht.

Vielleicht gäbe es, kennten sie sich, unter Selbstmördern so etwas wie Kameraderie. Ich lehne es ab, einen Kult daraus zu machen, obwohl dieses verbotene Gesellschaftsspiel weit verbreitet ist. Die Selbstmörder eines Jahres in aller Welt würden eine Stadt wie Stuttgart oder Frankfurt bevölkern. Täglich suchen allein an die 3000 Lebensmüde in der westlichen Hemisphäre den Tod. In Deutschland findet ihn auf diese Weise mindestens in jeder Stunde einer, und das keineswegs nur, um die illustrierte Presse am Leben zu erhalten. In vielen hochmotorisierten Ländern der westlichen Welt gibt es mehr Selbstmorde als Verkehrstote. Unter fünfzig Todesursachen der Statistik rangiert der Freitod an neunter Stelle vor der Tuberkulose.

Die Lebensmüden sterben verlassen in einem verdunkelten Hotelzimmer oder einsam in der Sitzbadewanne einer Wohnmaschine. Sie stürzen sich demonstrativ von Wolkenkratzern und Brücken oder suchen sich als Schauplatz ihres letzten Aktes abgelegene Waldverstecke aus. Sie sterben am schwarzen Freitag oder am blauen Montag.

Namenlose und Berühmte, Habenichtse und Millionäre, Analphabeten und Genies, Kinder und Greise, Erfolgsmenschen und Bankrotteure wählen den Tod aus eigener Hand.

Sie sterben an der Armut oder am Wohlstand, an der Unbesonnenheit der Jugend oder an der Resignation des Alters. Wenn ich mir überlege, wer zu meinen Schicksalsgefährten gehört, stelle ich fest, daß ich eigentlich in der feinsten Gesellschaft enden werde. Sie vergiften sich im Luxusappartement wie das Sexidol Marilyn Monroe; sie schieben sich einen Gewehrlauf in den Mund wie der Nobelpreisträger Hemingway; sie hängen sich am selbstgeknüpften Strick auf wie der Verräter Judas; sie ertränken sich im Wasser wie der Bayernkönig Ludwig II.; sie durchschneiden sich die Kehle wie der Dichter Adalbert Stifter oder sie setzen sich die Giftnatter an den Arm wie die verführerische Kleopatra.

Ich halte nichts von brutalen Kraftakten, deshalb wählte ich eine unblutig-schmerzlose Methode. Ein Testament hinterlasse ich nicht. Soll mein Vermögen an sich nehmen, wer es erarbeitet hat und etwas damit anzufangen weiß.

Ich bringe hier lediglich einige Verfügungen über die nächsten Tage zu Papier:

Ich möchte nicht begraben, sondern verbrannt werden.

Ich konnte nie in die Flammen sehen, ohne an dieses Ende zu denken.

Gebt Feuer, also, rufe ich, der Erblasser, meinen Angehörigen zu. Ich sehe, wie meine kranken Organe, Herz, Leber und vielleicht auch das Hirn, eingeschmolzen werden und sich nur die Sargnägel nicht verändern.

Das bleibt vom Mysterium des Sterbens, auf Flasche gezogen.

Ich möchte am Rande nur feststellen, daß ich frei bin von jeglicher teutscher Todessehnsucht, auch wenn ich dem normalen Gang der Dinge vorgreife.

Darauf einen Whisky-Blausäure!

Wer verfolgt mich? Scheißegal! Vielleicht verfolge ich mich auch nur selbst. Vermutlich ist mein Blick entzündet und mein Gehirn verseucht. Vielleicht habe ich zu lange die Konturen der Wirklichkeit mit Alkohol geschrubbt – Schnaps, Weingeist, Teufelszeug. Alkohol, der brüderliche Tröster, der falsche Riese, der die Gosse zum Bett macht und das Bett zur Gosse.

Prost, sage ich mir und kippe das nächste Glas. Schnell, in einem Zug. Ich setze es langsam ab, da ich, steht das leere Glas wieder auf dem Tisch, bereits weiß, daß ich wieder an der Kugel vorbeigeirrt bin.

Außerdem möchte ich ohne jeden Blumenschmuck beerdigt werden, und – man gestatte mir den Jokus – anstelle der Kranzspenden sollen die Gelder auf das Konto der Trinkerfürsorge eingezahlt werden.

Gleichzeitig möchte ich, daß anstelle einer Grabrede Louis Armstrongs „New-Orleans-Function“ geblasen wird und am Tage meiner Beisetzung meine Schwabinger Lieblings-Stampen alle Gäste freihalten.

Es ist die würdige Totenfeier für den entarteten Sproß des Konzerns. Soll die Familie nunmehr ernten, was Aglaia gesät hat, Aglaia, meine Schwägerin, Eriks Frau. Vielleicht gelingt es ihr, diese Verfügungen umzustoßen oder zu verwässern. Ich muß annehmen, daß sie genügend Beweise gesammelt hat, die für meine mangelnde Zurechnungsfähigkeit sprechen.

Und damit komme ich zu ihr, der großen Dame, der schönen Frau mit der latenten Sinnlichkeit, die jeden Gesprächspartner verwirrt. Ich sehe sie vor mir: hinter meinem Sarg, dem Platz der nächsten Angehörigen. Sie hat den Skandal erstickt, nimmt Abschied von mir im kleinen Kreis. Bei einer Frau ihres Formats ist ein kleiner Kreis noch immer groß.

Vielleicht noch zwei oder drei Schluck. Die letzte Verfügung ist getroffen. Aber während ich trinke, schreibe ich noch. Wenn ich mitten im Satz abbrechen werde, habe ich endlich den Tod gefunden.

Während ich das niederschreibe, überlege ich, ob sie mir nicht noch die Kränze, die sie mir winden läßt – nicht ohne der Trinkerfürsorge einen stattlichen Betrag zu überweisen – als Mühlsteine um den Hals legen könnte: Unsinn, ein Toter braucht keine Luft.

Blumen sind der bunte Rahmen am offenen Grab, in das man mich hinabläßt.

Ohne mich noch in eine sprachliche Polemik einzulassen: Aglaia weint in ein wetterfestes Make-up. Sie hat über mich gesiegt. Aber sie zeigt keinen Triumph darüber, daß ich mich ihr aus dem Weg räumte. Während die Totenglocke läutet und das Trauergefolge sich den Ernst in das Gesicht steckt wie an Karneval die Nase aus Pappmaché, wird sein männlicher Teil verstohlen Aglaia mustern, überlegend, wie man diese Festung großbürgerlichen Wohlanstandes nehmen könnte – und wer sie bisher wohl schon geschleift haben könnte. Meine Schwägerin würde wohlgefällig ihre Blicke im Rücken spüren, in der Hüfte, am ganzen Körper, denn sie hat eine Witterung für männliche Gier.

Schließlich hat sie sich, züchtig und gezielt, in die feinste Gesellschaft hineingevögelt.

Prost, Aglaia, sage ich und greife zum nächsten Glas. Gäbe es eine Gerechtigkeit, müßte in diesem Glas das Zyankali enthalten sein.

Zum erstenmal seit Beginn der Prozedur bin ich sicher, eine Fehlanzeige zu schlucken.

Noch achtzehn kleine Gläserlein.

Sosehr er mir bei Aglaia auch einmal stand, wegen ihr wird sich bei mir nichts mehr rühren. Ihr Körper macht meinen Unterleib tot wie einen ganzen Waldfriedhof.

Die Toten sind steif.

Steif sind auch die Hemdkragen.

Wie das spanische Hofzeremoniell.

Oder der Nacken einer Klosterfrau.

Melissengeist. Gequirlte Scheiße. Zyankali-Cocktail.

Aglaia – wer so heißt, muß so sein, und wer so ist, fickt so.

Ach Luise – keine ist wie diese: dieser geile Fetzen, der das Hirn der Männer mit dem Vakuum zwischen ihren Oberschenkeln ausfüllt.

Weia, Aglaia – und so macht dein Kitzler den Bumser noch zum Dichter.

Leb wohl, Aglaia, du Frau mit den springenden Brüsten und den mobilen Oberschenkeln. Hohepriesterin keuscher Sinnlichkeit, in deren Bett du das Erdbeben erlebst und die Zentrifugalkraft an dir vollstreckt wird, während dir ihr Orgasmus wie eine Sirene ins Gesicht heult – du …

Aglaia weiapopeia – weia Aglaia heitojotoho – Prost Fikalageila – A – gl – awiaia – – – awibtoskzwnd – – 93 – lsichsielwiiospt …


Aglaia stand vor dem Spiegel und betrachtete sich wie einen seltenen Falter unter der Lupe. Sie wußte, daß ihre Augen weit kritischer waren als die Blicke ihrer männlichen Umgebung. Sie hatte Grund, mit sich selbst zufrieden zu sein. Es würde noch fünf, sechs Jahre dauern, bis man ihr die sechsunddreißig Jahre ihres Lebens ansehen würde.

Sie war groß, schlank und dunkelhaarig; mit den Jahren hatte sie sich noch verbessert. Sie war kein Narziß, sondern ihr schärfster Kritiker, und so durfte sie ihren Augen trauen.

Sie lächelte sich zu. Sie war eine Frau, kein Mann; aber sie sagte sich, daß sie, wäre sie ein Mann, mit allen Mitteln versuchen würde, diese Frau zu erobern.

Die Vorstellung, sie könnte mit sich selbst kopulieren, steigerte Aglaia in eine Erregung, der sie sich wohlig überließ. Gewohnt, die Signale der Sinnlichkeit abzukürzen, wunderte sie sich, daß sie sich heute so lange lasziven Impressionen überließ.

Sie hatte Sigmund Freud gelesen, sie brauchte keinen Psychoanalytiker, um zu wissen, daß sich die Sinnlichkeit um so mehr regt, als man sie unterdrückt.

Aglaia kannte ihre Veranlagung, aber sie war wie ein Vulkan, der sein Feuer unter Kontrolle hielt. Sie galt als eine Frau, die zugleich verführerisch wirkt und nicht verführbar ist.

Sie war keine Heuchlerin und wunderte sich gelegentlich selbst darüber, warum sie Erik, ihren Mann, so selten betrogen hatte. Moralische Skrupel kannte sie nicht, und zudem hätte sie wohl einige Berechtigung zur Untreue. Sie war durchaus bereit, sich die Freiheiten zu nehmen, die sie in natürlicher Toleranz ihrem Geschlecht zugestand. Sie hielt nichts von einer Moral, die sich an der Natur verging und die Frau auf das Niveau von Pfarrersköchinnen herabziehen wollte.

Trotzdem kochte sie zumeist auf anderer Flamme.

Aglaia drehte sich um, betrachtete ihren Körper, kurz und flüchtig bedauernd, kein Mann zu sein.

Dann ging sie in das hauseigene Schwimmbad. Das hatte Aglaia schon vorgehabt, bevor ihr eine Abkühlung nötig erschienen war.

Sie lebte, vorwiegend allein, in einer Villa in der Nähe Frankfurts, die, hatte man erst einmal ihre Sichtblenden überwunden, des Geldes ganzes Gepränge entfaltete. Aglaia genoß es dezent. Trotz ihrer kleinbürgerlichen Herkunft verstand sie es meisterlich, jede neureiche Attitüde zu meiden.

Das Bad lag im Souterrain.

Erst als es Aglaia betreten hatte, merkte sie, daß sie nicht allein sein würde. Sie hatte Sebastian vergessen, den Neffen, der in ihrem Haus aufwuchs, freilich nur in den Ferien. Sonst war er in einem schweizerischen Internat in besten, wenn auch fremden Händen.

Gemessen an seiner Jugend war Aglaia eine Matrone, doch wäre es ihr albern erschienen, jetzt einen Rückzug anzutreten.

„Tag, Sebastian“, sagte sie und übergab ihm ihren Bademantel.

„Entschuldige“, erwiderte er, „ich wußte nicht, daß du jetzt …“

„Na“, entgegnete Aglaia lächelnd, „ist das Becken nicht groß genug für zwei?“

Es war ein überzeugendes Argument, aber es trieb den Jungen in eine Sackgasse der Verlegenheit. Aglaia verstand sich auf Stimmungen. Das Gespür dafür gab ihr Macht. Sie gestand sich selbst, daß die Machtfülle das eigentliche Futter ihres Ehrgeizes war, der sich auf alle menschlichen Bereiche erstreckte, von der wirtschaftlichen Omnipotenz über die kulturelle Präsenz bis in die sexuelle Intimsphäre.

Sie bemerkte, daß Sebastian nicht wagte, sie voll anzusehen, und lächelte. Sie zog die Knie hoch, legte die Arme darüber, warf sich mit gekonnt natürlichem Schwung die Haare aus der Stirn. Sie spürte Sebastians Blick im Nacken; spürte, daß er sie abtastete, um dann, als sie sich wieder aufgerichtet hatte, an die Decke zu starren, als könne er durch den Blick in eine falsche Richtung die eigene Durchsichtigkeit verbergen.

„Sei nett“, sagte sie, „und hol mir eine Zigarette.“

Sie rauchte um diese Zeit nicht, aber es machte ihr Spaß, den Jungen aus seiner Erstarrung zu brechen.

Er war siebzehn, untersetzt, nicht hübsch, nicht häßlich, geistig frühreif, und er laborierte offensichtlich noch an pubertären Schwierigkeiten. Es wäre an der Zeit, ihn aus seiner Internats-Kasuistik herauszureißen, aber Aglaia konnte sich schlecht als verführendes Objekt anbieten. Sebastian zuliebe würde sie auch nicht ein entsprechendes Dienstmädchen anstellen.

Er gab ihr Feuer, berührte dabei ihre Hand und erschrak so, daß er ein zweites Streichholz benötigte.

„Wo ist Erik?“ fragte er.

„Muß erst in seinen Terminkalender sehen“, antwortete Aglaia. „Gestern hat er mich aus New York angerufen. Heute wird er in Bonn erwartet, und morgen muß er, glaube ich, nach München weiterfliegen.“

„Managerwahn“, erwiderte der Junge. „Kapitalistenschicksal.“

Die Antwort erschien Aglaia typisch nicht nur für Sebastian, sondern für seine ganze Generation. In einem Alter, in dem sie früher Karl May lasen, konsumieren sie heute Karl Marx. Früher träumten sie bei ihren puerilen Masturbationen von der Partnerin der Tanzstunde, aber heute tanzen sie mit einem solchen Horror vor der körperlichen Berührung, als sei der Partner aussätzig.

„Er arbeitet für uns alle“, entgegnete Aglaia, „für dich, für mich, für diesen – für Christian, und für den Konzern.“

„Und dieser für die Volkswirtschaft“, ergänzte Sebastian. „Ein seltsamer Weg: Im Frühkapitalismus verhungerten die Arbeiterkinder, so sie sich nicht als Lumpenersatz durch die Fabrikschornsteine ziehen ließen, und im Spätkapitalismus verenden die Einpeitscher des Systems am Herzinfarkt.“ Er verschluckte sich an seinem Zigarettenrauch und hustete. „Irgendwie liegt darin eine gewisse Gerechtigkeit. Findest du nicht?“

„Du solltest dich feiner ausdrücken; in jedem Fall aber von deinem Erzieher besser sprechen.“

„Ich erziehe mich selbst“, erwiderte Sebastian.

„Man merkt’s“, versetzte Aglaia und lächelte. „Und die Geschichte – mit den Fabrikschornsteinen …“

„… war noch zu Beginn unseres Jahrhunderts in England üblich.“

„Wo sich inzwischen die Sitten auch etwas geändert haben“, antwortete Aglaia.

Sie hatte nichts gegen die roten Ambitionen ihres Neffen. Sie schienen ihr eine zeitübliche Kinderkrankheit zu sein wie die Masern oder Scharlach. Wenn er erst einmal als Alleinerbe des Konzerns den Unterschied zwischen Millionen und Milliarden erfaßt hätte, würde er diese Röteln verlieren und im vollen Umfang die ökonomische Klaviatur beherrschen, die er heute Ausbeuterei nannte.

„Nur in der Erscheinungsform“, schränkte Sebastian ein, „nicht im Prinzip.“ Seine theoretischen Erkenntnisse nutzte er wie einen Haltegriff: Nun wagte er, Aglaia anzusehen. Er konnte nicht weitersprechen, weil sein Mund trocken war. Er versuchte, ihn mit einer ebenfalls ausgetrockneten Zunge sprechfähig zu machen.

Er schluckte ein paarmal.

„Das mußt du mir genauer erklären“, sagte Aglaia ohne Spott.

Sie lehnte sich zurück, schloß die Augen, darauf wartend, daß sein Blick wie feiner Sand über ihre Haut rieselte. „Gab es schon einmal eine Gesellschaftsform“, fragte sie dann, „in der der Mann auf der untersten Sprosse der sozialen Stufenleiter so gut gelebt hat?“

Aglaia war auf sein Lieblingsthema eingegangen, das sie im Internat mit heißen Köpfen erörterten. Sebastian war dialektisch darauf eingeschossen: Repressiver Konsum – Ersatz der Peitsche durch künstliche Kaufreize – Korrumpierung der Arbeiterklasse durch pseudosoziale Errungenschaften – Konservierung des Bildungs-Monopols – Manipulierung der Meinung – Monopolisierung der Macht. Er kannte seinen Marx und seinen Marcuse. Er brauchte nicht einmal darüber nachzudenken.

Aber sein Hirn war leergepumpt. Er spürte, wie alles Blut in seinen Unterleib schoß, ihn vergrößerte, bis zum Platzen aufblähte, wie ihn die Erektion stottern machte und sein Gesicht in einen Peniskopf verwandeln mußte. Sebastian suggerierte sich, daß Aglaia seine Tante sei, aber es änderte nichts daran, daß sich dieser verdammte Auswuchs zwischen ihre wenig tantenhaften Oberschenkel stoßen wollte – und er zu feige war, oder zu anständig, oder zu dumm, oder zu jung.

„Am erfolgreichsten – ich simplifiziere jetzt bewußt“, fuhr Aglaia fort, „ist doch wohl ein System, in dem der kleine Mann sich am meisten leisten kann.“ Sie lächelte ihn an. Ihr Blick glitt über seinen Körper. Es schien Sebastian, als bliebe er an der Stelle hängen, für die sich der Junge schämte, weil sie sich hart und steil von seiner Badehose abhob.

„Man gesteht ihm Konsum zu, damit man an den Produktionsmitteln verdient.“ Sebastian drehte sich um, legte sich auf den Bauch: verdammte Erektion. Natürlicher Vorgang: Die Schwellkörper ziehen das Blut an, das Glied wächst und wächst und wächst, genarrt von der Phantasie. Sie ist hübsch, hat eine blendende Figur und wer wird es schon mit seiner Tante treiben, wenn man noch nicht einmal weiß, wie man ihr das verdammte weiße Dreieck auszieht.

„Und der Kapitalismus läßt die heimlichen Verführer wie Bluthunde von der Kette“, sagte er, „hämmert dem Verbraucher Tag und Nacht allen möglichen Unfug ein. Um zu konsumieren, schindet er sich beruflich, macht Überstunden, hält die Schnauze und frißt täglich ein Stück Tod durch gefälschte Lebensmittel. Den geistigen Tod saugt er mit manipulierter Meinung in sein Gehirn ein und …“

Aglaias Beine öffneten sich wie eine Schere. Sebastian merkte, daß sie ihm den Faden abschnitt. Während er Luft holte, überlegte er wie sie sich verhalten würde, wenn er sich jetzt auf sie stürzte. Er las in ihren Augen, auf ihrem Mund die Aufforderung, spürte den Schweiß in seinen Händen, spürte den Trieb unter seinem Rumpf. „… und wenn alle Möglichkeiten, alle Narreteien des Konsums erschöpft sind, dann kommt Krieg, und der Chemietrust, zum Beispiel, verdient weit mehr am Napalm als an …“

Aglaia schüttelte den Kopf und legte lächelnd ihre Hand auf seinen Arm: „Sebastian“, sagte sie, „du bist gescheit und dumm zugleich. Was du alles weißt und was alles …“

Sie merkte, daß sie mit ihrer Berührung bei Sebastian eine Explosion ausgelöst hatte. Sein Gesicht zuckte. In Schmerz und in Wonne. In Haß und Verachtung.

Aglaia, die neben ihm lag, unschuldig, unverfänglich, erlebte die tobenden Zuckungen in seinem Gesicht mit, nahm die detonierende Pollution wie eine Huldigung. Es war ihr, als hätte sie Sebastian versehentlich verführt und dabei zufällig erfahren, wie reizvoll es sein müßte, es absichtlich zu tun.

Der Junge stand auf.

„Entschuldigung“, sagte er, zwecklos verbergend, wofür er sich eigentlich entschuldigen wollte. Während er mit verstörtem Gesicht den Rückzug antrat, nahm sich Aglaia vor, ihn bei Gelegenheit zu versuchen und ihn zu verführen.

Sie war seine Tante, aber es würde kein Inzest sein, und so es einer wäre, erhöhte es nur den Reiz. Sie hielt es auch nicht für Schande, denn sie hatte ihre Gründe.


Er hörte träge Tropfen auf das Dach klatschen und steckte das Gesicht tief in das Kissen, um es zu schützen. Er schloß die Augen und wunderte sich, daß er nicht naß wurde. Jetzt verspürte er Schmerzen am Hinterkopf und schmeckte fauligen Geschmack im Mund. Er zögerte wie jeden Mittag das völlige Erwachen hinaus. Seine Sinne standen auf der Stelle, steckengeblieben wie in einem verschmutzten Sieb.

Verdrossen setzte er sich im Bett auf.

Erst jetzt merkte er, daß er nicht allein war.

Überraschende Gesellschaft beim unfrohen Erwachen war für Christian, den Außenseiter des Schindewolff-Clans, nicht selten. Häufig waren bei ihm mehr oder weniger angenehme Begleiterinnen zurückgeblieben wie abgerissene Eintrittskarten nach dem Kinobesuch.

Er betrachtete die Unbekannte mit stumpfem Interesse. Sie war jung, blond und dreist, eine dieser grausamen Generation, vor der man sich fürchten müßte, falls man sich nicht selbst abseits gestellt hätte.

Christian hatte nichts gegen eine Jugend zwischen Beat und Bett, wenngleich er sich im Vergleich zu ihr wie ein alter Mann vorkam. Im übrigen war er weder Vater noch Erzieher. Die Frage war auch vielmehr, ob er heute nacht der Liebhaber dieses Mädchens gewesen war.

Christian trat an das Fenster der Mansardenstube, riß die Gardine auseinander. Das Licht überfiel ihn, er wich wie angeschossen zurück und starrte mit dem gequälten Blick des Verwundeten nach oben.

Allmählich begriff er, daß es nicht regnete.

Die Sonne lauerte hinter aufgelockertem Gewölk wie eine fette Wanze hinter zerschlissener Tapete. Christian haßte blutsaugendes Ungeziefer. Die Krankengeschichte seines Lebens hatte aus unzähligen Wanzenstichen bestanden. Während er wahrnahm, daß sich die Sonne durchkämpfte, vermeinte er zu spüren, wie sie ihren gierigen Rüssel an seine Haut setzte.

Er flüchtete in den Raum zurück, ging an den Kühlschrank, nahm die Steinhägerflasche aus dem Fach, setzte sie an den Mund, trank langsam, in großen Schlucken; er stellte die Flasche wieder ab.

Christian betrachtete verwundert eine Unzahl Gläser, die umgekippt im Ausguß standen, Während er sich zu erinnern versuchte, welche Orgie er in der vergangenen Nacht inszeniert haben mochte, kostete er einen an Bittermandel erinnernden Geschmack im Mund: Blausäure, Zyankali, vergällten Whisky – den Tod on the rocks.

Aber er lebte noch und merkte es an seinem Erschrecken. Doch solange keine Toten in seiner Wohnung herumlagen, konnte auch keiner der Zufallsgäste versehentlich das Glas genommen haben, das er sich als sein letztes im Leben präpariert hatte.

Während Christian versuchte, die Erinnerung zusammenzusetzen wie Papierschnipsel, erlangte er keine Gewißheit, ob er beim Versuch, sich zu töten, gestört worden war oder ob er nur einen seiner exzentrischen Alpträume erlebt hatte.

Es stand schlecht um ihn, und er griff nach der Steinhägerflasche, als wolle er das Übel mit Stumpf und Stiel ausreißen. Er trank saubere, klare Flüssigkeit ohne Additiv. Und er trank zügig.

Die Kopfschmerzen wurden schwächer, wattiert vom Alkohol.

Mit dem Fuß stieß er unwillig am Boden liegende Kleidungsstücke beiseite. Er pflügte sich durch die kleine Wohnung. Dabei betrachtete er flüchtig die junge Unbekannte.

Sie spürte seinen Blick und erwachte. Sie musterte Christian lange, abschätzend. Er war mager wie ein gebrühtes Suppenhuhn, das Gesicht eingefallen, die Haut grau: verbrannte Asche. Die gelblichen Pupillen rotgerändert: Glut aus der Schlacke.

„Mensch“, sagte sie, „bist du häßlich.“

Christian hörte mehr Verwunderung als Mitleid heraus. Er warf ihr eine Zigarette zu. Sie fing sie aus der Luft. Er schleuderte das Feuerzeug hinterher. Sie richtete sich im Bett auf. Ihr Köper spannte sich wie ein Bogen. Die Haare fielen ihr auf die bloßen Schultern. Sie umrahmten den Kopf wie eine Girlande. Ihre Augen waren hell, ihr Gesicht glatt. Ein leeres Blatt, in das sich die Zoten des Lebens noch nicht eingeritzt hatten.

„Wie alt bist du?“ fragte sie.

„Sechsundvierzig.“

„Erst?“

„Vielleicht habe ich etwas zu schnell gelebt.“ Er holte von einem Regal eine Schachtel mit Pillen, schüttete sie ungezählt in die Hand, schluckte sie und spülte sie mit Steinhäger hinunter. „Auch der Herbst hat sonnige Tage“, alberte er.

„So sonnig warst du nicht“, sagte sie.

„Wie man sich bettet, so bumst man.“ Christian setzte sich neben sie.

Sie rückte zur Seite, mehr mechanisch als erwartend. Er spürte die Wärme ihres Köpers wie durch Handschuhe. Christian hustete, nahm ihr die Zigarette aus der Hand und drückte sie im Aschenbecher aus. Er überlegte, wo er das Mädchen aufgelesen hatte; er durchstöberte sein Bewußtsein wie seine Hosentasche. Zwecklos: Seine Erinnerung war durchlöchert.

Seit einiger Zeit durchstreifte er Nacht für Nacht die Stadt wie ein Lumpensammler. Es war sinnlos, am Morgen zu überlegen, woher der Abfall der Nacht stammte. Er hatte sich am Leben überfressen; er war kein Feinschmecker mehr. Es entsprach seiner Übung, seine Umwelt zu erleben wie Theater aus der Loge; aber er mochte nicht, daß während der Vorstellung der Platz an seiner Seite unbesetzt blieb.

Christian wußte, daß er nicht allein sein konnte, daß er ständig auf der Flucht vor sich selbst war. Allein hatte er Angst vor sich – sicher nicht grundlos.

„Mittag schon vorbei“, sagte er. „Du hast wohl viel Zeit?“

„Arbeitest du?“ fragte das Mädchen.

Er schüttelte den Kopf. Postkoitale Gespräche haßte er, vor allem, wenn er nicht wußte, ob dem Nachtisch ein Hauptgang vorausgegangen war. „Ich lebe von meinem Vermögen.“

„Und ich von meinem Unvermögen“, entgegnete sie.

Christian war überrascht. Er hatte sie für eine kleine Verkäuferin gehalten, die sich für ein Fotomodell ausgeben würde, oder für eine Gelegenheitsdirne, die gleich einen armen, herzkranken Vater als Bettelhand auszustrecken versuchte. Nun mußte er, obwohl er um diese Zeit sonst abschaltete, sich darüber schlüssig werden, ob sie schlau oder klug, gerissen oder beschissen war.

„Wie heißt du?“ fragte er.

„Jutta“, antwortete sie. „Was machst du?“ fragte er. „Wie lebst du?“

Jutta schwieg.

„Hast du keine – keine Bleibe?“

Sie fuhr herum: „Im Gegenteil“, erwiderte sie. „Ich gehe nicht nach Hause – wegen Zuhause.“

„Das ist mir zu – zu hoch.“

„Zu Haus ist Not und Elend“, entgegnete Jutta. „Haben doch schon die Nazis gesungen“, setzte sie hinzu. „Du nicht?“

„Damals war ich nicht so bei Stimme“, versetzte Christian, „und heute nicht so bei Gedächtnis.“ Er hustete wieder. „Übrigens hatten die Braunen den Text von den Roten geklaut.“ Er schob ihr die Decke über die Schultern bis unter das Kinn. „Sei friedlich“, grinste er dümmlich, „und mach ’nen alten Mann nicht fickrig.“ Er wußte nicht mehr, was er hatte sagen wollen. „Geniert es dich gar nicht, bei einem Mann im Bett zu liegen, der dein Vater sein könnte?“

„Hätte es deinen Vater jemals gestört“, fragte Jutta, „ein Mädchen bei sich zu haben, das seine Tochter hätte sein …“

„Nein“, antwortete er verblüfft.

„Also“, entgegnete sie.

„Warum seid ihr eigentlich so abgebrüht?“

„Wer ist ihr?“

„Ich meine – eure ganze verdammte Generation.“

„Vielleicht gehöre ich zu einer verdammten Generation.“ Juttas weicher Mund explodierte in zwei Teile: „Jedenfalls gehört ihr dann zu einer impotenten.“

„Vorwurf aus Erfahrung?“ fragte Christian.

Sie riß ihm die Flasche aus der Hand: „Wenn ihr nicht trinkt, dann jammert ihr – oder ihr jammert sogar, wenn ihr trinkt. Ihr sterbt vor Selbstmitleid, weil eure Väter Nazis waren und aus euren Töchtern womöglich Huren werden. Ihr sterbt an jedem Tag. Ihr sterbt immer wieder. Nur vergeßt ihr zu sterben.“

„Nur weiter so.“ Christian streckte ihr die Schnapsflasche hin.

„Laß das“, schob sie seine Hand weg. Sie nahm seine Pillen zur Hand, las das Etikett: „Warum nimmst du ein Leberpräparat, wenn du dich kaputttrinkst?“

„Damit ich mich länger kaputttrinken kann“, versetzte er. „Hast du noch nie einen Narren gesehen, der beim Autofahren gleichzeitig auf Gaspedal und Bremse tritt?“

„Ich bin Fußgängerin.“

Christian stellte erst jetzt fest, daß sie hübsch war. Jutta glich nicht den anderen Mädchen und Frauen, auf die er beim Erwachen am Morgen gestoßen war, diesen Nutznießerinnen der Gelegenheit. Daß sie Witz zu haben schien, erfreute und beunruhigte ihn. Wenn sie nicht langweilig war, würde er unter Umständen versuchen, sie bei sich zu behalten.

Doch Christian sammelte Eintagsfliegen, nicht Dauergäste. Er wollte sich an nichts mehr gewöhnen, Nichtsnutziges ausgenommen. An einer schönen Gewöhnung war er verblutet: ein Toter auf Urlaub seitdem, der sich sein Leben vom laufenden Meter schnitt, solange der Vorrat reichte.

Jutta sah, daß sich seine Überlegungen mit ihr beschäftigten. Sein Mienenspiel ließ darauf schließen, daß der Verstand das Vitalste an ihm war. Seine Augen zogen sich in kleine Höhlen zurück wie müde Tiere, aber sie kehrten immer wieder, neugierig und zugleich unbeteiligt.

Christian schaltete das Radio ein und hörte widerwillig zu: Vietnam servierte Tote zum zweiten Frühstück. Seit Jahren schon. Sie waren gezählt, fotografiert und sortiert. Meistens stellten in den westlichen Nachrichtensendungen die Roten die Toten. Der US-Oberbefehlshaber hatte die Strategie der Leichenzählung erfunden: Solange die kleinen Asiaten lebten, konnte er Freund und Feind nicht unterscheiden. Tot jedoch beseitigten sie bei ihm jeden Zweifel. Die Zerschossenen, Verbrannten, Gelynchten waren Feinde gewesen. Auch die Frauen. Auch die Kinder. Auch die Greise. Auch die Ungeborenen im Mutterleib. Napalmqualm hob sich täglich vom Schlachtfeld, Weihrauch der Schwarzen Messe.

„Papas Krieg“, sagte Jutta.

Ihre Antwort verblüffte Christian wieder. Er wühlte in einem Stoß Zeitungen, um die Stimme des Krieges verstummen zu lassen. Die Blätter gaben die Steinhägerflasche frei. Er trank wieder. Der Schnaps schmeckte nach Blut.

Jutta hob die Zeitungen auf. Eine Illustrierte war aufgeschlagen: Bundespresseball in Bonn. Auf Hochglanz, das Papier wie die Dargestellten: eine lächelnde Dame neben einem lächelnden Kanzler.

„Meine Schwägerin“, kommentierte Christian. „Sie heißt Aglaia, und der Frack im Hintergrund ist Erik.“ Die Falten in seinem Gesicht zuckten: „Nur damit du einmal siehst, aus welch’ feinen Kreisen ich stamme.“

‚Die Leitung des Konzerns legt übrigens Wert auf die Feststellung, daß Christian Schindewolff-Bamberg in keiner Weise an ihr beteiligt ist‘, las Jutta.

„Hast du das gesehen?“ fragte sie ihn. „So fein sind deine Kreise gar nicht.“

„Dem Konzernumsatz hilft’s, und mir schadet es nicht. Narrenfreiheit“, sagte er.

„Freiheit, die ich scheine“, versetzte Jutta.

„Eigentlich habe ich mich selbst aus dem Konzern entlassen.“ Christian fragte sich, wie er dazu kam, mit dem Mädchen darüber zu sprechen. „Immerhin gehört mir ein Drittel, wenn auch nicht mehr lange“, setzte er hinzu.

„Wieso?“

„Ein komischer Erbvertrag“, antwortete er. „Wer stirbt, scheidet aus – sofern er keine Kinder hat.“ Er lächelte schief. „Unser Vater war ein Spaßvogel.“

Jutta nahm die Zeitung zur Hand und suchte den Frack. „Dann wird also dein Bruder Alleinbesitzer?“

„Schön wär’s“, brummelte Christian. „Er hat doch auch keine Kinder.“

„Warum macht ihr euch eigentlich keine?“

Er wollte zornig werden, mußte aber doch lachen: „Ich bin nicht so familiär“, erwiderte er, „und Erik, mein Bruderherz …“, brach er ab, fand aber dann seine Eröffnung zu lustig, um sie zu unterschlagen: „Meinst du, daß man einem Nackten in die Tasche greifen kann?“

Jutta blätterte die Illustrierte um.

Der nächste Bericht kam nicht aus Bonn, sondern aus Saigon. Die Menschen trugen keinen Frack, und manche von ihnen nicht einmal mehr ein Gesicht.

Jutta warf die Zeitschrift weg, als hätte sie in Schmutz gewühlt. Sie richtete sich auf. Sie hatte so wenig Scheu, ihren Körper zu zeigen, wie Christian Hemmung, ihn zu betrachten. Ein junger zärtlicher Körper, der leugnen wollte, wie anschmiegsam er war.

Es dämmerte ihm, daß seine Begleiterin womöglich mehr einer Wahlverwandtschaft entspräche als einer Bettgemeinschaft, aber jetzt begann ihr Körper seine Sinne zu entzünden. So verbraucht er war, erwies er sich doch nicht als zu alt und zu krank, sich nicht noch den einen oder anderen Bravourakt abzugewinnen. Von der Erektion gesteuerte Visionen machten ihn plump und albern:

„Weißt du was?“ Seine Hand fuhr ihren Rücken entlang; er zog Jutta an sich. „Wir reden zu viel und pimpern zu wenig.“

„Laß mal“, entgegnete sie und stand auf.

„Das Bad ist links“, sagte Christian.

Sie ging mit federnden Schritten. Er sah ihr nach und versuchte sich dabei wieder zu erinnern, wo er das Mädchen aufgelesen haben mochte. Er kam nicht weit. Sowie er an gestern dachte, setzte die Musik wieder ein und verwandelte den Trigeminusnerv in ein dreifach verstärktes Schlagzeug.

Der Lärm rauschte in den Ohren; es half ihm nichts, daß er seinen Kopf im Kissen vergrub. Schließlich merkte er aber, daß es gar nicht die Erinnerung war die in seinem Gehör wütete, sondern ein Besucher ungeduldig klingelte.

Christian warf sich einen Bademantel über, ging gereizt auf die Türe zu, öffnete sie einen Spalt.

„Erik?“ sagte er benommen. „Komm herein, Bruderherz“, setzte er hinzu und trat zur Seite.

Für einen Spitzenmanager der deutschen Industrie zeigte Erik, wie Christian wußte, einige durchaus untypische Eigenschaften: Zum Beispiel versagte er sich, in das Privatleben anderer einzudringen. Deshalb fragte der Überrumpelte sich, warum der Bruder sich jetzt so lautstark Einlaß in die kleine Dachwohnung erzwungen hatte.

Es war für Erik, der sich auf Geschäftsreise in München befand, nicht allzu schwer gewesen, der Fährte seines Bruders zu folgen: drei, vier Bars und eine Handvoll Trinkgeld. Nun stand er ihm gegenüber und kam sich vor wie ein Schweißhund, der das angeschossene Tier aus seinem Versteck zerrt.

„Tag, Christian“, sagte Erik und lächelte: „Immer noch der tolle Bamberg.“

Christian hatte Erik ein paar Monate nicht gesehen, aber Leute wie sein Bruder ändern sich kaum. Er war groß, schlank, ein aristokratisches Gesicht, Erbteil seiner Mutter, einer schwedischen Aristokratin. Selbst abgesessen wirkte er noch wie ein Herrenreiter.

Christian unterließ die Floskeln üblicher Konvention, fragte aber schließlich doch, ob er etwas für Erik tun könne.

„Oh, ja“, entgegnete der Bruder. „Eine Tasse Kaffee.“ Ohne Spott und ohne Vorwurf setzte er hinzu: Und vielleicht einen Stuhl.“

Christian nahm die weiblichen Dessous vom Sessel und warf sie auf das Bett. Ihre Trägerin duschte sich nebenan. Man hörte, wie sich die bloße Haut dem Strahl entgegenstreckte.

„Besuch?“ fragte Erik.

„Zufällig“, erwiderte ihm Christian. „Bleibst du länger?“

„Muß heute abend schon wieder in Frankfurt sein“, antwortete der Besucher und betrachtete den Mansardenraum. Er glich den pittoresken Bildern, an die sich Erik bei Christian hatte gewöhnen können oder müssen oder dürfen. Christian pflegte sich in Schlupfwinkel zurückzuziehen, wie sich alternde Elefantenbullen von der Herde absondern.

Diese Domizile glichen einander. Sie waren klein, ziemlich unbequem und sehr unordentlich. Viele Bücher, viele Flaschen – die Flaschen meistens leer, die Bücher fast immer gelesen. Christian konnte beides nicht lassen: nicht das Trinken, nicht das Lesen. Doch leichter hätte er sich der Alkoholiker-Fürsorge ausgeliefert, als zuzugeben, wie sehr ihn die Dinge der Welt noch interessierten.

„Und Aglaia geht es gut?“ Christian wollte den seltsamen Namen seiner Schwägerin ohne Präpotenz aussprechen, aber seine Zunge skandierte die Silben.

„Ich kann dich nicht von ihr grüßen“, antwortete Erik. „Sie weiß nicht, daß ich dich treffe.“

„Und du meinst“, fragte Christian, „es gibt etwas, das deine Frau nicht weiß?“

„Allerdings“, erwiderte der Besucher. Die Wendung, die das Gespräch nahm, mißfiel ihm. Er war aus einem ganz anderen Grund gekommen, als über Aglaia zu sprechen.

„Wie stehst du zur Zeit mit ihr?“ fragte Christian. Er erhielt keine Antwort und provozierte: „Und wie stehst du eigentlich zu mir?“