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Mila Summers

Vielleicht klappt

es ja morgen …

Liebe in Radolfzell

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1. Auflage 2016

© 2016 by LAGO Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Birgit Walter

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: Shutterstock / Peratek, Shutterstock / Gorbash Varvara, Shutterstock / Maaike Boot

Satz: Georg Stadler, München

Druck: Digital Print Group, Nürnberg

eBook by ePubMATIC.com

ISBN Print: 978-3-95761-163-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-246-4

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog oder was sonst noch so geschah

Kapitel 1

Es gibt Tage, an denen möchte man über sich hinauswachsen, Bäume ausreißen und zumindest ansatzweise die Welt verändern. Die Zuversicht und der Glaube an das eigene Handeln durchströmen den Geist und beseelen den Willen, etwas Neues in Angriff zu nehmen. Voller Tatendrang stürzt man sich in ein Vorhaben, das man seit Wochen vor sich herschiebt, und packt es mühelos an.

Und dann gab es Tage wie heute: Es regnete in Strömen, der seehas war mir vor der Nase weggefahren, der Kaffeebecher in meiner Hand war undicht und ein kleiner Junge nutzte die Gelegenheit, gleich neben mir in einer Pfütze seine neuen Gummistiefel zu testen.

Da stand ich nun an der Haltestelle, dick eingepackt mit Schal, Handschuhen und Mütze in meinem Wintermantel der Duftnote »Arabica« und blickte zweifelnd um mich. War es das schon gewesen oder warteten noch weitere Katastrophen auf mich?

Meine nasse Jeans klebte wie eine zweite Haut an meinen Beinen, während mich der Junge grinsend ansah. Die Kälte stieg unweigerlich immer weiter in mir empor. Unfähig, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, verharrte ich fröstelnd an Ort und Stelle und wartete auf den nächsten seehas.

Eigentlich hätte ich es kommen sehen müssen. Nach dem gestrigen Abend lag mein Leben nicht nur bildlich gesprochen in Scherben. Das Unglück war mir schon immer sehr dicht auf den Fersen gewesen, doch vor einigen Tagen schien es die letzte schützende Distanz zwischen uns durchbrochen zu haben.

Kai, mein Verlobter, war gestern mal wieder ausgerastet und hatte mit Tellern und Tassen um sich geworfen. Sogar vor dem kostbaren Teeservice meiner geliebten Oma Sieglinde hatte er nicht haltgemacht. Ich kannte seine Wutausbrüche nur zu gut, doch dieses Mal war etwas anders.

Kurz nach 20 Uhr war ich zu Hause angekommen. Mit funkelnden Augen und tief gefurchter Zornesfalte auf der Stirn hatte Kai mir die Wohnungstür geöffnet und unvermittelt gefragt: »Wo warst du?«

Sein Gesicht hatte Bände gesprochen und mir war sofort klar, dass es vollkommen egal war, was ich antworten würde. Er hatte sich bereits eine stimmige Geschichte zurechtgelegt, mit einem Liebhaber darin, bei dem ich meine Abende verbrachte, wenn es mal wieder später bei mir wurde.

Gott, wie ich diese Auseinandersetzungen hasste. Da kam man nach einem langen Arbeitstag endlich nach Hause, freute sich auf einen gemütlichen Fernsehabend auf der Couch und dann stand kurz vor dem Ziel die personifizierte Eifersucht im Türrahmen und verwehrte den Einlass ins Paradies.

Genervt und müde war ich schließlich an Kai vorbei in unsere Wohnung geschlüpft, in der Hoffnung, dass Frau Deppisch, der Hausdrache unseres Mehrparteienhauses, von dem Zwischenfall in ihrem Flur nichts mitbekommen hatte.

Mit großer Wahrscheinlichkeit stand sie hinter dem Türspion und blickte neugierig und abschätzig auf die zwei Gestalten, die in ihren Augen unnötigen Lärm machten und dabei alle Bewohner und sie im besonderen Maße belästigten.

Frau Deppisch stand der Kultfigur der Lindenstraße »Else Kling« wirklich in nichts nach. Schon mehrmals waren wir aneinandergeraten, weil sie der Meinung war, unsere bloße Anwesenheit in diesem ehrenwerten Haus verpeste die Luft mit unnatürlich hartnäckigen Störpartikeln.

Klitzekleine Teilchen, die willkürlich hin und her schwangen und ihr die Luft zum Atmen nahmen. So, oder so ähnlich, hatte sie einmal versucht, ihre Gemütslage darzulegen, während ich dringend zu einem Termin musste.

Wahrscheinlich wusste sie bereits, was mir blühen würde, nachdem ich nicht pünktlich aus dem Büro gekommen war und sie die Haustür gegen 18:30 Uhr nicht quietschend ins Schloss hatte fallen hören.

Aber eines wusste sie sicher nicht. Dass Kai an diesem Abend eine unsichtbare Grenze überschreiten und seiner Wut nicht mehr nur mit klirrendem Geschirr Ausdruck verleihen würde. Nein, das ahnten weder Frau Deppisch noch ich.

Noch ehe ich mir die unschönen Szenen des gestrigen Abends ins Gedächtnis rufen konnte, riss mich etwas zu Boden und begrub mich unter sich. Etwas Kantiges bohrte sich in meine Rippen, während eine schwere Last auf mir lag.

Kapitel 2

»Oh mein Gott, habe ich Sie verletzt? Tut Ihnen etwas weh? Können Sie aufstehen?«, fragte die Gestalt über mir, nachdem sie sich aufgerafft hatte und mich nicht mehr mit ihrer ganzen Körpermasse platt wie eine Flunder drückte.

Schmerzerfüllt rieb ich mir über die Stelle, an der bis gerade eben noch der Lenker eines Fahrrads mit mir auf Tuchfühlung gegangen war.

»Soll ich einen Arzt rufen? Es tut mir so unglaublich leid. Ich bin mit dem Vorderrad weggerutscht und konnte einen Zusammenstoß mit Ihnen nicht mehr verhindern. Geben Sie mir Ihre Hand! Ich helfe Ihnen auf.«

Die pausbäckige Frau, schätzungsweise Mitte vierzig, sah mich noch immer sorgenvoll durch die Gläser ihrer verchromten Nickelbrille an, während sie unruhig auf irgendeine Regung von mir wartete.

Wie ein geprügelter Hund lag ich vor ihr in der Pfütze, deren Inhalt nun den Saum meines Mantels tränkte und langsam bis zu meinem Rücken vordrang.

»Es ist alles in Ordnung. Nichts passiert.« Beim Versuch aufzustehen durchfuhr mich ein grauenvoller Schmerz, der mich noch mal über meine Antwort nachdenken ließ.

»Was ist mit Ihnen?« Am liebsten hätte ich der Frau die Sorge um mich genommen, aber ich war selbst kaum in der Lage, die Tränen, die mir in die Augen schossen, zurückzuhalten.

Einige der Umstehenden starrten wie gebannt auf das Schauspiel, das sich ihnen am frühen Morgen bot. Andere scrollten teilnahmslos am Display ihres Smartphones den Input an Informationen durch, ohne den sie augenscheinlich nicht leben konnten.

Keiner bot seine Hilfe an. Keiner nahm sich der armen Frau an, die völlig aufgelöst vor mir stand und mit zittrigen Händen auf das Häufchen Elend vor sich blickte.

Dabei war es gar nicht der Zusammenstoß, der mich dermaßen aus der Bahn geworfen hatte. Vielmehr erinnerte ich mich in diesem Moment wieder an das Gefühl, als Kai gestern Abend völlig unerwartet ausgeholt und mich ohne Vorwarnung ins Gesicht geschlagen hatte.

»Es ist wirklich alles bestens. Machen Sie sich keine Sorgen um mich.« Unter Aufbietung all meiner Kräfte kam ich schließlich zum Stehen, zupfte mir die tropfnassen Handschuhe von den eiskalten Fingern und stand da wie ein begossener Pudel.

»Ich wohne nur zwei Straßen weiter. Kommen Sie schnell mit zu mir! Wir legen Sie erst mal trocken.«

»Danke, das ist sehr lieb von Ihnen, allerdings muss ich zur Arbeit und …«

»Ich rufe dort für Sie an und melde den Unfall. Kommen Sie erst mal mit zu mir! Ich mache Ihnen einen heißen Tee und wir holen Sie aus Ihren feuchten Klamotten raus. Sonst holen Sie sich womöglich noch den Tod.«

Wenn ich ehrlich war, musste ich mir eingestehen, dass sie recht hatte. So konnte ich wirklich nicht in die Anwaltskanzlei fahren. Zumal dort gestern die Heizung in meinem Zimmer ausgefallen und der bestellte Handwerker bis dato nicht aufgekreuzt war.

Nickend nahm ich das Angebot schließlich an und griff dabei nach meiner Handtasche, die während des Unfalls ebenfalls auf den Boden gefallen war.

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Marita Müller war eine dieser alleinstehenden Damen, die ihr Zuhause mit einigen Katzen – bisher konnte ich vier an der Zahl ausmachen – teilte. Die kleine Einzimmerwohnung am Stadtrand von Radolfzell war geprägt von der Anwesenheit der hoheitsvollen Perser. Bei unserer Ankunft regten die royalen Stubentiger kurz ihre Köpfchen, ehe sie es sich wieder gemütlich machten und zur Tagesordnung übergingen.

Abgesehen von den Tieren war die Wohnung übervoll mit Nippes, der in jedweder Form in Regalen und Schränkchen zur Schau gestellt wurde. Ob kleine Vasen aus Porzellan, aus Stein gemeißelte Figuren oder winkende Queen-Elizabeth-Puppen aus Kunststoff – Marita hatte offensichtlich ein Faible für Kitsch.

»Ich hab Ihnen im Bad ein paar Kleider rausgelegt. Sie sind Ihnen wahrscheinlich viel zu weit, aber besser, Sie schlüpfen schnell aus Ihren nassen Sachen. Machen Sie es sich dann auf der Couch bequem. Ich koch uns derweil eine schöne Tasse Tee und komm dann zu Ihnen.«

Während ich noch strümpfig im Wohnzimmer auf das Sammelsurium um mich herum blickte, fiel mir ein Bild ins Auge, das zwischen all dem Klimbim unglaublich deplatziert wirkte.

Das taschenbuchgroße Porträt zeigte einen jungen Mann, schätzungsweise Anfang zwanzig, der mit leicht geöffnetem Mund in die Kamera lächelte. Nicht nur die haselnussbraunen Augen, sondern auch die kleinen Grübchen in den Wangen zogen mich magisch in ihren Bann.

Ohne darüber nachzudenken, griff ich nach dem gläsernen Rahmen und sah mir jede Einzelheit des Gesichts genauer an.

»Was machen Sie da?«

Erschrocken fuhr ich zusammen und wandte mich meiner Gastgeberin zu. Dabei wäre mir das Foto beinahe entglitten. Ertappt sah ich Marita an, die mich böse anfunkelte. Auffallend schnell legte sie einen Schalter um, lächelte freundlich und war so liebenswürdig, wie ich sie vom ersten Moment an empfunden hatte.

Während sie mir die Teetasse reichte, huschte jedoch ein dunkler Schatten über ihr Gesicht. Schließlich fand sie zur alten Form zurück und forderte mich besorgt auf, endlich meine Kleidung zu wechseln.

Im Verlauf der folgenden Stunde sprachen wir nicht über das Foto und seine Bedeutung für Marita. Dennoch konnte ich spüren, dass es damit etwas auf sich haben musste.

Meine chronische Neugierde regte sich immer lauter in mir und wollte eine Antwort auf die Frage: Wer war der junge Mann auf dem Bild? Es war schwer abzuschätzen, wie alt die Aufnahme war.

Vielleicht war es ja Maritas Sohn, der mich dort aus dem kleinen Schränkchen angrinste. Merkwürdigerweise hingen in der ganzen Wohnung keine weiteren Fotografien. Von niemandem. Nicht einmal von Marita selbst oder ihren Katzen.

Über die vergilbte Tapete im Wohnzimmer waren Kopien großer Künstler drapiert. So fügte sich Mirós Karneval des Harlekins nahtlos an Picassos Le Rêve und Munchs Der Schrei.

»Gefallen Ihnen meine Gemälde?« Mein Blick huschte über den Rest des Zimmers und blieb an der Couch mir gegenüber haften, auf der Marita saß. Kein Kissen entsprach dort dem anderen. Rote, gelbe und neongrüne Hüllen bedeckten runde, quadratische und ovale Polster. Der ganze Raum glich einer unkontrollierten Farbexplosion.

Ich bemühte mich immer wieder, meine Umgebung konzentriert wahrzunehmen, doch es gelang mir einfach nicht, eine geordnete Struktur festzustellen, an der ich mich orientieren konnte.

Das unheilvolle Chaos war nicht in Worte zu fassen. Unruhig umschloss ich den Becher in meiner Hand noch etwas fester, als ob er mir Halt geben könnte.

»Sie sehen es also auch nicht.« Behutsam strich Marita immer wieder über den Rücken einer ihrer Katzen, während ihr Blick fest auf mir haftete.

»Was soll ich sehen, Marita?«, erwiderte ich kleinlaut, während ich fieberhaft überlegte, was ich übersehen haben könnte.

»Der Raum ist für Sie eine einzige Katastrophe. Stimmt’s?« Leugnen war zwecklos. Schon meine verstorbene Oma hatte mir gesagt, dass man aus meinem Gesicht wie aus einem offenen Buch lesen konnte. In der Jugend hatte ich mir zwar ein recht annehmbares Pokerface erarbeitet, das allerdings nur bei Papa Wirkung zeigte. Meine Mutter hatte ich nie von einer Lüge überzeugen können.

»Das würde ich nicht sagen.« Schon als die Worte meinen Mund verließen, war ich mir sicher, dass sie zwar recht diplomatisch klangen, allerdings nicht wirklich nett waren.

Um der unangenehmen Situation zu entkommen, blickte ich gespielt überrascht auf meine Armbanduhr. So langsam war es für mich an der Zeit zu gehen. Maritas monotones Kraulen und ihr abwesender Blick dabei machten mich immer nervöser.

Ich konnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, was mich daran so verunsicherte, schließlich war sie zu mir sehr nett gewesen. Sie hatte mir Kleidung zum Wechseln angeboten, mir Tee gekocht und sogar ein Stück Gebäck auf den Rand meiner Untertasse gelegt.

Dennoch waren mir ihr Zuhause und ihr seltsames Verhalten nicht geheuer. Entschuldigend erhob ich mich von meinem Platz und eilte ins Badezimmer, wo meine Hose über einem Heizkörper trocknete.

Bei der Verabschiedung bedankte ich mich nochmals für ihre Hilfe. Doch ehe ich durch den Türrahmen schritt, hörte ich Marita hinter mir sagen: »Es ist nicht alles so, wie es scheint. Die einen geben, um noch mehr zu nehmen. Die anderen lieben, nur um geliebt zu werden, und die Eifersüchtigen spielen sich auf, um ihr eigenes Handeln zu verbergen.«

Der letzte Satz jagte mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Ich verharrte einen Moment, dann drehte ich mich zu ihr um und spürte, wie sich wieder dieser merkwürdige Schleier in ihren Augen lichtete: »Liebe Sophia, komm mich doch bald wieder besuchen. Die Umstände unseres Kennenlernens hätten nicht dramatischer sein können, umso schöner ist für mich die Erkenntnis, dass aus einer Katastrophe Glück erwachsen kann. Findest du nicht auch?«

Was zu viel war, war zu viel. Ich ertrug das mystische Gerede keinen Moment länger, verabschiedete mich erneut hastig und ging, ohne mich ein weiteres Mal umzublicken. Was für ein Morgen.

Es gibt Tage, an denen man meint, dem gewohnten Trott entfliehen zu müssen, nur um anschließend froh zu sein, diesen Trott zurückzuhaben. Ohne Wenn und Aber. Es tat mir leid für Marita, aber in ihre Welt wollte ich nicht abdriften, da stellte ich mich lieber meiner verkorksten Beziehung und schleppte mich mit schlammbesprenkelter Jeans in die Arbeit.

Allemal besser, als in diesem Sammelsurium aus Müll gleich einem Messie sein Leben zu fristen und Dinge zu sehen, die sicher keinem gesunden Geist entspringen konnten. Nein, mein Leben war ganz anders. Geordnet, geplant, organisiert. Oder?

Kapitel 3

»Frau Kleinschmidt, was war es denn heute wieder? Fuhr der seehas nicht? Mussten Sie auf den Hund Ihrer Nachbarin aufpassen? Oder gab es andere Gründe, die ein pünktliches Erscheinen unmöglich machten? Wie sehen Sie überhaupt aus?«

»Ich hatte einen Unfall. Eine Fahrradfahrerin hat mich umgefahren und nachdem meine Kleidung klitschnass war …«

»Ja, ja. Sparen Sie sich die Ausreden. Ihr Mandant wartet seit einer geschlagenen Stunde auf Sie und Sie hielten es nicht mal für nötig, kurz in der Kanzlei Bescheid zu geben. Oder ist Ihr Handy bei dem Sturz zu Bruch gegangen?«

»Das nicht, aber …«

»Papperlapapp. Sie nehmen das Ganze hier nicht ernst, Frau Kleinschmidt. Das ist keine winzige Klitsche, wie die von Ihrem Vater. Wir sind die erste Anwaltskanzlei am Ort. Hier herrschen Zucht und Ordnung. Wenn Sie weiterhin nicht in der Lage sind, auf unserem Niveau Ihre Arbeit zu verrichten, dann werden sich unsere Wege demnächst trennen müssen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Herr Dr. Wackernagel«, antwortete ich kleinlaut, während ich damit kämpfte, mir meine Wut nicht anmerken zu lassen. Entweder hatte mein Chef bisher noch keinen Kaffee bekommen oder der Termin, der auf mich wartete, war so wichtig, dass wir uns es nicht leisten konnten, ihn zu vergraulen. Allerdings konnte ich mich dummerweise überhaupt nicht daran erinnern, dass ich ein Meeting hatte. Wer konnte das nur sein?

Dr. Wackernagel war eigentlich eher der Kategorie liebenswerter Brummbär als der Sparte bissiger Löwe zuzuordnen. Ich hatte ihn noch nie in dieser Weise mit einem meiner Kollegen sprechen hören. Auch bei mir hatte er bisher immer sanfte Töne des Verständnisses angeschlagen. Was war heute nur anders?

»Worauf warten Sie denn noch? All Ihre Kollegen sind entweder vor Gericht oder in Besprechungen. Frau Runge hat sich Herrn Richards angenommen, allerdings wird unsere Sekretärin sicher nicht seine erste Wahl sein, wenn er zu uns gekommen ist, um in rechtlichen Dingen Antworten zu bekommen. Oder sehen Sie das anders?«

Mein Chef strich sich mit einem blütenweißen Stofftaschentuch, das er mühevoll aus der viel zu engen Hosentasche gezerrt hatte, über seine schweißgebadete Stirn und über die Oberlippe, von der bereits die ersten Tropfen auf den Schreibtisch vor ihm geperlt waren.

Trotz des kalten Winters saß er wie immer mit einem kurzen blauen Hemd in seinem Büro. Die Heizung war sicher aus und allein bei dem Gedanken daran begann ich erneut zu frösteln.

Sein extremes Übergewicht ließ ihn dermaßen transpirieren, dass die meisten Kollegen es im Hochsommer vermieden, länger als nötig mit ihm in einem kleinen Raum beisammenzustehen.

»Nein, natürlich nicht.« Richards, Richards? Ich kannte niemanden mit diesem Namen. Angestrengt überlegte ich, ob mir der Name nicht doch irgendetwas sagte, doch ich verband rein gar nichts damit.

Dennoch erhob ich mich von meinem Platz, um nicht weiterhin den bösen Blicken meines Arbeitgebers ausgesetzt zu sein, und ging zur Tür.

»Herr Richards ist ein wichtiger Mandant für uns, Frau Kleinschmidt. Denken Sie daran! Egal, welcher Ruf ihm vorauseilt, er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und spielt eine wichtige Rolle weit über die Grenzen von Radolfzell hinaus. Außerdem hat er ausgesprochen gute Kontakte zum Bürgerbüro. Vermasseln Sie das ja nicht!«

Na, prima. Als wenn ich nicht schon eingeschüchtert genug gewesen wäre. Schließlich ging ich vollkommen unvorbereitet in einen Termin mit einem Mandanten, der mir absolut nichts sagte. Zudem hatte ich keine Ahnung, was er ausgerechnet von mir wollen könnte.

Schließlich war ich im Rahmen meiner Tätigkeit in der Kanzlei für das Erbschaftsrecht zuständig. Die Schlagworte erfolgreicher Geschäftsmann ließen bei mir aber eher die Lampe Steuerrecht aufblinken.

Trotz meiner Bedenken setzte ich mich in Bewegung, schnappte mir in meinem Büro mein Notizbuch, um etwas zu haben, woran ich mich festklammern konnte, und setzte meine Brille auf, die ich lediglich trug, um kompetenter zu wirken.

»Ach, da bist du ja, mein Kind. Lass dich mal ansehen! Mensch, du bist deiner Mutter ja immer noch wie aus dem Gesicht geschnitten. Erkennst du mich denn gar nicht? Frau Runge, ich danke Ihnen für Ihre Gesellschaft. Wenn Sie so freundlich wären, mir und meiner Patentochter ein Kännchen Kaffee zu bringen, wäre ich Ihnen überaus dankbar.« Die sonst so hochmütige und kaltschnäuzige Chefsekretärin lächelte ergeben in seine Richtung, während sie sich bereits an die Arbeit machte, das Verlangte herbeizuschaffen. Für gewöhnlich erachtete sie derlei niedere Tätigkeiten nicht als Teil ihres Aufgabengebiets.

Jeder in der Kanzlei wusste das. Ich selbst hatte es an meinem vierten Tag bei Dr. Wackernagel und Partner am eigenen Leib erfahren. Noch nie zuvor hatte mich ein Mensch so unverhohlen vor versammelter Mannschaft inklusive des Mandanten zur Schnecke gemacht.

Es war mir wirklich ein Rätsel, wie sie mit diesem Verhalten noch immer ein Teil des Teams sein konnte. Wobei die Tatsache, dass sie Gerüchten zufolge eine entfernte Verwandte meines Chefs war, sicher zu den Gründen zählte, warum sie in diesen Räumen Narrenfreiheit genoss.

Frau Runge schritt einem Engel gleich in ihren viel zu hohen Stilettos und dem viel zu kurzen Rock aus dem kleinen Besprechungsraum, der uns neben neun weiteren zur Verfügung stand.

Ich kam mir unglaublich schäbig und underdressed vor, als ich an meine verschmutzte Jeans und die zerknitterte Bluse dachte.

»Herr Richards, es tut mir sehr leid. Es muss sich hier um eine Verwechslung handeln. Ich habe keinen Patenonkel. Wenn Sie allerdings dennoch in rechtlichen Fragen von mir beraten werden wollen, dann würde ich mich sehr freuen …«

»Sophiechen, das ist doch nicht dein Ernst. Kannst du dich wirklich nicht mehr an mich erinnern? Wie alt warst du, als ich für einige Jahre in die Staaten ging? Bestimmt schon fünf oder sechs. Wobei du noch nicht in der Schule warst. Ich bin doch dein Onkel Lulu, weißt du noch? Du konntest Ludger nicht aussprechen.« Dabei strich er sich hypnotisch über den weißen Vollbart und sah mich durchdringend an, als ob er damit meinen nicht vorhandenen Erinnerungen etwas auf die Sprünge helfen könnte.

»Nein, ich weiß leider wirklich nicht, wer Sie sind. Meine Eltern haben auch nie von Ihnen gesprochen. Doch, Moment mal … Rauchen Sie Pfeife? Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, warum ich das wissen möchte. Das ist mehr so ein Gefühl; ich kann es mir selbst nicht erklären. Lachen Sie mich nicht aus, aber ich musste gerade an Vanillekipferl denken.«

»Ich habe früher tatsächlich Pfeife geraucht. Vorzugsweise mit Tabak darin, der nach Vanille roch. Eine lästige Angewohnheit, die ich mir im Ausland abgewöhnt habe. Ja, das passt. Manchmal erinnert man sich auch an Gerüche, wenn man im Gedächtnis nach Wegweisern sucht. Das ist doch zumindest ein Anfang. Oder wie siehst du das? Schließlich konntest du mich anscheinend immer gut riechen.« Dabei zwinkerte er mir vielsagend zu und klopfte sich energisch auf den Oberschenkel.

»So, und nun lassen wir das mit dem Sie. Ich bin dein Onkel Ludger oder Lulu, ganz wie du willst.«

»Ähm, ja. Herr Richards, ich meine, Onkel Ludger, was kann ich denn für dich tun?« Erst jetzt wagte ich es, mich zu ihm an den ovalen Tisch zu setzen.

Während mein Gegenüber zu einer Erklärung ausholte, öffnete sich die Tür und Frau Runge trippelte lasziv ins Zimmer. Gekonnt balancierte sie auf ihrer rechten Hand ein rundes rotes Tablett mit einem Kännchen Kaffee und zwei Tassen darauf, schenkte meinem Patenonkel ein Tässchen ein und verließ den Raum wieder.

Es wäre auch wirklich zu viel verlangt gewesen, wenn sie die Güte gehabt und auch meine Tasse gefüllt hätte. Noch ehe ich mir selbst einschenken konnte, reichte mir Ludger seine Tasse.

»Nun, liebe Sophia, es gibt einige Dinge in meiner Vergangenheit, auf die ich nicht stolz bin. Früher hat mich dein Vater rechtlich beraten. Doch das ist lange her und war vor … nun, es ist lange her. Ich war, wie gesagt, eine ganze Zeit im Ausland und lebe erst seit drei Jahren wieder in Radolfzell. Mein Vater ist verstorben und hat mir seine Firma vermacht.«

»Ludger, wie kommt es, dass du gerade jetzt zu mir kommst? Sicher hast du in deinem Unternehmen eine eigene Rechtsberatung. Wie soll ich dir behilflich sein? Warum hast du dich nie bei meinen Eltern gemeldet und ihnen gesagt, dass du zurück bist? Sie hätten sich doch sicher gefreut.«

»Ja, natürlich habe ich ein fähiges Team aus Anwälten in meiner Firma. Darum geht es auch nicht. Es ist eher eine persönliche Angelegenheit, wegen der ich dich besuchen komme. Deine Eltern und ich haben uns vor Jahren wegen einer Nichtigkeit zerstritten. Ich weiß nicht mal mehr, worum es dabei ging.« Das schwache Lächeln auf seinen Lippen erreichte seine Augen nicht. So merkwürdig die ganze Situation auch anmutete, eines wusste ich bereits in diesem Moment ganz sicher: Der Streit war wesentlich einschneidender gewesen, als er mich glauben lassen wollte.

Weshalb sonst meldete man sich nicht bei ehemals besten Freunden, wenn man zurück in der Stadt war? Onkel Ludger war wirklich kein sonderlich guter Schauspieler. Und dass er sich gerade nervös am Hinterkopf kratzte, war ein Grund mehr, ihm in dieser Sache keinen Glauben zu schenken.

»Meine Ärzte haben vor einiger Zeit Krebs im fortgeschrittenen Stadium bei mir diagnostiziert.« Schockiert blickte ich auf den Mann, der schätzungsweise so alt wie mein Vater war. Ganz genau konnte ich es nicht sagen, da sein Bart ihn älter erscheinen ließ.

Erst jetzt fiel mein Blick auf die tief gefurchten Falten in seinem ausgemergelten Gesicht. Die Haut spannte sich unnatürlich fest über seine Wangenknochen, während die Backen darunter hohl schienen. Die Augen wirkten leer und abwesend.

Sein stumpfer Blick haftete sich erneut an mir fest. Unfähig, etwas zu sagen, starrte ich ihn sekundenlang an, während sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich war schon immer sehr nah am Wasser gebaut. Das Schicksal des Mannes, der offensichtlich in meinen Kindertagen eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt hatte, ließ mich nicht kalt.

»Ach, Sophiechen, weine doch nicht. Schau, ich hatte ein wirklich erfülltes Leben und bin nicht traurig darüber, dass ich diese Welt bald verlassen muss. Das Schicksal hat es immer gut mit mir gemeint. Beruflich konnte ich mich frei entfalten und mich in jederlei Hinsicht verwirklichen. Es gibt nicht viel, was ich in meinem Leben noch erreichen möchte. Eine eigene Familie wäre schön gewesen: ein Nachfolger, der das Unternehmen weiterführen könnte, das mein Vater bereits von seinem Vater erhielt und unter seiner Führung bekannt machte. Aber ich möchte nicht undankbar klingen. Beides – privates Glück und wirtschaftlicher Erfolg – wäre für eine Person auch einfach zu viel des Guten gewesen. Findest du nicht auch?« Ruhig und gelassen legte er mir seine Sicht der Dinge dar. In seiner Stimme konnte ich weder Wehmut noch Trauer vernehmen. Friedlich sprach er Wort für Wort, vollkommen im Reinen mit sich selbst.

Als ich den Kloß in meinem Hals endlich weggedrückt hatte, räusperte ich mich zaghaft. »Onkel Ludger, das tut mir wirklich leid. Wie kann ich dir helfen? Soll ich zwischen meinen Eltern und dir vermitteln? Möchtest du den Streit aus der Welt schaffen und benötigst meine Hilfe dazu?«

»Das muss nicht sein. Nein, ich werde mich mit deinen Eltern selbst in Verbindung setzen und diese dumme Zwistigkeit bereinigen. Ich bin gekommen, um dir einen Vorschlag zu machen. Es hat mich einige Zeit gekostet, bis ich herausgefunden habe, wo ich dich finden kann. Nun bleiben mir nur noch einige Monate, um dich … Natürlich nur, wenn du einwilligst. Ich möchte dich wirklich zu nichts drängen. Wobei mich meine gesundheitliche Lage daran hindert, dir so viel Bedenkzeit einzuräumen, wie du vielleicht benötigst.«

»Onkel Ludger, wie kann ich dir behilflich sein? Geht es um dein Testament? Soll ich dich beim Verfassen unterstützen? Erbschaftsrecht ist mein Spezialgebiet. Das kriegen wir schon hin. Ich helfe dir sehr gerne dabei.«

»Nein, das ist es nicht ganz. Wobei es durchaus etwas mit meinem letzten Willen zu tun hat. Liebe Sophia, wie ich bereits erwähnt habe, war es mir im Leben nicht vergönnt, eine eigene Familie zu gründen. Es widerstrebt mir zutiefst, das Familienunternehmen in fremde Hände zu geben. Mein innigster Wunsch wäre es deshalb, dass du es übernehmen würdest.«

Kapitel 4

Firmenchefin. Ich? Nie im Leben. Wer würde denn schon auf mich hören? Genau: Niemand! Ich war viel zu unscheinbar. Die klassische graue Maus, die kaum über das Lenkrad ihres Wagens blicken konnte und immer und überall übersehen wurde.

Aber das war für mich nicht schlimm. Ich war es ja von klein auf gewohnt, mich im Hintergrund zu halten. Meine Eltern nahmen mich oft zu Geschäftsessen mit und machten mir früh deutlich, wie wichtig es war, sein Licht unter den Scheffel zu stellen.

Später in der Uni zeichnete man mich dann mit dem Prädikat gut, aber wenig zielorientiert aus. Ich gehörte zwar zu den besten meines Jahrgangs, doch im Gegensatz zu meinen Kommilitonen lag mir wenig daran, Karriere zu machen.

Ich liebte es beschaulicher, blieb in meiner Heimat und zog mit Kai in eine kleine Zweizimmerwohnung nach Böhringen. Den Job in der Kanzlei vermittelte mir mein Vater, ohne sich wirklich dafür zu interessieren, ob mir eine solche große Sozietät überhaupt zusagen würde.

Das war auch nicht wichtig. Es zählte einzig und allein sein Ansehen in der Stadt, und wenn ich auf die abstruse Idee gekommen wäre, in einer kleinen Kanzlei zu arbeiten, hätte mein Vater um sein Prestige gebangt.