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Maria rennt. Sie weiß, dass es um ihr Leben geht. Ihr Keuchen übertönt die Schritte des Verfolgers. Es dämmert bereits, der Park ist menschenleer um diese Zeit. Die grünen Büsche, die allmählich zu schwarzen Silhouetten werden, scheinen das Geräusch ihrer Schritte zu dämpfen. Auf ein unhörbares Kommando hin schaltet sich die Straßenlaterne ein, die sie gerade hinter sich gelassen hat. Maria rennt. Auf dem Kiesweg taucht ein Schatten auf, der sich in dieselbe Richtung bewegt wie sie und dabei immer länger wird, ihr immer näher kommt. Maria bemerkt ihn nicht. Maria rennt.

Schnitt.

Leo schwenkt zum Sofa, auf dem Jennifer, Martha, Marten und Silke sitzen. Jennifer hat wie immer ihr Handy in der Hand. Während sie darauf herumtippt, streitet sie mit Martha. Leo hört gar nicht zu, er hat das Mikrofon in seinem Kopf ausgeschaltet, er sieht nur an ihren Gesichtern auf dem Display, dass die beiden Schwestern sich streiten. Jennifer hat ein überlegenes, etwas schiefes Lächeln aufgesetzt. Leo kennt es genau. Martha wirkt verzweifelt, weil sie der wortgewandten großen Schwester nicht beikommt, obwohl doch eigentlich sie im Recht ist. Marten wirkt eigentümlich verkrampft. Der Streit der Schwestern ist ihm unangenehm. Er muss seiner männlichen Rolle nachkommen und sorgt für Ruhe. Mit einem kurzen, unsicheren Blick nach links, wo seine Frau sitzt, überzeugt er sich, dass Silke es auch mitbekommen hat. Leo nennt sie sonst Mama, doch wenn sie neben Marten sitzt, fühlt sie sich für ihn mehr wie Silke an. Marten ist nicht sein Vater. Leo beendet den Kamera-Schwenk.

Schnitt.

»Das Messer hat die Frau zwischen dem dritten und vierten Rippenbogen getroffen«, sagt der Gerichtsmediziner, der sich gerade über die Leiche gebeugt hat. Ein Kommissar stapft mit Plastiktüten über den Schuhen durch die Szene.

»Kannst du mir schon sagen, wann?« Der Gerichtsmediziner nuschelt irgendetwas, mit dem der Polizist nicht zufrieden ist. Der Kommissar antwortet fast unhörbar, dann zieht er betont langsam einen Gummihandschuh über die Finger und dreht die tote Frau auf die Seite. Er streicht über das weiße Strickkleid, das voller Schlammspritzer ist.

»Ein teurer Stoff«, sagt er, »aber warum hat die eigentlich keinen Mantel an? Es war doch ziemlich frisch in der Nacht?« Die Kamera folgt dem Blick des Kommissars. Das Kleid der Frau ist bis über die Hüfte hochgerutscht. Sie trägt keine Strümpfe. Der Kommissar drückt mit dem gummibehandschuhten Finger auf ihrer nackten Haut herum, dann dreht er die Leiche wieder auf den Rücken, greift nach ihrem Arm und versucht, das Ellenbogengelenk zu bewegen. Doch es scheint wie eingerostet, obwohl der Kommissar sich sichtbar anstrengt.

»Sie muss schon gestern Abend kurz vor acht gestorben sein«, sagt er. »Und die Leiche wurde bewegt«.

Schnitt.

Leo drückt den Aufnahmeknopf, der Camcorder sagt »Pling«. Er tippt auf den Bildschirm, spult ein paar Sekunden zurück. »Sie muss schon gestern Abend kurz vor acht gestorben sein«, hört man den Kommissar noch einmal auf dem kleinen Bildschirm seiner Kamera sagen. Leo bewegt synchron dazu die Lippen. Dann richtet er den Camcorder wieder auf die Familie auf dem Sofa, die wie an jedem Sonntagabend gemeinsam den »Tatort« sieht.

Er hat gerade rechtzeitig den Aufnahmeknopf gedrückt, als seine Mutter laut »Psst« sagt. Psst, findet Leo, ist eigentlich ein Flüster-Wort. Er kennt außer seiner Mutter keinen Menschen, der »Psst« so laut aussprechen kann, dass alle zusammenzucken. Das hat sie wahrscheinlich in ihrer Zeit als Gymnasiallehrerin gelernt. Den Grund für das »Psst« hat Marten geliefert, wieder einmal. Leos Mutter muss überhaupt nur dann »Psst« sagen, wenn Marten mit vor dem Fernseher sitzt. Denn Marten weiß alles. Leo hat mal eine Mütze anprobiert, die ihm gehört, und seitdem kennt er auch den Grund dafür – sein Kopf ist riesig. Doch Marten weiß nicht nur alles, er lässt auch andere gern an seinen Weisheiten teilhaben – was den Umgang mit ihm manchmal schwierig macht. Jedenfalls für Silke, die beim Tatort nicht gestört werden will. Und auch diesmal hat das »Psst« nicht genügt, Marten zu bremsen. Denn seiner Meinung nach hat der Kommissar gerade Humbug erzählt.

»Das kann der überhaupt noch nicht wissen, wann sie umgebracht wurde«, sagt Marten. »Erst müsste er beim Wetterdienst anfragen, wie kalt es in der Nacht war, dann müsste er…«

»Psst«, unterbricht Silke, etwa doppelt so laut wie vorher und in einer Tonhöhe, die Leo noch gar nicht kennt. Marten flüstert irgendetwas vor sich hin

Schnitt.

»Jetzt leg doch endlich mal die blöde Kamera weg und komm zu uns«, sagt seine Mutter. Leo betrachtet sie durch das Kamera-Auge. Durch das Okular, korrigiert er sich. Wer ein Profi sein will, muss sich auch professionell ausdrücken. Das ist einer der Lieblingssprüche seines Vaters, der in einer anderen Stadt lebt. Leo stellt sich den langen, inzwischen etwas aus der Form geratenen Körper seines Vaters auf dem Sofa vor, zwischen den anderen. Nein, ein völlig unmögliches Bild. Sein Vater friedlich neben seiner Mutter? Da würde auf dem Sofa sofort ein Schwarzes Loch entstehen, das die Erde verschlänge. Leo hat das neulich in einer Wissenssendung auf einem dieser bunten Kanäle gesehen, die Jennifer immer anschaltet.

»Leo! Was habe ich gesagt?« Der Ton seiner Mutter wird energischer. Leo weiß, dass er jetzt nicht mehr viel Zeit hat. Er zoomt ihr Gesicht ganz nah heran. Das Gerät, das sein Vater gekauft hat, kann wahre Wunder vollbringen. Jetzt hat er nur noch die Nase seiner Mutter im Bild. Die ganze Welt besteht für ihn im Moment aus dieser Nase mit dem kleinen Höcker, den er geerbt hat, wie seine Oma immer wieder betont. »Na, ist deine Nase immer noch so huggelig?« fragt sie jedes Mal, wenn sie telefonieren.

Vorsichtig bewegt Leo die Kamera nach unten, vermeidet dabei jede schnelle Bewegung. Wenn er nur den Höcker auf der Nase seiner Mutter sehen kann, fällt es ihm schwer, sich ihr Gesicht vorzustellen, obwohl er es besser kennt als sein eigenes. Er ist gerade beim Mund angekommen, als seine Mutter ihn erneut ermahnen will. Er legt die Kamera auf das niedrige Bücherregal neben dem Sofa und entschuldigt sich. Er muss aufs Klo. Auf dem Bildschirm seiner Kamera sitzen Jennifer, Martha, Marten und Silke nebeneinander. Jennifer tippt auf ihrem Handy.

»Hab ich’s gewusst oder hab ich’s gewusst?«, fragt Marten triumphierend. Anscheinend ist der Fall im Fernsehen nun gelöst. Seine Frau zieht die Mundwinkel so stark nach unten, dass das grüne Viereck der Gesichtserkennung rund um ihren Kopf vom Bildschirm verschwindet. Jennifer tätschelt die Hand ihres Vaters. Dabei drückt sie Martha ihr Knie in die Seite. Ihre Schwester beschwert sich laut. Marten beginnt zu erläutern, warum er schon nach fünf Minuten gewusst hatte, wer der Mörder war, welche Fehler die Polizei gemacht und wo sich der Gerichtsmediziner geirrt hatte.

»Und dann dieser Test an der Nackten am See. So erhält man ganz sicher kein brauchbares Ergebnis.« Martens Hände versuchen, ein von Totenstarre gezeichnetes Knie zu bewegen.

»Nach sechs Stunden Liegezeit im Freien versucht er tatsächlich, ihr die Augenlider zu schließen.« Seine Frau zuckt zurück, als Marten versucht, ihre Lider zu berühren.

»Bei der Leiche in der Scheune war das Blut noch rot – nach fast einer Woche«. Marten scheint ehrlich erstaunt, dass der Maskenbildner zu einem so billigen Trick gegriffen hat.

»Der Zuschauer soll doch auch schnell erkennen, was da liegt«, sagt seine Frau. »Ich will jedenfalls nicht drei Minuten auf eine Leiche gucken müssen, am Sonntagabend.«

»Silke, du weißt doch am Anfang gar nicht, dass da eine tote Frau liegt«, erklärt ihr Mann in einem belehrenden Ton. »Die Kamera schwenkt genau in dem Moment weg, wenn du die Tote bemerkst.«

»Aber in diesem Moment weiß ich auch, dass ich gerade drei Minuten auf eine tote Frau gestarrt habe!«

Leo hört in der Toilette den Abspann des Krimis. Er steht auf, öffnet die Tür, dreht sich noch einmal um, spült. Als er ins Wohnzimmer zurückkommt, fällt ihm auf, dass der kleine rote Kreis auf dem Kamera-Display noch immer blinkt. Aufnahme läuft. Schnell drückt er den roten Knopf.

Pling. Schnitt.

Das Fahrzeug nähert sich einem Abhang und stoppt. Aus der Perspektive des Fahrers ist nicht erkennbar, wie weit es hinunter in die Tiefe geht. Er gibt vorsichtig Gas. Langsam rollt das Auto auf die Klippe zu. Das linke Vorderrad bewegt sich zuerst über die Kante. Kurz dreht es sich frei in der Luft, dann schiebt die rechte Seite des Fahrzeugs nach. Ein Kratzgeräusch von Plastik auf Holz. Das Auto setzt mit dem Unterboden auf. Der Fahrer hat nicht an den Vorderradantrieb gedacht, nun bewegt sich sein Gefährt weder vor noch zurück, obwohl er hektisch alle möglichen Knöpfe drückt. Die Kamera auf dem Dach ist ein Stück nach vorn gerutscht. Leo hat sie mit Klebeband befestigt. Die Aufnahme läuft.

Was die Kamera sieht, zeigt ihm der Bildschirm seines Handys. Sein Vater hat ihm einen dieser neuen Camcorder mit Funkanbindung gekauft. Bei Technik muss es immer das Neueste vom Neuen sein. Die Reichweite der Videoverbindung genügt jedoch nicht, das Kamera-Auto allein im ganzen Haus umherfahren zu lassen. Leo hatte sich das spannend vorgestellt wie in einem Spionage-Thriller. Und dann sind da ja auch noch die vielen Stufen. Marten behauptet, die hätte ein betrunkener Architekt willkürlich im Haus verteilt. Ein System kann Leo dahinter auch nicht erkennen. Warum muss die Küche einen Schritt höher liegen als das Wohnzimmer, das über zwei Stufen mit der Terrasse verbunden ist? Wieso liegen die beiden Kinderzimmer im ersten Stock eine Stufe höher als das Eltern-Schlafzimmer, und das nun vom Stiefvater okkupierte Heiligtum des Vaters wiederum zwei Stufen tiefer?

Sein Kamera-Auto hängt auf der obersten dieser Stufen fest. Leo hebt es hoch und trägt es nach unten, wobei er kontrolliert, ob vielleicht Staub auf der Linse gelandet ist. Dann gibt er mit der Infrarot-Fernbedienung des Autos den Befehl zur Weiterfahrt. Martens Arbeitszimmer bietet interessantes Terrain. Der Boden ist mit Papieren bedeckt. Sein Stiefvater recherchiert. Er recherchiert eigentlich immer. Irgendwann hat er genug Informationen gesammelt, was er dann als große Neuigkeit beim Abendessen verkündet, und beginnt zu schreiben. Er ist zwar Schriftsteller, doch die ganze Familie weiß, dass er das Schreiben eigentlich nicht mag. Deshalb bringt er es stets so schnell wie möglich hinter sich. Drei, vier Wochen nach der Ankündigung am Familientisch gibt er sein Manuskript ab.

Davon erzählt er zwar nichts, aber es ist ihm deutlich anzumerken. Er ist wahnsinnig nervös, schrickt beim kleinsten Geräusch zusammen, und dann folgt der Kampf. Leo hat den Gegner noch nie gesehen, er weiß nicht einmal, wie er heißt, aber er kennt seinen Beruf: Lektor. Dass es wieder so weit ist, hört Leo an den lauten Selbstgesprächen, die sein Stiefvater im Arbeitszimmer führt. Er verteidigt, was er geschrieben hat. Leo findet das sympathisch. Aber er hat Mitleid mit dem Lektor. Einmal, kurz nachdem Marten bei ihnen eingezogen war, hatte seine Mutter versucht, die Rolle des Lektors zu übernehmen. Sie habe immerhin Germanistik studiert und lange als Lehrerin gearbeitet, da könne man doch die beträchtliche Summe sparen. Sie hatte danach allerdings nie wieder vorgeschlagen, sich diese Arbeit aufzubürden. Und Leo empfindet seitdem eine eigentümliche, wenn auch einseitige Freundschaft für den Mann, dessen Namen er nicht kennt, weil der sich immer wieder auf schwierige Diskussionen mit Marten einlässt.

Sein ferngesteuertes Auto rollt problemlos über die Blätter auf dem Fußboden. Sie sind mit verschiedenfarbigen Notizen und Freihandzeichnungen vollgekritzelt. Es ist kein einziger Computerausdruck darunter. Leos Stiefvater schwört darauf, alles eigenhändig zu Papier zu bringen. Nur so, meint er, könne er sich die Ergebnisse all dieser Recherchen merken. Das Verfahren funktioniert offenbar. Jedenfalls behauptet Marten immer, er müsse nie etwas nachschlagen, was er einmal aufgeschrieben hat. Leo fragt sich, ob er dazu überhaupt in der Lage wäre, denn ein Ordnungssystem kann er nicht erkennen. Wenn Marten ein Buch beendet hat, sammelt er alle Blätter wieder ein und entsorgt sie. Seine Mutter holt sie manchmal wieder aus der großen blauen Tonne und sucht all die Seiten heraus, die zumindest auf der Rückseite noch leer sind. Daraus schneidet sie Notizzettel, mit denen sie Leo daran erinnert, die Katze zu füttern oder den Unterricht vorzubereiten.

Nur Leo bekommt solche Zettel, aber das stört ihn nicht. Denn wenn er sie umdreht, findet er jeden Tag ein kleines Puzzle. Leo hat mal einen Kalender geschenkt bekommen, von dem er jeden Tag ein Blatt mit Sprüchen oder Witzen abreißen musste. Das fand er weniger interessant als die merkwürdigen Satzfetzen auf dem Rücken der Erinnerungs-Zettel. Leo zerknüllt das Papier erst einmal, dann streicht er es wieder glatt. Dabei stellt er sich vor, die geheime Notiz unter Lebensgefahr aus einem geheimen Labor entwendet zu haben. Anschließend versucht er, den ursprünglichen Inhalt zu rekonstruieren. Dabei stößt er unweigerlich auf Verschwörungen, auf versteckte Leichen oder grausame Morde. Das funktioniert immer, egal was sein Stiefvater gerade schreibt. Manchmal denkt Leo anschließend sogar noch an das, was seine Mutter auf die Vorderseite geschrieben hatte.

Die Blätter rascheln, wenn sein Kamera-Fahrzeug über sie rollt. Das Geräusch wird später auch im Video zu hören sein, das Leo aufzeichnet. Das ferngesteuerte Auto nähert sich dem Schreibtisch. Auf dem Display der Kamera mit ihrer Frosch-Perspektive wirkt die braun gestrichene, hölzerne Wand furchteinflößend. Marten ist sehr stolz auf das alte Möbelstück. Er hat es mitgebracht, als er in ihr Haus einzog, und seitdem steht es parallel zum Fenster. Leo darf den Schreibtisch in seinem Zimmer nur quer zum Fenster aufstellen. Das sei besser wegen des Lichts, darauf beharrt seine Mutter. Der Sekretär des Stiefvaters füllt fast die gesamte Zimmerfront aus. Damit sich das Fenster trotzdem noch öffnen lässt, ist nach allen Seiten genug Abstand für eine schlanke Person. Es ist wie immer sehr warm im Zimmer. Leos Mutter lüftet ab und zu, wenn sein Stiefvater nicht da ist.

Leo will sein Auto um den Schreibtisch fahren lassen, deshalb tritt er näher. Die Kante der Tischplatte ist voller Kerben. Einmal hat er beobachtet, wie sein Stiefvater mit einem Taschenmesser das Holz bearbeitete. Marten hatte sich in seinen lederbezogenen Drehstuhl zurückgelehnt, in die Ferne geblickt und dabei mit dem Messer auf die Tischplatte eingehackt. Die Holzkante trägt viele Kerben, einige sehen frisch aus. Leos Kamera-Auto ist jetzt vor dem Fenster angekommen. Dort ist es überraschend sauber. Er hatte sich eine Landschaft so staubig wie der Mond vorgestellt. Von dieser Seite sieht der Sekretär noch älter aus als von vorn. An der Vorderfront sind links und rechts zwei Türen mit metallenen Schlössern und Beschlägen angebracht, die an einen Tresor erinnern. Niemand darf diese Türen öffnen, die einzigen Schlüssel dafür trägt Marten stets bei sich. Leos Mutter hat ihn mal am Abendbrottisch gefragt, was er denn eigentlich in seinem Schreibtisch aufbewahre, doch Marten hatte sich mit einem Scherz herausgeredet: »Abgeschnittene Arme und Beine natürlich, was denkst du denn?« Die Familie war diese Art von Witzen gewohnt.

Leo will sein Auto um die nächste Ecke lenken. Nur anhand des Kamera-Bilds auf dem Handy ist das gar nicht so einfach. Er muss sich in die Rolle des Fahrers versetzen. Hebel nach links, dann fährt das Auto auf ihn zu, Joystick nach rechts, und es rollt von ihm weg. Die Sicht ist schlecht, er muss sich konzentrieren. Jetzt in die Kurve. Die Kamera bekommt Leos nackte Füße ins Blickfeld, allerdings ist das Bild ist jetzt zu dunkel geworden, weil sich das Auto vom Fenster weg bewegt. Leo muss die Helligkeit nachregeln. Große Mühe gibt er sich nicht, er kann das Video später am Computer immer noch nachbearbeiten.

Pling. Schnitt. Er hat die Aufnahme beendet.

Was die Kamera jetzt beobachtet, kennt er nur zu gut. Im hinteren Teil des Zimmers stehen an der Wand Ikea-Regale mit Ordnern. Leo hat das Zimmer noch nie kahl gesehen. Seit er sich erinnern kann, sind die Regale fester Bestandteil dieses Raumes. Früher, als sein Vater noch hier wohnte, durfte er in der Ecke mit seinen Legos spielen. Für ihn gab es nichts Entspannenderes als das Aufeinandersetzen von Legosteinen. Der Vater hatte auf seinem Computer getippt, ohne sich mehr als nötig zu bewegen, und Leo baute das Haus aus Legosteinen nach.

Wenn er an der Tür steht, kann er sich das Bild von damals ins Gedächtnis rufen. Links in der Ecke ein Junge, vorn am Schreibtisch ein Mann, beide in ihre Tätigkeit versunken. Leo fragt sich, wie diese Art der Erinnerung an ein Bild funktioniert, das er so nie mit eigenen Augen gesehen haben kann. Er stellt sich vor, wie er sie als Diorama in eine Schneekugel einbaut und die Kugel schüttelt. Im Schneegestöber wird das Bild unsichtbar, Leo friert und ist wieder in der Gegenwart. Socken und Schuhe, denkt er, ich sollte Socken und Schuhe anziehen.

Die Türklingel. Jemand läutet Sturm. Das kann nur Jennifer sein. Vermutlich hat sie mal wieder ihren Schlüssel verlegt oder keine Lust, ihn aus der Tasche zu kramen. Es wird ja wohl jemand da sein, der ihr aufmachen kann. Aus dem Schlafzimmer hört er die Stimme seiner Mutter. Er versteht ihre Worte nicht, merkt aber, dass sie schimpft. Es läutet beharrlich weiter, bis Leo die Tür öffnet. Er sieht noch, wie Jennifer den Finger vom Klingelknopf nimmt. Seit sie in der sechsten Klasse in Natur und Technik die elektrische Energie behandelt haben, überlegt Leo, ob es eine gute Idee wäre, die Türklinke bei Bedarf unter Strom setzen zu können.

Jennifer hat ein etwa gleichaltriges Mädchen mitgebracht, und er spürt, wie sein Kopf zu glühen beginnt, als die Fremde ihn begrüßt. Sie hat nur einen »Guten Tag« gewünscht – aber wie sie das gesagt hat! Er hat seit diesem Schuljahr Französisch, und das ist das einzige Fach, für das er sich freiwillig jedes Mal zu Hause vorbereitet. Seine Lehrerin ist alt, mindestens 40, aber ihre Sprache wirkt direkt magisch auf ihn. Er hat sich noch nie verliebt, doch wenn er überlegt, wie sich das wohl anfühlt, muss er sich nur den Tonfall seiner Lehrerin in Erinnerung rufen. Sprachlos steht Leo vor seiner Stiefschwester und dem fremden Mädchen und blockiert den Eingang.

»Willst du uns nicht endlich reinlassen?« Jennifer boxt ihn leicht in den Bauch. Leo zuckt zusammen, sieht ihr ins Gesicht, dann zu der Fremden.

»Ich hab dir ja gesagt, besonders helle ist er nicht.« Jennifer lacht. Ihre Begleiterin lächelt.

»Isch bin Natalie«, sagt sie, und jetzt erinnert sich Leo wieder. Jennifer hatte ja allen schon seit Wochen in den Ohren gelegen, wie cool das sei, dass sie am Frankreich-Austausch der Schule teilnehmen dürfe. Natalie musste die Tauschpartnerin sein, die nun für zwei Wochen bei ihnen wohnen würde.

Leertaste. »Isch abe gar keinauto«. Rücktaste. Leertaste. »Ich abe gar keinauto«. Leo spult den digitalen Filmschnippsel immer wieder zurück. Jennifer hatte Nathalie beim Abendessen den Spruch aus der Kaffeewerbung aufsagen lassen. Bei ihr klingt das viel besser als bei dem Schauspieler, findet Leo. Er beschließt, den Clip zu behalten und schiebt ihn in den Ordner mit dem Datum von heute. Wie jeden Abend sieht er sich die Ausbeute der vergangenen Stunden im Zeitraffer an. Sein Computer besitzt nicht genug Speicherplatz für ein ganzes Leben.

Leo hat deshalb ein bestimmtes System entwickelt, welche Aufnahmen er archiviert und welche im Papierkorb landen. Zunächst spult er das komplette Material einmal im 32-fachen Zeitraffer durch. Die Welt bewegt sich mit einem Mal wie unter Strom gesetzt. Besonders bizarr wirkt dabei, dass der Ton fehlt. So ähnlich fühlt sich Leo, wenn im Unterricht seine Gedanken abgeschweift sind und er wieder in die Wirklichkeit zurückkehrt. Er muss sich dann immer erst wieder mit dem Leben synchronisieren. Das versteht kaum ein Lehrer. Leo gilt als langsam, obwohl er auch in der 32-fachen Beschleunigung jedes einzelne Bild registriert.

Nach dem Schnelldurchlauf weiß er, welche Szenen er herausschneiden muss. Es sind Momente, in denen sich Menschen anders verhalten als sonst. Augenblicke, die in der Hektik des Alltags untergehen. Leo ist immer wieder überrascht darüber, was er in der Realität verpasst hat. Jennifer, die beim Abendessen schnell nach einer Wurstscheibe greift, bevor ein Konkurrent die Gelegenheit dazu hat. Martha, die sanfte Martha, die in einer winzigen, schnellen Geste einem Stück Käse mit der Gabel den Todesstoß versetzt, nachdem sie sich mit ihrer Schwester gestritten hat. Sein Stiefvater, der einen Krümel von der Hose fegt und sich dann mit einem kurzen Blick vergewissert, dass seine Frau nichts davon mitbekommen hat. Die Mutter, die sich einen Moment unbeobachtet glaubt und ihr Messer ableckt. Leo hat alle Beweise auf der Festplatte. Jede Anklage könnte er abschmettern, jede Aussage widerlegen.