image

Ulrich Peters

Unbeugsam & widerständig

Die radikale Linke in Deutschland
seit 1989/90

 

 

 

 

 

U N R A S T

 

 

 

 

Ulrich Peters ist Politikwissenschaftler und promovierte an der FU Berlin zum Thema Kommunistischer Widerstand in Buchenwald. Seine Forschungen widmen sich der Theorie und Geschichte linker Bewegungen, den kapitalistischen Alltag meistert er als Buchhändler.

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

Ulrich Peters: Unbeugsam & widerständig

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-040-6

 

© UNRAST Verlag, Münster

Postfach 8020 | 48043 Münster | Tel. 0251 – 66 62 93

info@unrast-verlag.de | www.unrast-verlag.de

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlag: kv, Berlin

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Einleitung

1. Kapitel
Die Erosion der radikalen Linken

Parteien und Organisationen in der untergehenden DDR

Parteien und Organisationen in der BRD und Westberlin

Die Autonomen

Bewaffnet kämpfende Gruppen

Fazit

2. Kapitel
Der antideutsche Sonderweg

3. Kapitel
Politische Praxis in den 1990er Jahren

Der Antifaschismus

Der Antirassismus

Soziale Kämpfe

Der Kampf um den öffentlichen Raum

Der Kampf gegen imperialistische Kriege

Politisch aktiv trotz Repression

4. Kapitel
Die Antiglobalisierungsbewegung

Von Chiapas über Paris nach Seattle

Gipfelstürme

Weg und Ziel der Antiglobalisierungsbewegung

Fehlerhafte Bestandsaufnahmen, illusionäre Konzepte

Der Sommer der Aufstandsbekämpfung

Attac Deutschland

Die Sozialforen

Gipfelopposition

Heiligendamm

Fazit

5. Kapitel
Politische Praxis im neuen Jahrtausend

Die radikale Linke im Krieg

Der Antifaschismus

Der Antirassismus

Soziale Kämpfe

Widerstand gegen die Gentrifizierung

Der Kampf um die Demokratie

Gesamtfazit

6. Kapitel
Theoretische Debatten

Imperialismustheorie

Die theoretische Verarbeitung des Realsozialismus

Konzeptionen für einen Sozialismus der Zukunft

7. Kapitel
Strategie- und Grundsatzdebatten

Revolution, Reformen oder bloß Aufklärung?

Die radikale Linke und der Islam

Der Sozialismus und »Das gute Leben«

8. Kapitel
Organisationspolitische Probleme

Parteien, Verbände, Netzwerke

Chancen zur organisationspolitischen Kooperation und Vereinheitlichung

Anhang

Literaturverzeichnis

Glossar

Personenregister

Einleitung

I.

Am 3. Oktober 2010 jährte sich die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zum zwanzigsten Mal. Das bot die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, und die politisch Mächtigen nutzten sie erwartungsgemäß, um zu unterstreichen, was sie seit 1990 immer wieder behauptet hatten: dass die Überwindung der ›widernatürlichen Teilung‹ des Landes als Folge der ›friedlichen Revolution‹ in der DDR ein großes Glück gewesen sei. Der eine oder andere moderate Kritiker wies derweil auf die bis heute existierenden Disparitäten bei Löhnen und Renten hin; der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzek (SPD) beklagte sogar den »schnellen Anschluss«, dessentwegen viele Ostdeutsche, erinnerten sie sich der damaligen Vorgänge, »nicht nur gute Gefühle« hegten (Der Spiegel, 30.8.2010). Mit seiner Äußerung rief der Sozialdemokrat heftige Empörung hervor, obwohl er die Einheit im gleichen Atemzug als »große Leistung« und ihre Resultate als »unzweifelhaft positiv« gewürdigt, also lediglich für einen blassen Farbtupfer im grauen Einerlei der geistigen Landschaft gesorgt hatte. Auch andere Bedenkenträger östlicher Provenienz, die 1990 für ein behutsames Zusammenwachsen beider Staaten plädiert hatten und sich nun, bitter enttäuscht, immer noch als Deutsche zweiter Klasse empfanden, erkühnten sich nicht, den Gipfel höherer Erkenntnis zu erklimmen. »Im Jahre 20 einer größer gewordenen Bundesrepublik«, hieß es in einer Erklärung hochrangiger Funktionäre, Wissenschaftler, Kulturschaffender und Sportler der ehemaligen DDR, »sind die Blicke nüchterner geworden. Die DDR taugt nicht als Aschenputtel deutscher Geschichte. Ihre Werte sind lebendiger als ihr Zerrbild vorgibt. Umbesinnung auf ihre tatsächliche geschichtliche Bewertung wäre ein Weg zur gelebten Einheit. Und der Zukunft zugewandt.« (junge Welt, 2./3.10.2010) Die Idee, mit diesem Gestammel erfolgreich an die herrschende Klasse appellieren zu können, den Sozialismus doch wenigstens nachträglich in sein Recht zu setzen und einige seiner Elemente in den hooliganistischen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts zu implementieren, lässt freilich tief blicken. Wenn selbst die Getretenen dem deutschen Imperialismus zubilligen, sich der Zukunft zuwenden zu können wie einst der Arbeiter-und-Bauern-Staat, ist die »gelebte Einheit« wohl annähernd vollendet.

Was aber ist eigentlich aus der schmalen Minderheit geworden, die sich seinerzeit gegen die Annexion der DDR durch die Bundesrepublik gestellt und die Renaissance des Kapitalismus im deutschen Osten abgelehnt hatte? Inwieweit haben sich die fundamentaloppositionellen Kräfte überhaupt ins neue Zeitalter hinüberretten können, und welchen Platz haben sie in der politischen Landschaft der zur Weltmacht aufgestiegenen BRD eingenommen? Das 20-jährige Jubiläum der deutschen Einheit – es bot bzw. bietet auch der radikalen Linken Anlass zu einer Rückschau, die hier, wenngleich mit einiger Verspätung, vorgenommen wird.

II.

Linksradikale sind nicht, wie häufig angenommen wird, nur die revolutionaristisch auftretenden Mitglieder autonomer Kleingruppen. »Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen«, bemerkte schon der junge Marx begrifflich korrekt (Marx 1957: 385). Wer radikal ist, will also nicht bloß die Verbesserung des Bestehenden, sondern seine Überwindung, mit einem Worte: den Sozialismus statt den Kapitalismus. Folglich umfasst die radikale Linke mehr als die bereits erwähnten Kreise, die nur eine ihrer Fraktionen bilden; zu ihr gehören Antikapitalisten bzw. Sozialisten aller Schattierungen.

Warum, ließe sich fragen, solch ein missverständlicher Begriff? Könnte man das politische Spektrum, um das es hier geht, nicht einfach als antikapitalistische bzw. sozialistische Linke bezeichnen? Man könnte, bannte aber nicht die Gefahr des Missverständnisses. Zum einen sind Antikapitalistische Linke und Sozialistische Linke zugleich Namen innerparteilicher Strömungen der Partei Die Linke, zum anderen ermöglichen die Bezeichnungen ohnehin vielfältige Assoziationen. Dem Sozialismus beispielsweise werden ›demokratische Sozialisten‹, ›autoritäre Sozialisten‹, ›libertäre Sozialisten‹, ›Linkssozialisten‹ und schlechterdings sogar ›nationale Sozialisten‹ zugeschlagen. Für welche sprachliche Variante man sich auch entscheidet: keine entbindet von der Notwendigkeit einer näheren Erläuterung.

Vielleicht ist es aber auch einfach nur an der Zeit, durch die Wahl des Terminus ›radikale Linke‹ diesen gerade in der kommunistischen Bewegung überwiegend verächtlich gebrauchten Begriff zu rehabilitieren.

III.

Welche Organisationen und Gruppen der radikalen Linken den Epochenbruch von 1989/90 überlebten, inwieweit er sie personell schwächte und welche Auswirkungen er auf die linke Medienlandschaft sowie auf wissenschaftliche Einrichtungen besaß, ist Gegenstand des ersten Kapitels, wobei selbstredend alle Fraktionen dieser durchaus ›pluralen‹ Linken Beachtung finden: Kommunisten sämtlicher Couleur, Anarchisten, Autonome, Guerilleros. Aufmerksamkeit erfährt dabei nicht nur die aus etablierten Strukturen, technischem Know-how und politischen Erfahrungen sich zusammensetzende Erbmasse, die die Linksradikalen ins neue Zeitalter einbrachten, sondern ebenso die aus den Wendejahren resultierenden Prägungen, die das Denken und Fühlen der politisch Aktiven auf lange Jahre beeinflussten.

Ohne deren frische Eindrücke von der rassistischen Mobilisierung, die unmittelbar auf die ›Wiedervereinigung‹ folgte, nicht denkbar ist die antideutsche Orientierung eines großen Teils der radikalen Linken, die zugleich als Reaktion auf das fulminante Wiederaufleben des deutschen Imperialismus verstanden werden muss. Im zweiten Kapitel wird daher dem Pro und Kontra dieser zeitweilig dominierenden linksradikalen Position nachgegangen sowie aufgezeigt, weshalb sich ihre Befürworter langfristig in eine politische Sackgasse manövrierten.

Die Kapitel drei bis fünf widmen sich den praktischen Aktivitäten der Linken, zeichnen also einerseits die gesellschaftliche Entwicklung, andererseits die Reflexionen und Interventionen der Antikapitalisten bzw. ihre Erfolge und Misserfolge nach. Anhand dieser Debatten und Kämpfe soll zugleich die intellektuelle und mentale Beschaffenheit der radikalen Linken ausgeleuchtet, ihr Verhältnis zu anderen politischen Lagern (insbesondere zur gemäßigten Linken) ergründet sowie der Frage nachgegangen werden, ob sie ihren lange Zeit eher kümmerlichen gesellschaftlichen Einfluss ausbauen konnte. Die weitreichenden Wandlungen des politischen Geschehens (vom etappenweise vollzogenen neoliberalen Kahlschlag bis zur Eröffnung der ›Anti-Terror-Kriege‹), die natürlich Rückwirkungen auf den Charakter linken Widerstands besaßen, erlauben es hierbei, eine – vielleicht willkürlich erscheinende, aber begründbare – Unterscheidung zwischen den 1990er Jahren sowie dem ersten Dezennium des neuen Jahrtausends vorzunehmen. Im vierten Kapitel gesondert untersucht wird die – naturgemäß international agierende – Antiglobalisierungsbewegung, wobei ihre Einflüsse auf die politische Landschaft Deutschlands von besonderem Interesse sind.

In den folgenden Kapiteln wird der Entwicklung der radikalen Linken ideengeschichtlich nachgespürt. Das sechste Kapitel befasst sich mit der – in internationaler Kooperation – zumindest teilweise gemeisterten Herausforderung, eine neue, zeitgenössische Imperialismustheorie zu erarbeiten, die dem Zerfall des sozialistischen Staatensystems und der Herausbildung miteinander konkurrierender Blöcke kapitalistischer Länder Rechnung trägt, sowie mit der Frage, welche Lehren die radikale Linke aus der historischen Niederlage des Sozialismus gezogen hat und welche Vorstellungen von einem zukünftigen Gesellschaftsmodell sie besitzt. Weitere grundsätzliche Debatten sind Thema des siebten Kapitels. Hier werden zuvorderst die Vorstellungen der Gegner des Kapitalismus vom Weg und von den Mitteln zu dessen Überwindung behandelt. Aufgrund der aktuellen Brisanz wird außerdem die Stellung der radikalen Linken zum politischen Islam, d.h. ihr theoretisches Verständnis dieser Bewegung und ihre praktische Haltung zu ihr, diskutiert. Mit dem letzten Abschnitt dieses Kapitels soll der Blick auf die mentalen und psychischen Aspekte der verschärften Ausbeutung im Neoliberalismus gelenkt werden, die gemahnen, die ›soziale Frage‹ nicht nur anhand klassischer Parameter (Einkommen, Sicherungssysteme etc.) zu vermessen, sondern für ein umfassend ›gutes Leben‹ jenseits kapitalistischer Zurichtung zu kämpfen.

Das abschließende achte Kapitel bietet einen Überblick über die derzeit tätigen Parteien und Verbände der radikalen Linken und beschreibt deren politisches Profil. Desweiteren werden die Möglichkeiten einer engeren, auch formellen Kooperation, d.h. die Chancen für den Aufbau eines gemeinsamen politischen Projektes der antikapitalistischen Linken hinterfragt.

IV.

Das späte Erscheinen dieses Buches ist weder der Bummelei noch einem sonstigen individuellen Versagen des Autors geschuldet, sondern vielmehr Ausdruck der prekären Bedingungen, unter denen zahlreiche Linke heute agieren. Fernab des akademischen Betriebs und in Ermangelung irgendeiner finanziellen Förderung entstand die Untersuchung in der stets knapp bemessenen Zeit, die ein gewöhnliches Erwerbsleben belässt: den Stunden des Feierabends. Große Projekte dauern dann eben.

Bei den Recherchen gab es einen ›Redaktionsschluss‹, den 31. Dezember 2010; spätere Ereignisse konnten nur vereinzelt berücksichtigt werden. Von den Verbrechen der im November 2011 enttarnten neofaschistischen Terrorgruppe NSU ist z.B., um die wohl bedauerlichste thematische Leerstelle zu nennen, nirgends die Rede. Allerdings ist die defizitäre Aktualität längst nicht nur ein Fluch, sondern auch ein Gradmesser für die Qualität der politischen Analyse: Wird diese schon durch ein neues Ereignis ad absurdum geführt, kann es um sie nicht gut bestellt sein. Das Urteil hierüber wird das Publikum sprechen.

V.

Eine kritische Bestandsaufnahme politischer Aktivitäten erfordert, Fehler und Versäumnisse schonungslos offenzulegen, denn Kritik, die Rücksicht nimmt, ist keine Kritik, sondern Opportunismus. Machte man um die wunden Punkte einen Bogen, schadete man sich nur selbst. Gleichwohl versteht sich die Kritik nicht als eine Kritik ›von oben herab‹: So manchen Irrtum der radikalen Linken hat der Autor redlich mit ihr geteilt.

1. Kapitel
Die Erosion der radikalen Linken

Parteien und Organisationen in der untergehenden DDR

Vierzig Jahre lang galt die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) Vielen als die stärkste Bastion des Sozialismus in Deutschland. Inwieweit sie aber insbesondere in den letzten Jahrzehnten der DDR noch den Charakter einer kommunistischen Partei besaß, ist fraglich. Ihre in der Verfassung verankerte ›führende Rolle‹ zementierte zwar ihre Machtposition im Staat, der von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest formulierten Aufgabe wurde sie jedoch nicht mal mehr ansatzweise gerecht: stets »der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien« zu sein und »vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus« zu haben Marx/Engels 1959: 474). Als Avantgarde versagte sie. Die verkrusteten Strukturen in ihrem Inneren und die geistige Unbeweglichkeit ihrer Führung verhinderten, Lösungen für die drängenden Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung zu suchen; den Marxismus hatte man längst von einer kritischen Wissenschaft zu einer Legitimationsideologie zurechtgestutzt; die Partei erzog keine Denker und Kämpfer, sondern bot eine Heimat für Spießer und Karrieristen. Dennoch, in einer, der entscheidenden Hinsicht bewährte sich die SED bis ans Ende ihrer Tage: Ihr Name stand für die Mauer und somit für die Entmachtung des Monopolkapitals zwischen Elbe und Oder. Die private Aneignung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums sowie die räuberische Politik des deutschen Imperialismus gegenüber den osteuropäischen Staaten waren suspendiert.

Die Annullierung dieser Essentials linker Politik setzte den Sturz der SED voraus, und dieser vollzog sich in atemberaubendem Tempo: Am 17.10.1989 wurde Erich Honecker zum Rücktritt von seiner Funktion als Generalsekretär des Politbüros gezwungen, den er am folgenden Tag auf einer Tagung des Zentralkomitees bekannt gab. Egon Krenz beerbte ihn. Knapp einen Monat später, am 8.11.1989, trat das Politbüro geschlossen zurück. Die Regierung unter Ministerpräsident Willi Stoph hatte ihren Rücktritt tags zuvor erklärt.

Aber diese Personalien besänftigten weder die zahlreichen Menschen, die fast täglich für tiefgreifende Reformen im Wirtschafts- und politischen System demonstrierten, noch die Basis der Partei. Deren vom neuen ›Hoffnungsträger‹ Hans Modrow geführte Bezirksleitung Dresden hatte Anfang November ein Papier vorgelegt, worin eine neue Führung des Landes und die Erneuerung des Sozialismus verlangt wurden. Forderungen in dieser Richtung bekräftigten auch die 150.000 SED-Mitglieder, die sich am 10.11.1989 im Berliner Lustgarten versammelten und für einen außerordentlichen Parteitag stark machten, der befugt war, ein neues ZK zu wählen. Am 13.11. wurde dessen Einberufung beschlossen, am gleichen Tag beauftragten die Abgeordneten der Volkskammer Hans Modrow mit der Bildung einer neuen Regierung.

Das wichtigste Ereignis vollzog sich aber inmitten dieser Wirren: der Fall der Mauer am 9. November, der die ›Wende‹, jenen unvermeidlichen und für viele hoffnungsfrohen Aufbruch des Herbstes 1989, zur Tragödie werden ließ. Infolge der Grenzöffnung wurden die Forderungen nach Herstellung der Einheit beider deutscher Staaten immer lauter, doch hinter der Frage der Einheit verbarg sich die epochale Frage nach Weg und Ziel der in Gang gekommenen gesellschaftlichen Entwicklung: Erneuerung des Sozialismus oder Restauration des Kapitalismus, Revolution oder Konterrevolution.

Zu diesem Zeitpunkt war sie allerdings längst entschieden, und die klügeren Zeitgenossen wussten das. Der konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza hatte bereits im Juni 1989 in seiner Kolumne geschrieben, dass das »Projekt realer Sozialismus« nun »perdu« sei, und erklärte ein halbes Jahr später, was auf ihn folgen werde: »Zunächst und ziemlich bald die Erkenntnis, daß der reale Sozialismus eine Einwegflasche war, bei deren Rückgabe kein Pfand für den Erwerb eines neuen zu erlösen ist; daß ein anderer, schönerer, besserer in diesen Jahren so wenig zu haben ist, wie er in diesem Jahrhundert je zu haben war; daß sich mit besserem Willen, größerem Geschick und ohne die gröbsten Idiotien vielleicht zehn oder zwanzig Prozent dessen, wofür er gehaßt wird und abgeschafft werden soll, hätte vermeiden lassen; daß sein größtes Verdienst darin bestanden hat, dem Wüten des Kapitals geografische und, außerhalb Europas, politische Grenzen zu ziehen; daß er schließlich, Kleinigkeit am Rande, Kriege in diesem Teil der Welt verhindert hat.« Ferner werde sich »herausstellen, daß das Ende des realen Sozialismus (…) auch nicht den Beginn bürgerlicher Demokratie bedeutet. Die gedeiht nämlich (…) nur im Reichtum, und schon jetzt ist der Lebensstandard der in privatkapitalistische Experimente gestürzten Sowjets, Ungarn und Polen weit unter den letzten realsozialistischen Stand gesunken. Auf westliche Großinvestitionen hoffen sie vergeblich. Was die kapitalistische Internationale sucht, sind Billiglohnländer auf dem Niveau Südkoreas, deren Proleten für ein Drittel des ungarischen und polnischen Mindestlohnes die doppelte Arbeit leisten.« (konkret 6/1989 und 12/1989)

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Vorgänge innerhalb der SED in einem weniger rosigen Licht: Hier vollzog sich nicht die durchaus notwendige Erneuerung einer kommunistischen Partei, sondern ihre von inneren und äußeren Kräften betriebene Zerschlagung.

Ende November begann man, hochrangige Funktionäre aus der Partei auszuschließen. Hiervon als erster betroffen war Günter Mittag, der ZK-Sekretär für Wirtschaft. Der Ausschluss Erich Honeckers und anderer Führungskräfte wurde am 3. Dezember beschlossen. Einen vorläufigen Abschluss fand die Auswechslung des Führungspersonals auf dem Sonderparteitag, der am 8. und 9. Dezember 1989 zusammentrat und seine Beratungen am 16.12. fortsetzte: Gregor Gysi wurde zum neuen Vorsitzenden gewählt, Modrow und sein Dresdner Weggefährte Wolfgang Berghofer als Stellvertreter bestätigt. Die SED gab sich den Beinamen Partei des demokratischen Sozialismus und hieß jetzt SED-PDS.

Im Zuge dieses Machtkampfs gelangte eine Gruppe umjubelter ›Reformer‹ an die Spitze, deren Positionen eines ›demokratischen‹ bzw. ›Modernen Sozialismus‹ in der Partei zunächst kaum mehrheitsfähig waren, jedoch bald die innerparteiliche Debatte bestimmten. Die ›Vordenker‹ dieses Konzeptes – z.B. Dieter Klein und die Brüder André und Michael Brie – hegten die Vorstellung, in einem transformierten Gemeinwesen jenseits des ›stalinistischen Sozialismus‹ wie des Kapitalismus die ›Dominanz der Kapitalverwertung‹ irgendwie begrenzen zu können. Es bedurfte jedoch eines Darstellers wie Gysi, dessen Frische und Schlagfertigkeit viele in den Bann zog, um diese sozialistisch verbrämte bürgerliche Ideologie popularisieren zu können. Ingo Wagner, langjähriges Mitglied des Marxistischen Forums, urteilte rückblickend, Gysi habe »ein kaum zu überschätzendes Maß an Scharlatanerie entfaltet«, die »politische Falschmünzerei« sei durch seine flotten Sprüche kaschiert worden (Wagner 2004: 159).

Praktisch lief der ›Moderne Sozialismus‹ auf nichts anderes als die Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse hinaus. Ende Januar 1990 gab das Neue Deutschland bekannt, dass sich die SED-PDS nun offiziell zur Marktwirtschaft bekenne. Zu diesem Zeitpunkt war die neu amtierende Wirtschaftsministerin Christa Luft allerdings längst dabei, ausländisches Kapital ins Land zu holen und bald auch die Beschränkungen für Beteiligungen an DDR-Betrieben (bis dahin maximal 50%) aufzugeben. Zugleich bemühte sich die Partei um eine enge Zusammenarbeit mit der im Osten neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP), die dieses Ansinnen zurückwies, sowie um Aufnahme in die Sozialistische Internationale, die ihr ebenfalls verwehrt wurde.

Zweifellos stand die Partei unter enormem Druck. Speziell auf den ›Montagsdemonstrationen‹ wurde bald nicht mehr nur eine Entmachtung der SED, sondern auch deren Auflösung gefordert. Die Medien befeuerten eine Stimmung, die teils inquisitorische Qualität erreichte: Es ging gegen die ›Bonzen‹, deren wichtigste man hinter Schloss und Riegel oder zumindest ›in die Produktion‹ geschickt sehen wollte. Zugleich dünnte die Partei personell aus: Hatte sie zu Beginn der Wende noch 2,3 Millionen Mitglieder, schmolz diese Zahl auf 1,5 Millionen zum Jahresende bzw. auf 700.000 Anfang Februar 1990.

Der opportunistische Kurs half nicht, die Krise der Partei zu stoppen, sie spitzte sich eher zu: Am 21. Januar 1990 verabschiedete eine Gruppe um den stellvertretenden Parteichef Berghofer eine Erklärung der 40, worin sie ihren Parteiaustritt bekannt gab, die Auflösung der SED-PDS forderte und ihre Stimme für eine sozialdemokratische Programmatik erhob. Am Abend des gleichen Tages konnte Gysi den Parteivorstand nur durch einen eindringlichen Appell von einem Auflösungsbeschluss abhalten; allerdings votierte man für die Abschaffung des bisherigen Emblems sowie die baldige Streichung des Teilnamens SED, die am 4.2.1990 vollzogen wurde. Innerhalb weniger Monate hatte man die mehr oder minder kommunistische SED in die sozialdemokratische PDS transformiert.

Deutlicher Ausdruck dieses Prozesses war die Bildung der Kommunistischen Plattform (KPF) als ein an Lenin und Bucharin orientierter Flügel der Partei. In einem Papier vom 30.12.1989 bekannte sich die »Zentrale Koordinierungsgruppe« zur »Umgestaltung« bzw. »Erneuerung des Sozialismus«, die als »eine bestimmte, historische Etappe in der Aufwärtsbewegung unserer Gesellschaft, als Bestandteil der sozialistischen Revolution in der DDR« zu verstehen sei. Es gehe jetzt um den Übergang von einer »notwendig administrativen« Aufbauphase hin zu einem »schöpferischen Sozialismus«, also »um eine neue Qualität des Sozialismus in der DDR«. »Das überlange Hinauszögern dieser gesetzmäßigen Wende (…) ist Ursache der jetzigen Schärfe der Umgestaltung in der DDR und ihrer existenziellen Gefährdung.« Im Mittelpunkt stünden nun die Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens sowie eine radikale Wirtschaftsreform. (Diskussionsangebot der Zentralen Koordinierungsgruppe vom 30.12.1989 [Privatarchiv])

Der organisatorische Zusammenschluss von Kommunisten als minoritärer Flügel entsprach einer offenen, wenngleich unausgesprochenen Anerkennung des insgesamt sozialdemokratischen Kurses: Eine kommunistische Partei braucht keine kommunistische Plattform.

Einen noch deutlicheren Ausdruck fand die Transformation der SED zur PDS in der Haltung der Partei zur Frage der sogenannten ›Wiedervereinigung‹. Sich gegen diese auch dann auszusprechen, als sie nicht mehr zu verhindern war, hätte nicht nur ein Festhalten am ehernen Prinzip der Ablehnung kapitalistischer Vergesellschaftung bedeutet, sondern womöglich sogar einen realpolitischen Gewinn gebracht, im mindesten aber eine würdevolle Niederlage garantiert. Stattdessen zeigte sich auch hier die gründliche Abkehr der Partei von kommunistischer Politik, deren Fundamente freilich viele Jahre zuvor gelegt worden waren.

Noch Mitte Januar 1990 sprach sich Hans Modrow in seiner Funktion als Ministerpräsident gegen die Wiedervereinigung aus, am 1. Februar 1990 gab er hingegen – mit Rückendeckung der Parteiführung – seinen »Stufenplan für Deutschland einig Vaterland« bekannt. Vorausgegangen war sein Staatsbesuch in Moskau sowie die unmittelbar zuvor abgegebene Erklärung Gorbatschows, dass die Vereinigung der Deutschen von niemandem in Zweifel gezogen werde. Allerdings ging Modrows Kursschwenk nicht, wie bisweilen behauptet wird, auf das Statement des Kremlchefs zurück, sondern war bereits in den Vorwochen herangereift. Er selbst meinte später, v.a. die seit dem RGW-Treffen am 9./10.1.1990 in Sofia sich abzeichnende Desintegration des Ostblocks habe ihn veranlasst, in Richtung einer deutsch-deutschen Konföderation »selbst in die Offensive zu gehen«. Sein »Stufenplan« sollte ohnehin Gegenstand der Unterredungen mit Gorbatschow sein und war folglich nicht bloß eine Reaktion auf dessen Äußerungen (junge Welt, 30./31.1.2010).

Die bis dahin stärkste Kraft im Lager der ostdeutschen Gegner einer ›Wiedervereinigung‹ hatte somit kapituliert. Der SED-PDS und anderen gemäßigt linken Kräften ging es fortan nicht mehr um das Pro und Kontra des Einigungsprozesses, sondern um dessen Modus: Vereinigung beider deutscher Staaten nach Artikel 146 des westdeutschen Grundgesetzes oder Anschluss der DDR an die BRD nach Artikel 23 GG.

Formierung linksradikaler Gruppen

Die Gegnerschaft zur deutschen Einheit war jetzt die Domäne der außerhalb der PDS organisierten linken Opposition, deren Kern im September 1989 als Initiative für eine Vereinigte Linke an die Öffentlichkeit trat. In ihr hatten sich Mitglieder von Friedensgruppen, christliche und autonome Linke sowie zum Teil der SED angehörende Marxisten, von denen einige in den 1970er Jahren wegen versuchter Bildung kommunistischer Organisationen verfolgt worden waren, gesammelt. Die Böhlener Plattform vom 4.9.1989 gilt, wie Reinfried Musch, einer der damaligen Aktiven, schrieb, als ihr Gründungsdokument. Darin »wurde von der Nichtexistenz eines Sozialismus in der DDR, der Nichtreformierbarkeit des staatsbürokratischen Systems und der direkten Gefahr der Rekapitalisierung ausgegangen. Als Alternative wurden Grundzüge einer basisdemokratisch organisierten sozialistischen Gesellschaft (…) ausgearbeitet.« (VAU-ELL Nr. 11, 16.1.1991)

Nach ihrer Gründung am 2. Oktober 1989 in der Ostberliner Umweltbibliothek orientierte die Vereinigte Linke (VL) zunehmend auf das Ziel einer betrieblichen Selbstverwaltung der Werktätigen, wozu unabhängige Arbeiterkommissionen und Betriebsräte geschaffen werden sollten, und forderte »einen radikalen Umbruch in Richtung Sozialismus«. Auch kündigte sie ein DDR-weites Arbeitstreffen an, auf dem sie ihr Konzept der Öffentlichkeit vorstellen wollte. In einem Positionspapier erklärte sie sich als Opposition zum Obrigkeitsstaat, aber nicht zur Idee des Sozialismus. Die VL, hieß es, trete für ein gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln ein, das über Arbeiterräte in direktes Eigentum der Werktätigen umgewandelt werden solle. Ferner gelte es, eine Alternative zum parteizentrierten Parlamentarismus zu schaffen (Bahrmann/Links 1999: 42).

Das Arbeitstreffen fand am 25./26.11.89 im Berliner Haus der Jungen Talente statt und wurde von etwa 500 Menschen aus der DDR und Westberlin besucht, die v.a. über Fragen des Eigentums, der Planwirtschaft und Formen direkter Demokratie debattierten. Aufgrund der Berichterstattung in den Medien wurde die VL nun auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen, hinsichtlich der Organisationsfrage konnte jedoch keine Einigung erzielt werden. Die Konstituierung als Dachverband, in dem SED-Mitglieder, Parteilose und unabhängige Gruppen mitarbeiten, scheiterte; manche wollten die VL als Partei gründen, andere verstanden sie als Diskussionsforum und Koordinationsstelle (ebenda: 100). Vereinbart wurde die Bildung thematischer Arbeitsgruppen, bald entstand auch ein Sprecherrat.

Bis Dezember stießen, wie Musch schrieb, Mitarbeiter der Umweltbibliothek, Friedensaktivisten, autonome Antifaschisten, SED-Reformer, linke Studenten, Frauenbewegte sowie Leute, die für unabhängige Gewerkschaften kämpften, zur VL. Nach Schätzungen besaß sie allerdings in der gesamten DDR nicht mehr als 500 Mitglieder. Das Durchschnittsalter lag zwischen 20 und 25 Jahren; neben Schülern und Studenten gab es Mitarbeiter wissenschaftlicher Einrichtungen sowie leitende Angestellte der unteren und mittleren Betriebsebene, aber kaum Arbeiter (VAU-ELL Nr. 11, 16.1.1991).

Die Organisationsfrage konnte zu Beginn des neuen Jahres gelöst werden. Auf ihrer 1. Delegiertenversammlung am 27./28.1.1990 wurde ein Statut beschlossen, die VL konstituierte sich als »eine DDR-weite basisdemokratische Bewegung«, die den »Zusammenschluß linker Organisationen und Einzelpersonen unterschiedlicher Anschauungen und Strömungen« anstrebe. Ziel sei die »sozialistische Erneuerung der DDR auf der Basis der Souveränität des Volkes«. Die Mitgliedschaft in anderen Parteien sei ebenso möglich wie das Wirken assoziierter Organisationen unter den Dach der VL (Statut der Vereinigten Linken [Privatarchiv]).

Als weitere Kraft links der PDS bildete sich zum Jahreswechsel 1989/90 die marxistische Partei Die Nelken. Nach einer ersten konstituierenden Sitzung im Dezember wurde die Partei auf einem Treffen am 13.1.1990 in Berlin offiziell gegründet. Die anwesenden 100 Vertreter verschiedener Bezirksverbände wählten die Dresdner Lehrerin Brigitte Kahnwald als Vorsitzende und Michael Czollek als ihren Stellvertreter.

Das Personal der Partei kam, ähnlich wie das des Mitte Februar 1990 gegründeten Unabhängigen Frauenverbandes (UFV), aus der VL und ging nun eigene Wege. Im Gegensatz zum UFV, der zwar eher zum linken Flügel der Bürgerbewegung gehörte, sich aber nicht gegen die Wiedervereinigung positionierte, setzten sich Die Nelken für einen sozialistischen Entwicklungsweg sowie die Eigenstaatlichkeit der DDR ein und widmeten sich insbesondere dem Anliegen, den Marxismus in der Politik wieder zu beleben, da dessen Denkmethode in der SED kaum noch angewendet worden sei. Allerdings schien man Marx recht eigenwillig auszulegen. Auf dem Gründungstreffen dozierte der Parteivize Czollek, Marx habe nicht die Marktwirtschaft oder die Ware-Geld-Beziehung kritisiert, sondern ein unter den damaligen Verhältnissen herrschendes Chaos in der kapitalistischen Produktionsweise (Bahrmann/Links 1999: 176).

Als dritte linke Kraft, die sich für den Erhalt einer sozialistischen DDR einsetzte, gründete sich am 22.1.1990 in Berlin die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Ihr Vorsitzender wurde der 36-jährige Klaus Sbrzeny. Die Ost-KPD zog zu Beginn eine Reihe von parteilosen Kommunisten sowie auch solche an, die aufgrund ihrer Enttäuschung über den sozialdemokratischen Kurs die SED-PDS verlassen hatten. Ende Februar 1990 soll die Partei etwa 1.000 Mitglieder gehabt haben, die nur etwa zur Hälfte aus der alten Staatspartei stammten.

Kennzeichnend sowohl für die KPD als auch für die VL und Die Nelken war übrigens das große Augenmerk, das auf die Jugendpolitik gelegt wurde. Alle drei Organisationen hatten zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene in ihren Reihen, die Mitgliedschaft war bei allen ab 16 Jahren möglich. Es verwundert daher nicht, dass die soziale Absicherung von Jugendlichen sowie der Erhalt des bestehenden oder die Verabschiedung eines neuen, verbesserten Jugendgesetzes verlangt wurden.

Forderungen in dieser Richtung erhoben naturgemäß auch viele der in stattlicher Zahl entstandenen Jugendverbände, deren junge Existenz die Freie Deutsche Jugend (FDJ) von einer einst 2 Millionen Mitglieder zählenden Massenorganisationen in kurzer Frist zu einem bedeutungslosen Verein zusammenschmelzen ließ, der sich bald – der Situation angemessen – nur noch klein schrieb und »fdj« nannte.

Der Erwähnung wert ist der Mitte November 1989 gegründete Revolutionäre Autonome Jugendverband (RAJV), der sich für gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln, Rätedemokratie, eine Entstalinisierung, einen ökologischen Umbau der Gesellschaft sowie konsequenten Antifaschismus aussprach. Für Jugendliche wurden v.a. infrastrukturelle Erleichterungen sowie Reformen im Bildungswesen gefordert. Etwas größere Bedeutung erlangte die Marxistische Jugendvereinigung »Junge Linke« (MJV). In ihren »Leitlinien« vom Januar 1990 erklärte sie das Ziel der »Schaffung eines demokratischen Sozialismus in einer politisch unabhängigen DDR«. Die MJV distanzierte sich von der »bürgerlichen Parteiendemokratie«, bekannte sich aber wiederum zu einer »sozialistischen Marktwirtschaft«, die nicht auf Ausbeutung beruhe und die Umwelt schütze. Das Leistungsprinzip solle verwirklicht, den Arbeitenden ein »Höchstmaß an Verfügungsgewalt über die Produktion« ermöglicht und die Kontrolle der Produktion und der staatlichen Organe durch Betriebsräte ausgeübt werden. In jugendpolitischer Hinsicht wurden Autonomie in Schule, Lehre, Beruf und Studium, Mitspracherechte in sozialen Gremien, eine Bildungsreform, staatliche Subventionen für Freizeit- und kulturelle Einrichtungen bei gleichzeitiger Bewahrung ihrer Unabhängigkeit sowie die Erhaltung von Jugendmedien wie dem Radiosender DT64, der Zeitung Junge Welt und dem Fernsehkanal Elf99 einschließlich ihrer demokratischen Kontrolle u.a. durch Jugendbeiräte gefordert (Leitlinien der Arbeit der Marxistischen Jugendvereinigung »Junge Linke« [Privatarchiv]).

Jugendverbände wie die MJV oder der RAJV bewegten sich im Spektrum zwischen der SED-PDS und der VL und waren Teil jener marginalisierten ostdeutschen Linken, die sich in den ersten Monaten des Jahres 1990 gegen die drohende ›Wiedervereinigung‹ zu stemmen begann.

Aussichtsloser Widerstand gegen die Konterrevolution

Den entscheidenden Todesstoß bekam die DDR zweifellos von der Sowjetunion versetzt. »Die Existenzberechtigung der DDR«, schrieb Georg Fülberth, »beruhte unverkennbar auf ihrer Rolle für das internationale politische und militärische System, welches die UdSSR seit 1945 zum Zweck ihrer eigenen Selbstbehauptung aufgebaut hatte. (…) Indem Gorbatschow den Kalten Krieg zu beenden suchte, wurde die bisherige Funktion der DDR für die UdSSR in Frage gestellt.« 1989/90 habe Gorbatschow »entweder keine Möglichkeit oder keine Notwendigkeit mehr gesehen«, die DDR im Einflussbereich der Sowjetunion zu halten. Ihre Eigenstaatlichkeit fußte »in erster Linie auf einer internationalen Konstellation (…), die 1989 nicht mehr bestand.« (Fülberth 1999: 252f.)

Allerdings bedurfte die ›Wiedervereinigung‹ der Zustimmung der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, aus deren Reihen auch Bedenken geäußert wurden, v.a. von Seiten Englands und Frankreichs. In diesem Zusammenhang, bemerkte Fülberth weiter, habe die durch zunehmende Befürwortung der Einheit gekennzeichnete »innerdeutsche Dynamik« eine wichtige Rolle gespielt: Von den Bürgerrechtsgruppen der DDR waren anfangs »prokapitalistische Absichten nicht artikuliert worden«, doch die Massenabwanderung in die BRD »zeigte, daß diejenigen, die in ihren Verlautbarungen, auf Kundgebungen und später am Runden Tisch die interne Reform einer fortbestehenden sozialistischen DDR forderten, in Wirklichkeit eine kleine Minderheit waren. Die Massen, in deren Namen sie zu sprechen meinten, waren offensichtlich in dem Grade mit einer Beseitigung der Deutschen Demokratischen Republik einverstanden, in dem dies realistisch wurde.« (ebenda: 254ff.)

Diese These – die, wie Fülberth selbst einräumt, nur auf Annahmen »mit hoher Wahrscheinlichkeit« beruht – korrespondiert stark mit der heute vorherrschenden Meinung, die Kohl-Regierung habe mit der Herstellung der Einheit den ostdeutschen Volkswillen exekutiert. Doch diese Sicht ist nicht unproblematisch, weil sie die teils offene, teils subversive Einflussnahme des Westens auf die Massenstimmung im Osten ausblendet. Inwieweit die zunehmende Befürwortung der Wiedervereinigung dieser Einflussnahme geschuldet war, lässt sich auch nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse nicht bestimmen. Dass es sie gab, ist hingegen sicher.

Gewiss sind wichtige Voraussetzungen der Restauration des Kapitalismus in der DDR selbst geschaffen worden. Der Koexistenz zweier Gesellschaftssysteme war es geschuldet, dass sich im östlichen Europa anstelle des Kommunismus ein ›real existierender Sozialismus‹ entwickelte, der ebenso wie der konkurrierende Kapitalismus auf einem warenproduzierenden System basierte. Das machte ihn eben keineswegs immun gegen die Einflüsse des Westens, und die wohlfeilen Waren, hieß es schon im Kommunistischen Manifest, »sind die schwere Artillerie«, mit der die Bourgeoisie »alle chinesischen Mauern in den Grund schießt« und andere Länder zwingt, »die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden«; sie »schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde« (Marx/Engels 1959: 466). Tatsächlich fanden die machthabenden Kommunisten kein Mittel, der bunten Warenwelt des Westens, jener wirksamsten Interventionsarmee, zu trotzen. Der Trabant war keine Alternative zum VW Golf, sondern dessen Karikatur; die Glitzershow Ein Kessel Buntes nur Widerhall der Bespaßung bei Wetten, daß…? So blieb die DDR ein Nährboden, auf dem die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft gediehen.

Dennoch hatte die 40-jährige Abwesenheit von kapitalistischer Ausbeutung ihre Spuren hinterlassen, wie sich nunmehr zeigte. Bis zum Jahreswechsel 1989/90 war eine etwaige Wiedervereinigung noch nicht sehr populär. Ende November veröffentlichen Ostberliner Soziologen die Ergebnisse einer Umfrage, wonach sich 83% für einen souveränen sozialistischen Staat, aber nur 10% für die staatliche Einheit Deutschlands aussprachen. Mitte Dezember wurden abermals die Resultate einer Befragung, diesmal von Meinungsforschern aus Ost und West, bekannt gegeben. Dabei hatten sich 73% der Befragten für eine souveräne DDR und 27% für die Wiedervereinigung ausgesprochen; ferner hielten 39% das Wirtschaftssystem der BRD für erstrebenswert, während 61% einem »gründlich reformierten sozialistischen Wirtschaftssystem« den Vorzug gaben. In Anbetracht der Demonstrationen der vorangegangenen Wochen lösten diese Ergebnisse großes Erstaunen aus (Bahrmann/Links 1999: 97, 136).

Auch der von Christa Wolf, Stefan Heym, Volker Braun, Friedrich Schorlemmer und anderen initiierte Aufruf Für unser Land, der für den Erhalt der Eigenstaatlichkeit plädierte, erfuhr große Resonanz. Bis Ende Januar unterzeichneten ihn 1,16 Millionen DDR-Bürger. Am 19.12.1989 folgten in Berlin über 50.000 Menschen dem Aufruf zu einer hauptsächlich von der VL organisierten Demonstration für eine souveräne DDR. Als ein Redner der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (DJ) versuchte, einen Drei-Stufen-Plan zur Wiedervereinigung vorzustellen, ging seine Ansprache in einem gellenden Pfeifkonzert unter.

Gleichwohl zeichnete sich in dieser Zeit ein Stimmungsumschwung ab. Anlässlich des Kohl-Besuchs in Dresden am 19. Dezember hatten dort am Vorabend 50.000 Menschen für die deutsche Einheit demonstriert und die Parole des herbstlichen Aufbruchs (»Wir sind das Volk«) durch den nationalistischen Schlachtruf »Wir sind ein Volk« ersetzt. Wie der linke Bürgerrechtler Andreas Schreier unterstrich, war diese Modifikation kurz nach dem Mauerfall von den PR-Spezialisten der West-CDU ersonnen und schließlich durch Hunderttausende Aufkleber und Plakate sowie delegierte Krakeeler aus den Reihen der Jungen Union in den Osten exportiert worden. Die Vorfälle in Dresden seien daher, so Schreier, »das entscheidende Signal für einen radikalen Wechsel der politischen Ziele« gewesen, eine »Wende in der Wende« (Jungle World, 22.10.2009).

Besonders deutlich wird das Ausmaß der westdeutschen Einflussnahme anhand der sogenannten ›freien Wahlen‹ zur Volkskammer am 18. März 1990.

Wahlumfragen im November und Dezember 1989 sahen meist des Neue Forum an der Spitze, das zu dieser Zeit noch für Reformen innerhalb einer souveränen DDR warb. Auch die SED-PDS lag in der Wählergunst erstaunlich hoch; ein Wahlsieg der bisherigen Staatspartei konnte nicht ausgeschlossen werden. Jedenfalls zeigte sich am 3. Januar 1990, welch große Mobilisierungskraft sie noch besaß. Für den Abend dieses Tages rief sie zu einer Kundgebung am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow auf, nachdem dort neonazistische Schmierereien entdeckt worden waren. Der Vorfall, der heute kaum ein paar Hundert Antifas alarmieren würde, ließ damals 250.000 Menschen zusammenströmen. Die wachsende Gefahr neofaschistischer Aktivitäten wurde als Teilaspekt des Einigungsprozesses wahrgenommen und abgelehnt.

Der Beginn des Jahres 1990 bescherte insbesondere der Sozialdemokratischen Partei einen massiven Aufschwung. Der westdeutsche SPD-Chef Hans-Jochen Vogel hatte Mitte Dezember erklärt, seine Partei beende ab sofort den Dialog mit der SED-PDS und werde fortan für die SDP, die sich im Januar in SPD umbenannte, Wahlkampfhilfe leisten. In Umfragen lag die SPD bald deutlich vorn. Nach einer Erhebung des Leipziger Instituts für Jugendforschung, dessen Ergebnisse am 6.2.1990 bekannt wurden, konnte die SPD mit 54% der Stimmen rechnen, die PDS folgte, weit abgeschlagen, mit 12%, die CDU mit 11%. Für das Neue Forum wollten bloß noch 4% votieren. Ähnliches beinhalteten die drei Tage später veröffentlichten Resultate einer infas-Umfrage: von den Befragten gaben, sofern sie bereits entschieden waren, 38% an, SPD zu wählen, auf die PDS entfielen 7% der Stimmen, auf die CDU 5%, auf das Neue Forum 1% (Bahrmann/Links 1999: 219, 225).

Auch hinsichtlich der Wiedervereinigung war die Stimmung in diesen Wochen umgeschlagen. Den Ergebnissen der infas-Umfrage zufolge sprachen sich inzwischen 41% der DDR-Bürger für einen schnellen Zusammenschluss und 37% für ein langsames Zusammenwachsen im Rahmen eines vereinigten Europa aus. Am 22. Januar 1990 kam es am Rande der Montagsdemonstration in Leipzig, an der sich 100.000 Menschen beteiligten, erstmals zu Übergriffen auf Linke. Als eine Gruppe junger Leute mit Transparenten und DDR-Fahnen gegen die Wiedervereinigung Stellung bezog, schlug sie ein nationalistischer Mob unter wüsten Beschimpfungen in die Flucht.

Am 7.2.1990 mahnte Hans-Wilhelm Ebeling, der Chef der Deutschen Sozialen Union (DSU), die der westdeutschen CSU nahestand, im Springer-Blatt Die Welt eine »handfeste Unterstützung« der West-CDU an, weil bisher vor allem die SPD in den ostdeutschen Wahlkampf »reingebuttert« habe (ebenda: 221). Tatsächlich intensivierte die CDU ab Februar 1990 ihre Einflussnahme. Am 5.2.1990 einigten sich Ost-CDU, DSU und der Demokratische Aufbruch (DA) unter der Ägide von Helmut Kohl in Westberlin (sic!) auf die Schaffung einer Allianz für Deutschland. Einige Tage später kündigte CDU-Generalsekretär Volker Rühe in Schwerin eine »massive Unterstützung« für die Allianz an.

Begünstigt wurde diese Einflussnahme durch die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetztes durch die Volkskammer am 29.1.1990, das Parteien und Vereinigungen erlaubte, materielle Hilfe aus dem Ausland anzunehmen. Unerwünscht war jedoch, dass sich Politiker der BRD durch Auftritte in der DDR in den Wahlkampf einmischen. Dieser Beschluss des Runden Tisches führte zu heftigen Protesten in Westdeutschland sowie zu Ankündigungen, dass man sich daran nicht halten werde. Führende Politiker von CDU, SPD und FDP prägten dann auch die Wahlkampfveranstaltungen ihrer ostdeutschen Günstlinge; allein die Unionsparteien entsandten über 80 Spitzenpolitiker auf insgesamt fast 400 Meetings.

Die meisten politischen Kräfte knüpften in diesen Wochen bei ihren Stellungnahmen nicht nur an die zugunsten einer Wiedervereinigung umgeschlagene Stimmung in der DDR an, sondern beschleunigten und vertieften diesen Umschwung. Hierzu zählt der erwähnte Kursschwenk der SED-PDS Anfang Februar 1990 wie auch der offizielle Gründungskongress des Neuen Forums am 27. Januar in Berlin, auf dem sich dessen rechter Flügel durchsetzen und das Bekenntnis zur deutschen Einheit in der Grundsatzerklärung verankern konnte.

Die Kohl-Regierung nahm seit Anfang Februar ebenso Kurs auf eine schnelle Herbeiführung der Einheit. Hatte Kohl noch Ende November 1989 einen 10-Punkte-Plan zur Herstellung einer deutschen-deutschen Konföderation vorgelegt, steuerte er nun eine baldige Wirtschafts- und Währungsunion an, die die Souveränität der DDR obsolet werden lassen sollte. Grünes Licht holte sich der Kanzler von seinem Duzfreund Gorbatschow während eines Staatsbesuchs in Moskau am 10.2.1990.

Eine wichtige Triebfeder im Einigungsprozess war die fortschreitende Destabilisierung der DDR: Je unerträglicher die Verhältnisse im ostdeutschen Staat wurden, desto stärker waren die Menschen dazu verleitet, ihre Hoffnungen mit der Perspektive auf Wiedervereinigung zu verknüpfen. Als die DDR im Januar 1990 an den Rand der Unregierbarkeit geriet, avisierte Hans Modrow die Bildung einer Allparteienregierung unter Einbeziehung der Oppositionsparteien und -gruppen. Diese »Regierung der Nationalen Verantwortung« wurde am 5. Februar gebildet. Nur die VL verweigerte ihre Teilnahme wegen Modrows Befürwortung der Einheit. Am 13. und 14. Februar 1990 weilte die Regierung Modrow zum Staatsbesuch in Bonn und bat auf Anregung des Runden Tisches um einen Solidarbeitrag von 10 bis 15 Milliarden DM, um die desolate Lage in der DDR zu stabilisieren. Kohl entließ seine Gäste jedoch mit leeren Händen, weil eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Situation im Osten nicht in seinem Interesse lag und die Allianz für Deutschland geschwächt hätte.

Vielleicht sollte man Fülberths Einschätzung der »innerdeutschen Dynamik« ein wenig modifizieren: Die Mehrheit der DDR-Bürger war genau in dem Grade mit der Beseitigung ihres Staates einverstanden, in dem dessen Erhalt unrealistisch wurde.

Die radikale Linke agierte jedenfalls als hoffnungslos an den Rand gedrängte Opposition. Am 20.2.1990 demonstrierten in Frankfurt/Oder 2.000 Menschen gegen die Einheit, zwei Tage später folgten in Berlin 20.000 Leute einem Aufruf der VL, des Neuen Forums, des UFV, der Nelken und des FDGB, um für soziale Sicherheit und gegen »kapitalistische Wiedervereinigung« zu protestieren. Wiederum drei Tage später, am 25. Februar, waren es dann 50.000 Menschen, die im Berliner Lustgarten für eine souveräne DDR und gegen Sozialabbau demonstrierten. Die Teilnehmer trugen zahlreiche DDR-Fahnen sowie Spruchbänder mit Losungen wie »Laßt Euch nicht verKOHLen« oder »Wir lassen uns nicht BRDigen« (ebenda: 251).