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Impressum:

1. Auflage 2018
©opyright 2018 by Autor

Cover: D-ligo
Lektorat: Denise Bretz
Satz: Denise Bretz

ISBN:978-3-95791-091-2
eISBN:978-3-95791-092-9

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

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Unsichtbar Verlag | Dieselstr. 1 | 86420 Diedorf

Dirk Bernemann

Gesten & Geräusche

Biographische Textsammlung

Contents

Intro

Die alten Sachen fand ich besser

Ich bin eine Kellerparty

Mein geheimer Bruder

Haustiere und Hoffnung

Vom Suchen und Finden der Geräusche

Diese Müdigkeit verlässt mich nie

Beweggründe, mich zu bewegen

Zuhause und woanders sind auch nur zwei Gefühle

Musik für reguläre Menschen

Im Jobsarg atmen

Ich singe ausschließlich Lieder für verliebte Idioten, die ihr Leben nicht im Griff haben

Ich schäme mich für irgendwas, aber mir ist egal, wofür / Eine Liebeserklärung

Hundefutterpunks zu Eigenheimbesitzern, nicht schlimm, nicht schlimm, nicht schlimm

Looking for Daseinsfreude

Das gelbe Kleid von M.

Entwicklungsstudie

Zeitfrost

Vinyltrödelmarkt

Retro/Sehnsucht nach Vergangenheit

Telefonate ins Nichts

Tote auf der Tanzfläche

Barbegegnungen

Sommerdepression

Im Museum und woanders

Heim

Ein Geräusch

Ein Stadtspaziergang vorbei an allem, was vorbei ist

Wo ist der richtige Moment?

Outro

Intro

Dieses Buch ist der Versuch, mir und meiner Inspiration nahezukommen und in der Nähe dessen zu bleiben, was ich geworden bin. Vielleicht ein viel zu komplizierter erster Satz. Der Versuch, ohne etwas zu wissen etwas zu machen. Aus seinem eigenen Dilettantismus etwas herauszuholen, von dem man selbst nicht weiß, wie es überhaupt aussieht. Sich auf den Weg machen. Ohne Orientierung irgendwo anzukommen. Den Pathos weglassen. Die Ironie weglassen. Schauen, was übrig bleibt. Sich selbst zuschauen, wie man Dinge unternimmt, die scheitern oder funktionieren. Versuchen, immer versuchen. Sich dem Unerklärlichen nähern. Unterwegs in der eigenen Chronik eine Pause einlegen. Beim Stolpern durch die eigene Biographie alte Fotos betrachten. Ein paar Dinge denken, von denen man irgendwann in seinem Leben überzeugt war und sie auf ihre Richtigkeit überprüfen. Veränderungen reflektieren. Risse entstehen lassen. Licht durch Risse lassen.

Und jetzt sitze ich da und das Buch ist fast fertig. Ich habe zur Feier des Tages etwas sehr Ungesundes zu trinken bestellt. Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen – unmöglich. Ich glaube, genau darum geht es. Um die Unmöglichkeit von Eindeutigkeit. Um die Unvollständigkeit von allem, vor allem meine eigene. Mein Getränk wird gebracht. Ich setze meinen Kopfhörer auf, mache ein paar Notizen, trinke aus und verschwinde.

Die alten Sachen fand ich besser

(Deutscher Schlager)

Irgendwo muss man ja hin mit den ganzen Gefühlen, dem ganzen Tumult in einem, auch wenn es persönlich und peinlich wird, da muss ich jetzt durch. Am Anfang war das Wort und irgendjemand hat zu Musik getanzt und alles war weich und zärtlich. Irgendwo furzte sanft und ausdauernd eine Nebelmaschine und eine Discokugel warf elegant und charmant ein paar Lichtreflexe in den Raum. Nichts entsprach der Welt, wie sich anschließend zeigen sollte.

Ich war ein Kind. Nichts Außergewöhnliches, was mir bislang passiert wäre, nichts Außergewöhnliches, was noch kommen sollte. Ich hörte Musik, als würde sie im Nebenraum abgespielt, ja, ich lebte sogar ein Leben dazu, das sich anfühlte, als lebte es jemand im Nebenraum. Als hätte es sich einer ausgedacht, der nichts von Dramaturgie verstand, ein Regisseur, der nur einen geraden Strich vor Augen hatte, auf dem jetzt folgerichtig nur ein paar actionarme und abgesicherte Dinge passieren sollten. Unspektakulär. Harmlos. Das war die Idee meines Lebens. Aber es war nicht meine.

Stellen Sie sich mal vor, jemand anderes hätte die Dramaturgie Ihres Lebens geschrieben und nicht Sie selbst. Was wären Sie heute für ein Mensch? Mit wem würden Sie zusammenleben? Welche Musik würden Sie hören?

Tatsächlich, und vielleicht enttäuscht es Sie, basiert meine ganze literarische Anteilnahme am Weltgeschehen auf deutschem Schlager. Das ist, ganz ohne Scheiß, die Grundlage des Willens, mich auszudrücken. Viele Künstlerbiographien beginnen ja total spektakulär. Meine ist uncool und harmlos. Ganz ironiefrei, denn es handelt sich damals um meine Kindheit. Und es gibt keine ironischen Kleinkinder. Es gibt nur welche, die im Angebot an emotionalen Dienstleistungen diejenige heraussuchen, die sie am meisten betrifft. Das war bei mir deutschsprachiger Schlager.

Von der Liebe, vom Verlassenwerden und von der unbändigen Lust auf Leben wurde da gesungen und ich wollte jetzt sofort losleben, spürte aber auch, dass dieses Jetzt immer ein unpassender Moment war. Auch davon kündeten dieses Lieder, von den ganzen uneindeutigen Zwischendurchgefühlen. Ich hatte keine Vorstellung davon, was wohl ein passender Moment sein konnte, spürte aber die ganze Zeit, dass diese Musik, direkt in mein Herz wollte. Und ich ließ sie rein, denn es gab sonst nichts, was dort Platz finden wollte.

Die Gesichter und Anzüge der Schlagerinterpreten und -interpretinnen, die Art wie sie ihre Mikrofone festhielten, manche wurden während ihrer Darbietungen mit Blumen beschenkt, all das suggerierte mir, dass es sich bei dieser Welt um eine sehr besondere handeln sollte. Manchmal standen Leute aus den Zuschauerreihen auf und überreichten weinend einzelne Blumen. Genau daraus entsprang der Wunsch, sich unbedingt irgendwie ausdrücken zu wollen, seinen Gefühlen zwischen Freude und Trauer einen Namen und eine Melodie zu verleihen.

Um mich herum die Kargheit eines Dorfes, liebevolle Eltern, alles geregelt, irgendwie alle Möglichkeiten offen. Aber auch ein paar verschlossen. Bauernhöfe ohne Zukunft lagen dort an Äckern, die mit Mais, Pferden, Roggen, Kühen und Weizen bestellt und besiedelt waren. Ein paar Lebensläufe neben dem eigenen zur Orientierung. Bolzplatz, Freibad und so viel Mittelmaß, dass man kaum noch Ränder spürte. Aber all das, was an diesem kleinen Leben nicht stimmte, konnte ich erst im Nachklang wirklich beurteilen. Als Kind stimmte das meiste, meistens sogar alles.

Deutscher Schlager, damit begann alles. Die Idee, ein Gefühl in eine Wortkette umzugestalten, um damit zu sagen, was zu sagen ist, die kommt genau da her. Die Erkenntnis, dass man etwas von innen nach außen tragen kann, auch wenn man dabei wie ein peinlicher Clown aussieht oder verwässerte traurige Augen spazieren trägt, die der eigenen seriösen Sentimentalität noch mehr Ausdruck verleihen können.

Heutzutage hat der Konsum von Schlager- oder Volksmusik durch junge Menschen eher mit einer unangenehmen Art von Ironie oder aber Weltflucht zu tun, für mich aber war das damals der eine Hinweis darauf, wie Worte funktionieren. Und dass Melodien im Stande sind, Worte zu tragen. Der Beweis, dass es Zärtlichkeit wirklich gibt. Und in den ernsten Liedern erkannte ich, dass das Leben kein einfaches werden würde. Und aus den lustigen Liedern schälte sich mein Humor.

Es war immer Frieden, dieser harmonisierende bisschen Frieden, der mit brachialer Gewalt in unser familiäres Wohnzimmer eintrat, ein Frieden, der zwar angespannt und immer zerbrechlich war, aber der für eine halbe Stunde Schlagerdarbietung im Fernsehen einfach mal jede Armee hätte besänftigen können. Diesen Frieden vermisse ich heute beim Musikhören. Damals war das alles noch so unschuldig, der Erstkontakt mit Gefühlen, ausgelöst durch die Musik von Leuten, die mir so fern vorkamen wie Außerirdische. Diese bunte Schlagerwelt war für mich ein unerreichbarer Planet, auf dem irgendwie alle Bock haben, ihre Gefühle zu artikulieren. Und ich selbst war komplett unanalytisch, ich nahm alles so an, wie es mir kredenzt wurde.

Einfach so, weil Kindheit.

Wir saßen da, der Fernseher schleuderte die bunte Welt der Interpreten in die gute Stube und es tat sich ein Wohlsein auf, das mit nichts vergleichbar ist. Meine Mutter hatte mir einen Apfel geschält und mein kindliches Gemüt nahm alles kleinteilig wahr. Manchmal lag Stress in der Luft, aber Schlager konnte auch diesen zeitweise ausblenden, manchmal sogar vernichten.

Wenn man mit etwas anfängt, das einen das ganze Leben lang nicht mehr loslassen soll, vergöttert und romantisiert man die Anfänge. Als ich begann, Musik abseits von Kinderliedern bewusst wahrzunehmen, war da deutscher Schlager, der mir die Welt erklärte. Ganz ohne Ironie, nur mit Zärtlichkeit und einer Spur Bedrückung. Das sollte die nächsten Jahre bis heute auch eigentlich immer so bleiben. Es war einfach sehr echt, was mich da mitnahm. Vielleicht die einzige Phase echter Authentizität in meinem Leben. Andere Kinder werden frühkindlich mit Napalm Death, japanischem Freejazz oder Mozart beschenkt, meine Herkunft ermöglichte mir Roland Kaiser und Die Flippers.

Was ich immer hasse: in zynischer Distanz über großartige Momente zu sprechen. Und zwar nur um nicht das vollständige Gefühl reinzulassen, weil man ja Gefahr laufen könnte, das einem Wasser aus dem Auge läuft oder man für Sekunden unkontrolliert zuckt, weil Emotionen das manchmal mit Menschen machen. Man reagiert unverhältnismäßig. Leute gucken dann und fragen, was da wohl los ist.

„Hab was im Auge und Nervenerkrankungen, die wie Tanzen aussehen, aber Nervenerkrankungen sind“ könnte eine Antwort sein, ist sie sogar zuweilen. Bitter, wenn man sich für vermeintlich seltsame Reaktionen auf schöne Momente rechtfertigen muss.

Aber es blieb im Laufe der Jahre nichts hängen, was ich hätte gebrauchen können, außer das Gefühl einer langsam ermattenden Erinnerung. Und bis heute suche ich im Lärm der Stadt, in der ich lebe, ständig die Melodien meiner Kindheit. Manchmal finde ich sie an Orten, wo ich sie nicht erwartet habe. Kürzlich stand ich in einer Bar und eine alte ZDF Hitparade flimmerte auf einem Bildschirm. Totale Retroflut. Es kroch der Gedanke in mich, dass ich ja auch schon ganz schön alt bin und die Hälfte meines Lebens schon vorüber und Sterben kein Akt, sondern ein Prozess ist. Ich war ein Kind auf einem Sofa mit einem geschälten Apfel, der in acht Teile zerteilt war. Die Seltsamkeit der Glitzerwelt zog mich in sich, denn genau dafür war sie gemacht.

Ich bin eine Kellerparty

(ABBA)

Ungefähr 1986. Irgendeine Feier von Angehörigen. In allen vier Ecken des Kellerraumes hängen Boxen, aus denen zunächst wenig Markantes dudelt. Niemand ist wegen der Musik hier. Im Partykeller wird geraucht. Nebelschwaden tanzen um eine sogenannte Lichtorgel, aus der rote, blaue, gelbe und grüne Impulse blinken. Es gibt keinen DJ, sondern nur eine Stereoanlage und eine Handvoll Kassetten.

Der Küchentisch ist eine improvisierte Theke, über die mein Cousin und ich Bierflaschen und unlängst gefüllte winzige Schnapsgläschen reichen. Davor die Trinker, die Onkel, Tanten, Nachbarinnen und Nachbarn. Ich trinke eine Cola und bin 11 Jahre alt und es sind diese seltsamen 80er Jahre, die im späteren Verlauf der Zeitgeschichte zu einer merkwürdig mystifizierten und verklausulierten Epoche hochstilisiert werden. Ich war sehr wach in den 80er Jahren (Cola), erst die 90er haben mich müder gemacht, daher weiß ich, dass es keinen Grund gibt, sie dergestalt zu feiern.

Ich hatte bereits damit begonnen, die Welt in Harmonie und Nichtharmonie einzuteilen. Ich hasste Waffen, Militär, sogar die Polizei war mir in Person eines Dorfbullens schon unangenehm aufgefallen, als ich einmal ohne Licht zur Schule fuhr und derbe von einem Fahrzeug der Staatsgewalt ausgebremst wurde. Keine Gnade, sondern ein Strafzettel und eine Verwarnung der unpädagogischen Sorte. Dieser Polizist war aber auch jemand, der mit all seiner ihm zur Verfügung gestellten Macht reagierte. Immer diese Spur drüber. Gesetzestreu bis ins Mark. Und immer schrie er, wenn er sprach. Ein gnadenloser Verfechter der Einhaltung der Vorschrift.

Ich lehnte überdurchschnittlich laute Menschen ab, aber alle, mit denen ich verwandt war, waren eher solche Leute, die erst durch ihr Rumoren zu Personen wurden. Sie schimpften auf Plattdeutsch, wühlten gern in Werkzeugkisten, ließen Dinge scheppernd fallen und ignorierten die Tatsache, dass Türen Klinken hatten. Smash, hier bin ich oder Smash, ich bin draußen. Die meisten von ihnen hatten raue Hände von der Arbeit und unterhielten sich schreiend, auch ohne Nebengeräusche. In den meisten ihrer Küchen roch es nach zerkochten Kartoffeln. Das ist der Versuch meine Kindheit zusammenzufassen.

Am Rande des Kellerraumes laute Gespräche, dazwischen diese egale Musik, die plötzlich verstummt. Die Mutter wechselt die Kassette. Sie trinkt keinen Alkohol, deswegen geht das schnell. Die ersten Akkorde von Super Trouper erfüllen die Atmosphäre, lösen sofort und unmittelbar einen Zauber aus, den ich zuvor noch nie erkannt hatte. Automatisch bilden sich Paare. Tanzen beschwingt über den gefliesten Boden. Trotz immenser Besoffenheit der meisten Beteiligten sehen alle Bewegungen sehr kontrolliert und eingeübt aus. Beim Refrain versuchen einige der Gäste mitzusingen, obwohl die meisten kein Englisch können. Sie artikulieren ihre unausgereiften Emotionen in einer Phantasiesprache und in aggressivem Discofox. Ein Paartanz, bei dem in manchen Augen etwas aufglomm, was ich später immer wieder in diversen Moshpits gesehen habe. Der Wille zum unendlichen Spaß.

Der Vater steht vor mir, singt lauthals Superssssuper, lalalalala, all lalalala und Alkohol schenkt ihm Momente, die in seinem Leben ansonsten keine Regelmäßigkeit haben. Oft sehe ich ihn, erschöpft von der Arbeit, am Küchentisch schlafend. Neben seinem Kopf ein Teller Kartoffeln mit brauner Soße. Ein Bild, das meine Auffassung von durch Lohnarbeit ausgelöste Erschöpfungszustände nachhaltig geprägt hat. Aber jetzt mischt sich pures Glück in die Gegenwart. Es liegt an verschiedenartigen Gegebenheiten, dass wir nicht viel über unsere Gefühle reden. Unser beider Erziehung, die Gegend, die wir Zuhause nennen, die Umstände unserer Leben, die Ziele, die man jetzt schon erreicht oder sich vorgenommen hat. Das momentane und zukünftige Anerkennen unserer emotionalen Grenzen. Aber Alkohol und Abba helfen, diese Grenzen für ein paar Minuten zu überspringen. Mein Vater lächelt, mir gefällt es, ihn glücklich zu sehen.

Obwohl alles manchmal schwierig ist zwischen uns, ist dieser Moment Gegenwart ein unbeschwerter. Er steht vor mir, lächelt mich mit hängenden Lidern an, artikuliert seinen Bierwunsch und mein Cousin öffnet die Flasche und gibt sie mir. Ich reiche sie ihm, er trinkt und lächelt weiter. In diesem gutmütigen Gesichtsausdruck sind unglaublich viele Geschichten enthalten, die ich allesamt noch nicht kenne, und weil ich noch nicht viel über Alkohol weiß, schiebe ich dieses Lächeln allein auf Abba. Der Abend plätschert weiter, die fröhlichen Gesichter reißen nicht ab, irgendwo gehen Gläser zu Bruch, jemand fegt im Takt von SOS die Scherben zusammen.

Etwas später in meinem jungen Leben halte ich mich für einen Musiknerd mit einer Leidenschaft für abseitige Musik. Geräusche und Lieder, die es eher darauf abgesehen haben, gegebene und selbstverständliche Harmonien zu zerstören. Wenn einem sowas wie Punkrock passiert, dann distanziert man sich natürlich aus Coolnessgründen von der Schönfindung Abbas. Das ist dann zu gefällig und zu niedlich und hat mit dem Leben, was man idealerweise für sich auserkoren hat, nicht mehr viel gemein. Außerdem ist es auch die Musik meiner Eltern. Die Niedlichkeit dieser Lieder kann man dann höchstens noch mit einigem Abstand cool finden. Oder eben, wie in meinem Fall: gar nicht mehr. Man betrachtet es schon wieder, wie kurz zuvor den Schlager, als Teil einer sterbenden Vergangenheit. Höhere Ziele und so.

Aber irgendwann kam die Musik von Abba zurück zu mir, es dauerte weitere 15 Jahre, bis ich das wieder akzeptieren konnte, weil ich zwischendurch auf der Suche nach Grenzen war, diese gefunden und mehrfach überschritten habe, aber letztendlich immer wieder Musik gesucht habe, die ein Zuhause mit Kuscheldecke und maximierter Gemütlichkeit bietet. Ein Gefühl, wie mit seinem Vater auf der Elternhauscouch zu sitzen und über belangloses Zeug zu reden. Ein Stück Zuhause, in dem man ewig Willkommen ist. Das ist bei Abba und bei meinem Vater der Fall.

Das Oeuvre der Schweden bietet unendlich viele emotionale Deutungsmöglichkeiten. Denn neben dem ganzen Frohsinn, den die Songs anzubieten vermögen, steckt darin auch stets eine geballte Ladung uneinschätzbar Trauriges. Und ich scheiße auf die einseitig fröhliche Abba Party, die seit dieser totalen Kommerzverwertung mittels des Musicals „Mamma Mia“ vonstatten geht. Dadurch ist leider der melancholische Aspekt der Hymnenhaftigkeit dieser Band nahezu in Vergessenheit geraten. Viele denken, Abba sei nur fröhlich und leicht und beschwinglich, aber da klebt viel Zerbrechlichkeit in den Zwischenräumen, musikalisch wie lyrisch. Ich glaube ja, dass bis auf wenige Ausnahmen weder die Texte noch die Kompositionen von Abba jemals ausschließlich fröhlicher Kram gewesen sind. Und genau diese Gefühlsmischung repräsentiert mich in dieser Musik. Oft ist da diese schlageresque Sehnsucht nach Liebe und Halt als Patrone im hyperaktiven Fröhlichkeitsschnellfeuergewehr. It once hit me and I’m still happily injured.

In den besten Momenten ist Abba für mich dunkle Zerbrechlichkeit in bunten Kostümen. Wie eine grundlos eskalierende Party vor einer orangebrauen Plastiktapete, in deren Musterung man sich tanzend verlieren kann. Eine Mischung aus Pop und Theater. Chöre, Tempowechsel, der dramatische Gesang, immer arrangiert mit kompositorischer Raffinesse. Es gibt ja die Theorie, dass wenn man das ganze überflüssige Glamourzeug weg- und nur die melodiöse Pianospur übriglässt, dass das dann der eigentliche, nackte und freie Song ist. Die Seele aller Songs ist meistens eine überzeugende Idee und ein Mensch, der ein Klavier streichelt. Also der Kern aller möglichen Gefühle in drei oder vier Akkorden, die wie eine musikalische Grußkarte aus unbekannten Tiefen zu dir heraufgeschickt wird und auf der zu lesen ist: „Dir gehts gut, mach Dir keine Sorgen.“

Ich versuche seit Jahren, einen optimistischen Blick in eine hoffnungsvolle Zukunft der ewigen Bestätigung einer dunklen Dystopie vorzuziehen. Songs von Abba helfen mir dabei. Diesen Liedern wohnt etwas Begehrenswertes inne, das sich zuweilen anfühlt wie eine Reise. Manchmal stellt man fest, es riecht ausschließlich nach Stadt und darin zerlebter Trübtassigkeit und Tristesse und kann diesem Gefühl mittels Dancing Queen etwas entgegensetzen. Es funktioniert. Immer. Wie ein perfekt dosiertes Medikament.

Ungefähr 1999. Ich habe ein Abba-Tape im Auto auf dem Weg zum Meer gehört. Neben mir saß eine Frau mit unendlich vielen guten Eigenschaften, in die ich mittelschwer verliebt war. Wir schwiegen beide zwei Stunden lang vor Ergriffenheit. Schon als wir am Strand saßen, freuten wir uns auf die Rückfahrt. Sie verließ mich an einem Dienstag. Aber Abba … Nein, dieses Mal nicht.

Zumindest nicht sofort.

Ungefähr 2016. Wieder eine Kellerparty. Dieses Mal bin ich schon über 40 und sehr betrunken. Es läuft The winner takes it all. Was man immer wieder beobachten kann, wenn Abba auf Partys läuft, ist der Umstand, dass es auf der einen Seite euphorisierte Gruppen gibt, die sich sich vor Gefühlsüberschwang und mit übertriebenen Popgesten gegenseitig anspringen wollen und zwar solange, bis jeder erlebbare Frohsinn aus einem herausartikuliert ist, und andererseits gibt es diese gedankenverlorenen Einzeltänzer, die mit einer Bierflasche meist ungeachtet sonstiger Geschehnisse in der Ecke stehen. So einer bin ich. Und der Refrain hat noch immer eingelöst, was die Strophe versprochen hat. Ich schwanke durch Bierpfützen und Scherben und klebe manchmal fester am Boden der Tatsachen als gewünscht. Abba tanzt mich und ein Kreis schließt sich.

Die Beschäftigung mit Abba hat mich Folgendes gelehrt: Niemals zu früh aufgeben, niemals mit einem Zwischenergebnis zufrieden sein, stets nach dem Optimum streben. Wenn Pop mein Kerngeschäft wäre, wäre das genau mein Maßstab, denn darin wohnt pures Glück. Mein Business ist aber Literatur, deswegen gehe ich jetzt tanzen.

Mein geheimer Bruder

(Michael Jackson)

Es gab eine Zeit, in der ich mir gewünscht habe, dass Michael Jackson mein Bruder ist. Er wäre etwas älter als ich und wäre da, um mich zu beschützen, wenn die Welt wieder mal zu laut und zu viel und zu brutal wird und ihr zu viel Zartheit abhandenkommt. Dann wäre er bei mir gewesen und hätte den Krawalltypen, die mich in der Schule verprügelt haben, so lange vom Man in the mirror vorgesungen, bis sie zu Selbstreflexion und Einsicht imstande gewesen wären. Anschließend wären wir mit Michaels Helikopter irgendwo hingeflogen, wo die Gepflogenheiten ausschließlich friedlich gewesen wären, und ich hätte ihm ein paar neue Tanzschritte gezeigt, damit er nicht ganz aus der Übung kommt.

… there’s a place in your heart and I know that it is love …

Jajaja, die Welt ist verwüstet, nur die Ideen, die an Gewalt gekoppelt sind, setzen sich durch. In den Flüssen überlebt kein Fisch, weil irgendjemand Ekelhaftes aus seinem Chemiewerk zerstörerische, grüne Suppe in die Natur leitet, und kein Mensch überlebt den Krieg, der bald endlich mal kommt. Der letzte Krieg ist ja auch schon viel zu lange her. Ich sehe die Herbstmanöver. Düsenjets und Schallmauern. Sehe, dass das alles keine Übung ist. Krieg ist ein Normalzustand …