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MARLIES CZERNY

4000ERLEBEN

Von Null auf die höchsten
Gipfel der Alpen

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags,
der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung,
auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche
Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer
Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Gesetzt aus der Palatino, Quan, Clarendon

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Inhalt

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Vorwort

von Gerlinde Kaltenbrunner

Der Zauber des Anfangs

Dom, Mont Blanc

Vom Bierfass in die Bergwelt

Zinalrothorn, Breithorn

Blind Date in der Nordwand

Lenzspitze, Weissmies

Was ich nie sehen wollte

Mönch, Alphubel

Ein Interview auf 4500 Metern

Gran Paradiso, Dufourspitze, Matterhorn

Das Gewitter und das Not-Biwak

Finsteraarhorn, Nadelgrat

Die teuflischsten Grate

Teufelsgrat, Kuffnergrat, Rochefortgrat, Aiguille de Bionnassay, Grandes Jorasses

Wenn der Seilpartner zum Lebenspartner wird

Aletschhorn, Matterhorn

Vom Kirchenkreuz zum Gipfelkreuz

Barre des Écrins, Dent d’Hérens, Aigulle Verte, Traversée Royal

Ein Ziel: Alle 82 Viertausender

Schreckhorn, Lauteraarhorn

Ein Viertausender, der im Flug vergeht

Punta Giordani, Vincentpyramide

Es geht mehr, als du denkst

Peutereygrat Intégrale

Linien, die zum Träumen sind

Weisshorn, Matterhorn, Liskamm

Auf den letzten Zacken der Schweiz

Täschhorn

Das Grande Finale

Aiguille du Jardin, Brouillardgrat Intégrale

Epilog

Meine, deine Viertausender

Basiswissen, Tipps & Tricks

Von 0 auf 4000

So steigert man sich auf den Viertausendern

4000 Dank

Vorwort

VON GERLINDE KALTENBRUNNER

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Marlies habe ich als eine junge, engagierte und sehr interessierte Journalistin kennengelernt. Es war 2011 in Bühl/Deutschland. Sie hat mich während einer kleinen Wanderung zum Bühler-Stein interviewt. Damals hatte sie erst kurz zuvor mit ein paar Wanderungen ersten »Bergkontakt«. Gleich im Anschluss fuhr sie zu ihrem ersten Hochtouren-Ausbildungskurs ins Stubaital.

Anschließend haben wir in unregelmäßigen Abständen voneinander gelesen oder einander gehört, und 2015 begleitete sie mich zu einem Vortrag in Villach. Wir hatten während der Autofahrt stundenlang Zeit miteinander zu plaudern. Die Fahrt war sehr kurzweilig, weil wir als »Gleichgesinnte« eine Menge an Gesprächsstoff hatten. Hier spürte und erfuhr ich sie als sehr bodenständige, zielstrebige, äußerst liebenswerte und sehr begeisterungsfähige junge Frau.

Immer wieder hörte ich von ihren wundervollen 4000er-Unternehmungen. Wenn Marlies von ihren Erfahrungen berichtete, sah ich das ganz besondere Strahlen in ihren Augen. Ich habe mich immer sehr gefreut und war überzeugt, dass Marlies ihren Weg gehen würde und ihre Berufung gefunden hätte.

2017 sind wir bei der 24-Stunden-Wanderung in Spital/Pyhrn ein Stück des Weges gemeinsam gegangen. Hier berichtete sie mir, dass sie bereits 78 4000er bestiegen hatte und nur noch vier fehlten. »Darüber musst du ein Buch schreiben«, sagte ich spontan. Und es freut mich sehr, dass man dieses Buch nun in Händen halten kann.

Unsere Gemeinsamkeit ist der Respekt, die Begeisterung und die Achtung der Natur und der Berge, und auch auf das zu hören, was das Herz uns sagt; zu hören und dem auch zu folgen: Marlies‘ Freude am Schreiben mit ihrer innersten Zustimmung, dem Bergsteigen zu verbinden.

Jetzt hat sie alle 82 4000er im Alpenraum bestiegen. Sie erzählt die kleineren und auch großen Abenteuer ihrer Bergtouren, untermalt mit eindrucksvollen Bildern. Das Buch gibt euch tiefe Einblicke und lässt euch die Kraft, Energie und Magie der Alpenwelt erahnen.

Marlies war als Tochter in einem Gastronomiebetrieb viel auf den Beinen. Sie hat erst später – im jungen Erwachsenenalter – mit dem Bergsteigen begonnen. Sie war mutig, ihren Weg Schritt für Schritt in die berufliche Selbstständigkeit zu gehen.

Genau dieser Mut und das Hören auf die innere Stimme beeindruckt und berührt mich sehr. So wie Marlies möchte auch ich euch dazu aufrufen, eurer Berufung zu folgen. Egal, wie alt ihr seid. Es ist nie zu spät.

Möge dieses Buch Inspiration für euch sein, um mit Achtsamkeit, Staunen und Dankbarkeit der Natur, der Welt und den Menschen zu begegnen und euch und eurem eigenen Herzen zu folgen.

Gerlinde Kaltenbrunner

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Der Zauber des Anfangs

DOM, MONT BLANC

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Auf diesen Moment bin ich nicht vorbereitet. Es ist ein einziger Schritt, der meine Sicht auf die Welt verändert: ein Schritt aus den Wolken. Wie aus heiterem Himmel klettere ich aus dem düsteren Grau, und vor mir erstreckt sich ein unglaubliches Nebelmeer. Wie Inseln ragen die Berggipfel heraus – nur die viertausend Meter hohen. Obergabelhorn und Zinalrot- horn, zeigt Hermann, und mein staunender Blick folgt seinem Finger. Der Eisberg, der am Rande dieses Ozeans treibt, heißt Weisshorn. Nur eine Insel muss er mir, dem Greenhorn, nicht benennen. Die erkenne ich schon selbst: das Matterhorn. Hoch umspült von Wolkenwogen, ist es sogar noch eindrucksvoller als auf jedem Bild, das ich bisher vor meinen Augen hatte!

Als wir vor zwei Stunden den Fuß vor die Domhütte gesetzt hatten, war es aussichtslos gewesen, heute irgendetwas anderes außer pechschwarz, trübgrau und schneeweiß zu sehen. Die Nacht und der Nebel krallten sich mit Eiseskälte an den Flanken des 4545 Meter hohen Doms fest. Doch das Licht des neuen Tages ist wärmer. Ein Sonnenkuss, und die Landschaft erwacht. Erst glühen nur die Bergspitzen orange, bald färbt sich auch das Wolkenmeer unter mir zartrosa. Der Himmel hält sich darüber azurblau zurück. Ich traue meinen Augen nicht und bleibe stehen – wie verzaubert.

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Das Matterhorn und die Dent d’Hérens ragen wie Inseln aus dem Wolkenmeer.

So schön ist die WIRKLICHKEIT? Ist das überhaupt wirklich?

Diese Szenerie wirkt fast zu schön, um wahr zu sein, wie aus einem Bilderbuch. Und ich bin nur ein winziges Pünktchen in diesem Gemälde aus Wolken, Licht und imponierenden Formen. Unzählige Male drücke ich auf den Auslöser meiner billigen Kamera und versuche, für immer festzuhalten, was so einzigartig ist. Aussichtslos. So schön ist nur die Natur.

Der Kontrast könnte stärker nicht sein: Vorgestern im Büro einer Tageszeitung, kurz vor Redaktionsschluss und Sekunden nach dem Schlusspfiff, haben meine Finger hektisch den Bericht über ein Fußballspiel in die Tastatur geklopft, mein Kopf noch voll mit zu vielen To-Dos. Und jetzt auf dem Weg zu meinem ersten Viertausender scheint meine Zeit für Minuten stillzustehen. Ich fühle mich ungewohnt frei. Eine Minute oder zehn? Ich weiß nicht, wie lange meine Starre bei diesem Sonnenaufgang dauert, so unglaublich fasziniert mich dieser Moment. Ist es das Magische der Viertausender, das man heraushört, wenn man mit alten Bergsteigern spricht? Das mir bisher aber doch unbegreiflich blieb? Es macht etwas mit mir. All die scheinbar so wichtigen Dinge sind auf einmal weit weg. Sie haben es nicht mit auf den Berg geschafft, sie sind im Tal hängen geblieben. Ja, was ist eigentlich wichtig? Wer das nächste Fußballspiel gewinnt? Welche Schlagzeile dazu knallt? Welchen Sportstar ich mir für mein nächstes Interview angeln kann? Möglicherweise ist es etwas anderes, als ich bisher dachte.

Der Gipfel des Doms liegt noch eintausend Meter über uns, aber es hat sich bereits an dieser Stelle ausgezahlt: 763 Kilometer weit und neun Stunden lang Auto zu fahren, um den Alltag gegen eine neue Ansicht in den Westalpen einzutauschen. Vier Tage bin ich weg von meinem Schreibtisch im Büro einer großen österreichischen Tageszeitung. Vier Tage, mehr Zeit haben wir nicht. Mit Hermann aus dem Zillertal möchte ich versuchen, einen Viertausender zu besteigen, meinen ersten: den Dom, den höchsten Berg, der in seinem ganzen Umfang auf Schweizer Boden steht. Klein anfangen, das wollte ich noch nie. Hermann, der mich von einem Hochtourenkurs kennt, hat mir zugesichert: Du kannst das. Und ich habe gewusst: Ich will das. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Diese Reise in die Westalpen im Juli 2011 würde mein Leben verändern.

Dom: 4545 Meter

Randa, Mischabelgruppe, Walliser Alpen

Bestiegen über den Normalweg Anfang August 2011 mit Hermann.

Der höchste Berg, der ganz auf Schweizer Boden liegt, und jener mit den meisten Höhenmetern ohne Seilbahnunterstützung.

Als ich an diesem Julitag um zwei Uhr früh meine Augen öffne, weiß ich nicht so recht, wo ich bin und was ich hier mache. Ich erwache in der Domhütte aus meinem Halbschlaf, dicht gedrängt wie Sardinen in einer Büchse, liegen wir nebeneinander – teilweise aufeinander. Es ist drückend heiß im überfüllten Matratzenlager. Die Luft ist stickig, die Atmosphäre unruhig – und an wieder Einschlafen ist gar nicht zu denken. Rundherum wird noch geschnarcht, und dazwischen packen aufgeregte Bergsteiger ihren Rucksack zum fünften Mal neu. Sie rascheln mit Plastiksäcken und klimpern mit Karabinern. Moment! Ich bin ja eine von ihnen! Ich bin mindestens genauso nervös und planlos. Soll ich die Steigeisen besser oben im Rucksack verstauen oder unten? Brauche ich die dicken Handschuhe gleich beim Weggehen oder erst später? Hinter dem gekippten Fenster fallen dicke Schneeflocken von rechts oben nach links unten. Eine frische Portion Neuschnee erreicht uns in dieser Julinacht.

Zugegeben: Bis vor Kurzem hatte ich mir einen Sommerurlaub ganz anders vorgestellt. Sonne, Strand und Meer – ein All-Inclusive-Urlaub in Ägypten war eine meiner letzten großen Reisen. Ich blicke wieder zum Fenster, sehe ohne Kontaktlinsen nur verschwommen. Freiwillig kann doch kein Mensch auf dieser Welt so früh aufstehen wollen, um sich in stockdunkler Nacht in dichtes Schneegestöber zu stürzen – oder?

Wir schälen uns aus den kratzenden Decken des Massenlagers, um halb drei Uhr früh gibt’s Frühstück. Die paar Bissen Brot mit Marmelade schmecken mir nicht besonders. Mitten in der Nacht einen neuen Tag zu beginnen, das fühlt sich nicht so an, als hätte das die Schöpfung für uns Menschen vorgesehen. Früher an den Wochenenden dachte ich um diese Zeit gerade erst ans Heimgehen nach einer berauschten Nacht. Ich verstelle meine innere Uhr und merke, dass ich meinem Körper und meinem Geist vielleicht doch mehr zumuten kann, als ich das in meinem Bürosessel oder in Diskotheken vermutet hätte. Wenngleich ich keinen Appetit habe, esse ich das Marmeladenbrot und trinke Tee. Die Energie werde ich für den langen Aufstieg zum Dom brauchen. Was wird mich dort oben erwarten? Wie wird es mir gehen? Wie stark werde ich die dünne Luft spüren? Fragen zu stellen, das liegt mir als Journalistin wohl im Blut, aber die Antworten sind mir diesmal relativ egal. In meinem Kopf gibt es ohnehin nur eine Option: Versuchen wir’s!

Ich hauche meinen warmen Atem als grauen Schleier in die kalte Luft. Nur die Schneeflocken tanzen im Schein der Stirnlampe. Zwischen diesen hellen Pünktchen erkenne ich nur schwer den Weg. Hermann geht voraus, alleine wäre ich hier wohl verloren. Dass dieser Sommerausflug ein Sonntagsspaziergang sein würde, davon war ja nie die Rede. Die Anstrengung zu spüren, das finde ich aber nicht schlimm. Auf den ersten hundert Höhenmetern entdecke ich meine Taktik, wie ich der Schwere der Nacht und Nervosität entfliehen kann: Ich finde mein eigenes Tempo und lasse mich und meine Gedanken gehen. Mein Kopf, vorher noch voll mit hundert Dingen aus dem Redaktionsalltag, wird dabei formatiert wie eine Festplatte. Er ist weder im Archiv von Gestern noch bei der Zeitung von Morgen, sondern im Hier und Jetzt. Kein Radio rauscht, kein Fernseher flimmert, kein Smartphone schrillt, kein Stadionsprecher brüllt. Ich bin voll und ganz bei mir. Ich höre nur das Kratzen meiner Steigeisen, das Bröckeln mancher Steine und das Knirschen des Schnees. Über die Felsstufe ins Festijoch bleibt meinen Gedanken gar nichts anderes übrig, als sich auf den nächsten Schritt und Tritt zu konzentrieren. Nur ich selber bin dafür verantwortlich, wohin ich greife, wohin ich steige – ein Stolpern wäre an vielen Stellen nicht nur gefährlich, sondern lebensgefährlich. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir … Die Verantwortung, die man im Tal so gerne auf andere abschiebt, bekommt man hier unmittelbar zu spüren. Das ist ein prickelndes, höchst spannendes Gefühl. Meine Achtsamkeit und mein Selbstvertrauen wachsen mit jedem Schritt. Die Zeit verfliegt.

Hermann bleibt plötzlich stehen. Er zeigt auf den Höhenmesser seiner Uhr: 4002 Meter steht hier schwarz auf grün. Mein Herz macht Freudensprünge. Es hüpft erstmals in einer Höhe von viertausend Metern. Der Himmel über dem Wolkenmeer ist mittlerweile strahlend blau, und die Sonne wärmt uns. Heute sitzt mir keine Deadline im Nacken, nur die Natur. Unseren Plan, über den Festigrat auf den Dom zu klettern, müssen wir unter dem Neuschnee begraben. Wir folgen den Spuren im Schnee und schließen bald auf zwei Seilschaften am Normalweg auf. Nun sind wir an der Reihe mit dem Spuren. Ich will mich auch darin versuchen – nur hinterherlaufen, das möchte ich nicht. Jeden mühsamen Schritt, den ich durch den knietiefen Schnee pflüge, habe ich beim nächsten schon wieder vergessen. Es ist ein unerwartetes Gefühl, seine eigenen Spuren zu hinterlassen, ein einzigartiges, zwischen diesen bedrohlichen Gletscherspalten hindurch. Ich fühle mich wie eine kleine Künstlerin, die ihre Linie in dieses Gemälde zeichnen darf. Und wie eine Schnecke. Die Schnecke lässt lieber Hermann wieder vor, das Vorausgehen wird mir nach wenigen Minuten doch zu anstrengend.

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Als Greenhorn 2011 auf dem Gipfel des ersten Viertausenders, des Doms.

Wir bewegen uns nun schon dreihundert Meter über der Viertausendermarke. Die Wolken liegen uns zu Füßen. Ich Glückskind habe weder Kopfweh noch Bauchweh. Meinen ersten Viertausender hätte ich mir schlimmer vorgestellt. Vor allem, weil meine Akklimatisation1 auf 266 Metern Meereshöhe stattgefunden hat – im Büro in Linz. Gar nicht lehrbuchmäßig. Demnach sollte man sich ab einer Höhe von 2500 Metern langsamer vortasten durch den immer geringer werdenden Sauerstoffpartialdruck in der Luft, um sich besser an die Höhe anzupassen – und nicht höhenkrank zu werden. Aber mein Körper scheint die dünne Luft gut zu vertragen. Eine weitere Stunde stapfen wir im glitzernden Schnee aufwärts, bis es nicht mehr höher geht. Die langsamen letzten Schritte zum Gipfel kann ich genießen. Hier ist nicht viel, es bedeutet mir aber dennoch alles: ein Schneegrat, ein Gipfelkreuz, mein Seilpartner und ein Ausblick über die tiefliegenden Wolken, der mich seit dem Morgen staunen lässt. »Super gemacht!«, gratuliert mir Hermann. Ich bin unendlich dankbar.

Brauche ich mehr zum GLÜCKLICHsein? Ich glaube nicht.

Ich habe eine neue Welt für mich entdeckt, und sie liegt weit weg von der Welt, die ich bisher kannte. Auf einer Hand voll Dreitausendern der Ostalpen habe ich schon stehen dürfen, aber das hier ist steiler, wilder, weiter und länger als alles, was ich bisher mit meinen Füßen betreten habe. Ich möchte mehr von diesen Augenblicken erleben, weit weg sein vom Alltag. Das sehe ich sonnenklar vor mir, als wir unter dicken Wolken wieder im Parkhaus in der kleinen Schweizer Ortschaft Randa ankommen. Zwei Tage haben wir noch Zeit auf unserem Kurzausflug. Das Wetter verschlechtert sich im Wallis. An einen weiteren Gipfel ist hier nicht zu denken. Aber wir könnten doch … zum Mont Blanc fahren!? Alleine der Gedanke, gleich den höchsten Berg der Alpen zu versuchen, löst ein Kribbeln im Bauch aus und lässt mich erneut vor Freude hüpfen, hochhüpfen! Ich liebe es, nach den Sternen zu greifen!

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Wir fahren nach Frankreich. Drei Stunden und 140 Kilometer nach unserer Blitzidee steigen wir in Chamonix aus dem Auto. Für Sightseeing nehmen wir uns keine Zeit, wir haben knapp kalkuliert. Wir brauchen noch eine Karte vom Mont Blanc-Massiv, werden im vierten Geschäft fündig – und schon gondeln wir mit der letzten Aiguille-de-Midi-Bahn des Tages bis auf 3842 Meter. So hoch ist nicht einmal der höchste Berg in Österreich, der Großglockner! Die Fahrt endet auf einer spektakulären Felsnadel. Es sind nur wenige Schritte vom touristischen Rummelplatz in die ernste alpine Außenwelt, ein Stollen führt durch das Gletschereis. Am Ende des Tunnels stecken wir wieder in dichten Wolken, blicken keine zehn Meter weit. So unwirklich und unwirtlich! Mit Mühe und mit Kompass und Karte können wir zur Cosmiqueshütte navigieren. Gut, dass wir das vor drei Wochen in unserem Kurs gelernt haben. Ist das immer so spannend in den Westalpen?

Mont Blanc, 4810 Meter

Chamonix, Frankreich

Überschreitung der »Trois Monts« von der Cosmiqueshütte mit Abstieg über den Normalweg, August 2011.

Der »weiße Berg« ist der höchste Gipfel der Alpen und thront zwischen Frankreich und Italien. Er wurde bereits 1786 als erster Viertausender bestiegen.

Es wird noch verrückter. Fünf Stunden nach dem Abendessen im Refuge des Cosmiques stehen wir diesmal zum Frühstück auf. 00:39 sagt die Uhr. Die frühe Tagwache erwischt auch Langschläfer ohne Widerrede. Dem Mont Blanc ist egal, wie müde oder fit man ist. Seine Gletscher werden in der Mittagshitze ungemütlich und gefährlich: wenn der Schnee aufweicht und man bei jedem Schritt mühsam einsinkt, wenn die dünnen Schneebrücken über dicken Gletscherspalten fragil werden, wenn Steine in Steilflanken zu rumpeln beginnen, wenn Lawinen Fahrt aufnehmen. Alles Gefahren, die man als Nachtschwärmer verringern kann. Außerdem steht uns ein gewaltig langer Marsch bevor. Ich kann mich nicht erinnern, je so weit gegangen zu sein. Wir möchten den Mont Blanc überschreiten, ihn über seine beiden Nebengipfel, den Mont Blanc du Tacul und den Mont Maudit, erreichen. Eine beliebte Tour, die etwas schwieriger als der Normalweg ist. Dort ist Hermann schon einmal unterwegs gewesen. Alleine. Im Gedenken an seinen Papa, der gestorben ist, als Hermann noch ein Bub war, und zwar in einer Lawine in der Hochferner-Nordwand.

Diese Nacht ist bitterkalt. Im Schein der Stirnlampen und mit einem Seil verbunden, stapfen wir los auf den riesigen Schneeflächen. Wir spüren, dass sich vor uns etwas auftürmt. Es ist der Mont Blanc du Tacul mit seiner Flanke, die nicht nur steil, sondern auch heikel ist. Wir steigen über die harten Brocken eines Lawinenkegels, aber die identifiziere ich gar nicht als solche. Es ist wohl besser so, dass ich in dieser Dunkelheit nicht alles erkenne – auch nicht, dass wir fast zwei Stunden lang unter haushohen Séracs2 höher treten. Mein Angstpegel wäre sonst in unangenehme Höhen geschnellt. Diese zerbrechlichen Eistürme hängen über uns wie die Klinge einer schlampig gebauten Guillotine. Sie könnten jederzeit herunterkrachen und mit einem Schlag alles mitreißen. Uns lassen sie glücklicherweise verschont. Allmählich erkenne ich die Umrisse des bizarren Mont-Blanc-Massivs und den nächsten Aufschwung. Gänsehautgefühl. Es dämmert, dabei frischt der Wind noch eisiger auf. Er bläst die letzte Wärme aus meinen Fingergliedern, als ich den Pickel umklammere für den bevorstehenden Aufstieg am Mont Maudit. Verfluchter Berg heißt sein Name übersetzt – und Fluchen muss ich jetzt auch. Ich lasse meinen Pickel in den Schnee fallen, so eiskalt ist mir. Es kommt mir vor, dass die Nacht kurz vor dem Sonnenaufgang mit aller Kraft zeigen möchte, wer hier noch das Sagen hat. Ich halte diesen Schmerz in meinen Fingern fast nicht mehr aus. Da zückt Hermann zwei kleine Handwärmer aus dem Rucksack. Diese Wärmekissen stecke ich in meine Handschuhe. Ich könnte schreien. Meine Fingerkuppen stechen, kribbeln und brennen. Bis sie wieder warm werden, vergehen höllische Minuten. Screaming barfies3 sagt das anglistische Alpinvolk dazu. Einmal überstanden, sind meine Finger für den restlichen Tag abgehärtet. Weiter geht’s.

Die Flanke zum Mont Maudit fordert mich mit ihren 400 Höhenmetern. So steil hätte ich mir das gar nicht vorgestellt! Ich weiß, dass ich nicht ausrutschen darf. Vielleicht hält mich Hermann, der am Seil vorausgeht, vielleicht aber auch nicht. Fallen ist ohnehin keine Option, nur konzentriert zu steigen. Aber das ist gar nicht so einfach. Die Stufen der Vorgänger sind immer eine Spur zu weit weg für meine kurzen Beine, so weit, als müsste ich bei jedem Schritt auf die Höhe von zwei Bierkisten gelangen. Um nicht bei jedem Mal Aufstehen wild herumzurudern mit den Armen, hilft der Pickel, den ich in den Schnee ramme, um meine Balance zu halten. Endlich haben wir diese verfluchte Flanke hinter uns, Hermann sichert mich das letzte Stück ins Flache. »Komm, dreh dich um«, fordert er mich auf. Ich bin sprachlos. Genau wie am Dom vorgestern kann ich nicht glauben, was ich sehe. Der Hang unter mir leuchtet intensiv orange, die Sonne geht in dieser Sekunde über einem Nebelmeer und hinter unzähligen Felszacken auf. Das ist meine Belohnung. Eine Belohnung, die man sich nicht kaufen kann, sondern nur in vielen kleinen (beziehungsweise für mich großen) Schritten verdienen kann: den Sonnenaufgang auf einem Berg. Mit den ersten Sonnenstrahlen fließt unglaubliche Kraft zurück in meinen Körper. Viel mehr, als mich der Aufstieg zuvor gekostet hat.

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Sonnenaufgang in der Flanke des Mont Maudit.

Ich STAUNE selbst, wie viel mir dieser AUGENBLICK bedeutet.

Auf dem weiteren Weg zum Mont Blanc fühle ich mich erleichtert. Die Temperatur steigt, die Schwierigkeit nimmt ab. Zäh bleibt es trotzdem. Der Gletscher bis zum höchsten Punkt der Alpen erscheint mir als optische Täuschung. Der weiße Gupf sieht so nahe aus, aber der Weg zieht sich wie ein Strudelteig. Man muss ihn noch zwei Stunden gehen lassen. So hoch oben – der Mont Blanc führt bis auf 4810 Meter – kommt man eben nur noch im Schneckentempo voran. Heute ein Schritt, morgen ein Schritt, denke ich mir, und im Rhythmus dieser Langsamkeit erreichen wir ihn doch, den Gipfel des höchsten Alpenberges. Wir fallen uns freudig in die Arme und setzen uns am Gipfelplateau auf unsere Rucksäcke. Ein Gipfelkreuz suche ich hier vergeblich. Die findet man auch auf anderen Viertausendern nur vereinzelt, wobei den Italienern meist ohnehin eine Madonnastatue lieber ist. Den Italienern? Ginge es nach ihnen, gehörte der Gipfel des Monte Bianco zur Hälfte auch ihnen – mais non! Die Franzosen wollen den höchsten Punkt der Alpen nicht teilen. Nur hauchdünne Schleierwölkchen liegen zwischen uns und dem französisch-italienischen Himmelblau. Ich mache ein Gute- Laune-Gesicht und strahle mindestens genauso wie die Sonne. Zu Füßen liegt uns eine atemberaubende Bergkulisse mit eingebetteten Wolkenhaufen. Meine Augen finden den Dom, auf dem wir vor zwei Tagen gestanden sind. Es kommt mir vor, als könnte ich hier von Wien bis Nizza weit sehen – und ich wette, dass es dazwischen keine glücklichere Bergsteigerin gibt als mich. Aber nur solange, bis ich daran denke, wo ich morgen früh sein muss: im Büro.

Fußballspiele werden in der zweiten Halbzeit entschieden, das weiß ich als Sportjournalistin natürlich ganz genau. Bei Bergtouren ist das leider nicht anders. 2400 Höhenmeter müssen wir absteigen und 870 Kilometer heimfahren. Um 10:30 Uhr habe ich Redaktionssitzung. Was habe ich mir da bloß einfallen lassen?

WIE soll sich das nur AUSGEHEN?

Ich denke in Etappen. Im Abstieg am schmalen Bossesgrat verfliegt die Zeit, so konzentriert, wie ich meine Schritte setzen muss. Wir kommen zu einem Bergsteiger, der auf dem Boden kniet, sich übergeben hat, sein Gesicht ist blau. Ich bin schockiert. Wieso habe ich die Höhe auf Anhieb so gut vertragen und er nicht? Wir bräuchten nicht zu helfen, sagt der Begleiter, der an seiner Seite kniet. Der Hubschrauber sei schon im Anflug. Das Rattern eines Helikopters hören wir an diesem Tag leider noch öfter. Bis zu zwanzigmal kommt die Rettung aus der Luft an unfallreichen Tagen ins Mont-Blanc-Massiv. Nachdenklich meistern wir auch die Schlüsselstelle am Normalweg, das Grand Couloir4. Das ist nicht schwierig, aber gefährlich. Die Steine schlagen in dieser großen Rinne herunter, wenn es ihnen passt, und nicht, wenn der Weg frei ist. Leider erwischt es hier immer wieder Bergsteiger. Wir lauschen dem Steinschlag, und als es ruhig ist, überqueren wir die Schlucht, so schnell wir nur können. Im Schnitt sterben vierzig Menschen pro Jahr am Mont Blanc. 20 000 versuchen ihn. Wir kommen sicher unten an, für das letzte Teilstück nehmen wir die Zahnradbahn. Selbst wenn mein Erinnerungsvermögen eines Tages Lücken erleiden wird: Diesen Tag werde ich nie vergessen.

Denn zu Ende ist dieser Tag noch lange nicht. Das Gefährlichste unserer Westalpentour steht uns erst bevor: die Heimfahrt. Mir fallen immer wieder die Augen zu. Zum Glück sitze ich in diesen Sekunden auf dem Beifahrersitz. Erst spät nach Mitternacht erreichen wir das Zillertal. Hier bleibe ich noch für ein paar Stunden, in denen ich mich wie ein Luxuskind fühle. Ganz einfache Dinge finde ich plötzlich großartig: Ich genieße eine erste Dusche nach vier Tagen, bekomme ein eigenes Bett, in das ich nicht akrobatisch über eine Leiter klettern muss, und ich kann mich sogar auf eine saubere Toilette setzen.

Frisch kultiviert, fahre ich im Morgengrauen zurück ins Berufsleben. Just in time! Der Beachvolleyball-Grand-Slam in Klagenfurt steht bevor, das ist mein Thema, also wieder ab ins Auto. Dieses Kontrastprogramm erschlägt fast meine Sinne. 48 Stunden nach dem eisigen und einsamen Gipfel des Mont Blanc stehe ich auf dem sandigen und überfüllten Center Court in Kärnten. Meine Aufgabe ist es, spannende Themen zu finden und damit täglich eine Zeitungsseite zu füllen. Ich interviewe die weltbesten Beachvolleyballer. Daneben dröhnt That’s the way … laut aus den Boxen. Aha, aha, I like it!, brüllen die euphorisierten Besucher zurück. Mag ich das auch?, frage ich mich insgeheim. Party rund um mich, Tag und Nacht. In diesen Minuten realisiere ich, dass ich auf den ganz hohen Alpenbergen sehr weit weg bin von dieser Reizüberflutung. Da geht’s nicht um die Hunderten Leute und Tausenden Nachrichtenmeldungen, da bin ich ganz bei mir. Zu Christoph, meinem Chef in der Sportredaktion, habe ich einen sehr guten Draht. Als wir über das vergangene Wochenende sprechen, macht er mich darauf aufmerksam: »Du weißt aber schon, dass manche fünf Versuche für den Mont Blanc brauchen?« Aha, aha. I like it!

»Wer in kaltes Wasser springt, taucht ein in ein Meer voller Möglichkeiten.«

Finnisches Sprichwort

1 Unter Akklimatisation (oder Akklimatisierung) versteht man die Anpassung des Körpers an sich verändernde Umweltfaktoren wie etwa eine größere Höhe. Erste Anzeichen für eine schlechte Akklimatisierung sind eine veränderte Atmung, Kopfschmerz, Schlafstörung, vermindertes Harnlassen, Appetitlosigkeit. Im schlimmsten Fall wird man lebensbedrohlich höhenkrank.

2 Séracs sind Türme aus Gletschereis, die sich vorwiegend an den Abbruchkanten zu stärkeren Hangneigungen von Gletschern bilden. Sie stellen eine große Gefahr für Bergsteiger dar, weil sie ganz unvermittelt abbrechen und regelrechte Eislawinen auslösen können. Der Name leitet sich vom gleichnamigen französischen Molkenkäse Sérac ab, der auch so gerne bröckelt.

3 to scream (= schreien), to barf (= kotzen).

4 Ein Couloir (französisch für Korridor) ist eine von Felsen begrenzte und oft mit Schnee oder Eis gefüllte Rinne an einem Berghang oder in einer Steilwand.

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Vom Bierfass in die Bergwelt

ZINALROTHORN, BREITHORN

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Erst Unmengen an Überstunden führten mich in die Berge. 21 Jahre lang waren sie für mich nichts, das ich unbedingt besteigen wollte. Geklettert bin ich als Kind höchstens auf Bierfässer und Barhocker. Meine Eltern führten ein Gasthaus in den Voralpen von Oberösterreich, da stand ich jeden Sonntagmittag hinter der Ausschank – und nicht auf einem Berg. Ich zapfte Bier und servierte Backhendl beim Kirchenwirt in Steinbach an der Steyr. Zeit für Ausflüge war sehr selten vorhanden, einmal im Jahr gab’s mit meinen beiden älteren Geschwistern einen Strandurlaub bei der Tante Greti in Caorle. In sportlicher Hinsicht hätte man mich als ballverliebt und nach Fußball verrückt bezeichnen können. Ich habe sehr gerne Fußball gespielt, aber nur hobbymäßig, denn Mädchen waren in Mannschaften nicht so üblich. Und ein Vereinssport, bei dem jeden Sonntagmittag ein Match ausgetragen wurde, der passte nicht zusammen mit unserem Gasthaus, das jeden Sonntagmittag bis auf den letzten Platz gefüllt war. Mit meinem Papa war ich zumindest bei jedem wichtigen Fußballspiel unserer Lieblingskicker von Sturm Graz, und wichtig war natürlich jedes einzelne Spiel – so viel Zeit musste dann schon sein, trotz voller Gaststube. Im Stadion entwickelte sich auch mein Berufswunsch: Ich wollte Journalistin werden und selber die Berichte über die Spiele verfassen, die ich am Tag nach einem Match immer so wissbegierig in den Zeitungen gelesen habe.

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Keine Berge, dafür Bierfässer und Barhocker als Kind erklettert.

Ab der Pubertät war mir der Fußball zwar nicht mehr ganz so wichtig wie das Fortgehen, am Tag nach meiner Maturareise erfüllte sich jedoch trotzdem mein Berufswunsch bei den Oberösterreichischen Nachrichten. Ich war eine von acht unter achtzig Bewerbern und Bewerberinnen, die mit einem Traineeprogramm den Fuß in die Redaktionstüre setzten. Schon bald wechselte ich von der Lokalredaktion ins Sportressort. Im ersten Jahr verdiente ich nur 600 Euro im Monat. Ein Hungerlohn, den ich für meinen Traumjob aber in Kauf genommen habe. Meine Fixkosten und meine Wohnung in Linz waren damit nicht abgedeckt, darum arbeitete ich noch mehr, sechs Tage in der Woche und oft bis in die Nacht hinein. Vielleicht flüchtete ich mich auch in meine neue Arbeit, nachdem meine fünfjährige Beziehung in die Brüche gegangen war. Ich liebte es, Journalistin zu sein. Der Job war mein Leben! Mein Rucksack an Urlaubsstunden wurde dabei immer schwerer. In meinen ersten beiden Berufsjahren hatten sich acht Wochen Urlaub angehäuft, ich durfte ihn mir weder ausbezahlen lassen noch ins nächste Jahr übertragen. Mein Chef forderte mich auf:

»Geh ENDLICH auf Urlaub!«

Ich war ein bisschen verzweifelt. Was sollte ich tun mit der ungewohnt vielen Freizeit? Frei zu nehmen, war ja nie erstrebenswert für mich gewesen – wofür auch? Wieder ein All-Inclusive-Urlaub in Ägypten, ein Kurztrip nach Barcelona oder eine Shopping-Tour ins Outlet-Center? Ich hatte viel Zeit, aber keinen Plan.