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Über dieses Buch:

Verbirgt sich hinter ihrem schönen Gesicht eine kaltblütige Killerin? Zwölf Jahre ist es her, seit Rachel Beckett verurteilt wurde – für einen Mord, den sie nicht begangen hat. Zwölf Jahre, in denen die Unschuldige ihre Tochter nicht in den Armen halten durfte. Zwölf Jahre, in denen aus der jungen, lebenslustigen Frau eine andere wurde: ohnmächtige Wut gefror zu abgrundtiefem Hass, der unstillbare Wunsch nach Rache zu einem eiskalten Plan. Nun wird sie endlich aus dem Gefängnis entlassen. Rachel weiß, wer der Mann ist, der ihr das angetan hat. Sie wird ihn finden. Sie wird ihn in eine Falle locken. Sie wird ihn richten. Aber ist er so unvorbereitet, wie Rachel glaubt?

»Ein verteufelt trickreicher, spannender Psychothriller.« Cinema

»Julie Parsons gehört zu den wenigen Autoren, die psychologische Abgründe, einen anspruchsvollen Schreibstil und atemlose Spannung so gut miteinander verschmelzen können.« Bestsellerautor Jeffrey Deaver

Über die Autorin:

Julie Parsons wurde 1951 als Tochter irischer Eltern in Neuseeland geboren. Sie war noch ein Kind, als ihr Vater unter ungeklärten Umständen auf hoher See verschwand – ein Trauma, das sie nie loslassen sollte: »Ich werde niemals herausfinden, was mit meinem Vater geschehen ist, und vielleicht erzähle ich auch deswegen Geschichten, in deren Mittelpunkt Geheimnisse stehen – um sie selbst aufklären zu können.« Julie Parsons studierte in Dublin und arbeitete später als Radio- und TV-Produzentin, bevor sie als Schriftstellerin erfolgreich wurde. Ihr Debüt »Mörderspiel«, auch bekannt unter dem Titel »Mary, Mary«, wurde in 17 Sprachen übersetzt und ein internationaler Bestseller. Julie Parsons lebt heute in der irischen Hafenstadt Dun Laoghaire.

Bei dotbooks veröffentlichte Julie Parsons außerdem ihre psychologischen Thriller Mörderspiel, Todeskälte, Giftstachel, Seelengrund und Sündenherz.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2018

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel Eager to Please bei Macmillan, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel Rache kennt kein Gebot im Droemer Verlag.

Copyright © 2001 by Julie Parsons

Copyright © 2001 der deutschsprachigen Erstausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright der Neuausgabe © 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/StockPhotosArt und shutterstock/Jan Chica

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-406-5

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Julie Parsons

Eiskönigin

Thriller

Aus dem Englischen von Doris Styron

dotbooks.

DER ANFANG

Sie erinnerte sich, wie es war, als sie zum ersten Mal das Gefängnis sah. Durch das Drahtgeflecht am Fenster des Polizeitransporters, in dem sie vor so vielen Jahren vom Gericht der Four Courts herübergebracht wurde. Es war Winter. Spätnachmittag, fast schon Abend. Rushhour in Dublin. Es war dunkel. Oder es wäre dunkel gewesen. Aber stattdessen war überall Licht. Glänzende weiße Lampen ergossen ihren grellen Schein auf die geteerte Straßenfläche, als der Wagen am Tor anhielt. Jetzt konnte sie hinausschauen, sah das große Kreuz und die Grabsteine im struppigen Gras.

Was ist das?, fragte sie die Vollzugsbeamtin. Die Frau mit der guten Figur zog die Schultern hoch und sagte:

Kevin Barry. Sein Denkmal.

Wer, versuchte sie sich zu erinnern, wer war das?

Sie wissen doch, Kevin Barry, der Held, der für die Unabhängigkeit gekämpft hat. Er wurde hier gehängt und ein Haufen andere auch. An der Mauer da.

Sie stand auf, um besser sehen zu können, aber die Beamtin zog an der Kette, mit der sie am Handgelenk aneinander gekettet waren.

He, wo willst du denn hin? Setz dich und benimm dich!

Ein Kichern ging durch den Polizeiwagen. Sie sah sie alle an, die anderen Frauen, die die kurze Fahrt vom Gericht zum Gefängnis mit ihr zusammen gemacht hatten. Sie hatte versucht, sich nicht direkt neben sie zu setzen, einen Abstand zwischen den Jogginganzügen und Turnschuhen der anderen und ihrem besten schwarzen Kostüm zu lassen, hatte versucht, den Rauch ihrer Zigaretten, die in ihren Mundwinkeln oder zwischen den tätowierten Fingern hingen, von ihrer Nase und ihren Augen fern zu halten. Aber im Polizeiwagen gab es keinen Abstand, hatte sie keine Möglichkeit, sich mit ihrer Scham von ihnen abzuwenden.

Und dann fuhr der Wagen weiter durch das hohe Eisentor, vorbei an dem gewaltigen Steingebäude, das wie eine Kirche aussah, vorbei an einer Ansammlung von Containern daneben und auf den Metallkasten zu, der den Eingang umgab. Es war erstaunlich, dachte sie, wenn sie jetzt zurückdachte, wie schnell sie sich an das Metall gewöhnt hatte. Es war überall. Stahl, nahm sie an. Eine formbare Legierung aus Eisen und Kohlenstoff, so stand es in ihren Architektur-Lehrbüchern. Es ließ sich zu vielen verschiedenen Härtegraden tempern. Ein Material, das nicht rostete. Das auch schön war, wenn es zusammen mit Glas so verwendet wurde, wie ihre verehrten Vorbilder Le Corbusier und Frank Lloyd Wright es getan hatten, um Paläste aus Licht und Raum zu schaffen. Aber hier an diesem Ort der Beschränkung war es hässlich, hier, wo es verwendet wurde, weil es sich nicht auseinander nehmen und als Verteidigungs- oder Angriffswaffe benutzen ließ. Es war auch erstaunlich, wie sie sich an all die harten Oberflächen gewöhnt hatte. Die gefliesten Böden, die Gitter an den Fenstern, die geraden Stühle, die fast zehn Zentimeter dicken Holztüren, deren einziger Schmuck aus dem Schloss und dem Spion bestand. Nicht einmal die Gummizelle war weich. Die Wände und der Boden waren mit Hartgummi überzogen. Nichts, was sie benutzen konnte, um sich oder andere in jener ersten Nacht zu verletzen. Nachdem sie ihr ihre Kleider weggenommen und ihr die übliche Gefängnisbekleidung ausgehändigt hatten. Ein sauberer Büstenhalter samt Unterhose, als ob sie die brauchte. Einen Trainingsanzug, als ob sie je so etwas tragen würde. Ein Nachthemd und einen Morgenmantel, als hätte sie nicht selbst welche zu Haus, die auf dem Bett lagen, auf ihrem eigenen Bett, in dem sie an diesem Abend einzuschlafen gehofft hatte.

In dem sie an diesem Abend einzuschlafen gehofft hatte. Zu dem nach Hause zu kommen sie sicher gewesen war. Genauso sicher, wie sie geglaubt hatte, die Geschworenen würden ihr am Ende des Verfahrens Glauben schenken. Sie würden ihr glauben, dass sie nicht getan hatte, was die Anklage behauptete. Dass sie nicht die 12-mm-Schrotflinte genommen und auf ihn geschossen hatte, zuerst in den rechten Oberschenkel, wodurch die Oberschenkelschlagader durchtrennt wurde und das Blut auf den Boden strömte. Dass sie dann, als er schrie und schwach wurde und nach hinten fiel, nicht noch einmal auf ihn schoss, diesmal in die Leiste, wobei der Schuss seine Geschlechtsteile zerfetzte, so dass noch viel mehr Blut herausspritzte und ihre Kleider mit kleinen tränenförmigen Tropfen übersäte. Manche der Geschworenen, genau zwei, glaubten ihr und nicht der Anklage. Eine ältere Frau mit blassem Gesicht weinte, als der Obmann der Geschworenen aufstand und seinen Schuldspruch vorbrachte.

Haben Sie die Angeklagte Rachel Kathleen Beckett des Mordes an Martin Anthony Beckett für schuldig oder unschuldig befunden?

Schuldig, Euer Ehren, mit einer Mehrheit von zehn zu zwei.

Und das Urteil?

Der Richter mit dem gesunden roten Gesicht und den schlaff herunterhängenden Wangen beugte sich in der Bank vor.

Ich habe in diesem Fall keine Wahl. Wenn der Spruch bei Mordanklage schuldig lautet, ist eine lebenslange Freiheitsstrafe vorgeschrieben. Und so verhänge ich diese Strafe über Sie, Rachel Kathleen Beckett.

Leben oder Tod? Was war es, das an jenem kalten Novembernachmittag vor zwölf Jahren begann? Sie wusste es immer noch nicht.

***

Formular P 30. So hieß es, das steife Stück Pappe, das außen in den Schlitz an der Zellentür gesteckt wurde. Alle hatten eines. Darauf standen die Nummer, der Name und die Religionszugehörigkeit. Außerdem das Verbrechen und das Strafmaß. Und Einzelheiten über die Entlassung. Wann die Strafzeit abgelaufen und wann das frühestmögliche Datum der Freilassung war, stand daneben in dem Kästchen für Tag, Monat und Jahr. Bei den anderen Frauen, die nicht lebenslänglich hatten, waren Ziffern in diesem Kästchen eingetragen. Aber bei ihr nicht. Ihres war leer. Sie stand da und sah sich das Stück Pappe an. Hob die Hand und berührte es. Dann zog sie es aus dem Schlitz und zerriss es in kleine Stücke, die sie in die Tasche ihrer Jeans steckte. Dabei hörte sie hinter sich Lachen, höhnische Bemerkungen, Beleidigungen. Und dann die Beamtin, die sie vom Polizeiauto her kannte.

Was machst du da, wer glaubst du eigentlich, wer du bist? Dabei packte sie sie am Arm, zog sie in ihr Büro und holte die Pappfetzen aus ihrer Tasche. Und sagte:

Hier, Miss Großkotz. Denkst wohl, du bist was Besseres als die andern, was? Meinst, du kannst machen, was du willst, mit staatlichem Eigentum. Na, das kannste dir ja beim Zusammensetzen noch mal überlegen.

Und sie drückte ihr eine Rolle Tesafilm in die Hand. Sie musste in dem muffigen kleinen Büro bleiben, bis das ganze Puzzle wieder komplett war. Dann schob sie sie auf den Absatz hinaus, wo die Frauen sich zu beiden Seiten aufstellten, klatschten und hurra riefen, während sie die Treppe zu ihrer Zelle hinaufging. Dort steckte sie das Stück Pappe wieder an den alten Platz. Und schaute hinunter und nicht zu Macken hin, das war der Name der Beamtin, die so laut, dass alle es hören konnten, sagte:

Es wäre besser, wenn du anfängst, deinen Kopf anzustrengen und deine Bildung zu nutzen, Beckett, um zu überlegen, wie du uns hier am besten zufrieden stellen kannst. Du solltest dich verdammt noch mal anstrengen, mir zu gefallen, Beckett, sonst wird deine Zeit als Lebenslängliche hier drin 'n ganzes Ende länger dauern als bei allen anderen. Haste das kapiert? Hab ich mich klar ausgedrückt?

Dabei schubste sie sie in die Zelle und ging hinter ihr hinein. Und sagte:

Ist komisch, die Sache mit der Zeit, nicht? Für dich steht sie jetzt still. Die Zeiger der Uhr bewegen sich einfach nicht. Und das tun sie so lange nicht, bis du die richtige Einstellung hast. Hörst du, was ich sage? Haben wir uns richtig verstanden?

***

Macken, das Miststück, hatte Recht damit, wie sie fast immer Recht hatte. Es war eine unendlich lange Zeit, ihre erste Nacht und der erste Tag. Die erste Woche, der erste Monat, das erste Jahr. So lange, bis Weihnachten, Ostern und Neujahr kamen. So lange, dass sie ihren Geburtstag kaum bemerkte. Amys Geburtstag. Und den Jahrestag von Martins Tod. Damals wollte sie nur in ihrer Zelle bleiben und weinen, das Gesicht zur Wand gekehrt. Weil er ihr fehlte, weil sie ihn geliebt hatte. Weil sie ihn verloren hatte, und alles andere auch.

Sie erinnerte sich nicht mehr an viel von diesem Jahr, oder dem nächsten und übernächsten. Die Zeit und wie sie verging, bedeutete ihr nichts mehr. Sie hatte überhaupt keine Bedeutung. Das Einzige, was ins Gewicht fiel, waren die Stimmung, die Atmosphäre und die Gefühle um sie herum. Manchmal waren sie gut. Meistens waren sie schlecht. Sie fragte sich, wie es dazu kam, dass diese Wellen von Gereiztheit treppauf und treppab schwappten und die Frauen mit sich zogen. Sie beobachtete, wie sie sich vor dieser oder jener Zelle versammelten, wie sich beim Hofgang in der entferntesten Ecke des Hofs, in der Waschküche im Keller oder in den Duschen kleine Gruppen zusammendrängten. Oft drehten sie sich um, wenn sie näher kam. Manchmal lachten sie und rissen Witze, ihre Gesichter zeugten dann von einer Häme, deren Intensität ihr Angst machte. Bei anderen Gelegenheiten wandten sie sich gegen sie, und ihre Fäuste und Füße waren nur allzu willig. Und ihre Nadeln. Obwohl sie ihre kostbaren spitzen Gegenstände viel zu gut hüteten, um sie an eine Außenseiterin wie sie zu verschwenden. Eine Außenseiterin? Wohl kaum. Wo sie doch jede Nacht hinter einer verschlossenen Tür schlief, jeden Morgen vom Umdrehen des Schlüssels im Schloss erwachte. Wo sich doch ihre Strafe vor ihr auszudehnen schien wie ein langes Stück Seetang mitten auf dem Ozean, wenn sie im Dunkeln in ihrem Bett lag und sich das Meer vorstellte. Wenn sie das Heben und Schaukeln des Seegangs im Atlantik spürte. Dann hörte sie das Wasser unter dem Kiel rauschen, spürte den Atem des Windes auf ihrem Gesicht und den plötzlichen Stoß in den Magen, wenn das Boot sich auf die Seite legte und sie zu fallen, mit dem Kopf zuerst in das weiße, dann grüne Wasser und schließlich hinunter in die schwarze Tiefe zu stürzen glaubte, aus der es keine Rückkehr gab. Kein Ausweg. Jetzt nicht mehr. Für sie nicht.

***

Die Welt da draußen. Wie mochte sie wohl beschaffen sein, nach all den Jahren hier drinnen? Sie erinnerte sich daran, wie sie am Anfang versucht hatte, sich so nah wie möglich neben die Gefängnisbeamten zu stellen. Damit sie die Frische riechen konnte, die sie jeden Tag mitbrachten. Sie fragte sie, wie es draußen sei. Hinter den Steinmauern, die alles umschlossen und selbst die leuchtendste Farbe verschluckten. Regnete es, schien die Sonne, aus welcher Richtung kam der Wind? Im Frühsommer wollte sie wissen, ob morgens viel Tau auf dem Gras lag, und im Winter, ob sie das Eis von den Windschutzscheiben kratzen mussten. Anfangs zuckten sie nur die Schultern über ihre Fragen und wunderten sich argwöhnisch, warum sie das wissen wollte. Aber die meisten wurden nach und nach freundlicher, verstanden, dass sie es nur als Rohmaterial für ihre Phantasie brauchte.

Die meisten wurden freundlicher, und manche mochten sie nach einer Weile sogar. Sie war anders, sie war nicht so wie die anderen Frauen. Die anderen waren alle paar Monate drin und wieder draußen, das Gefängnis war eine Erholungspause von den Anforderungen, denen sie auf der Straße ausgesetzt waren. Eine Chance, sich auszuruhen, zu schlafen und sich satt zu essen. Vielleicht ging man sogar ein paar Monate in den Unterricht. Um etwas von der Kindheit nachzuholen, die so viele von ihnen verpasst hatten.

Manche Vollzugsbeamtinnen sprachen über sie und überlegten, warum sie die Tat wohl begangen hatte. Aber von dieser Art von Anteilnahme wurde abgeraten. Die große Frau mit der guten Figur, die sie zum Gefängnis gebracht hatte, Macken – sie nannte sie die Macken vom Polizeitransporter –, fasste es für die anderen in Worte.

Ihr macht euch was vor, wenn ihr meint, manche von denen wären wie wir. Sie sind nicht wie wir. Sie sind anders. Sie denken anders und sie handeln anders. Keine von uns wird je hier landen. Fangt bloß nicht an mit der Masche: »Wir könnten auch hier sitzen, wäre Gott uns nicht gnädig gewesen.« Und was Rachel Beckett angeht, die könnt ihr vergessen. Sie hat ihren Mann umgebracht. Sie hat ihren Mann ermordet. Sie stand über ihm, als er betrunken war. Sie hat das Gewehr geladen. Sie hat es entsichert. Sie hat auf ihn gezielt, und sie hat abgedrückt. Zweimal. Lasst die Hände von ihr, das sag ich euch. Und außerdem, sagte Macken, gibt sie es etwa zu, übernimmt sie die Verantwortung für das, was sie getan hat? Sie wird das genau so wenig tun, wie sie sich mit einer Nagelfeile einen Weg durch die Gitter nach draußen sägen wird.«

Und sie wandten sich von ihren Teetassen ab und sahen ihr zu, wie sie mit den anderen gegen die Wand des Treppenabsatzes gelehnt stand, mit einer Zigarette zwischen den Fingern und einem Gesichtsausdruck, der genau so leer und verschlossen war wie bei den anderen.

***

Hofgang an einem öden, windigen Nachmittag. Die Frauen, zwanzig oder dreißig, standen untätig und gelangweilt herum und rauchten. Klatschten, nörgelten, beklagten sich. Rachel saß für sich allein in einer Ecke und las. Dann begann eine Stimme zu singen. Ein Lieblingslied. Ein Trotzlied. Und bald fiel eine andere ein. Und noch eine und wieder eine, bis alle Frauen untergehakt und singend einen Kreis bildeten. Sie ließen ihre Stimmen zu den Fenstern des Männergefängnisses über ihnen aufsteigen.

Oh no, not I
I will survive
As long as I know how to love
I know I'll stay alive

Sie warteten auf die Stimmen der Männer. Und im Chor dröhnte ihnen die Antwort entgegen.

I've got all my life to live
I've got all my love to give

Schatten an den Fensterscheiben. Ihre Worte gedämpft hinter dem Maschengeflecht aus Eisen.

And I'll survive
I will survive.

Der Ausdruck auf den Gesichtern der Frauen. Freude, Beglückung, Begeisterung. Diese Gesichter, die sie nun schon einzuordnen und zu unterscheiden begann. Denen sie Namen und Lebensgeschichten zuordnete. Patty, Tina, Lisa, Molly, Denise, Bridget, Theresa. Die nun herübersahen, wo sie an die Wand gelehnt stand. Und laut lachte, im Takt in die Hände klatschte und mit den Füßen auf den Asphalt stampfte. Und nun mit ihnen sang.

Da streckten sie die Hände nach ihr aus und nahmen sie in ihren Kreis auf. Die Schwingungen ließen ihre Kehle und ihr Zwerchfell vibrieren, als sie so laut schrie wie die anderen. Und sie stampften und brüllten wie mit einer Stimme und schwangen die Arme vor und zurück. Bis die Schließerinnen durch die Tore mit dem Stahldraht kamen. Fünf, vielleicht sechs in einer Gruppe. Und sie anschrien.

Schluss damit!

Jetzt mal Ruhe hier!

Los, los!

Los, rein!

Zeit zum Abendessen!

Und Rachel sah, wie die Frauen ihren Kreis öffneten und dann um die Schließerinnen herum wieder enger werden ließen und immer lauter sangen, während die Gesichter der Männer sich gegen die Gitter vor den Fenstern drückten, die auf sie herabblickten, und wie die Männer auch einstimmten, die Worte mitsummten, leise, klangvoll, grimmig und wunderschön.

Und der Kreis wurde immer enger, drängte sich näher heran, nahm die Schließerinnen in die Mitte, so dass sie anfingen, sich zu drehen und zu winden, hierhin und dahin, und plötzlich klein und schutzlos waren, einfach hilflose Frauen, genau wie ihre Gefangenen. Ihre Uniformen hatten keine Bedeutung mehr, die Angst war ihnen leicht anzusehen. Während das Singen noch lauter und das Summen der Männer von oben weniger melodisch und zum abgehackten Stakkato wurde.

Da spürte sie ihn zum ersten Mal, an diesem langweiligen, windigen Nachmittag beim Hofgang. Den Kraftstrom, wenn die Gruppe sich zusammenschließt, zu einer Masse wird und weiß, welche Macht sie besitzt. Sie betrachtete die Körper der Frauen. Sie schienen zu wachsen, ihre Form vor ihren Augen zu verändern. Und die Aufseherinnen sahen es auch. Sie wussten, was los war. Sie wichen mit blassen Gesichtern und abwehrender Haltung aus. Sie sah, wie sie versuchten, die Aufmerksamkeit einzelner Frauen zu erhaschen, sie aus der Gruppe herauszulösen. Sie bei ihren Namen zu rufen.

He, Jackie, Tina, Molly. He, Theresa. He, ich rede mit dir. He, beruhigt euch. Hört auf. Sonst ...

Sonst? Sonst was?, fragte sie sich, während sie zusah. Diese Frauen hatten den Punkt überschritten, wo »sonst« noch etwas bedeutete. Und alle hier draußen wussten das. Sie wartete, angespannt und erwartungsvoll. Sie hatte keine Ahnung, was als Nächstes kommen würde. Sie fragte sich, was soll ich tun? Auf welcher Seite stehe ich? Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, die Beinmuskeln spannten sich.

Und dann war es plötzlich zu Ende, ebenso schnell, wie es angefangen hatte. Die Frauen trafen diese Entscheidung. Sie hatten ihren Spaß gehabt. Sie wussten, mehr ließ sich nicht herausschlagen. So ließen sie einander los und zerstreuten sich. Sie hörten auf zu singen. Und gingen ruhig wieder hinein. Als sie ihnen ins Haus folgte, lächelte sie. An jenem öden, windigen Nachmittag. Und sie hörte die Rufe und Pfiffe der Männer, die zusahen. Sie hätten nicht so einfach aufgehört. Sie hätten es auf die Spitze getrieben. Aber sie hätten dafür auch Schläge kassiert. So, dachte sie, hatten die Frauen alles gehabt. Sie hatten ein bisschen die Muskeln spielen lassen, hatten ihre Macht gezeigt und würden es wieder tun. Jede für sich allein oder alle zusammen, so oder so. Diese Macht war immer gegenwärtig. Eine Wahl, die getroffen werden konnte, eine Möglichkeit, die niemals vergessen werden sollte. Niemals.

***

Sie hatte darum gebeten, mit dem Psychologen sprechen zu dürfen. Damals hatte sie noch den Glauben. Damals, am Anfang. Den Glauben an ihresgleichen. Vernünftige Leute, die gebildet und verständnisvoll waren.

Warum? Die Frage war höflich, aber ohne Interesse.

Ich brauche Hilfe.

Wirklich?

Sie hatte gewartet. Man war knapp an Personal. Es gab eine Warteliste. Ihr Name wurde unten eingetragen. Der Tag kam. Sie hatte vorbereitet, was sie sagen wollte. Sie hatte es geübt, sich die Worte eingeprägt.

Hören Sie, ich gehöre nicht hierher. Ich bin nicht gewalttätig oder gefährlich. Es ist alles ein Irrtum. Ich habe meinen Mann nicht umgebracht. Ich war es nicht. Ja, wir hatten einen Streit, ja, ich war wütend. Aber ich habe ihn nicht umgebracht. Bitte, verstehen Sie denn nicht? Ich bin keine Psychopathin, keine Asoziale oder so etwas. Verstehen Sie denn nicht, dass ich hier nicht hingehöre?

Der Bericht des Psychologen unterstrich ihre Verweigerungshaltung, ihre Unfähigkeit, die Verantwortung für ihre Tat zu übernehmen, die fehlende Reue.

Sie wartete ab, was geschehen würde. Die Zeit verging. Sie bat darum, den Direktor sprechen zu dürfen.

Sicher, sagte sie, sicher hat Ihnen der Psychologe gesagt, dass ich unschuldig bin. Dass ich es nicht getan habe. Dass ich nicht hier sein sollte.

Rachel, die Stimme des Direktors war gütig und besorgt. Rachel, ich glaube, Sie haben nicht ganz verstanden, worum es hier geht.

Sie haben vor Gericht gestanden. Sie sind von den Geschworenen für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das ist die einzige Wirklichkeit. Alles andere sind Träume.

Es dauerte lange, bis sie freiwillig wieder einen Experten sehen wollte. Aber es gab angeordnete Besuche. Und manchmal brachten sie sie zum Lachen, die Studenten, die so ernst und betroffen waren und die geschickt wurden, um Erfahrungen zu sammeln oder ein Praktikum zu machen. Die wohltätigen Seelen, die dachten, sie könnten ihr etwas von der Bürde ihrer Schuld nehmen. Die Priester und Nonnen, die kamen, um ihr Beistand anzubieten. Sie lächelte sie alle an und stellte sich die Gespräche vor, die sie zu Hause führen würden.

Du wirst nie erraten, wen ich heute getroffen habe.

Erinnerst du dich an sie?

Ja, stimmt, die, die ihren Mann erschossen hat.

Lebenslänglich hat sie bekommen.

Ob sie nett ist? Oh, sie ist sympathisch, sehr höflich, kann sich gut ausdrücken. Man würde es nie vermuten. Niemals.

Letztes Mal ging sie eigentlich nur aus Langeweile hin. Und weil die anderen ihr dazu rieten.

Zu dem solltest du schon gehen, Rachel, sagten sie alle. Er ist anders. Er ist nett.

Er war älter als die anderen. Machte zurzeit nur eine Vertretung, sagte er. Sprang für eine Weile ein. Brauchte 'n bisschen Kohle. Er schaute in ihre Akte. Sie beobachtete ihn. Er schien müde, krank. Seine Kleider waren abgetragen. Er war Raucher. Nikotinflecken an seinen Fingern, gelb verfärbte Zähne. Langsam blätterte er die Seiten um, dann sah er hoch. Und hielt ihrem Blick stand.

Es ist Zeit für Sie, sagte er, Ihre Tat zuzugeben. Sie sind schon zu lang hier, als es gut für Sie sein könnte. Nach sieben Jahren wurde Ihr Urteil vom Bewährungsausschuss überprüft. Im Jahr darauf wurde es überprüft und dann im Jahr danach wieder. Man hat gegen Bewährung entschieden. Und wissen Sie, warum?

Sie nickte.

Natürlich wissen Sie das. Sie sind ja nicht dumm. Sie sind eigentlich zu klug, um noch hier zu sein. Wenn Sie das nächste Mal in den Spiegel sehen, dann denken Sie doch mal darüber nach, was Sie da sehen. Denken Sie an die Falten in Ihrem Gesicht, die grauen Haare. Die Runzeln an Ihren Händen. Denken Sie jetzt an Ihre Zukunft. Und verabreden Sie einen Termin mit dem Direktor. Sagen Sie ihm, dass Sie bereit sind, die Verantwortung für die Ermordung Ihres Mannes zu übernehmen. Dass Sie bereit sind, Ihre Schuld zuzugeben. Dass Sie jetzt wirklich Reue fühlen. Und in dem Moment, in dem sie aus Ihrem Mund kommen, werden diese Worte Sie verändern. Sie werden Sie des Mitgefühls und der Freilassung würdig machen. Und vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber eines Tages in der Zeit, die noch vor Ihnen liegt, wird man Sie freilassen. Gehen Sie jetzt, und denken Sie über das nach, was ich Ihnen gesagt habe.

***

Der Direktor hatte sie kommen lassen. Er sagte ihr, er habe eine gute Nachricht. Der Bewährungsausschuss habe eine Empfehlung abgegeben. Sie solle auf die bedingte Strafaussetzung vorbereitet werden. Vielleicht könne sie es auch als eine Entlassung mit behördlicher Genehmigung betrachten.

»Sie verstehen das, Rachel, nicht wahr? Ihre Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wird immer bestehen bleiben. Aber wenn Sie sich gut benehmen und die Regeln beachten, werden Sie wieder wie andere Menschen leben können. Na ja, fast wie andere Menschen.«

Sie sollte lernen, einzukaufen, zu kochen, mit Geld umzugehen, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, Rechnungen zu bezahlen, wieder für sich zu sorgen. Er sagte ihr, dass man jetzt, zwölf Jahre nachdem man ihr Leben den staatlichen Institutionen überantwortet hatte, den Beschluss gefasst habe, es ihr zurückzugeben.

Wollte sie es haben? Nachts lag sie auf dem Bett, sicher in ihre Zelle eingeschlossen, und ließ ihre Augen über die vertrauten Kratzer und Flecken an der Decke wandern. Seit neun Jahren, elf Monaten und zwei Tagen war sie in dieser Zelle. Sie lag im obersten Stockwerk in der Ecke zur Straße hin. Nicht, dass sie am Tag etwas außerhalb der Mauern hätte sehen können. Aber nachts war es anders. Nachts sah sie die Lichter des Flughafens und wie die Flugzeuge landeten und abflogen. Am Tag erschienen sie nur wie undeutliche Flecken, hin und wieder sah es wie ein Blitz aus, wenn das Sonnenlicht von einem stählernen Flügel oder dem Rumpf der Maschine reflektiert wurde. Aber nachts, wenn sie in die Luft stiegen, höher und immer höher hinauf, konnte sie ihren Lichtern mit den Augen folgen. Und konnte mitfliegen. Nach London oder New York. Nach Paris oder Rom. In all die Städte, die sie früher, lange Jahre zuvor, besucht hatte. Und sie rief sich die Straßennamen ins Gedächtnis zurück, die Gebäude, die sie studiert, analysiert, mit Staunen betrachtet und bewundert hatte, und spürte wieder den Geruch und wie die warme Sonne auf ihre Arme schien und das Licht ihre Augen blendete. Jetzt stand sie auf und ging ans Fenster, drückte es durch das Gitter auf, so weit es ging. Es war kalt, aber das störte sie nicht. Sie hob die Augen zum blauschwarzen Himmel. Es war abnehmender Mond. Sie konnte ganz klar den Kopernikus-Krater und den Krater, der nach Kepler benannt war, unterscheiden. Martin hatte den Mond geliebt. Er hatte ihr durchs Fernglas die Meere und die Krater gezeigt und ihr deren Namen gesagt.

Eins der Dinge, die für mich so faszinierend am Mond sind, hatte er gesagt, ist, dass er immer da ist, sogar am Tag. Man sieht ihn nicht wegen des Sonnenlichts, aber er ist immer da draußen und wartet, bis die Nacht kommt und er sein Gesicht wieder zeigen kann. So sollte ein guter Polizist bei der Observation sein, hatte er gesagt. So sorgfältig verborgen und getarnt, dass alle, die man beobachtet, einen, solange man es will, nicht sehen können.

Das hatte er zu ihr gesagt in den Tagen, als er noch mit ihr sprach, ihr von seiner Arbeit erzählte. Als er ihr alles erzählte.

Die Bewährungshelferin Jackie, die sie schon am längsten kannte, sagte heute zu ihr: Du musst doch Freunde haben, Familie, jemand, mit dem du wieder Kontakt aufnehmen kannst. Du wirst sie jetzt brauchen, wenn du draußen bist. Es ist sehr schwer, allein auszukommen. Ich weiß, du bist hier drin einsam gewesen, aber die Einsamkeit da draußen ist etwas ganz anderes.

War sie hier einsam gewesen? Sie versuchte sich zu erinnern, versuchte zu vergleichen, wie sie sich jetzt fühlte und was vorher gewesen war. Überall um sich herum hörte sie Stimmen. Stimmen von Frauen. Sie kannte sie alle, ihre Namen, ihr Alter, ihre Straftaten. Sie hatte mit ihnen im staubigen Hof gesessen und zugehört, wie sie ihre Lebensgeschichten erzählten. Sie erzählte ihnen auch ihre Geschichten, die Geschichten, die ihre Mutter ihr vorgelesen hatte, als sie klein war, und die sie dann ihrer eigenen Tochter weitererzählt hatte. Der Froschkönig, Die zertanzten Schuhe, Die Schöne und das Biest, König Drosselbart, Die Prinzessin auf der Erbse. Sie sah, wie die Härte aus ihren Gesichtern wich und sie die Augen schlossen, wenn sie sich an Rachels Beine zurücklehnten und träumten. Jetzt hörte sie, wie sie durch ihre Fenster den Männern hinter den grauen Gefängnismauern auf der anderen Seite des Hofs etwas zuriefen. Brüder, Freunde, Ehemänner. Männer, die sie durch die Briefe kennen gelernt hatte, wenn sie den Frauen beim Schreiben half. Wenn sie nach Worten suchten und den Kugelschreiber oder Bleistift in den ungelenken Fingern hielten.

Lieber Johnny, ich liebe dich, ich kann's nicht abwarten, bis ich aus dem Laden hier raus und wieder bei dir bin.

Lieber Mikey, wie geht's? Ist es jetzt besser? Gehst du zur Klinik und nimmst du die Tabletten ein, wie ich's dir gesagt habe?

Lieber Pat, ich schick dir all meine Küsse und drücke dich. Du fehlst mir. Ich dir auch?

Hört ihr, riefen die Frauen jetzt, hört ihr uns?

Manchmal hätte sie auch am liebsten in ihre Rufe eingestimmt Obwohl sie niemanden hinter den vergitterten Fenstern gegenüber kannte. Aber manchmal wollte sie einfach gern den Klang ihrer eigenen Stimme hören. Wenn sie rief und auf eine Antwort wartete.

Wen würde sie jetzt rufen?

Hörst du mich, Welt da draußen? Ich komme wieder. Hörst du mich?

***

Sie hatte gefragt, ob sie einen Stadtplan haben könnte, den größten, den sie finden konnten. Der stellvertretende Leiter, ein Mann mittleren Alters, holte einen aus dem Handschuhfach seines Autos und hielt ihn ihr hin.

»Hier, Rachel, den kannst du haben«, sagte er lächelnd. Er hatte ein schönes Lächeln. Ehrlich und gütig. Bei den Frauen war er sehr beliebt. Sie frotzelten und schimpften mit ihm. Und er nahm es mit einem Achselzucken und einem Lachen hin, ließ es an seinem schlaksigen Körper und dem schon grau werdenden Haar abprallen.

Als sie den glänzenden steifen Pappeinband an die Nase hielt, roch er nach Wachs oder Politur, nach Staub mit einem leichten Anflug von Benzin. Er war klebrig und blieb an den Fingern hängen. Sie roch noch einmal daran. Vielleicht Lutscher oder Weingummi. Mr. Brady sprach immer von seinen Kindern. Sie waren jetzt schon fast erwachsen. Zwei studierten, und der Älteste hatte eine Stelle im Silicon Valley in Kalifornien. Das hatte Mr. Brady gesagt. Rachel konnte sich keinen Ort mit einem solchen Namen vorstellen. Auch Kalifornien konnte sie sich kaum vorstellen. Nicht einmal das Dublin dieser Tage.

Deshalb wollte sie den Stadtplan haben. Jetzt faltete sie ihn ganz auseinander und befestigte ihn mit Posterstrips an der Wand, presste den Daumen fest drauf und spürte, wie sich die Oberfläche des steifen Papiers glatt über den rauen Gips darunter legte. Dann setzte sie sich wieder aufs Bett und sah ihn an. Ihr ganzes Leben lag zwischen diesen Grenzen. Alles Bedeutsame, das ihr je geschehen war, hatte sich auf dieser Fläche abgespielt. Sie stand auf und betrachtete konzentriert die Anordnung der Straßen. Sie fand das Krankenhaus, in dem sie zur Welt gekommen war, das Haus, in dem sie als Kind gewohnt hatte. Sie suchte ihre Schule, die Universität, an der sie Architektur studiert hatte. Die Krümmungen der Hafenbucht von Dun Laoghaire, wo sie segeln gelernt hatte. Sie sah die Orte, an denen sie mit Martin gewesen war, die Kirche, in der sie getraut wurden, die Biegung der Sackgasse, in der sie früher gewohnt hatten, wo er gestorben war und wo sie um ihn getrauert hatte.

Seit Jahren hatte sie sich geweigert, an das zu denken, was jenseits der Gefängnismauern lag. Sie hatte sich vorgestellt, sie lebe in einer Wüste oder einem großen Wald. Abgelegen, menschenleer, und sie lebe dort außerhalb der Grenzen von Zeit und Raum. Es gab nichts Wirkliches da draußen. Besonders, seit sie aufgehört hatte, Amy dort zu treffen. Wenn sie jetzt nur an ihren Namen dachte, fühlte sie sich gleich sehr schlecht. Sie drängte die Erinnerung zurück, tief hinunter ins Verborgene, wo sie ihr nicht schaden konnte. Und sie schaute wieder auf den Plan und nahm einen roten Filzstift aus einem Glas auf ihrem kleinen Tisch. Sie fing an, kleine runde Punkte auf der Karte einzutragen. Rot stand für alles, was mit ihrer Strafe zu tun hatte. Sie fand das Gefängnis und zog zuerst Striche darum herum, malte dann alles farbig aus, so dass es gut erkennbar war. Sie suchte das Polizeigebäude, wo sie verhört worden war, das Gericht der Four Courts, wo sie verurteilt wurde. Sie fand das Justizministerium und die Staatsanwaltschaft. Irgendwo in diesen Gebäuden waren alle Akten, die sich auf sie und ihren Fall bezogen. Sie konnte sich den Aktenschrank und die gelbbraunen Mappen vorstellen. Sie hatten ihren Antrag auf Berufung abgelehnt. Sie hatten sie zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Sie fragte sich, wer sie waren, diese Männer und Frauen, die all diese Entscheidungen getroffen hatten. Dachten sie jetzt noch an sie, erinnerten sie sich, wer sie war? Wahrscheinlich nicht.

Sie nahm ein Lineal und verband die Punkte durch sauber gezogene Linien. Rückwärts und vorwärts ergab sich ein leuchtend rotes Zickzackmuster, das sich über die Stadt legte. Dann nahm sie einen anderen Stift. Diesmal war er blau. Amys Farbe. Das dunkle Blau ihrer Augen, das Blau des Kleids, das sie getragen hatte, als sie sie zum letzten Mal sah. Nicht das ausgewaschene Blau der Hemden der Vollzugsbeamten. Oder das gedämpfte Blau des Himmels über den Gefängnisdächern, das durch die verschmutzte Luft über der Stadt gefiltert wurde. Sie markierte das Krankenhaus, in dem sie Amy zur Welt gebracht hatte. Das Haus, in dem sie zusammen gewohnt hatten. Das Haus, in dem Amy jetzt mit ihrer Pflegefamilie wohnte. Sie fand auch ihre Schulen. Die kleine National School, wohin Rachel sie das ganze erste Jahr über jeden Morgen gebracht hatte. In der sie sie zum Abschied an der Klassenzimmertür küsste und vor der sie später wartete, um sie zum Mittagessen nach Haus zu bringen. Und sie fand die anderen Schulen, die Amy besucht hatte. Sie hatte die Namen auswendig gelernt, die die Bewährungshelferin ihr gegeben hatte.

Sie haben ein Recht, über die Entwicklung Ihrer Tochter informiert zu werden, Sie wissen das, nicht wahr? Wir können es einrichten, dass Sie sie draußen treffen, nicht hier drin. Sie wissen das doch, Rachel, oder?

Aber sie hatte abgelehnt. Sie konnte es nicht ertragen. Sie hatte gesehen, wie Amy sich an die Frau geklammert hatte, die sie jetzt jeden Morgen weckte und abends zu Bett brachte. Wie konnte sie mit diesem täglichen Kontakt mithalten?

Ich bin deine Mutter, hatte sie die ersten paar Male bei ihrem Besuch im Gefängnis in Amys zerknautschtes Ohr geflüstert. Sie hatte sie auf dem Schoß gehalten, ihren süßen, kindlichen Duft eingeatmet und die Wange an Amys braunes Haar gelegt. Sie küsste die kleinen weichen Falten im Nacken und hätte ihrer Tochter am liebsten alle Kleider ausgezogen und ihren Körper betrachtet, damit sie sich später daran erinnern könnte. So war es einmal gewesen, so war es gewesen, eine Mutter zu sein. Sie berühren zu können, sie zu halten, ihren runden Bauch zu küssen, über den Bogen ihrer geschwungenen Wirbelsäule zu streichen. Dieses Kind sich ganz einzuprägen, dieses Kind, das einmal so sehr ein Teil von Rachel gewesen war wie ihre eigene Hand, ihr Bein, ihre Brust, ihr Gesicht. Aber sie wusste, das war in der Vergangenheit gewesen. Das war nicht die Zukunft, und die Verzweiflung verschlug ihr den Atem.

Ich bin deine Mutter, hatte sie gesagt, und Amy hatte genickt und fest an ihrem Daumen gelutscht.

Meine Mutter, hatte sie wiederholt und gesagt: Komm nach Hause, Mami, komm jetzt nach Hause mit mir. Ihr Blick ging zur Tür nach draußen, sie wurde unruhig, drehte mit einer Hand nervös an einer Strähne ihres dunklen Haars. Der kleine Körper wurde steif vor Angst, und sie wand sich hin und her.

Ich will nach Hause. Jetzt, sagte sie klagend. Mir gefällt's hier nicht.

Sie stampfte auf den Boden, und die Schnallen an ihren Sandalen klingelten leise. Neue Schuhe, bemerkte Rachel. Wie der Rest von Amys Kleidern. Sie war aus den Kleidern, Latzhosen, Pullovern und Blusen herausgewachsen, die Rachel für sie gekauft hatte. Jetzt trug sie nichts mehr, das sie für sie ausgewählt hatte. Sie hatte die Haut abgelegt, die Rachel ihr gegeben hatte. Und als die Zeit um war und die Pflegemutter hereinkam, um sie abzuholen, hatte sie die Ärmchen gehoben und sich an ihre dicken Schenkel geklammert. Rachels Blick traf über den Kopf ihrer Tochter hinweg auf die Augen der Frau. Sie waren gütig, besorgt, liebevoll. Und gewinnend.

Jetzt zog sie sorgfältig gerade Linien zwischen allen Orten. Irgendwo da draußen würde sie ihren eigenen Platz finden müssen. Aber es konnte keine Ruhe für sie geben, bevor sie das Versprechen erfüllt hatte, das sie an dem Tag, als der Richter das Urteil sprach, sich selbst gegeben hatte.

So wird es nicht enden. Das ist erst der Anfang. Und ganz egal, was passiert, ich werde es durchziehen. Ich werde niemals aufgeben.

***

Sie beobachtete die Frau mit dem grauen Haar und dem dünnen Gesicht, die in der Mittagszeit zwischen den Kunden des Kaufhauses hindurch auf sie zukam Sie bewegte sich langsam und vorsichtig, als sei sie gerade aufgewacht und noch nicht ganz sicher, ob ihr Körper ihr selbst gehöre. Sie trug eine weiße Bluse und verwaschene Jeans mit einer grauen Strickjacke, die aufgeknöpft um ihre Schultern hing. Unbeholfen baumelten ihre Arme seitwärts herab, und als Rachel sie ansah, schoben sich ihre Hände an den Unterarmen hinauf, bis sie die Oberarme über dem Ellbogen umfassten. Dann hielt sie inne und schloss ihre dunkelbraunen Augen. Ihr Kopf sank auf die Brust. Ihre Schultern zuckten, und sie schluchzte. Sie machte noch drei Schritte nach vorn und lehnte dann ihr verbrauchtes Gesicht in dem hohen Spiegel, der vor ihr stand, an das Gesicht von Rachel. Sie spürte das kalte Glas an ihrer Wange, öffnete die Augen und sah die Frau an, zu der sie geworden war. Und versuchte, sich in dem Spiegelbild wieder zu finden. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Sie wandte sich an die jüngere Frau neben ihr, die ihre Hand ausgestreckt hatte, um sie zu trösten.

Bitte, Jackie, ich habe genug, ich will zurück. Jetzt sofort.

Es sollte ihr großer Tag werden. Der erste Tag draußen. Die ersten Schritte im Resozialisierungsprogramm, das der Bewährungsausschuss empfohlen hatte. Man hatte ihr das Datum zwei Wochen im Voraus genannt.

Etwas, auf das sie sich freuen konnte, hatte Jackie froh gesagt. Sie hatte ihr neue Kleider gekauft. Bezahlt von den Ersparnissen, die Rachel über die Jahre angesammelt hatte. Eine graue Hose, gerade geschnitten mit adretten Bügelfalten. Und eine dazu passende graue Jacke. Außerdem Schuhe aus echtem Leder, Pumps, die vorne spitz zuliefen und einen kleinen Absatz hatten. Rachel kamen ihre Füße darin riesig vor. Sie ging damit probeweise in ihrer Zelle auf und ab und hörte das leise Klicken der Ledersohlen auf dem Fliesenboden. Sie war an leichte Laufschuhe gewöhnt, weiche Schuhe, mit denen man kein Geräusch machte und in denen die Zehen viel Platz hatten. Sie probierte vorsichtig und behutsam ihre Kleider an, zögerte, ihre vertraute Gefängniskleidung abzulegen.

Jackie hatte ihr auch Make-up gekauft.

Komm Rachel, versuch's mal. Ich bin sicher, du weißt noch, wie's geht, oder?

Sie gab ihr alles in einem kleinen Plastikbeutel mit Reißverschluss und blauem Blumendruck. Rachel saß an ihrem Tisch und hatte ihren kleinen Taschenspiegel auf ihr Radio gestellt. Sie breitete den Inhalt des Beutels aus. Grundierungscreme in einer Tube. Lippenstift mit einem silbrigen Metallverschluss. Mascara, Eyeliner, brauner Lidschatten. Sogar Rouge, dunkelrosa, das durchsichtig schimmerte. Sie strich mit der Spitze des Zeigefingers darüber und verrieb es dann auf ihrem Handrücken. Es schimmerte und leuchtete wie die Haut nach einem Tag in der Sonne.

Sie nahm die Tube, drückte ein blassbraunes Stück wie einen Wurm auf ihre Handfläche und begann es auf ihrem Gesicht zu verteilen. Oben auf die Stirn, über die Nase herunter bis zum Kinn. Sie reckte das Kinn hoch, um die Haut am Hals zu straffen, und verrieb es quer von einer gestreckten Sehne zur anderen. Dann wischte sie sich die Finger mit einem Stück Toilettenpapier ab und machte die kleine Flasche mit dem Eyeliner auf. Sie tauchte den dazu gehörenden feinen Pinsel in die schwarze Flüssigkeit und zog eine Linie zuerst um das rechte, dann um das linke Auge. Sie schraubte die Mascara auf, drehte am unteren Teil und zog das steife Bürstchen heraus. Ihre Wimpern standen hoch, während sie jede einzeln mit einer glänzenden, schwarzen Schicht bestrich. Sie überdeckte die Vertiefung zwischen Lid und Augenhöhle mit dunklem Puder, und ihre Augen schienen in den Kopf zurückzusinken. Dann nahm sie den Lippenstift, drehte ihn um und las den Namen. »Roter Mohn« stand auf dem Etikett. Sie schraubte den silbrigen Zylinder auf, und die rote Spitze sah heraus. Vorsichtig hielt sie den Spiegel mit der linken Hand. Ihre Lippen waren blass. Sie befeuchtete sie mit der Zunge. Jetzt glänzten sie in dem schwachen Licht, das von oben kam. Sie drückte sie auf ihr Bild im Spiegel und spürte, wie das kalte Glas gegen ihre Zähne drücken. Sie hatte seit Jahren niemanden geküsst. Hier im Gefängnis hatte sie gesaugt und geleckt und mit der Zunge die verborgenen Lippen der Frauen gekitzelt. Aber nie hatte sie sie auf den Mund geküsst. Denn sie wollte ihnen nicht in die Augen sehen, und sie wollte nicht, dass sie in ihre blickten. Sie hob sich das für ein andermal auf. Jetzt zog sie ihre Lippen mit dem dicken roten Stift nach, malte sie dann aus und verteilte den Lippenstift dick über beide Lippen. Sie roch seinen Duft und nahm den synthetischen, süßlichen Geschmack wahr.

Martin hatte es gehasst, wenn sie Lippenstift trug.

Du brauchst das nicht, hatte er zu ihr gesagt, du hast auch ohne das einen schönen Mund. Ich mag ihn so blass, wie er ist. Ich mag es, wenn ich dich küsse und wieder küsse und er dann immer dunkler wird.

Sie erinnerte sich, dass er sie, als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, ins Bad geführt und mit einem feuchten Tuch das Make-up von ihrem Gesicht gewischt hatte.

Sieh mal, hatte er gesagt und zeigte ihr die braunen und roten Flecken auf dem Frotteetuch. Sieh mal, wie hässlich das ist. Und wie viel schöner du ohne das bist.

Und er hatte ihr auf die Lippen gebissen, die zarte Haut sanft mit den Schneidezähnen gezwickt, und sie waren rot geworden, fast dunkelrot. Die Farbe der mit Blut gefüllten Schleimhaut, der zarten Haut der dunklen und verborgenen Stellen des Körpers.

Jetzt lehnte sie sich zurück und betrachtete sich im Spiegel. Es war nicht ihr Gesicht. Sie neigte den Spiegel, damit sie ihren Körper sehen konnte. Die graue Jacke und Hose, die ordentlichen schwarzen Schuhe mit Spitze und kleinem Absatz. Vor Abscheu überlief sie ein Schauder. Sie streifte die Schuhe ab, zerrte an der Wolle, die sich eng um Arme und Beine gelegt hatte, riss sich die Kleider vom Leib und warf sie auf einen Haufen in der Ecke neben der Toilette. Sie richtete den Spiegel auf ihren nackten Körper und ließ ihn auf und ab wandern. Man konnte deutlich die Rippen sehen, ihr Magen war eine Einbuchtung. Auf ihrer Haut an den Hüften verliefen silbrige Streifen wie von der Spitze einer Schere aufgerauter Satin. Ihre Brüste waren klein wie eh und je, aber jetzt hingen sie etwas herunter und waren flacher, wodurch das knochige Brustbein und der obere Teil der Brust betont wurden. Sie strich sich mit der Hand übers Schamhaar. Es kräuselte und ringelte sich um ihre Finger, so schwarz wie immer. Sie ging in die Hocke und betrachtete noch einmal ihr Gesicht im Spiegel. Ihre Körperhaut war blass, aber darüber hob sich das künstliche Braun des Make-ups auf ihrem Gesicht ab, das Schwarz um die Augen und das schreiende Rot ihres Mundes. Sie stand auf, ging zum Waschbecken in der Ecke, ließ heißes Wasser über ihre Hände laufen und nahm die Seife. Schnell verteilte sie den dicken Schaum und spürte das Brennen und Stechen, als er ihr in die Augen kam. Sie beugte ihr Gesicht übers Wasser, seifte es erneut ein, rubbelte mit den Fingern, bis das Wasser dunkel wurde. Ihr Atem ging schnell. Sie vergrub das Gesicht im rauen Handtuch. Dann nahm sie den Spiegel wieder zur Hand. Schwarze Tuschreste hingen noch an ihren Wimpern, und leichte rote Spuren markierten die feinen Fältchen um ihren Mund. Sie stöhnte und ließ wiederum dampfend heißes Wasser in das kleine Waschbecken laufen. Sie wusch und spülte alles ab und wusch sich noch einmal, bis ihr Gesicht sauber und blass war.

So blass wie das Gesicht, das sie jetzt im Seitenspiegel von Jackies Wagen sah, während sie sich langsam durch den Verkehr auf die North Circular Road zubewegten.

Ich kann's nicht, sagte sie. Ich kann das nie wieder tun. Ich werde das Gefängnis nicht verlassen können, wenn es so weit ist. Bitte, Jackie, zwingen Sie mich nicht dazu.

Und warum nicht?, fragte sie eine innere Stimme. Und die Stimme antwortete: Weil ich mich dann dem stellen müsste, was geschehen ist, und weil ich eine Möglichkeit finden müsste, es wieder in Ordnung zu bringen. Und jetzt, nach so vielen Jahren, glaube ich, dass ich es nicht mehr kann. Niemals.

DER PLAN

Kapitel 1

Er war interessant, der Fall Rachel Beckett, dachte Andrew Bowen, als er von seinem Schreibtisch aufstand und über den Korridor zur Küche ging, um den ersten Kaffee des Tages zu machen. Es war eine seltene Gelegenheit im trivialen Leben eines Bewährungshelfers, dass einem jemand mit lebenslänglich unterkam. Es war während seiner Karriere bisher nur zweimal passiert. Und da war es nicht um Frauen gegangen. Natürlich hatten Frauen in seinem Büro gesessen, die jemanden umgebracht hatten. Gar nicht so wenige. Frauen, die ihre Männer oder Freunde oder Kinder getötet hatten. Aber man hatte befunden, dass sie es spontan getan hatten. Aus Angst, in Notwehr, als sie auf eine Aggression reagierten, der sie mit Zorn oder Wahnsinn begegneten. Niemals so, wie die Anklage Rachel Becketts Tat beschrieben hatte. Langsam, absichtlich, präzise. Vorausschauend, wissentlich und vorsätzlich. Und jetzt hatte das Justizministerium in seiner Weisheit entschieden, dass sie die erwartete Reue gezeigt und ihre Tat angenommen habe und es an der Zeit sei, sie freizulassen. Auf Bewährung natürlich. Und um neun Uhr heute früh, am 10. Mai, würde sie zu ihm kommen.

Reue, das war ein interessanter Begriff, ein zweiter Versuch, eine zweite Chance. Eine Gelegenheit, das Schlechte, das in der Vergangenheit geschehen war, wieder gutzumachen. War es wirklich so? Er hatte bei Fällen von Reue schon immer seine Zweifel gehabt. Er dachte an die Energie, die beim Leugnen der begangenen Tat entwickelt wurde. An die ausgefeilte Verteidigungsstrategie, die für die Gerichtsverhandlung ersonnen wurde. An die Gutachter, die bestellt und bezahlt wurden. Die tränenreiche Demonstration von Beweismaterial. Mit der Hand auf dem Herzen – so wurde das Fehlverhalten geleugnet. Und dann kam irgendwie, Jahre danach, wenn die Realität des Gefängnislebens anfing, Wirkung zu zeigen, plötzlich der Reumütige daher, hellwach und munter, ein ganz neuer Mensch, praktisch ein Musterknabe.

Bitte, Sir, ich hatte nicht vor, es zu tun.

Bitte, Sir, ich hab's ja getan, aber es war ein Irrtum, ein Unfall, ich wollte nicht, dass es so ausging.

Bitte, Sir, gut, ich geb's zu, ich hab's getan, ich hab's geplant, ich hab's mir ausgedacht, aber lassen Sie mich doch raus, dann verspreche ich, dass ich ein anständiger Mensch sein werde.