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Das Buch

Bangkok: Als der norwegische Botschafter in Thailand mit einem Messer im Rücken gefunden wird, steht das Außenministerium kopf. Zumal Atle Molnes in einem recht zwielichtigen Etablissement ums Leben kam. Die Angelegenheit ist also äußerst heikel. Kommissar Harry Hole soll den Mord vor Ort untersuchen, und zwar möglichst diskret, denn schließlich war Molnes ein enger Weggefährte des norwegischen Ministerpräsidenten. Doch Harry findet schnell heraus, dass der Botschafter kein unbeschriebenes Blatt war. Entgegen der ausdrücklichen Anweisung seiner Vorgesetzten bemüht er sich, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die schwüle Hitze, der Lärm, der hektische Verkehr und die ständige Versuchung durch den Alkohol machen Harry dabei schwer zu schaffen, aber auch die undurchdringlichen Diplomatenkreise und die allmächtige Unterwelt Bangkoks. An der Seite der eigenwilligen Ermittlerin Liz nimmt er schließlich auch norwegische Geschäftsleute unter die Lupe – ein Engagement, das er beinahe mit dem Leben bezahlt.

Der Autor

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Der erfolgreichste Autor Norwegens ist längst auch international ein Bestsellerautor, seine Romane um Kommissar Harry Hole werden in dreißig Sprachen übersetzt. Sowohl sein Debütroman Der Fledermausmann als auch Schneemann wurden als »Bester Kriminalroman des Jahres« ausgezeichnet. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:

Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)
Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)
Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)
Fährte (Harry Holes 4. Fall)
Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)
Erlöser (Harry Holes 6. Fall)
Schneemann (Harry Holes 7. Fall)
Leopard (Harry Holes 8. Fall)
Larve (Harry Holes 9. Fall)
Koma (Harry Holes 10. Fall)
Durst (Harry Holes 11. Fall)
Messer (Harry Holes 12. Fall)

Außerdem:

Headhunter
Der Sohn
Blood on Snow. Der Auftrag · Blood on Snow. Das Versteck

Jo Nesbø

Kakerlaken

Kriminalroman
 
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Ullstein

Ein Gerücht unter den in Thailand lebenden Norwegern besagt, der norwegische Botschafter, der in den frühen sechziger Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, sei in Wirklichkeit unter äußerst geheimnisvollen Umständen ermordet worden. Das Außenministerium nimmt hierzu nicht Stellung. Der Leichnam wurde ohne offizielle Obduktion bereits nach einem Tag verbrannt.

Keine der Personen oder Geschehnisse im Buch darf mit wirklichen Personen oder Geschehnissen verwechselt werden. Dafür ist die Wirklichkeit viel zu unglaubwürdig.

Bangkok, am 23. Februar 1998

KAPITEL 1

Die Ampel schaltete auf Grün, und das Dröhnen der Autos, Motorräder und Tuk-Tuks wurde immer lauter, bis Dim die Scheiben im Robertson Departement Store vibrieren sah. Dann setzte sich der Verkehr auch auf ihrer Spur wieder in Bewegung, und das Schaufenster mit dem langen roten Seidenkleid verschwand hinter ihnen im abendlichen Dunkel.

Sie hatte ein Taxi genommen. Nicht einen der überfüllten Busse oder eines der durchgerosteten Tuk-Tuks, sondern einen Wagen mit Klimaanlage und einem Fahrer, der den Mund hielt. Sie lehnte ihren Hinterkopf an die Kopfstütze und versuchte, die Fahrt zu genießen. Kein Problem. Ein Moped drängelte sich vorbei, und das Mädchen auf dem Sozius klammerte sich an ein rotes T-Shirt mit Visierhelm und warf ihnen einen leeren Blick zu. Halt dich gut fest, dachte Dim.

Auf der Rama IV Road fädelte sich der Fahrer hinter einen Lastwagen ein, der derart dicken Rauch ausspuckte, dass Dim nicht einmal mehr das Nummernschild erkennen konnte. Nachdem der Qualm die Klimaanlage passiert hatte, war er kalt und beinahe geruchlos. Aber eben nur beinahe. Sie wedelte diskret mit der Hand, um zum Ausdruck zu bringen, was sie davon hielt, und der Fahrer blickte in den Rückspiegel und fuhr wieder auf die Überholspur. Kein Problem.

So war es nicht immer gewesen. Auf dem ärmlichen Hof, auf dem sie aufgewachsen war, waren sie sechs Mädchen gewesen. Sechs zu viel, wenn es nach ihrem Vater ging. Sie war sieben Jahre alt, als sie hustend und winkend in dem gelben Staub stand, während der Karren mit der ältesten Schwester auf der Landstraße neben dem braunen Kanal davonrollte. Die Schwester hatte saubere Kleider bekommen, ein Zugticket nach Bangkok und eine Adresse in Patpong, die auf der Rückseite einer Visitenkarte notiert worden war. Sie weinte wie ein Wasserfall, obgleich Dim so heftig winkte, dass ihr beinahe die Hand abfiel. Die Mutter tätschelte Dims Kopf und sagte, dass das alles nicht leicht sei, aber auch nicht so schlimm. So bleibe es ihrer Schwester jedenfalls erspart, als kwai von Hof zu Hof zu ziehen, wie sie selbst es vor ihrer Hochzeit getan habe. Außerdem hatte Miss Wong versprochen, gut auf sie aufzupassen. Der Vater nickte, spuckte Betel durch die schwarzen Zähne und fügte hinzu, dass die farangs in den Bars gut für frische Mädchen bezahlten.

Dim hatte nicht verstanden, was ihre Mutter mit kwai meinte, aber sie wollte nicht fragen. Natürlich wusste sie, dass kwai Ochse bedeutete. Wie die meisten anderen hier hatten sie nicht das Geld für einen eigenen Ochsen, so dass sie einen mieten mussten, wenn das Pflügen der Reisäcker anstand. Erst später hatte sie erfahren, dass die Mädchen, die diesen herumziehenden Ochsentreibern folgten, ebenfalls kwai genannt wurden, da ihre Dienste im Mietpreis für den Ochsen inbegriffen waren. So verlangte es die Tradition. Hoffentlich fand sie selbst einen Bauern, der sie haben wollte, ehe sie zu alt war.

Mit fünfzehn war Dim eines Tages von ihrem Vater gerufen worden, während er ihr, die Sonne im Rücken und den Hut in der Hand, durch das Reisfeld entgegenwatete. Sie antwortete nicht sogleich, sondern richtete sich auf und ließ ihren Blick über die grünen Hügel rund um den kleinen Hof schweifen. Dann schloss sie die Augen, lauschte dem Zwitschern eines Vogels und sog den Geruch von Eukalyptus und Gummibäumen ein. Sie wusste, jetzt war sie an der Reihe.

Im ersten Jahr wohnte sie gemeinsam mit drei Mädchen in einem Zimmer. Sie teilten sich alles: Bett, Essen, Kleider. Besonders Letzteres war wichtig, denn ohne schöne Kleider bekam man nie die besten Kunden. Sie hatte tanzen gelernt, lächeln und entwickelte einen Blick dafür, wer nur etwas trinken wollte und wer gekommen war, um Sex zu haben. Ihr Vater hatte mit Miss Wong vereinbart, dass das Geld nach Hause geschickt wurde, so dass sie in den ersten Jahren nicht viel davon zu sehen bekam, aber Miss Wong war zufrieden mit ihr, und nach und nach hielt sie mehr für Dim zurück.

Miss Wong hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Dim arbeitete hart und ihre Kunden kauften ihr viele Drinks. Überhaupt konnte sie froh sein, dass Dim noch immer da war, denn ein paar Mal wäre sie beinahe weg gewesen. Ein Japaner hatte Dim heiraten wollen, hatte dann aber kalte Füße bekommen, als sie ihn um das Geld für das Flugticket gebeten hatte. Ein anderes Mal war ein Amerikaner mit ihr nach Phuket gefahren, hatte seine Rückreise verschoben und ihr einen Diamantring gekauft, den sie dann aber einen Tag nach seiner Abreise versetzt hatte.

Manch einer hatte ihr die Bezahlung verweigert und sie weggeschickt, wenn sie protestierte, andere hatten es Miss Wong gemeldet, wenn sie nicht alles getan hatte, was sie von ihr verlangten. Sie alle hatten nicht verstanden, dass Dim ihr eigener Herr war, wenn sie sie erst aus der Bar freigekauft hatten, denn damit war der Anteil für Frau Wong gesichert. Ihr eigener Herr. Sie dachte an das rote Kleid im Schaufenster. Ihre Mutter hatte recht gehabt – es war nicht leicht, aber ganz so schwer war es auch nicht.

Und es war ihr gelungen, ihr unschuldiges Lächeln und fröhliches Lachen zu bewahren. Die Männer mochten so etwas. Vielleicht hatte sie deshalb den Job bekommen, den Wang Lee in der Zeitung Thai Rath unter der Überschrift G. R. O. oder »Guest Relation Officer« annonciert hatte. Wang Lee war ein kleiner, beinahe schwarzer Chinese, der draußen an der Sukhumvit Road ein Motel betrieb. Bei seinen Kunden handelte es sich beinahe ausnahmslos um Ausländer mit besonderen Wünschen – aber nicht so besonderen, dass sie sie nicht erfüllen konnte. So gesehen, gefiel ihr die Arbeit dort besser als das stundenlange Tanzen in der Bar. Außerdem bezahlte Wang Lee gut. Der einzige Nachteil war, dass dieses Motel so weit von ihrer Wohnung in Banglamphu entfernt war.

Dieser verdammte Verkehr! Es staute sich schon wieder und sie sagte dem Fahrer, sie wolle aussteigen, obgleich sie dann sechs Spuren überqueren musste, um zu dem Motel auf der anderen Straßenseite zu kommen. Die Luft legte sich wie ein warmes, nasses Handtuch um sie, als sie aus dem Taxi stieg. Sie spähte nach einer Lücke im Verkehr und hielt sich die Hand vor die Nase, wobei sie natürlich wusste, dass das nichts nutzte, denn es gab in Bangkok nur diese Luft. Einzig dem Gestank konnte sie auf diese Art entgehen.

Sie schlüpfte zwischen den Autos hindurch, musste vor einem Pick-up zur Seite springen, auf dessen Ladefläche eine Gruppe pfeifender Jugendlicher saß, und hätte beinahe von einem hin und her kreuzenden Toyota die Waden rasiert bekommen, doch dann war sie auf der anderen Seite.

Wang Lee blickte kurz auf, als sie in die menschenleere Rezeption kam.

»Ruhiger Abend?«, fragte sie.

Er nickte mürrisch. Das war im Laufe des letzten Jahres öfter vorgekommen.

»Hast du gegessen?«

»Ja«, log sie. Er meinte es gut, aber sie hatte keine Lust auf die matschigen Nudeln, die er im Hinterzimmer kochte.

»Heute heißt es warten«, sagte er. »Der farang will erst schlafen, er ruft an, wenn er so weit ist.«

Sie stöhnte.

»Du weißt genau, dass ich bis Mitternacht zurück in der Bar sein muss, Lee.«

Er sah auf die Uhr.

»Gib ihm eine Stunde.«

Sie zuckte mit den Schultern und setzte sich. Wenn das vor einem Jahr geschehen wäre, hätte er sie vermutlich für ihre freimütige Äußerung vor die Tür gesetzt, doch jetzt brauchte er dringend jedes bisschen Umsatz. Natürlich hätte sie gehen können, aber dann wäre der ganze weite Weg umsonst gewesen. Außerdem schuldete sie Lee den einen oder anderen Gefallen, er war wirklich nicht der schlechteste ihrer bisherigen Zuhälter.

Nachdem sie die dritte Zigarette ausgedrückt hatte, spülte sie sich den Mund mit Lees bitterem chinesischen Tee und stand auf, um ein letztes Mal ihre Schminke im Spiegel über dem Rezeptionstisch zu überprüfen.

»Ich geh ihn jetzt wecken«, sagte sie.

»Hm, hast du die Schlittschuhe?«

Sie hob ihre Tasche hoch.

Ihre Absätze knirschten auf dem Kies des offenen Platzes zwischen den niedrigen Motelräumen. Zimmer 120 lag ganz hinten, sie sah keinen Wagen davorstehen, aber es brannte Licht. Also war er vermutlich aufgewacht. Ein leichter Windhauch fuhr unter ihren kurzen Rock, doch er verschaffte ihr keine Abkühlung. Sie sehnte sich nach dem Monsun, nach dem Regen. Genau wie sie nach ein paar Wochen Überschwemmung, matschigen Straßen und schimmeligen Kleidern die trockenen, windstillen Monate herbeisehnte.

Sie klopfte leise an, setzte ihr verführerisches Lächeln auf und die Frage »What’s your name?« lag bereits auf ihren Lippen. Keine Reaktion. Sie klopfte noch einmal an und sah auf die Uhr. Sie konnte dieses Kleid sicher um ein paar Hundert Baht runterhandeln, auch wenn es bei Robertson war. Als sie die Klinke nach unten drückte, bemerkte sie zu ihrer Überraschung, dass die Tür unverschlossen war.

Er lag bäuchlings auf dem Bett, und zuerst dachte sie, er schlafe. Dann sah sie den Lichtreflex in dem blauen Glas des Messerschafts, der aus der signalgelben Weste herausragte. Schwer zu sagen, welcher Gedanke ihr zuerst durch den Kopf schoss, doch einer von ihnen war, dass der weite Weg von Banglamphu nun doch umsonst gewesen war. Dann bekam sie endlich ihre Stimmbänder unter Kontrolle. Doch ihr Schrei wurde vom dröhnenden Hupen eines Lastwagens übertönt, der auf der Sukhumvit Road einem unachtsamen Tuk-Tuk-Fahrer ausweichen musste.

KAPITEL 2

»Nationaltheater«, verkündete eine nasale, schlaftrunkene Stimme durch die Lautsprecher, ehe sich die Straßenbahntüren klappernd öffneten und Dagfinn Torhus in den kalten, rauen und gerade erst angebrochenen Wintermorgen trat. Die Luft schmerzte auf seinen frisch rasierten Wangen und im Schein von Oslos sparsamer Neonbeleuchtung sah er seinen eigenen Atem.

Es war die erste Januarwoche, und er wusste, dass das Wetter im Laufe des Winters immer besser wurde, weil dann der Fjord vereist und die Luft trockener war. Er ging über den Drammensvei in Richtung Außenministerium. Ein paar einsame Taxis fuhren an ihm vorbei, doch ansonsten waren die Straßen leer. Die riesige Reklameuhr, die sich rot vom schwarzen Winterhimmel abhob, zeigte eben erst sechs Uhr.

Vor der Tür nahm er seine Zugangskarte heraus. »Position: Verwaltungschef« stand über dem Bild eines zehn Jahre jüngeren Dagfinn Torhus, der mit vorgerecktem Kinn und zielstrebigem Blick durch seine Stahlbrille in die Kamera starrte. Er zog die Karte durch das Lesegerät, tippte den Code ein und drückte die schwere Glastür der Victoria-Terrasse auf.

Nicht alle Türen hatten sich so leicht öffnen lassen, seit er vor bald dreißig Jahren als 25-Jähriger hierhergekommen war. Auf der »Diplomatenschule«, dem Anwärterkurs für das Auswärtige Amt, war er mit seinem breiten Østerdals-Dialekt und seiner ländlichen Art bei den Großstadtyuppies oft angeeckt. Die anderen Anwärter waren Politologen, Wirtschaftswissenschaftler und Juristen, deren Eltern Akademiker oder Politiker waren, wenn sie nicht selbst zum ministeriellen Adel des Auswärtigen Amtes gehörten, in den ihre Nachkömmlinge nun aufsteigen wollten. Er war ein Bauernsohn mit einem Examen der landwirtschaftlichen Hochschule in Ås. Nicht dass ihm das selbst so viel bedeutete, aber er wusste, dass die richtigen Freunde für die weitere Karriere von großer Bedeutung waren. Während sich Dagfinn Torhus die gesellschaftlichen Gepflogenheiten einhämmerte, versuchte er, seine Defizite durch umso härtere Arbeit zu kompensieren. Abgesehen von der ungleichen Ausgangsposition, war ihnen allen gemein, dass sie nur eine unklare Vorstellung davon hatten, was sie vom Leben wollten. Das Einzige, was sie wussten, war, in welche Richtung es gehen sollte: aufwärts.

Torhus seufzte und nickte dem Securitas-Wachmann zu, der ihm die Zeitung und einen Umschlag durch die Luke in seinem Glaskasten schob.

»Sonst schon jemand …?«

Der Wachmann schüttelte den Kopf.

»Wie immer der Erste, Torhus. Der Umschlag ist vom Nachrichtendienst, er wurde heute Nacht geliefert.«

Torhus sah die Ziffern der Etagen aufleuchten und wieder verlöschen, während ihn der Fahrstuhl nach oben beförderte. Irgendwie kam es ihm so vor, als spiegele jede Etage eine Periode seiner Karriere wider, die deshalb jeden Morgen aufs Neue Revue passierte.

Die erste Etage symbolisierte seine ersten beiden Jahre als Anwärter, die langen, unverbindlichen Diskussionen über Politik und Geschichte und die Französischstunden, durch die er sich gequält hatte.

In der zweiten Etage war das Planungs- und Beorderungsbüro. Er hatte zwei Jahre Canberra bekommen und dann drei Jahre Mexico City. So weit ganz anständige Städte, er durfte sich nicht beklagen. Obgleich er London und New York als erste Wahl angegeben hatte, doch das waren prestigeträchtige Zentren, in die alle wollten, so dass er sich entschlossen hatte, den abschlägigen Bescheid nicht als Niederlage zu werten.

In der dritten Etage war er zurück in Norwegen, ohne die luxuriösen Auslands- und Wohngeldzulagen, die ihm Raum gelassen hatten für ein Leben in nüchternem Überfluss. Er hatte Berit getroffen, sie war schwanger geworden, und als die Zeit für einen neuerlichen Auslandsaufenthalt gekommen war, war bereits Kind Nummer zwei unterwegs. Berit stammte aus der gleichen Gegend wie er selbst und telefonierte jeden Tag mit ihrer Mutter. Er hatte sich entschlossen, ein wenig zu warten, und hatte stattdessen wie ein Wahnsinniger gearbeitet, kilometerlange Abhandlungen über den bilateralen Handel mit Entwicklungsländern geschrieben, Reden für den Außenminister verfasst und von den oberen Etagen Anerkennung eingeheimst. An keinem anderen Ort des Staatsapparates ist die Konkurrenz so stark wie im Auswärtigen Amt mit seinen ausgeprägten Hierarchien. Dagfinn Torhus war jeden Tag zum Dienst erschienen wie ein Soldat an der Front, er hatte den Kopf eingezogen, sich den Rücken frei gehalten und losgefeuert, wenn er jemanden vor den Lauf bekam. Das trug ihm das eine oder andere Schulterklopfen ein, er wusste, dass er »bemerkt« worden war, und versuchte Berit zu erklären, dass er nun vermutlich Paris oder London bekommen konnte, doch da hatte sie sich zum ersten Mal in ihrer bisher recht undramatischen Ehe zur Wehr gesetzt. Er hatte nachgegeben.

So war er in die vierte Etage aufgestiegen und damit zu weiteren Untersuchungsberichten, einer Sekretärin und einem etwas höheren Gehalt, bis man ihn dann vor kurzem in die Personalabteilung in der zweiten Etage versetzt hatte.

Einen Job in der Personalabteilung zu bekommen war im Auswärtigen Amt etwas Besonderes, für gewöhnlich ein Zeichen, dass einem der Weg nach oben offenstand. Aber es war etwas geschehen. Gemeinsam mit dem Planungs- und Beorderungsbüro wählten sie die Bewerber für die jeweiligen Auslandsaufträge aus, eine Arbeit, die direkte Auswirkungen auf die Karriere anderer hatte. Vielleicht hatte er seinen Namen unter eine falsche Beorderung gesetzt oder eine Person abgelehnt, die es trotzdem geschafft hatte und jetzt irgendwie über ihm saß und an den unsichtbaren Fäden zog, die das Leben von Dagfinn Torhus und all den anderen im Auswärtigen Amt bestimmten.

Denn der Auftrieb war beinahe unmerklich ausgeblieben, und plötzlich, eines Tages, hatte er sich im Badezimmerspiegel betrachtet und einen Verwaltungschef auf dem Abstellgleis erkannt, einen nur bedingt einflussreichen Bürokraten, der den Sprung in die fünfte Etage in den letzten zehn Jahren bis zu seiner Pensionierung nie mehr schaffen würde. Außer es gelang ihm irgendeine unerwartete Heldentat. Aber diese Arten von Heldentaten hatten den Nachteil, dass sie entweder Beförderungen oder Kündigungen bewirkten.

Trotzdem versuchte er wie bisher, den anderen immer eine Nasenlänge voraus zu sein. War jeden Morgen der Erste im Büro, so dass er in aller Ruhe die Zeitungen und Faxe lesen konnte und seine Schlussfolgerungen bereits gemacht hatte, wenn sich die anderen bei den morgendlichen Besprechungen noch den Schlaf aus den Augen rieben. Die Strebsamkeit schien ihm in Fleisch und Blut übergegangen zu sein.

Er schloss die Tür zu seinem Büro auf und zögerte einen Moment, ehe er das Licht einschaltete. Auch das hatte eine Vorgeschichte – die Stirnlampenepisode. Leider war die an die Öffentlichkeit geraten und zu einer – wie er wusste – beliebten Anekdote im Auswärtigen Amt geworden: Vor vielen Jahren hatte sich der damalige Leiter der norwegischen Botschaft in den USA einige Wochen in Oslo aufgehalten. Er rief Torhus eines Morgens in aller Frühe an und fragte, was er von den nächtlichen Äußerungen Präsident Carters hielt. Torhus war gerade erst ins Büro gekommen, hatte weder Zeitungen noch Faxe gelesen und war ihm eine Antwort schuldig geblieben. Was ihm natürlich den Tag verdorben hatte. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am nächsten Morgen rief der Botschafter erneut an, als Torhus gerade erst die Zeitung aufgeschlagen hatte, und fragte ihn, wie sich die nächtlichen Geschehnisse auf die Situation im Nahen Osten auswirken würden. Und am darauffolgenden Morgen überraschte er ihn wieder mit einer anderen Frage. Torhus hatte seine nichtssagenden, von Vorbehalten und Informationsdefiziten geprägten Antworten gestammelt. Er fing an, noch früher zur Arbeit zu kommen, doch der Botschafter schien einen siebten Sinn zu haben, denn jeden Morgen klingelte das Telefon, wenn er gerade am Schreibtisch Platz genommen hatte. Den Zusammenhang erkannte er erst, als er per Zufall erfuhr, dass der Botschafter, ein bekennender Frühaufsteher, im Hotel Lille Aker wohnte, auf der anderen Straßenseite, unmittelbar vor dem Auswärtigen Amt. Natürlich musste er bemerkt haben, dass das Licht in Torhus’ Büro früher anging als in den anderen, und vermutlich wollte er ein Spielchen mit diesem übereifrigen Staatsdiener treiben. Torhus ging in einen Laden, kaufte sich eine Stirnlampe und am nächsten Morgen hatte er alle Zeitungen und Faxe gelesen, ehe er das Licht einschaltete. Das machte er drei Wochen lang, bis der Botschafter endlich aufgab.

In diesem Moment aber war Torhus der spaßige Botschafter mehr als egal. Er hatte das Kuvert des Nachrichtendienstes geöffnet, und auf der dechiffrierten Papierkopie des Kryptofax stand unter dem Stempel »Streng geheim« eine Nachricht, die ihn seinen Kaffee auf die verschiedenen Ländernotizen auf seinem Schreibtisch verschütten ließ. Der knappe Text überließ viel der Phantasie, aber die Essenz lautete in etwa, dass der norwegische Botschafter in Thailand, Atle Molnes, mit einem Messer im Rücken in einem Bordell in Bangkok aufgefunden worden war.

Torhus las die Nachricht noch einmal, ehe er sie beiseitelegte.

Atle Molnes, ehemaliger Politiker der Christlichen Volkspartei und ehemaliger Vorsitzender des Finanzkomitees, gehörte somit nun gänzlich zu den Ehemaligen. Das Ganze war derart unglaublich, dass er unweigerlich zum Aker-Hotel hinüberblickte, um sich zu vergewissern, dass sich dort nichts hinter einer Gardine regte. Der Absender war aber eindeutig die norwegische Botschaft in Bangkok. Torhus fluchte. Warum musste das ausgerechnet jetzt passieren, und dann auch noch in Bangkok? Sollte er zuerst Askildsen informieren? Nein, dazu hätte er später auch noch Zeit. Torhus warf einen Blick auf die Uhr und hob den Hörer ab, um den Außenminister anzurufen.

Bjarne Møller klopfte vorsichtig an und öffnete die Tür. Die Stimmen im Sitzungszimmer verstummten, und alle Gesichter wandten sich ihm zu.

»Darf ich vorstellen, Bjarne Møller, Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen«, sagte die Polizeipräsidentin und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen.

»Møller, das sind Staatssekretär Bjørn Askildsen vom Staatsministerium und Verwaltungschef Dagfinn Torhus vom Auswärtigen Amt.«

Møller nickte, nahm sich einen Stuhl und versuchte, seine unglaublich langen Beine unter den großen, ovalen Eichentisch zu schieben. Er meinte, Askildsens junges, glattes Gesicht schon einmal im Fernsehen gesehen zu haben. Staatsministerium? Das musste ja Probleme der schlimmsten Sorte bedeuten.

»Gut, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, schnarrte der Staatssekretär, während seine Finger ungeduldig auf der Tischplatte trommelten. »Hanne, fasst du kurz zusammen, was wir bis jetzt besprochen haben?«

Møller hatte vor zwanzig Minuten den Anruf der Polizeipräsidentin erhalten, die ihn ohne weitere Erklärungen binnen fünfzehn Minuten ins Auswärtige Amt zitiert hatte.

»Atle Molnes ist tot aufgefunden worden, vermutlich ermordet, in Bangkok«, begann die Polizeipräsidentin.

Møller sah, wie der Verwaltungschef mit der Stahlbrille die Augen verdrehte, und er verstand seine Reaktion, als er den Rest der Geschichte zu hören bekam. Man musste vermutlich Polizist sein, um zu behaupten, dass ein Mann, in dessen Rücken dicht neben der Wirbelsäule ein Messer steckte, das Lunge und Herz perforiert hatte, »vermutlich ermordet« worden war.

»Er wurde in einem Hotelzimmer von einer … Frau gefunden …«

»In einem Bordell«, unterbrach sie der Mann mit der Stahlbrille. »Von einer Hure.«

»Ich hatte bereits ein Gespräch mit meinem Amtskollegen in Bangkok«, sagte die Polizeipräsidentin. »Ein angenehmer Mann. Er hat mir versprochen, die Sache eine Weile unter Verschluss zu halten.«

Møller wollte im ersten Moment fast schon fragen, warum man damit warten sollte, den Mord bekanntzumachen, schließlich verhalf ein rasches Presseecho manchmal zu konkreten Hinweisen, da sich die Menschen dann noch erinnerten und die Spuren frisch waren. Aber etwas sagte ihm, dass eine solche Frage als sehr naiv aufgefasst werden würde. Stattdessen erkundigte er sich, wie lange man die Sache wohl unter Verschluss halten könne.

»Hoffentlich so lange, bis wir eine etwas verträglichere Version auf die Beine gestellt haben«, sagte Askildsen. »Die jetzige ist inakzeptabel.«

Die jetzige? Møller musste lächeln. Die wahre Version war also abgewogen und als nicht brauchbar verworfen worden. Als noch relativ frischer Dezernatsleiter war es Møller bislang erspart geblieben, sich mit Politikern herumzuschlagen, aber er wusste, je höher man aufstieg, umso schwieriger wurde es, sie sich vom Leib zu halten.

»Ich verstehe ja, dass die jetzige Version unangenehm ist, aber was meinen Sie genau, wenn Sie sagen, dass sie inakzeptabel ist?«

Die Polizeipräsidentin warf Møller einen warnenden Blick zu. Der Staatssekretär lächelte matt.

»Wir haben wenig Zeit, Møller, aber lassen Sie mich Ihnen trotzdem einen Crashkurs in praktischer Politik geben. Was ich Ihnen jetzt sage, ist natürlich streng vertraulich.«

Instinktiv zupfte er an seinem Schlips herum, eine Bewegung, die Møller aus den Fernsehinterviews wiederzuerkennen glaubte.

»Also, wir haben zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte eine Zentrumsregierung mit einer gewissen Überlebenschance. Nicht weil es dafür eine parlamentarische Basis gäbe, sondern weil sich der Ministerpräsident überraschenderweise zu einem der am wenigsten unpopulären Politiker mausert.«

Polizeipräsidentin und Abteilungsleiter mussten lächeln.

»Diese Popularität basiert allerdings auf dem gleichen instabilen Fundament, das das Kapital eines jeden Politikers ausmacht: Vertrauen. Es kommt dabei nicht wirklich darauf an, sympathisch oder charismatisch zu sein, das Wichtigste ist Vertrauen. Wissen Sie, warum Gro Harlem Brundtland so populär wurde, Møller?«

Møller hatte keine Ahnung.

»Nicht weil sie so charmant war, sondern weil ihr die Menschen glaubten, dass sie die ist, für die sie sich ausgibt. Vertrauen, das ist das Schlüsselwort.«

Ein Nicken ging um den Tisch. Das war es also, was es zu lernen galt.

»Atle Molnes und der Ministerpräsident sind eng miteinander verbunden, einerseits durch ihre Freundschaft und andererseits durch ihren politischen Werdegang. Sie haben gemeinsam studiert, sind Seite an Seite die Karriereleiter der Partei emporgeklettert, haben sich durch die Modernisierung der parteilichen Jugendorganisation gekämpft und sich sogar eine Wohnung geteilt, als sie beide in noch jungen Jahren ins Parlament gewählt worden waren. Es war Molnes, der freiwillig einen Schritt beiseitetrat, als sie beide ebenbürtige Kronprinzen der Partei waren. Stattdessen hat er den Ministerpräsidenten mit voller Kraft unterstützt, so dass man einen parteiinternen Machtkampf vermeiden konnte. Das bedeutet natürlich, dass der Ministerpräsident in Molnes’ Schuld stand.«

Askildsen befeuchtete sich die Lippen und blickte aus dem Fenster.

»Um es klar auszudrücken, Molnes hat nicht den Anwärterkurs des Auswärtigen Amtes besucht und wäre sicher nicht nach Bangkok gekommen, wenn der Ministerpräsident nicht seine Finger mit im Spiel gehabt hätte. Das hört sich vielleicht wie Kungelei an, aber es handelt sich wohl um eine Form von geduldeter Kungelei, die bereits von der Arbeiterpartei eingeführt und reichlich praktiziert worden ist. Reiulf Steen hatte auch keinen entsprechenden ›auswärtigen‹ Hintergrund, als er Botschafter von Chile wurde.«

Der Blick schweifte zurück zu Møller, ein entferntes amüsiertes Funkeln in den Augen.

»Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass es dem Vertrauen des Ministerpräsidenten schaden würde, wenn ans Licht käme, dass ein Vertrauter und Parteifreund, den er selbst auf einen Außenposten gehievt hat, in einem Bordell erwischt wird, und dann auch noch ermordet!«

Mit einer Handbewegung überließ der Staatssekretär wieder der Polizeipräsidentin das Wort, doch Møller konnte sich nicht beherrschen:

»Was ist denn so besonders daran, einen Freund zu haben, der mal ins Bordell geht?«

Askildsens Lächeln erstarrte in den Mundwinkeln und der Verwaltungschef mit der Stahlbrille räusperte sich:

»Sie haben erfahren, was Sie wissen müssen, Møller. Bitte überlassen Sie uns die richtigen Einschätzungen. Was wir brauchen, ist jemand, der dafür sorgt, dass die Ermittlungen in diesem Fall … keine unerwarteten Wendungen nehmen. Natürlich wollen wir alle, dass der oder die Mörder gefasst werden, doch die Umstände des Mordes sollten dabei bis auf weiteres geheim bleiben. Unseres Landes wegen. Verstehen Sie?«

Møller blickte auf seine Hände. Des Landes wegen. Halt’s Maul. In seiner Familie hatte man noch nie wirklich mit Zurechtweisungen umgehen können. Sein Vater hatte es nie weiter als bis zum Polizeiwachtmeister gebracht.

»Verehrter Herr Verwaltungschef, die Erfahrung zeigt nun mal, dass die Wahrheit oftmals schwer zu verbergen ist.«

»Das ist wohl wahr. Ich werde im Namen des Auswärtigen Amtes die Verantwortung für diese Operation übernehmen. Wie Sie verstehen, handelt es sich um eine höchst delikate Angelegenheit, bei der es darauf ankommt, dass die thailändischen Behörden mit uns zusammenarbeiten. Da die Botschaft involviert ist, haben wir gewisse Freiheiten, diplomatische Immunität und alles, was damit zusammenhängt, aber allzu viel Spielraum gibt es da natürlich nicht. Wir würden deshalb gerne jemanden dort hinunterschicken, der viel Erfahrung mit internationaler Polizeiarbeit hat und auf gewisse Erfolge zurückblicken kann.«

Er hielt inne und sah Møller an, der sich fragte, warum er so eine spontane Abneigung gegen den Bürokraten mit dem aggressiven Kinn spürte.

»Wir können ein Team mit …«

»Kein Team, Møller. Je weniger Wirbel, desto besser. Außerdem hat uns Ihre Polizeipräsidentin darauf aufmerksam gemacht, dass es der Zusammenarbeit mit den lokalen Polizeibehörden sicher nicht zuträglich ist, wenn wir mit einer ganzen Einheit kommen. Ein Mann.«

»Ein Mann?«

»Die Polizeipräsidentin hat uns bereits einen Namen genannt, und wir halten das für einen guten Vorschlag. Es ist einer Ihrer Untergebenen, und wir haben Sie hergebeten, um uns anzuhören, wie Sie ihn einschätzen. Nach den Gesprächen, die die Polizeipräsidentin mit Ihrem Kollegen in Sydney geführt hat, soll er dort unten im letzten Jahr einen bemerkenswerten Einsatz in Zusammenhang mit dem Inger-Holter-Fall geleistet haben.«

»Ich habe im letzten Winter in den Zeitungen davon gelesen«, sagte Askildsen. »Wirklich beeindruckend, das könnte unser Mann sein.«

Bjarne Møller schluckte. Die Polizeipräsidentin hatte also vorgeschlagen, Harry Hole nach Bangkok zu schicken, und er sollte jetzt wohl bestätigen, dass Harry Hole das Beste war, was die Abteilung zu bieten hatte – der perfekte Mann für den Job.

Er warf einen Blick in die Runde. Politik, Macht, Einfluss. Das war ein Spiel, von dem er nichts verstand, aber er erkannte, dass es in gewisser Weise auch um sein eigenes Bestes ging. Es war ihm gerade bewusst geworden, dass das, was er jetzt sagte und tat, Konsequenzen für seine weitere Karriere haben konnte. Die Polizeipräsidentin hatte sich so weit vorgewagt, einen Namen zu nennen. Vermutlich hatte einer der anderen darum gebeten, Holes Qualifikationen von seinem direkten Vorgesetzten bestätigt zu bekommen. Er sah zur Polizeipräsidentin und versuchte, ihren Blick zu deuten. Natürlich war es möglich, dass mit Hole alles glatt lief. Was aber, wenn er ihnen davon abriet, Hole zu schicken, würde das nicht ein ganz merkwürdiges Licht auf die Polizeipräsidentin werfen? Wenn man ihn bitten würde, jemand anders vorzuschlagen, wäre es dann nicht einzig und allein sein Kopf, der auf dem Schafott lag, wenn der Betreffende die Sache verbockte?

Møller hob den Blick und studierte das Gemälde über der Polizeipräsidentin. Trygve Lie, der UNO-Generalsekretär, blickte ihn flehend an. Auch er ein Politiker. Durch die Fenster sah er die Dächer der Mietshäuser im schräg hereinfallenden Winterlicht. Die Festung Akershus und ein Wetterhahn, der auf dem Dach des Hotels Continental im eisigen Wind zitterte.

Bjarne Møller wusste, dass er ein guter Polizist war, aber das hier war etwas anderes, die Regeln dieses Spieles kannte er nicht.

Wozu hätte ihm sein Vater geraten? Tja, nur hatte sich Wachtmeister Møller nie nach den Vorgaben der Politik richten müssen. Allerdings hatte er begriffen, worauf es ankam, wenn man weiterkommen wollte, und hatte seinem Sohn verboten, auf der Polizeischule anzufangen, ehe er nicht das Juragrundstudium absolviert hatte. Und den Rest hinterher. Bjarne hatte getan, was sein Vater von ihm verlangt hatte, und nach der Examensfeier hatte sich dieser immer wieder geräuspert und ihm unablässig auf die Schulter geklopft, bis Bjarne ihn schließlich gebeten hatte, doch damit aufzuhören.

»Ein guter Vorschlag«, hörte Bjarne Møller sich selbst mit lauter, klarer Stimme sagen.

»Gut«, sagte Torhus. »Der Grund für diese rasche Besprechung ist der, dass die Sache natürlich eilt. Er soll alle anderen Tätigkeiten einstellen und sich bereits morgen auf den Weg machen.«

Na ja, vielleicht ist es genau so eine Aufgabe, die Hole jetzt braucht, tröstete sich Møller.

»Es tut mir leid, dass wir einen derart wichtigen Mann aus Ihrer Truppe abziehen müssen«, sagte Askildsen.

Dezernatsleiter Møller musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen.

KAPITEL 3

Sie fanden ihn im Restaurant Schrøder in der Waldemar Thranes gate, einer altehrwürdigen Kneipe zwischen den westlichen und östlichen Stadtteilen. Mehr alt als ehrwürdig, um ehrlich zu sein. Die Ehrwürdigkeit lag vor allem darin begründet, dass irgendjemandem im städtischen Denkmalschutzamt in den Sinn gekommen war, das braune, verrauchte Lokal als bewahrenswert auszuweisen. Aber dieser Denkmalschutz erstreckte sich nicht auf die Kundschaft: gejagte, vom Aussterben bedrohte Vertreter der Gattungen alter Säufer, Langzeitstudent und müde gewordener Charmeur, deren Verfallsdatum längst abgelaufen war.

Als die zwei Beamten die Kneipe betraten, riss der Luftzug, der durch die Tür hereindrang, den dicken Rauchteppich einen Augenblick auf, und sie sahen die großgewachsene Gestalt unter einem Gemälde der Aker-Kirche sitzen. Die blonden, kurzgeschnittenen Haare standen hoch wie Stacheln, und der Dreitagebart in dem mageren, markanten Gesicht begann grau zu werden, obgleich der Mann sicher erst Mitte dreißig war. Er saß allein da, aufrecht, die Jacke lose über den Schultern, als wollte er jeden Augenblick gehen. Als wäre das große Bierglas, das vor ihm auf dem Tisch stand, nicht Vergnügen, sondern eine Arbeit, die er hinter sich bringen musste.

»Man hat uns gesagt, wir würden Sie hier finden«, sagte der Ältere der beiden und setzte sich vor ihm auf den Stuhl. »Mein Name ist Waaler.«

»Seht ihr den da am Ecktisch?«, fragte Hole, ohne aufzublicken.

Waaler drehte sich um und sah einen alten, abgemagerten Mann, der sich unablässig vor- und zurückbewegte und dabei in sein Weinglas starrte. Er sah aus, als würde er frieren.

»Sie nennen ihn den letzten Mohikaner.«

Hole hob den Kopf und grinste sie an. Seine Augen lagen wie blauweiße Glaskugeln hinter einem Netz aus roten Adern. Sein Blick heftete sich irgendwo auf Waalers Hemdbrust.

»Ein alter Marinesoldat«, sagte er und bemühte sich dabei um eine deutliche Aussprache.

»Vor ein paar Jahren gab es hier bestimmt noch einige davon, aber jetzt sind nicht mehr viele übrig. Der da ist im Krieg zweimal torpediert worden. Er hält sich für unsterblich. Letzte Woche habe ich ihn nach der Sperrstunde in einem Schneehaufen schlafend in der Glückstadgate gefunden. Es war weit und breit kein Mensch zu sehen, stockdunkel und minus achtzehn Grad. Als ich ihn endlich wach gerüttelt hatte, sah er mich bloß an und sagte, ich solle zum Teufel gehen.«

Er lachte laut.

»Hören Sie, Hole …«

»Gestern Abend bin ich an seinen Tisch gegangen und habe ihn gefragt, ob er sich an das erinnere, was in dieser Nacht geschehen ist, ich meine, schließlich habe ich ihn vor dem Erfrieren gerettet. Wisst ihr, was er mir geantwortet hat?«

»Møller will Sie sprechen, Hole.«

»Er hat gesagt, er sei unsterblich. Dass er damit leben könne, in diesem Scheißland ein unerwünschter Kriegsveteran zu sein. Es sei aber einfach unerträglich, dass nicht einmal Petrus etwas mit einem zu tun haben wolle. Habt ihr gehört? Nicht einmal Petrus …«

»Wir haben den Auftrag, Sie zum Präsidium zu bringen.«

Ein weiteres Bier landete knallend vor Hole auf dem Tisch.

»Das reicht dann, Vera«, sagte er.

»280«, antwortete sie, ohne auf ihren Block zu schauen.

»Mein Gott«, murmelte der jüngere Beamte.

»Stimmt so, Vera.«

»Ui. Danke.« Sie war verschwunden.

»Der beste Service der Stadt«, erklärte Harry. »Manchmal sehen sie dich, obwohl du gar nicht mit beiden Armen gewunken hast.«

Waaler hatte die Ohren nach hinten gezogen, so dass sich die Haut auf seiner Stirn straffte, wodurch eine Ader wie ein blauer gewundener Wurm hervortrat.

»Wir haben nicht die Zeit, uns Ihre Suffgeschichten anzuhören, Hole. Ich schlage vor, dass Sie das letzte Bier stehen lassen …«

Hole hatte das Glas bereits vorsichtig an die Lippen gesetzt und begann zu trinken.

Waaler beugte sich über den Tisch und versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten: »Ich weiß über Sie Bescheid, Hole. Und ich mag Sie nicht. Ich bin der Meinung, Sie hätten schon längst aus dem Corps fliegen müssen. Menschen wie Sie sind der Grund dafür, dass das Volk den Respekt vor der Polizei verliert. Aber deshalb sind wir nicht hier. Wir sind hier, um Sie zu holen. Der Dezernatsleiter ist ein guter Mann, vielleicht will er Ihnen noch eine Chance geben.«

Hole rülpste und Waaler zuckte zurück.

»Chance, wozu?«

»Zu zeigen, was Sie taugen«, sagte der jüngere Beamte und versuchte, wie ein kleiner Junge zu lächeln.

»Das kann ich euch hier zeigen«, sagte Hole lächelnd, setzte das Glas an den Mund und legte den Kopf in den Nacken.

»Verdammt, Hole!« Waaler wurde rot um die Nase, während sie zusahen, wie Holes Adamsapfel an seinem unrasierten Hals auf und nieder hüpfte.

»Zufrieden?«, fragte Hole und stellte das leere Glas vor sich ab.

»Unsere Arbeit …«

»… ist mir scheißegal.« Hole knöpfte sich seine Jacke zu. »Wenn Møller etwas von mir will, kann er mich anrufen oder warten, bis ich morgen zur Arbeit komme. Jetzt will ich nach Hause und in diesen zwölf Stunden will ich eure Gesichter nicht mehr sehen. Meine Herren …«

Harry erhob seine 190 Zentimeter und machte unauffällig einen Schritt zur Seite, um das Gleichgewicht zu halten.

»Sie arrogantes Arschloch«, sagte Waaler und kippelte mit dem Stuhl nach hinten. »Sie sind ein jämmerlicher Verlierer. Wenn die Zeitungsleute, die nach der Australien-Sache über Sie geschrieben haben, wüssten, was Sie für ein erbärmliches Weichei …«

»Was sind Weicheier, Waaler?« Hole lächelte noch immer. »Diese Dinger, mit denen man betrunkene Sechzehnjährige verprügelt, weil sie einen Irokesenschnitt haben?«

Der jüngere Beamte warf einen raschen Blick auf Waaler. Im letzten Jahr waren auf der Polizeischule Gerüchte über ein paar jugendliche Hausbesetzer kursiert. Weil sie an einem öffentlichen Ort Bier getrunken hatten, waren sie festgenommen und später in ihren Zellen mit Apfelsinen in nassen Handtüchern verprügelt worden.

»Sie haben nie begriffen, was Mannschaftsgeist ist, Hole. Sie denken nur an sich. Alle wissen, wer dieses Auto oben in Blindern gefahren hat und warum einem guten Polizisten an diesem Pfosten der Schädel gespalten wurde. Weil Sie ein Säufer sind und besoffen gefahren sind. Sie können nur froh sein, dass man die Sache aus Rücksicht auf seine Familie und den Ruf der Polizei unter den Teppich gekehrt hat …«

Der jüngere Polizist war noch frisch und lernte jeden Tag etwas Neues. An diesem Nachmittag lernte er zum Beispiel, dass es sehr dumm ist, auf seinem Stuhl herumzuwippen, wenn man jemanden beleidigt, weil man dann vollkommen wehrlos ist, wenn der Beleidigte einen Schritt nach vorne macht und einem eine rechte Gerade zwischen die Augen verpasst. Weil es bei Schrøder häufiger vorkommt, dass Leute einfach so umkippen, herrschte nur ein paar Sekunden Stille, ehe die Gespräche lärmend fortgesetzt wurden.

Er half Waaler auf die Beine, während er sah, wie Hole mit fliegenden Frackschößen durch die Tür verschwand.

»Verflucht, nicht schlecht nach acht Bier, was?«, sagte er, hielt aber sofort wieder den Mund, als er Waalers Blick auffing.

Harrys Beine schritten achtlos über das Glatteis der Dovregata. Seine Knöchel schmerzten nicht, denn Schmerz und Reue hatten erst morgen früh wieder Besuchszeit. Er trank nicht während der Arbeitszeit. Noch nicht. Obgleich er das früher schon einmal getan hatte und Doktor Aune behauptete, jeder Riss setze dort an, wo ein alter aufhört.

Dem weißhaarigen, superdicken Peter-Ustinov-Klon hatte vor Lachen das Doppelkinn gebebt, als Harry ihm erklärt hatte, er halte sich von seinem alten Widersacher Jim Beam fern und trinke nur Bier. Weil ihm Bier nicht sonderlich schmeckte.

»Du warst schon am Boden und in dem Augenblick, in dem du die Flasche öffnest, bist du wieder dort. Es gibt kein Zwischending, Harry.«

Na ja. Es gelang ihm in der Regel, auf zwei Beinen nach Hause zu kommen, sich auszuziehen und am nächsten Tag zur Arbeit zu gehen. Was beileibe nicht immer so gewesen war. Harry sprach von einem Zwischending. Er brauchte nur eine gewisse Betäubung, um schlafen zu können, das war alles.

Ein Mädchen mit einer schwarzen Pelzmütze grüßte ihn, als er vorbeiging. Kannte er sie? Im letzten Frühling hatten ihn einige gegrüßt, insbesondere nach dem Interview der Redaktion 21, in dem ihn Anne Grosvold gefragt hatte, wie es sei, einen Serienmörder zu erschießen.

»Nun, besser, als hier zu sitzen und solche Fragen zu beantworten«, hatte er mit einem schiefen Grinsen geantwortet. Das war der Hit des Frühlings geworden, die am meisten zitierte Aussage seit langem.

Harry steckte den Schlüssel ins Schloss. Sofies gate.

Warum er im Herbst hierher nach Bislett gezogen war, war ihm nicht ganz klar. Vielleicht weil die Nachbarn in Tøyen begonnen hatten, ihn schief anzusehen und einen gewissen Abstand zu ihm zu halten, den er anfangs fälschlicherweise für Respekt gehalten hatte.

O. k., hier ließen ihn die Nachbarn in Ruhe, wenn sie auch manchmal aus ihren Wohnungen kamen und nachsahen, ob alles in Ordnung war, wenn er ganz selten mal eine Stufe verfehlte und eine Rolle rückwärts bis zum nächsten Treppenabsatz machte.

Diese Turnübungen hatten erst im Oktober angefangen, nachdem er in der Sache mit Søs auf Granit gebissen hatte.

Da war ihm irgendwie die Luft ausgegangen, und die Träume waren wiedergekommen. Und er kannte nur ein Mittel, um sich diese Träume vom Hals zu halten.

Er hatte versucht, sich zusammenzureißen, und war mit Søs in die Hütte nach Rauland hochgefahren, aber sie hatte sich nach ihrer schrecklichen Vergewaltigung völlig in sich zurückgezogen und war kaum mehr zum Lachen zu bringen. Dann hatte er ein paar Mal seinen Vater angerufen, ohne dass sie wirklich miteinander geredet hätten, lang genug aber, um zu verstehen, dass er in Ruhe gelassen werden wollte.

Harry schloss die Wohnungstür hinter sich, rief, dass er zu Hause sei, und nickte zufrieden, als er keine Antwort bekam. Monster nähern sich in jedweder Gestalt, aber solange sie nicht bereits in der Küche warteten, wenn er zurückkam, gab es eine gewisse Chance auf eine ruhige Nacht.

KAPITEL 4

Die Kälte überfiel ihn so jäh, als er auf die Straße trat, dass er unwillkürlich nach Luft schnappte. Er sah den rötlichen Himmel über den Mietshäusern und machte den Mund auf, um den Geschmack von Galle und Colgate herauszulassen.

Am Holbergs Plass erwischte er gerade noch die Straßenbahn, die die Welhavensgate heruntergerumpelt kam. Er fand einen freien Platz und schlug die Zeitung Aftenposten auf. Schon wieder ein Fall von Pädophilie. Das war schon der dritte in den letzten Monaten – alles Norweger, die in Thailand auf frischer Tat ertappt worden waren.

Im Kommentar erinnerte man an das Wahlkampfversprechen des Ministerpräsidenten, die Nachforschungen bei Sexualverbrechen zu intensivieren, auch im Ausland, und fragte, wann man wohl die ersten Resultate sehen würde.

In einer Stellungnahme sagte Staatssekretär Bjørn Askildsen vom Staatsministerium, dass man noch immer an einem Abkommen mit den thailändischen Behörden arbeite, vor Ort gegen norwegische Pädophile ermitteln zu dürfen, und dass man mit schnellen Resultaten rechne, sobald dieses Abkommen unter Dach und Fach sei.

»Es eilt!«, schloss der Redakteur der Aftenposten. »Die Menschen erwarten, dass endlich etwas geschieht. Ein christlicher Ministerpräsident darf nicht dafür bekannt sein, dass er diesen Schweinereien kein Ende setzen kann.«

»Herein!«

Harry öffnete die Tür und blickte direkt in Bjarne Møllers gähnenden Rachen, als dieser sich auf seinem Stuhl nach hinten lehnte, die langen Beine unterm Schreibtisch ausgestreckt.

»Na, sieh mal einer an. Ich habe dich gestern erwartet, Harry.«

»Ich hab die Nachricht erhalten.« Harry setzte sich. »Ich gehe nicht zur Arbeit, wenn ich getrunken habe. Und umgekehrt. Eine Art Prinzip, das ich mir angewöhnt habe.« Es sollte ironisch klingen.

»Ein Polizist ist vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst, Harry, nüchtern oder betrunken. Ich musste Waaler überreden, keinen Bericht zu schreiben, verstehst du?«

Harry zuckte mit den Schultern, um zu signalisieren, dass er zu dem Thema gesagt hatte, was er sagen wollte.

»O. k., Harry, lassen wir es gut sein. Ich habe einen Job für dich. Einen Job, den du, wie ich meine, nicht verdienst, den ich dir aber trotzdem gerne geben möchte.«

»Würde es dich freuen, wenn ich ablehne?«, fragte Harry.

»Lass diese Marlow-Nummer bleiben, Harry. Die steht dir nicht«, sagte Møller schroff. Harry grinste schief. Er wusste, dass der Dezernatsleiter ihn mochte.

»Ich habe ja noch nicht einmal gesagt, um was es geht.«

»Wenn du mir schon während meiner freien Zeit einen Wagen schickst, wird es wohl kaum darum gehen, den Verkehr zu regeln.«

»Genau. Also, warum willst du mich nicht aussprechen lassen?«

Harry lachte trocken und beugte sich im Stuhl vor.

»Sollen wir Klartext reden, Chef? Frisch von der Leber weg?«

Welche Leber?, lag Møller schon auf der Zunge, dann nickte er aber bloß.

»Ich bin im Moment nicht der Richtige für irgendwelche großen Aufgaben. Ich denke, du hast selbst schon bemerkt, wie es derzeit läuft. Dass es nicht läuft. Jedenfalls nicht glatt. Ich mache meine Arbeit, Routinekram, versuche, niemandem im Weg zu sein, und komme und gehe nüchtern. Wenn ich du wäre, würde ich diesen Job einem der anderen Jungs geben.«

Møller seufzte, zog mühsam seine Knie an und stand auf.

»Frisch von der Leber weg, Harry? Wenn es nach mir ginge, hätte ein anderer diesen Job bekommen. Aber sie wollten unbedingt dich. Deshalb wäre es mir eine große Hilfe, Harry …«

Harry sah wachsam auf. Bjarne Møller hatte ihm im letzten Jahr so oft aus der Patsche geholfen, dass es langsam an der Zeit war, mit der Abzahlung seiner Schuld zu beginnen.

»Moment! Wen meinst du mit sie

»Leute in hohen Positionen. Menschen, die mir das Leben zur Hölle machen können, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen.«

»Und was bekomme ich, damit ich mitmache?«

Møller zog die Augenbrauen zusammen, so gut es ging, doch er hatte schon immer Probleme damit gehabt, sein offenes Jungengesicht besonders grimmig aussehen zu lassen.

»Was du bekommst? Du bekommst deinen Lohn. Solange es dauert, verdammt noch mal!«

»Ich glaube, ich beginne, die Sache ein bisschen zu verstehen, Chef. Einige der Leute, von denen du redest, sind wohl der Meinung, dass dieser Hole, der da in Sydney aufgeräumt hat, ein knallharter Bursche sein muss, und du hast bloß die Aufgabe, diesen Typ für die Aufgabe zu gewinnen, stimmt’s?«

»Harry, treib’s nicht zu weit, bitte.«