Der Kommissar am Fenster

Der kleine Alte mit dem Spitzbärtchen kam erneut rückwärts aus dem Lagerhaus, blickte nach links und nach rechts und machte dabei mit beiden Händen eine Geste, als ob er den schweren Lastwagen, dessen Manöver er dirigierte, anlocken wollte. Seine Hände sagten:

»Etwas nach rechts … Ja … Geradeaus … Vorsicht … Nach links … Jetzt einschlagen …«

Und der sich ebenfalls im Rückwärtsgang bewegende Lastwagen holperte über den Gehsteig auf die Straße, wo der kleine alte Mann jetzt den Autos bedeutete, einen Augenblick zu warten.

Es war der dritte Lastwagen, der innerhalb einer halben Stunde aus dem großen Lagerhaus herauskam, auf dessen Giebel zu lesen war: Catoire et Potut, Métaux. Maigret waren diese Worte vertraut, denn seit mehr als dreißig Jahren hatte er sie täglich vor Augen.

In Hemdsärmeln und ohne Krawatte stand er am Fenster des Schlafzimmers in seiner Wohnung am

Er war nicht krank, und genau das war ungewöhnlich, denn es war zehn Uhr morgens und nicht einmal Sonntag.

Mitten am Vormittag am Fenster zu stehen und das Kommen und Gehen auf der Straße zu beobachten, die Lastwagen, die ins Lagerhaus gegenüber hineinfuhren und wieder herausrollten, gab ihm ein Gefühl, das er manchmal in seiner Kindheit empfunden hatte, als seine Mutter noch lebte und er nicht zur Schule ging, weil er Grippe hatte oder die Schule geschlossen war: das aufregende Gefühl zu entdecken, »was passierte, wenn er nicht da war«.

Den dritten Tag ging das schon so, den zweiten, wenn man den Sonntag nicht mitzählte, und er konnte sich immer noch daran erfreuen, auch wenn ein leises Unbehagen hinzukam.

Er machte eine Menge Entdeckungen, interessierte sich nicht nur für die Bewegungen des kleinen Alten mit dem Spitzbärtchen, der die herausfahrenden Lastwagen überwachte, sondern beobachtete zum Beispiel auch, wie viele Gäste in das Bistro nebenan gingen.

Es war schon vorgekommen, dass er den Tag zu Hause verbracht hatte. Fast immer war er krank

Plötzlich erinnerte sie ihn an seine Mutter, die den Haushalt machte, während er einfach aus dem Fenster sah.

Wie seine Mutter sagte Madame Maigret zu ihm:

»Geh bitte mal ein bisschen zur Seite, damit ich kehren kann.«

Selbst die wechselnden Küchendüfte trugen dazu bei; an diesem Morgen roch es nach Kalbsbraten und Sauerampfer.

Wie als Kind beobachtete er wieder manche Lichtspiele auf dem Gehsteig, sah, wie die länger werdenden Schatten das Licht vom Gehsteig verdrängten, wie sich Konturen in der flimmernden Luft eines heißen Tages verzerrten.

Das sollte noch siebzehn Tage so weitergehen.

Dass es so weit kommen konnte, war einer ganzen Reihe von Zufällen und Umständen geschuldet. Zunächst einmal hatte er im März eine ziemlich böse Bronchitis gehabt. Wie immer war er zu früh aufgestanden, weil am Quai des Orfèvres viel zu tun war. Er hatte einen Rückfall erlitten, und man hatte schon eine Rippenfellentzündung befürchtet.

Seiner Frau hatte er nichts davon gesagt; ihre verstohlenen Blicke hatten ihn geärgert. Eines Abends war er zu seinem Freund Pardon gegangen, dem Arzt in der Rue de Picpus, bei dem die Maigrets einmal im Monat zu Abend aßen.

Pardon hatte ihn gründlich untersucht und ihn sogar, um ganz sicherzugehen, zu einem Herzspezialisten geschickt.

Die Ärzte hatten nichts gefunden außer einem etwas erhöhten Blutdruck, aber sie hatten ihm alle den gleichen Rat gegeben:

»Sie müssen Urlaub machen.«

Seit drei Jahren hatte er nicht mehr richtig Urlaub genommen. Jedes Mal, wenn er verreisen wollte, kam ein Fall dazwischen, den er übernehmen musste, und einmal, als er schon bei seiner Schwägerin im Elsass war, kam bereits am ersten Tag ein panischer Anruf, der ihn zurück nach Paris beorderte.

»Einverstanden«, hatte er seinem Freund Pardon mürrisch versprochen, »in diesem Jahr nehme ich Urlaub, was auch immer passieren mag.«

Doch leider hatte Charles, der Schwager, gerade einen neuen Wagen bekommen und wollte mit der Familie nach Italien fahren.

Wie viele Abende hatten Madame Maigret und er mit Diskussionen über ein anderes Reiseziel verbracht! Zuerst hatten sie an die Loire gedacht, wo Maigret angeln könnte, dann an das Hôtel des Roches-Noires in Les Sables-d’Olonnes, wo sie einmal herrliche Ferien verbracht hatten. Schließlich hatten sie sich für Les Sables entschieden. Madame Maigret hatte in der letzten Juniwoche angefragt und bekam die Antwort, bis zum 18. August sei alles ausgebucht.

Am Ende hatte ein Zufall die Entscheidung des Kommissars herbeigeführt. Mitte Juli war er an einem Samstagabend gegen sieben in einer eher unbedeutenden Angelegenheit an die Gare de Lyon gerufen worden. Die Fahrt vom Quai des Orfèvres in einem Auto der Kriminalpolizei hatte eine halbe Stunde gedauert, weil die Straßen vollkommen verstopft gewesen waren.

Acht Sonderzüge waren angekündigt, und die

All diese Menschen fuhren aufs Land oder ans Meer, würden über das kleinste Hotel, den bescheidensten Gasthof herfallen, ganz abgesehen von denen, die auf dem ersten freien Plätzchen ihre Zelte aufschlagen würden.

Es war ein heißer Sommer. Maigret war völlig erschöpft nach Hause gekommen, als hätte er selbst eine Reise in einem überfüllten Nachtzug hinter sich.

»Was hast du?«, hatte ihn seine Frau gefragt, die seit seiner Bronchitis doppelt um ihn besorgt war.

»Hast du vergessen, was Pardon gesagt hat?«

»Ich habe es nicht vergessen.«

Voller Grauen dachte er an die überfüllten Hotels und Familienpensionen.

»Sollen wir unseren Urlaub nicht besser in Paris verbringen?«

Zunächst hatte sie das für einen Scherz gehalten.

»Wir gehen eigentlich nie miteinander in Paris spazieren. Wir schaffen es höchstens einmal die Woche, ins nächstbeste Kino auf den Boulevards zu gehen. Im August ist die Stadt leer, wir hätten sie für uns.«

»Und du wirst als Erstes an den Quai des

»Nein, das schwöre ich dir!«

»Das sagst du so.«

»Wir könnten durch Viertel spazieren, in die wir sonst nie kommen, mittags und abends in netten kleinen Restaurants essen …«

»Wenn die Kriminalpolizei weiß, dass du hier bist, rufen sie dich bei der ersten Gelegenheit an.«

»Weder die Kriminalpolizei noch sonst jemand erfährt davon, außerdem lasse ich das Telefon sperren.«

Dieser Gedanke hatte ihm gefallen, und schließlich auch seiner Frau. Das Telefon im Esszimmer blieb also stumm, auch daran konnte er sich nur schwer gewöhnen. Zweimal wollte er nach dem Hörer greifen, bevor ihm einfiel, dass er das nicht durfte.

Offiziell war er nicht in Paris, sondern in Les Sables-d’Olonnes. Diese Adresse hatte er bei der Kriminalpolizei hinterlassen, und wenn dort eine dringende Nachricht ankäme, würde man sie ihm nachsenden.

Am Samstagabend hatte er den Quai des Orfèvres verlassen, und alle glaubten, er sei am Meer. Am Sonntag waren sie erst am späten Nachmittag ausgegangen und hatten in einer Brasserie an der Place des Ternes zu Abend gegessen, ein gutes Stück von

Am Montagmorgen war Maigret gegen halb elf zur Place de la République gegangen, während seine Frau den Haushalt machte, und hatte auf einer fast leeren Caféterrasse die Zeitungen gelesen. Sie hatten in La Villette zu Mittag und zu Hause zu Abend gegessen und waren danach ins Kino gegangen.

Sie wussten beide noch nicht, was sie am heutigen Dienstag tun würden, außer dass sie zu Hause den Kalbsbraten essen und dann wieder aufs Geratewohl losgehen würden.

An diesen neuen Rhythmus musste er sich gewöhnen, denn es war seltsam, keine Verpflichtungen zu haben, die Stunden und Minuten nicht zählen zu müssen.

Er langweilte sich nicht. Doch ehrlich gesagt schämte er sich ein wenig seines Nichtstuns. Ob seine Frau das merkte?

»Willst du dir nicht die Zeitungen holen?«

Es wurde schon zur Gewohnheit. Um halb elf würde er die Zeitungen kaufen und sie wahrscheinlich auf derselben Caféterrasse an der Place de la République lesen. Das amüsierte ihn. Kaum war er den alten Zwängen entwischt, hatte er sich schon neue auferlegt.

Er wandte sich vom Fenster ab, band sich eine

»Du brauchst nicht vor halb eins wieder da zu sein.«

Auch für sie war er nicht ganz derselbe Maigret, seit er nicht mehr an den Quai des Orfèvres ging, und er musste wieder an seine Mutter denken, die ihm nachgerufen hatte:

»Geh eine Stunde spielen, aber sei zum Mittagessen wieder zurück!«

Sogar die Concierge warf ihm einen verwunderten, ein wenig vorwurfsvollen Blick zu. Durfte ein großer, kräftiger Mann so herumlaufen, ohne etwas zu tun?

Ein städtischer Sprengwagen fuhr langsam vorbei, und als wäre das etwas ganz Neues, sah Maigret zu, wie das Wasser aus vielen kleinen Löchern hervorspritzte und sich auf die Fahrbahn ergoss.

Am Quai waren die Fenster zur Seine jetzt bestimmt weit geöffnet. Die Hälfte der Büros war unbesetzt. Lucas war in Pau, wo er Verwandte hatte, und würde erst am 15. zurück sein. Torrence hatte sich einen Gebrauchtwagen gekauft und fuhr damit durch die Normandie und die Bretagne.

Es gab kaum Verkehr, auch Taxis waren nur wenige unterwegs. Die Place de la République wirkte so starr wie auf einer Postkarte, nur ein Touristenbus sorgte für etwas Leben.

Jetzt konnte er sie in Ruhe lesen. Am Vortag hatte er sogar einen Teil der Kleinanzeigen gelesen.

Er setzte sich auf dieselbe Terrasse, auf denselben Platz, bestellte ein Bier, und nachdem er den Hut abgenommen und sich die Stirn abgetupft hatte, denn es war schon heiß, faltete er die erste Zeitung auf.

Die beiden größten Überschriften betrafen internationale Ereignisse und einen schweren Verkehrsunfall mit acht Toten: In der Nähe von Grenoble war ein Bus in eine Schlucht gestürzt. Doch sofort fiel sein Blick auf eine andere Schlagzeile in der rechten Ecke der Seite.

LEICHE IM SCHRANK

In seinem Gesicht bewegte sich zwar kein Muskel, doch er spürte eine gewisse Erregung.

Die Kriminalpolizei hüllt sich in Schweigen über einen makabren Fund, der am gestrigen Montagmorgen in den Räumlichkeiten eines bekannten Arztes am Boulevard Haussmann gemacht wurde.

Der Arzt soll sich zurzeit mit Frau und Tochter an der Côte d’Azur aufhalten.

Anders als sonst hält sich die Kriminalpolizei sehr bedeckt, was vermuten lässt, dass man dem Fall besondere Bedeutung beimisst.

Doktor J. ist sofort zurückgerufen worden. Ein anderer Arzt, der ihn während seines Urlaubs vertritt, scheint der Tat verdächtig.

Wir hoffen, morgen weitere Details über diese merkwürdige Angelegenheit berichten zu können.

Maigret schlug die beiden anderen Morgenzeitungen auf, die er gekauft hatte.

Die eine meldete nichts von dem Fall. Die andere war erst in letzter Minute benachrichtigt worden und brachte unter einem fettgedruckten Titel eine kurze Notiz.

LEICHE IN ARZTPRAXIS

Die Kriminalpolizei ermittelt seit gestern in einem Fall, der eine neue Affäre Petiot werden könnte, mit dem Unterschied, dass diesmal zwei Ärzte und nicht nur einer darin verwickelt scheinen. In der

Maigret ertappte sich dabei, wie er grummelte:

»Idiot!«

Damit meinte er nicht den Journalisten, sondern Janvier, der zum ersten Mal die Verantwortung für Maigrets Abteilung trug. Schon lange hatte der Inspektor auf diese Gelegenheit gewartet, denn bei den früheren Urlauben Maigrets hatte ihn immer ein dienstälterer Inspektor vertreten.

Dieses Jahr war Janvier für fast drei Wochen Chef, und Maigret hatte kaum dem Quai den Rücken gekehrt, da ereignete sich ein Verbrechen, das nach dem wenigen, was die Zeitungen bisher darüber berichteten, sehr bedeutend war.

Doch Janvier hatte bereits den ersten Fehler gemacht: Er hatte es sich mit den Journalisten verdorben. Auch Maigret hatte ihnen schon Informationen vorenthalten, aber auf die sanfte Tour. Selbst wenn er nichts verriet, schien er sich ihnen anzuvertrauen.

Sein erster Impuls war, in die Telefonkabine zu gehen und Janvier anzurufen. Gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass er ja offiziell in Les Sables-d’Olonnes war.

Normalerweise hätten die Zeitungen bereits am Montagabend davon berichten müssen.

Hatte jemand an höherer Stelle interveniert? Oder hatte Janvier von sich aus beschlossen zu schweigen?

Ein bekannter Arzt am Boulevard Haussmann …

 

Maigret kannte das Viertel. Als er nach Paris gekommen war, hatte es mit seinen stillen, eleganten Häusern, den Toreinfahrten, durch die man hinten in den Höfen die früheren Stallungen sah, den sanften Schatten der Kastanienbäume und den Limousinen, die am Gehsteig parkten, bei ihm den vielleicht tiefsten Eindruck hinterlassen.

»Bitte geben Sie mir einen Jeton!«

Er wollte nicht den Quai anrufen, das durfte er ja nicht, sondern Pardon, der im Juli am Meer gewesen war und als Einziger von Maigrets Urlaub in Paris wusste.

Pardon war in seiner Praxis.

»Sagen Sie, kennen Sie einen Doktor J., der am Boulevard Haussmann wohnt?«

Der Arzt hatte die Zeitung auch gelesen.

»Ich habe beim Frühstück darüber nachgedacht

»Kennen Sie ihn?«

»Ich bin ihm zwei- oder dreimal begegnet, habe ihn aber vor ein paar Jahren aus den Augen verloren.«

»Was ist er für ein Mensch?«

»Beruflich?«

»Ja, zunächst einmal.«

»Ein zuverlässiger Arzt, der sein Handwerk versteht. Er muss um die vierzig sein, vielleicht fünfundvierzig. Ein sehr gut aussehender Mann. Alles, was man ihm vorwerfen kann, wenn es denn ein Fehler ist: Er hat sich auf Patienten aus den besten Kreisen spezialisiert. Nicht ohne Grund hat er sich am Boulevard Haussmann niedergelassen. Bestimmt verdient er viel Geld.«

»Verheiratet?«

»So steht es in der Zeitung. Ich wusste nichts davon. Sagen Sie, Maigret, Sie werden doch nicht zum Quai eilen und sich mit dem Fall befassen?«

»Nein, das verspreche ich Ihnen. Und der andere Arzt, von dem die Rede ist?«

»Ich war heute Morgen nicht der Einzige, der deswegen mit Kollegen telefoniert hat. So ein Fall kommt in unserem Beruf ziemlich selten vor, und

»Sind Sie sehr beschäftigt?«

»Jetzt gerade?«

»Allgemein.«

»Weniger als sonst, die meisten meiner Patienten sind im Urlaub. Warum?«

»Würden Sie versuchen, so viel wie möglich über diese beiden Ärzte herauszufinden?«

»Vergessen Sie nicht, dass Sie auf ärztliche Anordnung im Urlaub sind!«

»Ich verspreche Ihnen, keinen Fuß in den Quai des Orfèvres zu setzen.«

»Was Sie nicht davon abhält, der Sache als Amateur nachzugehen, stimmt’s?«

»Ja, so ungefähr.«

»Gut. Ich werde ein paar Telefonate führen.«

»Könnten wir uns heute Abend treffen?«

»Kommen Sie doch mit Ihrer Frau zu uns zum Essen?«

Plötzlich war Maigret nicht mehr derselbe wie am Morgen. Er träumte nicht mehr vor sich hin und kam sich nicht mehr wie ein kleiner Junge vor, der die Schule schwänzt.

Er setzte sich wieder auf die Terrasse, bestellte ein zweites Bier und dachte an Janvier, der entsetzlich aufgeregt sein musste. Hatte Janvier versucht, ihn in Les Sables-d’Olonnes anzurufen, um seinen Rat einzuholen? Nein, sicher nicht. Er wollte den Fall bestimmt allein zu einem guten Ende bringen.

Der Kommissar brannte vor Ungeduld, mehr darüber zu erfahren, aber da er nicht wie sonst hinter den Kulissen arbeitete, musste er wie alle anderen auf die Abendzeitungen warten.

Als er zum Mittagessen nach Hause kam, blickte seine Frau ihn stirnrunzelnd an. Sie ahnte etwas.

»Hast du jemanden getroffen?«

»Nein. Ich habe nur mit Pardon telefoniert. Wir laden sie heute Abend in ein Bistro zum Essen ein. In welches, weiß ich noch nicht.«

»Fühlst du dich nicht wohl?«

»Ich bin in Hochform.«

Das stimmte. Die Zeitungsmeldung hatte seinem Urlaub einen Sinn gegeben, und er war nicht versucht, in sein Büro zu gehen und die Sache in die

»Was machen wir heute Nachmittag?«

»Wir gehen auf dem Boulevard Haussmann spazieren und schauen uns dort ein bisschen um.«

Sie hatte keine Einwände und fragte auch nicht weiter nach. Sie hatten viel Zeit und konnten in aller Ruhe am offenen Fenster essen, was nicht oft vorkam. Selbst die Geräusche von Paris klangen anders als sonst. Anstatt einer wirren Sinfonie konnte man einzelne Töne unterscheiden. Man hörte, wie ein Taxi um eine Straßenecke bog und wie ein Lastwagen vor einem Haus hielt.

»Machst du keinen Mittagsschlaf?«

»Nein.«

Während sie abspülte und sich dann umzog, ging er noch einmal hinunter, um die Abendzeitungen zu kaufen.

Inzwischen waren dem Fall die größten Schlagzeilen gewidmet:

EIN NEUER FALL PETIOT

TOTE FRAU IM SCHRANK

ZWEI ÄRZTE IM VERHÖR

Im besten Artikel, den der kleine Lassagne, einer der schlauesten Reporter, geschrieben hatte, hieß es:

Obwohl die Polizei wenig Bereitschaft zeigt, Informationen preiszugeben, haben wir durch eigene Recherchen folgende Einzelheiten herausfinden können.

Im dritten Stock des Hauses Boulevard Haussmann 137 b wohnt seit fünf Jahren der vierundvierzigjährige Doktor Philippe Jave mit seiner Frau. Das Ehepaar hat eine dreijährige Tochter.

Die Familie Jave lebt in einer der beiden Wohnungen auf diesem Stockwerk. In der anderen befindet sich die luxuriöse Praxis. Die Patienten des Arztes gehören nämlich den besten Kreisen an und sind größtenteils im Bottin Mondain aufgeführt.

Am 1. Juli sind die Javes in Begleitung ihres Kindermädchens für sechs Wochen nach Cannes gereist, wo sie die Villa Marie-Thérèse gemietet haben.

Am selben Tag hat ein junger Arzt, Doktor Négrel, die Vertretung seines Kollegen übernommen.

Neben dem Kindermädchen, Mademoiselle Jusserand, sind zwei weitere Angestellte in dem Haushalt beschäftigt. Eine von ihnen nahm für die Zeit der Abwesenheit ihrer Herrschaft Urlaub und fuhr in ihren Heimatort in der Normandie, während die

Da die Wohnräume nicht genutzt wurden, musste sie lediglich die Praxis sauber halten.

Doktor Négrel ist Junggeselle und lebt in einer möblierten Wohnung in der Rue des Saints-Pères. Er kam jeden Morgen um neun Uhr, nahm Anrufe entgegen und machte dann Hausbesuche in der Stadt, aß in einem Restaurant zu Mittag und kam um zwei Uhr für die Sprechstunde an den Boulevard Haussmann zurück.

Nach der Sprechstunde verließ er die Praxis gegen sechs Uhr. Josépha Chauvet ging dann zu ihrer Tochter, die im selben Viertel in der Rue Washington wohnt, wo sie meistens übernachtete.

Was ist geschehen? Das Schweigen der Polizei macht es uns schwer, den Ablauf der Ereignisse nachzuvollziehen, aber einige Tatsachen stehen fest.

Letzten Samstag verließ Doktor Négrel die Praxis am Boulevard Haussmann um halb sechs, Josépha war noch vor Ort. Im Laufe des Nachmittags hatte er ein halbes Dutzend Patienten behandelt, aber niemand hatte im Haus verdächtige Personen bemerkt.

Am Sonntag ist Doktor Négrel zu Freunden aufs Land gefahren, während Josépha den ganzen Tag bei ihrer Tochter in der Rue Washington verbrachte und erst am Montagmorgen um acht in die Praxis zurückkehrte.

Erst als sie in diesen dritten Raum kam, fiel ihr, wie sie aussagte, ein seltsam fader, unangenehmer Geruch auf, aber sie hat sich zunächst nichts dabei gedacht.

Ein paar Minuten vor neun wurde sie doch stutzig und öffnete die Tür zu einem vierten, kleineren Raum, der in ein Labor umgebaut worden war. Von dort, genauer gesagt aus einem der Wandschränke, kam der Geruch.

Der Schrank war verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht im Schloss. Als Josépha den Schrank untersuchte, hörte sie Schritte hinter sich, drehte sich um und sah Doktor Négrel hereinkommen.

Ist er zusammengefahren? Ist er blass geworden? Darüber gibt es widersprüchliche Aussagen.

Er soll gefragt haben:

»Was machen Sie da?«

Worauf sie geantwortet habe:

»Riechen Sie nichts?«

Dann hat sie wohl von einer toten Ratte geredet.

»Hat Doktor Jave Ihnen nicht die Schlüssel dagelassen?«

Wir können natürlich nur versuchen, die Tatsachen möglichst genau zu rekonstruieren. Einige Minuten später verließ Josépha das Haus, holte in der

Maigret fragte sich, woher der kleine Lassagne diese Einzelheiten wusste. Er hätte schwören können, dass Josépha ihm nichts gesagt hatte. Und erst recht nicht Doktor Négrel. Die Concierge? Möglich. Vielleicht später der Schlosser?

Er las weiter: