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Karl Napf

Die Leute
von Napfheim

Schwäbische Erlebnisse

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Karl Napf hat der schwäbischen Seele wieder aufs Maul geschaut
und seine Erkenntnisse mit spitzer Feder zu Papier gebracht.
Die Tücken des Alltags und die Abenteuer des »kleinen Mannes«
sind sein Thema – frei nach dem Motto: »Es menschelt überall.«

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
des Fördervereins Schwäbischer Dialekt e. V.

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1. Auflage 2018

© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8425-2090-5

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Inhalt

Vorwort

Die Leute von Napfheim

Vorwort

Alles im grünen Bereich? Diese Frage stellt sich in ganz Deutschland und beschäftigt auch den Stammtisch im »Kreuz« in Napfheim, der vom Bürgermeister selbst präsidiert wird. Auch der Schulmeister Josef gehört dazu und ein Finanzbeamter namens Edwin, die bei den Gesprächen ihre fachliche Kompetenz zum Ausdruck bringen. Die Wirtin, eine etwas räse Junggesellin, macht sich ihre kritischen Gedanken über die Männerwelt und das Leben in Napfheim einst und jetzt.

Da in Napfheim ein Heimatmuseum entstehen soll, wird in der Rückblende ohne Beschönigung vor Augen geführt, wie es früher einmal im Dorf war. Welche Anpassungen an die Zeit heute notwendig erscheinen, überlegt sich der Schultes bei einer ausgedehnten Schwarzwaldwanderung im Urlaub.

Am Beispiel der unterschiedlichsten kommunalen Probleme entsteht ein lebendiges, vielfältiges Zeitbild einer Gemeinde auf der Schwelle zur digitalen Gesellschaft.

Obwohl das Buch, wie bei Karl Napf nicht anders denkbar, humorgewürzt und reich an unterhaltsamen Anekdoten ist, wird deutlich, wie sehr die ältere Generation Furcht vor dem digitalen Zeitalter hat und durch die Globalisierung verunsichert ist.

Beeindruckend und Hoffnung erweckend ist, wie sehr ein Dorf sich auch heute noch ein eigenes Profil geben kann und wie erfolgreiche Initiativen an der Basis entstehen können, die nicht »von oben« verordnet werden müssen.

Karl Napf
Nordstetten, im Sommer 2017

Die Leute von Napfheim

Napfheim ist nur ein kleiner Ort. Vom Weltall aus sieht man es nicht, selbst wenn die Napfheimer alle Lichter in ihren Häusern einschalten würden. Auf den Landkarten ist es verzeichnet, aber es genügt ein Muckenschiss, um es verschwinden zu lassen. Es gibt keine Autobahnabfahrt nach Napfheim und auch kein Hinweisschild auf besondere Sehenswürdigkeiten, wie es in manchen Landschaften nach jedem Kilometer auf ein Schloss oder wenigstens eine Burgruine hinweist. Wer nach Napfheim will, muss dies wirklich wollen und nicht nur spazieren fahren, selbst wenn das Benzin einmal ganz billig sein sollte. Die größte Sehenswürdigkeit in Napfheim sind die Napfheimer selber, was ihnen auch sehr bewusst ist und sie das Leben fröhlicher angehen lässt als andere.

Im Übrigen liegt Napfheim, wie die Napfheimer selbst zugeben, so dazwischen. Zwischen größeren Städten, zwischen größeren Flüssen und zwischen den großen Gebirgen mit ihrer natürlichen Schönheit. Napfheim ist sich selbst genug, und wer eine Hose oder eine Bluse erwerben will, braucht nicht, falls er nicht ohnehin im Internet kauft, in die Landeshauptstadt zu fahren, sondern kann dies, so er will, sogar fußläufig im nächsten Städtchen tun. Auch wenn alte Beschreibungen von ihrer Region davon sprechen, die Gegend um Napfheim herum sei recht eintönig, haben die Napfheimer dafür kein Verständnis und weisen darauf hin, dass man von ihrem Ort die schönsten Aussichten in die weite Umgebung hat. Wer noch richtig sehen kann, dem wird auch nicht entgehen, dass ihr Dorf im Norden und Osten von herrlichem Laubwald, im Süden und Westen von Streuobstwiesen mit edelsten Sorten umgeben ist, was mindestens zehnmal schöner ist als ein Kranz von Hochhäusern, bei denen der Putz blättert und in denen niemand wohnen will.

Auch in Napfheim gibt es keinen »Latschareplatz« mehr, an dem sich die Dorfjugend trifft, aber das Milchhäusle blieb noch Jahrzehnte im Betrieb und half bei der realistischen Partnersuche, da das Vermögen potentieller Schwiegereltern schon an der abgegebenen Milchmenge ersichtlich war. In Napfheim kam eine Besonderheit durch die »Dichterhütte« hinzu.

Am Waldrand mit Blick aufs Dorf hatte ein deutscher Soldat 1945 seinen Rückzug aus dem Krieg beendet und sich »häuslich« in einer kleinen Hütte niedergelassen. Er wurde vor allem von den älteren Mädchen aus dem Dorf besucht. Seinen Besucherinnen widmete er kleine Verse, weshalb in Napfheim für seine Behausung der Name »Dichterhütte« geläufig wurde. Die Verse waren kunstlos, aber dennoch sehr begehrt. So konnte es heißen: »Die Maria ist schön und schlank und hustet nicht mehr, Gott sei Dank!« Oder: »Unsere Victoria wartete hier lang auf ihren Husar, doch der ist nicht gekommen, da hat sie mich genommen.«

Das wirklich Besondere am Leben in Napfheim ist, dass die Einwohner nicht erst darauf warten, dass in Berlin und Stuttgart zu jedem Problem ausreichend »Hirn ra gschmissa« wird, sondern sie sich selbst etwas einfallen lassen.

Am meisten trägt aber zu ihrem Selbstbewusstsein bei, dass sie für ein Dorf in einem großen Land sich eine beachtliche Freiheit bewahrt haben. Zwar gelten die Männer in der Gemeinde nicht nur aus der Sicht ihrer Frauen eher als mittelprächtig, was in Anbetracht ihrer heute nicht mehr gefragten Qualifikation für Schippe und Schaufel, Pflug und Schraubstock und der überholten handwerklichen Fertigkeiten bis hin zur doppelten Buchführung aber schon recht bemerkenswert ist. Der Siegeszug der Frauen war, seit die rechtlichen Schranken durch das Grundgesetz gefallen waren, auch in Napfheim auf allen Gebieten triumphal, und seit der Digitalismus aufgekommen ist, weiß ohnehin niemand, wer der Partner auf der anderen Seite ist. Trotz ihrer Überlegenheit haben sich die Napfheimerinnen noch alte Ideale bewahrt: Sie sehen gut aus und sind im Vergleich zu ihren Männern sehr belastbar, das heißt, sie werden mit Kindern und der Küche gut fertig und üben oft noch einen Beruf aus. Das gute Aussehen und vor allem die schönen schwarzen Haare verdanken sie der Sage nach einem südfranzösischen Kriegsgefangenen, der nach der Schlacht von Sedan 1870 einem Bauern in Napfheim zugeteilt wurde und wertvolle Komponenten in das Erbgut der Napfheimer eingebracht haben soll. Im Übrigen sind die Frauen in diesem bewunderungswürdigen Ort klug genug, ihre Überlegenheit die Männer nicht spüren zu lassen, was zur Harmonie in den Familien sehr beiträgt.

Die ersten zarten Bande zwischen den Geschlechtern entstanden wie erwähnt in Napfheim und anderen ländlichen Gemeinden oft schon im Milchhäusle des Dorfes. Das Wunder der körperlichen Liebe war der Landjugend meist auch ohne spezifische Filme und Produkte von Beate Uhse vertraut, gibt es doch den Typ des Stadtneurotikers, wie ihn Woody Allen verkörperte und er auf jedem städtischen Gymnasium zu finden ist, auf dem Land selten oder nie. Auch spielt »das Sach«, das heißt das Vermögen des potenziellen Partners, eine weit größere Rolle als in Städten und bewahrt vor amourösen Fehlplanungen. Auch der kirchliche Einfluss, der früher zu manchen Verklemmungen führte, ist überall zurückgegangen, so dass einer »normalen« Entwicklung der Napfheimer Jugend auf diesem lebenswichtigen Gebiet an sich nichts im Wege steht.

Eine Klasse für sich sind die Napfheimer, die zum »Ortsadel« zählen. Diese gehören zwar nicht blutsmäßig zum Adel, wohl aber zu den einflussreichsten Bürgern, die schon lange im Dorf leben und so viele Verwandte in der Gemeinde haben, dass ihnen bei jeder Kommunalwahl ohne Wahlkampf ein Platz im Gemeinderat sicher ist.

Eine der Grundwahrheiten des Zusammenlebens nicht nur in Napfheim ist, dass man einen Menschen hierzulande nicht abschließend beurteilen sollte, bevor man sein Grundbuch gesehen hat. Macht man diesen Test beim Ortsadel, stellt man fest, dass ihm mehr als der halbe Ort gehört, da sich Erbschaften stets auf die gleichen Familien verteilten. Bei Eheschließungen wird deshalb auch streng darauf geachtet, dass die Grundbücher gleichwertig sind.

Der Ortsadel stellte auch über lange Zeit die Vertreter der »Dreifaltigkeit« im Dorf, wozu traditionell der Pfarrer, der Bürgermeister und der Schulleiter gehörten. In vielen Gemeinden gibt es schon lange keinen eigenen katholischen Pfarrer mehr, während in Napfheim noch ein junger idealistischer Priester sich um das geistig-religiöse Wohl der Napfheimer kümmert. Aus Nachbardörfern hörte man aber schon mit leichtem Entsetzen, dass persönlich äußerst liebenswürdige Pfarrer aus Uganda oder Indien eingesetzt werden, die von der Mehrheit der Kirchenbesucher, den alten Menschen, akustisch nicht verstanden würden, weshalb diese dann irgendwann resignierend wegbleiben. Der Napfheimer Pfarrer hingegen spricht »lautreines Schwäbisch«, und seine Predigten werden wegen ihres mitreißenden Schwunges gelobt.

Die Schwäche des Pfarrers ist der Religionsunterricht, für den er weder ausgebildet noch geeignet ist, was bei vielen Pfarrern so ist. Seine vornehm zurückhaltende Art wird gern von den Kindern und Lehrern als Schwäche empfunden, so dass auch an der Napfheimer Schule der Satz gilt, der größte Lärm ist immer da, wo der Pfarrer unterrichtet.

Die Napfheimer sind dennoch stolz auf ihren jungen Pfarrer, der noch dem selten gewordenen Typ des »geistlichen Herrn« entspricht.

In allen praktischen Fragen der Seelsorge kann er sich auf seinen Diakon verlassen, der sich trotz seiner Belastung im Beruf der langjährigen Ausbildung zum Diakon unterzogen hat und ein seltenes Beispiel von Gesundheit und Schaffenskraft darstellt. Er dürfte auch einer der wenigen kirchlichen Würdenträger sein, die freiwillig zur Bundeswehr gegangen sind und dort bei den Fallschirmjägern gedient haben, was er damit kommentiert, kein Theologe im weiten Umkreis sei dem Himmel schon so nahe gewesen wie er.

Konsequent beherzigt er das biblische Gebot, das Evangelium nicht nur zu verkünden, sondern auch danach zu leben.

»Auch in Napfheim«, beklagt er sich oft, »gibt es Menschen, die zu einer selbstständigen Lebensführung durch Krankheit, Alter, finanzielle und seelische Verarmung nicht mehr in der Lage sind.« Er habe den Eindruck, dass die Zahl dieser wahrhaft mühseligen und beladenen Mitmenschen immer größer werde, aber gleichwohl von den Medien und der Politik nie beachtet werde.

Man könne diese Menschen zwar mit Hartz IV am Leben halten und mit Hunderten von Fernsehsendern unterhalten, was ihnen fehle, sei das, was man im Schwäbischen »die Ansprache« nennt, eine Aufgabe in der Familie und das Gespräch mit Nachbarn oder im Verein, was selbst in Dörfern oft nicht mehr möglich ist. Wenig Erfolg hat er, wenn er trotz negativer Erfahrung den Suchtkranken helfen will, ihr Leben einigermaßen zu meistern, was ihn viel Zeit kostet. Diese sind aber oft psychisch und physisch so abgebaut, dass sie keine Energie mehr haben, ihr Leben zu ändern, und er ihnen nur das Gefühl geben kann, dass er sie als Mensch annimmt. Bei diesen Versuchen, Menschen zu einem doch noch sinnvollen und nicht ausschließlich unglücklichen Leben zu verhelfen, muss er sich eingestehen, dass er auch über die Religion keinerlei Zugang zu ihnen findet. Eines wurde ihm dabei aber deutlich: Alle Süchtigen haben im Grunde Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt, einer gerechteren und menschlicheren, die jeden Menschen in seiner Art gelten lässt, nicht nur die »Harten«, sondern auch die zarter Besaiteten, Schwachen und Kranken, die gerade die Robusten und Starken oft verachten.

Im Dorf nennt man ihn »Don Camillo« oder auch den »Kanalarbeiter Gottes«, was er als Ehrentitel trägt, und er hat auch genug Humor, wenn seine Gutmütigkeit einmal ausgenützt wird, wie von einem jungen Mann, der nachts um zwei klingelte, um Geld bei ihm für den Zigarettenautomaten zu wechseln.

Manchmal wird er auch offen verspottet, was er, ohne sich aufzuregen, mit den Worten beantwortet: »Ich werde für Sie beten.«

Eine große Freude bereitete ihm andererseits eine Muslima, die ihm einen Topf mit Pudding mit den Worten überreichte: »Du guter Mensch, nie schimpfen auf Muslim.«

Um mehr Zeit füreinander zu haben und besser zusammenrücken zu können, haben die Napfheimer beschlossen, für alle verbindlich den Montag zum fernsehfreien Tag zu erklären. Zwar war in den siebziger Jahren sogar ein Bundeskanzler damit gescheitert, von Staats wegen einen fernsehfreien Tag einzuführen. Aber es entspricht der Geisteshaltung der Napfheimer, sich sinnvolle Maßnahmen nicht huldvoll vom Staat gewähren zu lassen, sondern selbst aktiv zu werden. Eine Begründung für den Fernsehboykott an Montagen war vor der Abstimmung die Erinnerung an das Verhalten in früherer Zeit gewesen. Wäre jemand in den fünfziger oder sechziger Jahren buchstäblich jeden Tag vier, fünf Stunden ins Kino gegangen und hätte sich dort jeden Film angesehen, der gerade läuft, hätte man dies schon als relevant für die Einschaltung von Psychiatern gesehen. Das heutige Fernsehverhalten ist aber nach Zeitaufwand und Passivität der Betrachter nicht nur vergleichbar, sondern eher noch schlimmer.

So wurde in Napfheim der Montag der Tag der Vereine und der VHS. In den Familien wird mit den Kindern »Halma« und »Mensch ärgere dich nicht« gespielt, und es kommt nicht selten dazu, dass Eltern und Kinder miteinander »live chatten« und »chillen«. Selbst die Oma, wenn sie noch in der Familie lebt, was ja einmal die Regel war und Alters- und Pflegeheime die Ausnahme, ist einbezogen und freut sich, mitspielen zu dürfen, obwohl sie zum Spaß der Enkel oft bald beim Spielen »hinausfliegt«.

Bemerkenswert war, dass viele Zeitungen selbst in Japan und den USA über den fernsehfreien Montag in Napfheim berichteten, das deutsche Fernsehen selbst aber die Nachricht völlig unterschlug, womöglich hätte das Beispiel Schule gemacht und hohe Verluste an Werbeeinahmen bewirkt.

Dafür heißt es in der ganzen Umgebung, die Napfheimer hätten halt ihren eigenen Kopf, was eigentlich ein großes Kompliment ist und darauf schließen lässt, dass andere ihren Kopf womöglich vom Fernsehen und dem Internet gefüllt bekommen.

Ein typisches Beispiel für diese Geisteshaltung ist, dass sie die Jahrtausendwende feierten, als sie wirklich stattfand, und kein Jahr zuvor, was außer von ihnen nur vom Geburtsort des Rechenkünstlers Adam Riese, Staffelstein am Main, so praktiziert wurde.

So feierten die Napfheimer das Neujahr 2001 auf eine ganz besondere Weise. Am höchsten Punkt der Markung, dem Wasserturm, versammelte sich die ganze Einwohnerschaft des Dorfes vor Mitternacht und ließ es sich gut gehen. Die Wirtin des »Kreuzes« übernahm die Bewirtung und konnte dabei den Umsatz von fast einem Vierteljahr machen. Auch die Vereine zeigten sich von ihrer besten Seite, indem sie sich um die älteren Napfheimer kümmerten. Mit Hilfe der Feuerwehr konnten selbst die Rollstuhlfahrer aus dem Dorf in den Genuss einer einmaligen, noch nie dagewesenen Veranstaltung kommen. Schon der Rundblick auf all die beleuchteten Dörfer in der Umgebung, der so recht die beherrschende Lage Napfheims deutlich machte, wurde ein seltenes Erlebnis. Das Feuerwerk, als aus allen Dörfern die Raketen emporzischten, rief eine Begeisterung hervor wie bei keinem anderen Silvester und führte zu einem echten Erlebnis der Dorfgemeinschaft.

Nach alter deutscher Sitte wurde dann auch gesungen, und »Kein schöner Land in dieser Zeit« bot sich dafür bestens an. Der Sängerkranz in Napfheim pflegt dieses Liedgut noch, aber »grad zum Possa zu den Rolling Stones«, wie sein Vorsitzender betonte, »dieses Lied kennen unsere Leute ja gerade noch, zumindest die erste Strophe«, meinte er, »mit den überkommenen schwäbischen Liedern steht es sonst auch bei uns leider nicht mehr zum Besten«. Die Silcher-Lieder sind alle sehr schön, aber für den Zeitgeschmack zu schlicht, setzen sie doch Gefühle voraus, die offensichtlich bei vielen nicht mehr vorhanden sind. Ein cooler Lover singt nicht mehr: »Rosenstock, Holder blüht, wenn i mei Schätzle seh, hüpft mir vor lauter Freud ’s Herzel im Leib.« Wahrscheinlich fehlt’s am Herzel, das wegen einer bloßen »Beziehung« nicht mehr hüpfen will, was ja auch viel Aufwand wäre. Auch der Bewohner einer Hochhaussiedlung dürfte überfordert sein, wenn er singen soll: »Lebe wohl, du kleine Gasse, lebe wohl, du stilles Dach«, obwohl dieses Lied das Lieblingslied des großen Dichters Kafka war.

Die Napfheimer vergaßen diesen Jahreswechsel nicht so schnell, hob er sich doch von dem üblichen Silvestergeschehen ab, als viele schon vor Mitternacht einnickten, wie ein Jahr zuvor.

Roberto Blanco war in Hochform, als er damals im ZDF sang: »Ein bisschen Spaß muss sein«, was man nicht nur in Deutschland und Napfheim gerne hörte, weil es so fröhlich und optimistisch klingt. Carmen Nebel blieb zum Glück im Nebel stecken und konnte daher nicht auftreten. Helene Fischer raste dafür atemlos durch die Nacht, und eine Besonderheit war die zähe französische Sängerin Mireille Mathieu, bei der weder die kleidsame Prinz-Eisenherz-Frisur noch ihre Lieder gelitten hatten, die den Oldies das Herz wärmten. Hinzu kam, dass ihre Gage jetzt im vorgerückten Alter für das Fernsehen preiswerter war.

Bis zu den diversen Neujahrsansprachen des Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers waren dann jedes Mal alle leicht verkatert, aber wieder wach. Nicht alle aber bemerkten, wie es bei Kanzler Kohl einmal der Fall war, dass die gleiche Ansprache in zwei Jahren nacheinander ohne jede Änderung gesendet wurde.

Diesen geduldigen Bürgern sei zum Trost gesagt, dass solche Ansprachen im Grunde immer einen ähnlichen Inhalt haben müssen, sollen sie doch der Bevölkerung einen vorsichtigen Optimismus vermitteln. Auch die Botschaft der Kirche beruht ja nicht auf immer wieder neuen Sensationen, sondern bezieht ihre Wirkung nicht zuletzt daraus, dass schon Bekanntes wiederholt wird.

Trotz dieser Gewöhnung wird aber von hochachtbaren Napfheimer Familien berichtet, dass Familienfeste gefeiert werden, an denen Alt und vor allem Jung mit einem Tablet auf den Knien sich vergnügen und nur wenige Teilnehmer sich gerade noch bemühen, per SMS miteinander Kontakt zu halten. Zur Entschuldigung dieses Sittenverfalls durch neue Technik ist freilich zu sagen, dass durch Heiraten nach außen die alte Napfheimer Art nicht mehr bei allen voll im Schwange ist. Ein Weihnachtslied in so einer fortschrittlichen Atmosphäre wäre denn auch ein Stilbruch, und statt zum Beispiel der Oma am Telefon etwas vorzusingen, ist bei den Sangeskünsten der meisten Deutschen eine elektronische Grußpostkarte an Weihnachten viel eindrucksvoller.

Grund für das Wohlbefinden der Bürger dieses Dorfes ist, dass man nicht von vornherein jede Mode mitmacht. Die Napfheimer Grundregel in allem ist: Wenn etwas Neues kommt, muss es beweisen, dass es besser ist als das Alte, sonst lässt man es, wie es ist. Die Devise ist deshalb wie bei ihren Vätern und Vorvätern »Des Alte tut’s no«, und allen Ernstes war einmal vorgeschlagen worden, diesen Leitsatz auf die Gemeindefahne zu sticken, was dann aber aus Kostengründen unterblieb, denn Stickereien auf Fahnen sind teuer.

Andererseits kommen die Napfheimer durch dieses Verhalten mit ihrem Geld sehr gut zurecht und spenden, wo immer es ihnen sinnvoll erscheint, was in der Umgebung zu dem Spruch führt: Wenn ein Napfheimer in Geldnot ist, dann wechselt er einen 500-Euro-Schein.

Die Napfheimer hätten sich daher ein Leben leisten können wie alle anderen um sie herum, wenn sie nur gewollt hätten.

Die »freie Entfaltung der Persönlichkeit«, die in den siebziger Jahren sehr im Schwange war und zu kuriosen Kleinanzeigen führte wie »Witwe sucht Partner, mache alles mit«, »Ehepaar sucht Gleichgesinntes« oder hochmoralisch verurteilend zur Meldung »Millionär wollte zweimal täglich«, wird aber bei ihnen recht zurückhaltend praktiziert. Führt sie bei vielen doch auch