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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Die Flamme im Wald

Ein Spalt bei der Mauer

Verschiedene Pfade

Durch enge Schluchten

Von Nägeln, Salz und rotem Zwirn

Das Puzzle aus Glas

Gefährliche Stimmen

Treppen, Trolle, Hexenwürfel

Ein Licht in der Nacht

Der blaue Honig

Nebel im Wald

Besuch aus den Bergen

Die Flamme im Wald

 

 

Langsam und sachte rieselte der Schnee. Zu Beginn fiel er noch zaghaft, fast wie glitzernder Puder. Doch mit jedem Augenblick, der von nun an verstrich, wurde das Gestöber dichter und dichter. Bald schon tanzten Flocken vom Himmel, so bauschig und groß, wie man sie abseits der Berge nur selten erblickte. Im blassen Mondschein bedeckten sie die Wiesen und die Felder, legten sich auf die Zweige und verhüllten im Nu das schlummernde Land. Wahrlich, jetzt gab es überhaupt keinen Zweifel mehr. In dieser Novembernacht, in den Morgenstunden des Jahres 832 (nach Zeitrechnung des Unkrautlands), war der Winter ausgebrochen. Und bis zu den fernen Frühlingstagen in einigen Monaten sollte er das Unkrautland mit aller Kraft in Beschlag nehmen. So erstarrte nun die Natur im funkelnden Zauber, und in der Ebene, weitab des Gebirges, machte sich eine besänftigende Stille breit. Das Rascheln in den Gräsern wurde leiser, die plätschernden Wasser gefroren, und selbst im gespenstischen Finsterwald, wo es doch sonst immerzu raunte und knisterte, schien sich alles und jeder zur Ruhe zu legen. Die Geister des Waldes waren still und verstummt. Einzig das Fallen des Schnees belebte jetzt noch die Nacht.

Ganz anders war es indessen in den höheren Lagen, auf den Spitzen der Gletscher und in den felsigen Schluchten. Dort brüllte der Eiswind, und es tobten die Stürme. Aus den schwärzesten Wolken stob der Schnee, türmte sich auf und preschte mit Donnergrollen ins Tal. Die Schwefelzinnen versanken in Bergen aus Eis.

Doch diese Regionen waren allzu entlegen und meilenweit von jeder menschlichen Behausung entfernt. Kaum jemand ahnte die Wucht, mit welcher der Winter dort oben sein Unwesen trieb oder hörte die wilden Stürme, die zu dieser Stunde über die Berggipfel fegten. Wie sollte man auch? In den Städten und Dörfern hatten die Bewohner längst alle Fenster und Türen verschlossen. Die Vorhänge waren zugezogen und die Holzöfen geschürt. Außerdem kümmerten sich die Leute nicht sonderlich um die düstere Bergkette, die das Unkrautland im Süden wie eine Klammer umgab. Das Bleigebirge war gänzlich außer Reichweite und viel zu weit weg. Und dennoch, über die Sagen und Legenden, die jener unheilvollen Gegend entsprangen, wurde vor den Kaminfeuern der abergläubischen Landbevölkerung genauso gerne getuschelt wie über die Westlichen Sümpfe, den Turm auf den Nebelfeldern oder das immerwährende Lieblingsthema: die garstigen Spukgestalten des Finsterwalds.

Aber verglichen mit dem Tumult, der in dieser Nacht in den Bleibergen herrschte, wirkte der Finsterwald heute keineswegs Furcht einflößend oder gefährlich, ganz im Gegenteil. Im Glitzern der Schneeflocken machte er vielmehr einen friedlichen, ja fast schon beschaulichen Eindruck. Das galt besonders für die kleine Lichtung, die nur wenige Schritte abseits des Kräutersteigs lag. Gemächlich fielen dort die Flocken auf die Beete, bedeckten die Sträucher und legten sich auf den windschiefen Zaun, der den Gemüsegarten umgab. Ab und an strahlte das Mondlicht hinter den Wolken hervor und ließ den Schnee auf der Wiese funkeln wie einen Bottich voll Zucker. Von Geistern, Bösewichten oder ähnlichem Gesindel war weit und breit nichts zu sehen. Alles glich einem vollendeten Winterzauber, wenngleich auch mit einem winzigen Schönheitsfehler behaftet:

Denn der einzige Makel, der in dieser Decke aus frischem Neuschnee zu finden war, bestand in den drei seltsamen Spuren, die vom Salatbeet aus quer durch den Garten verliefen. Jene boten einen durchaus merkwürdigen Anblick, da sie wohl unterschiedlicher nicht hätten sein können. Von den laufenden Grasbüscheln, die selbst im Winter vereinzelt über den Waldboden huschten, stammten diese Spuren jedenfalls nicht, soviel stand fest. Stattdessen ähnelten sie eher den Abdrücken eines Balls, eines Stocks und den Krallenspuren eines kleinen, dürren Hühnchens. Dicht hintereinander zogen sich die Tapser über die Wiese, bogen bei einem Kurbelbrunnen ab und führten bis zur Rückseite des Hexenhäuschens, das inmitten der Waldlichtung stand. Einladend sah es aus, mit seinem Strohdach, den bauchigen Mauern und den Butzenglasfenstern, durch die flackernd das Licht von Kaminfeuer schimmerte. Eine Rauchfahne stieg aus dem Schornstein und schlängelte sich himmelwärts durch den fallenden Schnee.

Genauso gemütlich wie das kleine Häuschen von außen erschien, so zeigte es sich auch von innen. Zumindest wenn man die unsagbare Unordnung einmal außer Acht ließ, die darin herrschte. Leere Konservenbüchsen lagen wie wild umhergeworfen in den Ecken, Wäscheleinen spannten sich mitten durch den Raum, und aus einem völlig vollgestopften Kleiderschrank, dessen Tür man gar nicht mehr richtig schließen konnte, quoll ein Berg aus Schürzen, Abendkleidchen und Wollpullovern hervor. Es sah ganz danach aus, als hätte sich jemand in aller Eile umgezogen und schnell etwas zu Essen gemacht. Der Duft von Zimt und Bienenwachskerzen erfüllte das Haus, während über der Feuerstelle ein kleiner Teekessel dampfte.

Miss Plim, die Besitzerin dieser Unordnung, kauerte mit angezogenen Beinen auf dem Schreibtisch neben dem Fenster. Sie war bis zur Nasenspitze in eine Decke gewickelt, hatte den Kopf auf die Knie gelegt und blickte verschlafen ins Leere. Inzwischen war es schon sehr spät und in wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Ihr langes, silbriges Haar glänzte im Licht der Kerzen und fiel in Bahnen über ihre Schultern. So müde wie heute hatte sich die junge Hexe schon lange nicht mehr gefühlt. Erschöpft vergrub sie das Gesicht in den Armen und gähnte.

Wie lange war sie jetzt schon auf den Beinen? – überlegte sie. Bestimmt schon eine halbe Ewigkeit. Seit jener Nacht, in der sie auf dem Baum in den Westlichen Sümpfen geschlummert hatte, war sie eigentlich keinen Augenblick mehr zur Ruhe gekommen. Und davon einmal abgesehen, besonders erholsam war das Nickerchen zwischen den Ästen auch nicht gewesen. Man denke nur an das neunmalkluge Hühnergerippe, das in aller Frühe auf ihrem Schoß gesessen und sie angestarrt hatte. Puh, noch immer steckte ihr der Schreck in den Knochen.

Vor Plims innerem Auge flitzten nun die Erlebnisse der letzten zwei Tage vorüber. Sie sah das Haus in den Sümpfen, erkannte den gewundenen Pfad und erblickte unter Schaudern die Schwarze Hütte mit all ihrem Spuk. Welche Mühen hatten sie und Primus auf sich nehmen müssen, um an das geheime Buch zu kommen, das so lange im Verborgenen gelegen hatte. Plim konnte es noch gar nicht fassen. Jetzt aber war das Buch endlich in ihrem Besitz, und sie würden es um keinen Preis der Welt wieder hergeben.

Übermüdet rieb sie sich die Augen. Im Nachhinein erschien es ihr beinahe so, als würde das Abenteuer, das sie und Primus erlebt hatten, schon Wochen zurückliegen. Ähnlich einer Erinnerung aus vergangenen Tagen, die langsam verblasste. Doch dieser Eindruck war trügerisch und stimmte bei weitem nicht. Denn in Wirklichkeit waren Plim, Primus und der kleine Bucklewhee erst vor wenigen Stunden aus der Schwarzen Hütte entkommen und auf Plims Hexenbesen nach Hause geflogen. Jetzt fühlte sie sich restlos erschöpft und wünschte sich nur noch zu schlafen … ganz, ganz lange zu schlafen.

Aber ins Bett gehen wollte die hübsche Hexe wiederum nicht, denn dafür war sie viel zu neugierig. Wer weiß, fürchtete sie, vielleicht würde sie ja am Ende noch irgendetwas verpassen. Sie und Primus wollten doch so schnell wie möglich herausfinden, wie man zu den Schwefelzinnen gelangte … jenen entlegenen Berggipfeln, wo sich angeblich die sagenumwobene Nebelfee befinden sollte. Vor Tausenden von Jahren hatte man diese Erscheinung gefangen genommen und dorthin in eine Festung verschleppt, so vermutete Primus. Und jetzt, da sie endlich das Buch mit der Wegbeschreibung besaßen, waren sie ganz nahe dran, das Rätsel zu lösen. Nein, nein und nochmals nein, dachte Miss Plim. Diesen entscheidenden Moment wollte sie sich nicht entgehen lassen. Sie würde schön brav hier sitzen bleiben und aufpassen. Also zwinkerte sie angestrengt mit den Lidern und lugte zu Primus, der mit hellwachem Blick vor ihr auf einem Holzschemel saß.

Im Gegensatz zu Miss Plim, der die Müdigkeit deutlich ins Gesicht geschrieben stand, fühlte Primus sich prächtig. Er war noch immer putzmunter und wirkte, als wäre er gerade erst aufgestanden. Primus besaß ohnehin einige Eigenschaften, die äußerst bemerkenswert waren und über die selbst im Unkrautland kaum jemand verfügte. So sah man ihm etwa das hohe Alter von über zweihundert Jahren nicht einmal im Entferntesten an. Vielmehr ähnelte er einem jungen Bürschchen, das noch immer die Schulbank drückte. Wenn man bei Primus nach solchen Hinweisen suchte, dann waren es bestenfalls die tief liegenden Augen und seine blasse Haut, die auf ein höheres Alter hätten schließen lassen. Doch im Schein des Feuers wurden sogar diese Anzeichen gemildert.

Aber da gab es noch eine Reihe anderer Besonderheiten, die Primus von den übrigen Menschen unterschieden. So musste er beispielsweise weder essen noch trinken, und krank wurde er auch nie. Zweifellos überaus praktisch, gar keine Frage. Jedoch war seine letzte Eigenschaft, die es hier zu erwähnen gilt, wohl die außergewöhnlichste: Primus konnte sich verwandeln! An jedem Ort und wann immer er wollte, vermochte er die Gestalt einer Fledermaus anzunehmen. Das ging ganz schnell und bereitete ihm keinerlei Mühen. Wieso er das konnte und vor allem seit wann, das wusste er nicht. Primus beherrschte diese Kunst schon solange er denken konnte. Und da sich mit solch einer Fertigkeit natürlich allerlei anstellen ließ, trieb er auch hin und wieder seine Scherze damit.

Jetzt aber hockte er in seiner menschlichen Gestalt auf dem Schemel und studierte das Buch, das sein alter Meister Magnus Ulme vor über zweihundert Jahren geschrieben hatte. Es war ein richtiger Schatz. Wer hätte gedacht, dass sich dieses Werk die ganze Zeit über in der Schwarzen Hütte befunden hatte, versteckt vor der Welt und fern jeden Zugriffs. Staunend betrachtete Primus die Seiten, die selbst nach all den Jahren noch immer sauber und in strahlendem Weiß erschienen. Das Büttenpapier wirkte so neu, als hätte man das Buch erst vor Kurzem gebunden. Was für ein Glück, dachte er, dass es immerzu im Dunklen geschlummert hat, gut verschlossen und geschützt vor den vergilbenden Strahlen der Sonne. Einzig die altmodische Handschrift von Magnus Ulme wies darauf hin, wann diese Seiten tatsächlich beschrieben worden waren. Und ach, wie waren die Seiten schön. Bunte Skizzen gab es darauf zu sehen, Zahlen, Symbole und jede Menge Zeichnungen. Mit feinstem Pinsel hatte Ulme die Buchseiten einst bemalt und mit kunstvollen Lettern verziert. Fasziniert strich Primus über das Papier. Dann blätterte er weiter.

Unterdessen kämpfte Plim mit aller Kraft gegen die Müdigkeit. Sie legte den Kopf zur Seite und lauschte dem Knistern des Feuers. Knack, knicks, knacks machte es. Ein beruhigendes Geräusch. Hin und wieder sprang ein Fünkchen hervor, sauste durch die Luft und landete auf dem Boden, wo es langsam verglühte. Sonst passierte nichts. Schließlich kam der Moment, in dem Plim die Augen zufielen. Sie atmete aus und kuschelte sich ein. Doch noch bevor sie richtig einschlafen konnte, vernahm sie ein Stöhnen, das neben ihr aus dem Holzregal kam.

»Ahhh«, tönte es, »ist mir schlecht.«

Plim rührte sich nicht.

»Mir auch«, brabbelte eine andere Stimme. »Bestimmt viel schlechter als dir.«

Das Stöhnen hielt an.

Grimmig linste Plim zwischen den Lidern hindurch. Sie blickte zur Seite und nahm ein großes Einmachglas ins Visier, das im Regal mit den Zauberzutaten stand. Zwei dicke Kröten lümmelten darin und zogen mitleiderregend lange Gesichter. Taddel und Mills waren die alteingesessenen Ladenhüter von Plims kleiner Hexenküche, mit denen man tragischerweise überhaupt nichts anfangen konnte – geschweige denn, einen vernünftigen Zaubertrank würzen. Plim wusste genau, mit den beiden Hanswursten darin würde so ein Trank garantiert in die Hosen gehen. Die zwei Kröten taugten eigentlich zu gar nichts, nicht einmal zum Fliegen fangen. Dafür aber konnten sie umso besser feiern und stundenlang dumme Sprüche von sich geben. Plim hätte diese nutzlose Bande bestimmt schon vor Jahren vor die Tür gesetzt, würde im Gildehandbuch für Hexen nicht ausdrücklich stehen, dass man als echte Hexe unbedingt zwei alte Kröten besitzen musste. Jetzt lugte sie zähneknirschend aus ihrer Decke hervor und zog die Nase hoch.

»Was ist denn nun schon wieder los?«, brummte sie.

»Sodbrennen«, jammerte Taddel.

»… und Blähungen«, fügte Mills hinzu.

Plim strich sich über das Gesicht. »Na, wunderbar. Das hat mir gerade noch gefehlt.«

»Oooooh«, stöhnte Mills, »ist mir übel.«

»Jaaaaa«, bestätigte Taddel, »üüüüübel.«

Ratlos schüttelte Plim den Kopf. »Was soll ich nur machen, damit ich vor denen endlich meine Ruhe habe?«

Primus schmunzelte.

»Du könntest uns vielleicht einen Tee kochen«, kam es aus dem Glas.

»NATÜRLICH!!!«, fuhr Plim die zwei Kröten an. »WAS HÄTTET IHR DENN GERNE FÜR EINEN, HÄ???«

Doch Plims Keifen beeindruckte die beiden nur wenig.

»Och, wenn du so fragst«, gähnte Mills, »dann nehme ich gerne etwas Fruchtiges.« Er kratzte sich mit seinen dicken Froschfingern am Kopf. »Ich muss noch kurz überlegen, was für einen.«

Taddel schob die Lippen vor und nickte. »Ich weiß schon«, sagte er. »Ich nehme einen mit Zitrone … bisschen Zucker dazu.«

Mit einem Satz sprang Plim vom Tisch. »Wisst ihr, was ihr kriegt, ihr zwei Landstreicher?! Frische Luft und sonst gar nichts.«

Sie machte das Fenster auf und stellte das Einmachglas mit einem Knall nach draußen. Das sollte helfen.

Gerade wollte Plim das Fenster wieder schließen, da sah sie plötzlich, dass hinter dem Haus regelrecht Hochbetrieb herrschte. Mitten in ihrem Kräuterbeet, auf einem umgedrehten Blumentopf, stand Sir Bucklewhee und hielt in würdevoller Pose einen Vortrag. Zweifellos ging es um das Abenteuer in den Westlichen Sümpfen, welches das kleine Hühnergerippe bis ins letzte Detail ausschmückte. Der dicke Kürbis Snigg und Chuck die Vogelscheuche waren auch zugegen. Sie alle hatten sich hinter dem Haus verkrochen, da es dort am schneegeschütztesten war.

Bucklewhee war so mit seiner Rede beschäftigt, dass er Plim und die beiden Kröten gar nicht bemerkte. Auch dass Snigg und Chuck längst eingeschlafen waren, störte ihn nicht im Geringsten. Ohne Pause fuhr er fort und tänzelte dabei elegant auf dem Blumentopf umher.

Plim fiel ihm ins Wort: »Ah, das trifft sich ja bestens, der Herr Professor erzählt Geschichten. Hier, ich habe ein paar Gasthörer für dich.« Sie zeigte auf die zwei dicken Kröten, die völlig belämmert in ihrem Einmachglas hockten. »Vielleicht fängst du ja noch einmal von vorne an, weil die beiden den Anfang nicht mitbekommen haben.« Und sie fügte hinzu: »Aber lass dir ruhig Zeit dabei.«

Das war wohl das Schönste, was man Bucklewhee hätte sagen können.

»Oh, wie geniös«, jubelte er, »vortrefflich. Interessenten sind mir stets willkommen. Nur schnell herbei und Plätze beziehen. Es ist unsagbar spannend, möchte ich meinen.« Er hob den Flügelknochen und wölbte seine Rippen. »Also dann«, stimmte er an, »nochmal von vorne.«

Bei diesen Worten zog Plim schnell den Kopf ein. Sie grinste Taddel und Mills schadenfroh an und schloss flugs das Fenster. Damit wäre das Problem Kröten wohl für die nächsten Stunden gelöst.

Sichtlich erleichtert setzte sie sich wieder auf den Tisch und wickelte sich in ihre Decke. Inzwischen musste es gewiss schon vier Uhr morgens sein. Sie schaute zu Primus, der noch immer mit gesenktem Kopf über dem Büchlein saß und überlegte. Wollte er es etwa auswendig lernen? Wann würde er denn endlich damit fertig sein?

Und tatsächlich dauerte es nicht mehr lange, bis Primus zum Ende kam. Er griff nach dem letzten Blatt und schlug es um. Da ging plötzlich ein Zucken durch seinen Körper. Überrascht richtete er sich auf. Was war denn das? Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die fremdartigen Symbole, die sich auf der hintersten Buchseite befanden. Sollten diese Schnörkel etwa eine Formel darstellen? Etwas Ähnliches war ihm bisher noch nie unter die Augen gekommen. Er drehte das Buch herum und versuchte, die Schrift von der anderen Seite zu entziffern, aber vergeblich. Wenig später klappte er es zu.

Sofort hob Plim den Kopf. »Und, sind wir jetzt schlauer?« Sie rieb sich die Augen. »Nun sag schon. Wissen wir jetzt, wie wir zu den Schwefelzinnen gelangen und wo wir die Nebelfee finden?«

»Tja«, brummte Primus, »genau genommen schon, aber irgendwie …«

»Du hör mal«, drängte sie, »was soll denn das heißen? Vielleicht bist du so gütig und drückst dich ein wenig deutlicher aus. Es ist frühester Morgen, und mir fallen gleich die Augen zu.«

Primus erhob sich. Er zog den Frack zurecht und schlug erneut das Büchlein auf.

»Also«, setzte er an, »wenn ich Magnus Ulme hier richtig verstehe, dann gibt es in der Tat einen Weg, der zu den Gipfeln führt. Es ist ein schmaler Pfad, der etwa dort beginnt, wo auch der Schneckenbach entspringt.«

»Na wunderbar«, freute sich Plim. »Den finden wir ganz bestimmt.« Ungeduldig zappelte sie hin und her. »Und wie geht es dann weiter? Jetzt sag doch. Müssen wir viel laufen, bis wir am Ziel sind?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, bekräftigte er. »Wir müssen zuerst zwischen den Felsspalten hindurch und dann Stück für Stück entlang der Schluchten nach oben steigen. Von dort aus geht es dann weiter. Hier«, sagte er, »sieh dir das einmal an.«

Er hielt Plim das Büchlein entgegen. Eine gespenstische Zeichnung von einer mächtigen Steilwand war auf einer der Seiten zu sehen.

»Das ist die Spindelwand«, erklärte Primus. »Diesen Abhang müssen wir im Anschluss auch noch hinauf.«

Plim blies die Backen auf. »Und wie sollen wir das anstellen? Ich bin doch keine Spinne.«

»Nun, halb so schlimm«, antwortete Primus. »Wir müssen nicht klettern. Es gibt eine Treppe. Sie ist direkt in die Felswand geschlagen. Allerdings kommt sie mir nicht sonderlich einladend vor. An ihrer Seite geht es mehr als 300 Klafter (alte Maßeinheit, 1 Klafter = ca. 1,80 Meter) senkrecht nach unten.«

»Ach, du giftige Hexenbrühe.« Plim wippte zurück. »Wer hat die denn gebaut?«

»Keine Ahnung. Die Kobolde waren es aber bestimmt nicht. Diese Treppe muss Tausende von Jahren alt sein. Wahrscheinlich stammt sie noch aus der Zeit, in der auch die Mondsichel gebaut wurde. Aber wie dem auch sei, auf jeden Fall ist sie unser wichtigster Zugang. Über diese Treppe gelangen wir ins Hochmassiv.«

»Puh, da wird mir jetzt schon schwindlig.«

»Geht mir nicht anders«, stimmte er zu. »In so einer Höhe wird uns außerdem gehörig der Wind um die Ohren pfeifen. Wir werden ein Seil brauchen, um uns anzubinden.«

»Verstanden«, meinte Plim, »Seil einpacken und wetterfest anziehen. Und was kommt dann?«

»Nach der Treppe folgt eine Brücke. Eine Hängebrücke, um genau zu sein. Sie befindet sich irgendwo am oberen Ende der Spindelwand. Wenn man die überquert hat, dann erreicht man den Südkamm der Bleiberge. Dort existiert angeblich eine weitere Treppe, die schließlich bis zu den Gipfeln führt.« Primus nickte ihr zu. »Das ist unsere Route. Die werden wir nehmen.«

»Und das ist alles?« Plim war überrascht. »Das habe ich mir aber um einiges schwieriger vorgestellt. Ein paar Treppen … eine Brücke … und schwupp, schon ist man oben? Klingt doch mehr als einfach, findest du nicht?«

»Doch«, bestätigte Primus, »ganz meine Meinung.« Er machte eine Pause und starrte Plim nachdenklich an. »Und genau das gefällt mir irgendwie nicht.«

»Wie bitte? Das gefällt dir nicht? Warum denn das?«

»Nun, es muss da irgendwo einen Haken geben«, antwortete er. »Ganz so problemlos, wie Ulme es hier beschreibt, kann der Aufstieg zu den Schwefelzinnen nicht sein. Ansonsten würde man doch wesentlich mehr über diese Gegend wissen, findest du nicht? Nach den Chroniken, die wir seinerzeit in Hohenweis gefunden haben, ist kaum jemand auf den Gipfeln gewesen. Es gibt nichts, außer ein paar zweifelhaften Geschichten. Und selbst Rabenstein, der vom Geheimnis um die Nebelfee offenbar besessen war, hat sich nie auf den Weg dorthin gemacht. Dieser Punkt sollte uns eigentlich am meisten zu denken geben.«

»Und was ist mit Magnus Ulme? Der hat es doch sehr wohl gewagt, oder etwa nicht?«

»Ja, das ist schon richtig«, bestätigte Primus, »aber wie wir wissen, hat Ulme die Reise auch in einem Ballon angetreten und nicht etwa zu Fuß. Das ist etwas anderes.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine damit, dass Magnus Ulme den besagten Weg vielleicht absichtlich umgehen wollte. Durch seine Ballonfahrt musste er ihn doch gar nicht betreten. Erst nachdem sein Ballon abgestürzt war und ihm nichts anderes mehr übrigblieb, hat Ulme die Pfade beschritten.« Er tippte auf das Büchlein. »Und genau das war der Wendepunkt in seinem Abenteuer. Von diesem Moment an hat das Unheil seinen Lauf genommen. Ulme scheiterte auf eben jener Strecke, die er zuvor jahrelang erforscht und in diesem Buch hier niedergeschrieben hat. Schon seltsam, oder?« Primus warf Plim einen skeptischen Blick zu. »Nein, nein«, fügte er hinzu, »ich glaube, der Aufstieg zu den Schwefelzinnen ist nicht so einfach, wie wir denken, im Gegenteil. Irgendetwas ist da faul an der Sache.«

Plim rümpfte die Nase.

»Und was ist mit der Festung?«, wollte sie wissen. »Was steht über die geheimnisvolle Festung geschrieben, von der wir erfahren haben?«

»Ach, ja«, sagte Primus, »die Festung. Die kommt im hinteren Teil des Buches vor. Angeblich befindet sie sich auf dem fünften Gipfel des zerklüfteten Südkamms. Das ist ebenjener Berg, den man über die besagte Hängebrücke erreicht. Eine genaue Beschreibung, wie diese Festung aussieht, ist leider nicht vorhanden, da die meisten Teile von ihr offenbar unterirdisch liegen. Ulme hat sich stattdessen mehr mit dem Zugang beschäftigt, der zu ihr führt.«

»Ein Zugang?«

»Ja«, sagte er, »ein steiler Schacht, der sich knapp unterhalb des Gipfels befindet. Durch den gelangt man angeblich in einen großen, schimmernden Raum. Wahrscheinlich ist damit die Halle des Eiskönigs gemeint, von der in Ulmes Unterlagen schon einmal die Rede war.«

»Stimmt«, rief Plim, »daran kann ich mich auch noch erinnern.« Sie strahlte. »Und in dieser Halle ist dann die Nebelfee verborgen, nicht wahr? Der Behälter, in den man sie eingesperrt hat, liegt irgendwo dort herum, oder?«

»Weiß nicht«, grummelte er. »Ulme geht da leider überhaupt nicht drauf ein. Ich glaube, er hat selbst nie herausgefunden, wo sich die Nebelfee letztendlich befindet. Vielleicht ist sie in der Halle, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise gibt es noch andere Räume, wer weiß?«

Nach einer Weile zuckte Primus mit den Schultern. »Aber das soll uns vorläufig egal sein«, sagte er. »Wenn wir erst einmal dort oben sind, dann kommen wir der Sache gewiss auf die Spur.«

Plim lächelte zustimmend.

Dann fasste Primus noch einmal zusammen: »Auf jeden Fall haben wir jetzt eine ausgezeichnete Wegbeschreibung. Wir wissen, wo es langgeht, und wir wissen in etwa, wo wir nach der Nebelfee suchen müssen. Nun ist mir auch völlig klar, warum unser lieber Freund Rabenstein …«

»Dein Freund«, trällerte Plim, »nicht meiner. Du hast mit ihm die Schulbank gedrückt.«

»… der liebe Rabenstein«, verbesserte Primus, »so eifrig hinter diesem Buch her war. Ohne Ulmes jahrelange Forschungen hätte er niemals einen Anhaltspunkt gehabt, wo die Nebelfee geblieben ist.«

»Und jetzt nützt ihm sogar das nichts mehr«, freute sie sich. »Rabenstein liegt tief unter Geröll und Wurzeln begraben und kann uns nicht mehr in die Quere kommen.«

»Ja«, flüsterte Primus, »wollen wir es hoffen.« Nachdenklich schaute er nach draußen in den fallenden Schnee.

»Und was nun?«, fragte Plim.

»So wie es aussieht, müssen wir bis zum Frühling warten«, seufzte er. »Der Winter zieht auf, und es wäre unklug, sich jetzt noch zu den Gipfeln zu begeben. Lassen wir uns lieber etwas Zeit. Die Nebelfee hat 12 000 Jahre dort oben verbracht, dann kommt es auf ein paar Monate mehr oder weniger auch nicht mehr an, oder?«

»Einverstanden«, gähnte Plim, »bis zum Frühling habe ich bestimmt auch ausgeschlafen. Ich bin völlig erledigt und will nur noch ins Bett.«

Das konnte Primus verstehen.

»Ich werde mich auch auf den Heimweg machen«, sagte er. »Das Büchlein würde ich allerdings gerne mitnehmen, wenn du nichts dagegen hast. Vielleicht finde ich ja über die Wintermonate noch etwas heraus.«

»Aber gerne«, sagte sie, »ich brauche es nicht.«

So nahm Primus das Buch von Magnus Ulme und steckte es ein. Anschließend blickten er und Miss Plim aus dem Fenster. Bucklewhee stand noch immer auf dem Blumentopf und hielt seinen Vortrag. Die Puste war ihm längst noch nicht ausgegangen.

»Lass diesen Knaben ruhig eine Weile hier«, flüsterte Plim. »Solange er wie ein Wasserfall auf Taddel und Mills einredet, habe ich wenigstens meine Ruhe.«

Primus und Plim lachten. Dann schritten sie zur Tür und Primus nahm Abschied. Er wechselte seine Gestalt, schwang sich in die Luft, bevor er mit schnellen Flügelschlägen heimwärts über die hohen Tannen flatterte. Müde winkte Plim ihm hinterher.

 

In der Zwischenzeit hatten sich die Wolken weiter verdichtet und das Mondlicht fast restlos verschluckt. In Massen fiel jetzt der Schnee. Primus flog knapp über den kahlen Baumkronen durch die Nacht. Immer schlechter wurde die Sicht und immer stärker stoben die Flocken. Sein schwarzer Zylinder, den Primus als Mensch und auch als Fledermaus trug, war mittlerweile schon so mit Schnee bedeckt, dass er ihm ständig über die Augen rutschte. Daher wählte Primus die kürzeste Strecke und steuerte schnurstracks über den Finsterwald auf die Nebelfelder zu. Er konnte es kaum mehr erwarten, endlich bei seinem alten Turm anzukommen, und freute sich auf sein Bett.

Etwa auf halber Strecke näherte sich Primus der kleinen Lichtung, in deren Umgebung auch der verhängnisvolle Erdspalt klaffte. Einst war Primus dort hinabgestiegen, zu jener Zeit, als er noch Lehrling bei Meister Ulme gewesen war. Doch das ist eine andere Geschichte und soll woanders erzählt werden. Jetzt überflog er die blattlosen Bäume und kämpfte mit aller Kraft gegen den Schnee. Da passierte auf einmal etwas Merkwürdiges.

Die Schneefälle hatten plötzlich aufgehört … schlagartig und wie von einem Moment zum anderen. Verdutzt schaute Primus sich nach allen Seiten um. Was hatte denn das zu bedeuten?! So etwas war ihm ja noch nie untergekommen. Von dem lästigen Gestöber, das ihn bis vor wenigen Sekunden noch wie ein Mantel umgeben hatte, war auf einmal nicht mehr das Geringste zu sehen. Erst in einiger Entfernung setzte der Flockenwirbel wieder ein und bildete einen undurchdringlichen Vorhang aus Schnee.

Sehr seltsam. Die Szene erweckte beinahe den Anschein, als hätte jemand eine unsichtbare Haube über diesen Teil des Waldes gestülpt. Eine Haube, in deren Inneren kein einziges Flöckchen mehr tanzte. Verwundert und ohne eine Erklärung dafür zu haben, flatterte Primus weiter.

Die Lichtung rückte näher.

Primus hatte ihren Rand beinahe erreicht und wollte gerade über sie hinwegfliegen, als er auf einmal ein kleines Feuer bemerkte. Züngelnd und flackernd schimmerte es hinter den Bäumen hervor.

Sofort verlangsamte Primus seinen Flug.

Ein Feuer?! Hier und zu dieser Stunde? Merkwürdig. Primus hatte noch nie davon gehört, dass die Kobolde nachts im Finsterwald Feuer entzündeten. Und den verschreckten Dorfbewohnern der näheren Umgebung traute er so viel Kühnheit gleich dreimal nicht zu. Wer also war es dann? Primus wusste keine Antwort darauf.

Doch während er noch überlegte und weiter Ausschau hielt, fiel ihm noch etwas auf: Von irgendwoher drang Musik an seine Ohren … leise und zaghaft, wie von einer Geige. Dieser Sache musste er auf den Grund gehen, aber sofort. Schnell breitete er seine Flügel aus und segelte in die Lichtung hinunter.

Wie ein Schatten glitt Primus an den Bäumen vorbei, bis er hinter einer alten Eiche zur Landung ansetzte. Nicht eine Flocke fiel mehr vom Himmel, und nirgendwo ertönte ein Geräusch des Waldes. Einzig das Geigenspiel zog weiter durch die Nacht. Mit aller Vorsicht schmiegte Primus sich an den Baum. Er schob den Kopf vor und spähte in die Lichtung. Der Anblick, der sich ihm daraufhin bot, war mehr als befremdlich.

Nur wenige Schritte von ihm entfernt loderte eine Flamme und leuchtete hell durch das Dunkel der Nacht. Primus bemerkte sofort, dass es sich hierbei um kein normales Feuer handeln konnte, da die Flamme in der Luft schwebte, wie von unsichtbarer Macht getragen. Auch schien das Feuer keinerlei Hitze zu versprühen. Der Schnee darunter war vollkommen unberührt.

Aber es kam noch besser!

Primus zwinkerte. Täuschte er sich, oder konnte er inmitten der Flamme etwas erkennen? Ja, dachte er, da war tatsächlich etwas. Ein schummriges Bild, genau wie man es von einer magischen Kristallkugel kennt.

Primus platzte beinahe vor Neugierde. Am liebsten wäre er gleich hinter dem Baum hervorgekommen und hätte sich alles aus nächster Nähe angesehen, doch dazu kam es nicht. Blitzschnell zog er den Kopf ein und kauerte sich zusammen. Denn wie sich herausstellte, war er nicht alleine vor Ort. Außer ihm war noch jemand anderes auf der Lichtung zugegen. Primus hielt den Atem an.

Im Schein des Feuers zeichnete sich ein schmächtiges Männchen ab, das ruhig und gelassen auf einer Baumwurzel saß. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, da es Primus fast gänzlich den Rücken zudrehte. Einzig der struppige Bart, der unter der Kapuze hervorragte, ließ Primus darauf schließen, dass er es mit einem Mann zu tun hatte. Dieser war in einen Umhang gehüllt, trug enge Beinkleider und fein glänzendes Schuhwerk. In der Hand hielt er eine Fiedel, die er wohl und geübt zu spielen vermochte. Mit spitzen Fingern schwang er den Bogen und strich über die Saiten.

Primus verharrte in seinem Versteck. Er hörte der Musik eine geraume Zeit zu, wobei er aufmerksam das Feuer betrachtete. Auf wundersame Weise, so schien es ihm, mussten beide miteinander in Verbindung stehen – das Feuer und die Musik. Denn je eindringlicher das Männchen die Fiedel spielte, desto größer wurden die Flammen. Bei leisen Tönen dagegen nahmen sie wieder ab.

Plötzlich gewann das Konzert an Fahrt. Wild strich der Fiedler über die Saiten, dass die Musik von den Bäumen hallte. Das Feuer schwoll an, wurde immer größer, bis Primus schließlich auch das rätselhafte Bild erkennen konnte, das inmitten der Flammen schwebte. Es war das Bild von einem Haus. Einem alten Haus mit bröckligen Mauern.

Primus überlegte. Hatte er dieses Gebäude nicht schon einmal gesehen? Natürlich, das war das Haus in den Sümpfen! Jenes, in dem er und Miss Plim nach Magnus Ulmes geheimem Buch gesucht hatten. Primus war verblüfft. Was hatte das zu bedeuten?

Doch schon kurz darauf veränderte sich das Bild, und etwas völlig anderes tauchte auf. Nun war es ein Raum. Ein Gewölbe mit Fässern und steinernem Boden. Da musste Primus nicht lange nachdenken, worum es sich handelte. Das war der Weinkeller in seinem Turm!

Misstrauisch runzelte Primus die Stirn. Die Angelegenheit erschien ihm doch auf das Äußerste verdächtig. Was tut dieser Kerl da? – fragte er sich. Da stimmte doch etwas nicht. Er betrachtete die geheimnisvolle Gestalt, die ihm fiedelnd den Rücken zudrehte und biss sich auf die Lippen. Sollte er das Männchen vielleicht einfach ansprechen? Möglicherweise hatte sich der Kerl ja im Wald verirrt und vertrieb sich die Zeit bis zum Sonnenaufgang mit etwas Musik? Oder vielleicht war es gar ein Gaukler, der sich den denkbar ungünstigsten Platz für Straßenmusik ausgesucht hatte. Erklärungen gab es derer viele.

Aber bei allen Möglichkeiten, die Primus einfielen, zog er es dennoch vor, auf der Hut zu sein. Man konnte ja nie wissen, wer sich hier alles herumtrieb und wem man nachts im Finsterwald über den Weg lief. Also rutschte er langsam zurück und machte sich abflugbereit.

Da ergriff das Männchen plötzlich das Wort:

»Willst du etwa schon wieder gehen?«, sprach es, ohne sich umzudrehen.

Primus fuhr der Schreck in die Knochen. Er hatte wahrlich nicht damit gerechnet, dass der kleine Kerl ihn die ganze Zeit über bemerkt hatte. Besaß dieser etwa Augen am Rücken? Kurz entschlossen nahm Primus seine menschliche Gestalt an und stellte sich auf die Beine. Im selben Moment versank er bis zu den Knien im Schnee.

»Sprichst du mit mir?«, rief er dem Fiedler zu.

»Ei, sehr wohl«, antwortete der und wandte sich um.

Er sah gerissen aus und hatte ein Gesicht mit hohen Wangen und einer entsetzlich langen Nase. Grüne Augen funkelten unter der Kapuze hervor und starrten Primus durchdringend an.

»Doch sag, mein Freund«, fuhr das Männlein fort, »warum stehst du denn so heimlich im Wald?«

Primus aber war nicht auf den Mund gefallen. »Gemach, gemach«, entgegnete er mit gelassener Stimme, »ich wollte dich lediglich nicht stören. Du schienst mir doch allzu beschäftigt mit deinem Zauberhandwerk.«

»Hihi, ein Zauberhandwerk in der Tat«, kicherte der Fiedler, »das hast du sehr wohl bemerkt. Dennoch störst du mich nicht im Geringsten, ganz im Gegenteil. Komm nur her und gesell dich zu mir. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Mit diesen Worten ließ er die Fiedel erklingen und fachte die Flamme an.

Doch Primus gefiel der Bursche ganz und gar nicht. Und die Art, wie er sprach, gefiel ihm noch weniger. So blieb er in sicherer Entfernung unter den Bäumen und beäugte das magische Schauspiel.

Die Flammen loderten und ein neues Bild erschien. Dieses Mal war es kein Raum, sondern ein Gegenstand. Ein wuchtiger Sessel wurde sichtbar, mit abgewetzten Polstern und wurmstichigem Holz.

Primus‘ Miene hellte sich auf. »Oh«, sagte er, »das sieht ja beinahe aus wie mein alter Lehnstuhl.« Er beugte sich vor und kam einen Schritt näher. »Ganz ohne Flicken und Schrammen wie mir scheint. Nicht schlecht.«

Der Fiedler grinste. »Besitzt du etwa so einen?«

»Ja doch«, antwortete Primus, »und es gibt gewiss nichts Bequemeres, um vor dem Kamin zu sitzen. Nur mein Sessel ist leider schon etwas in die Jahre gekommen.«

»So, so«, summte das Männlein, »also eine Antiquität, nehme ich an.«

»Könnte man sagen.«

Der Kleine zuckte mit den Augenbrauen. »Dann warte ab«, sagte er. »Ich habe noch mehr für dich.«

Er wirbelte herum. Flink strich er die Fiedel, worauf das Feuer erneut an Größe gewann. Nun verschwand das Bild des Sessels und etwas anderes tauchte auf. Es war ein Tisch. Der Gleiche wohlgemerkt, der auch in der großen Halle des Turms zu finden war.

Ratlos schüttelte Primus den Kopf. »Sag mir, Alterchen, was soll das alles? Bist du etwa ein Trödler oder gar ein fahrender Händler? Du musst wissen, ich brauche auch keinen Tisch.«

»Oh«, sagte der Fiedler und weitete seine Augen, »du brauchst auch keinen Tisch? Sprich, mein Junge, hast du etwa schon so einen? Sieh genau hin.«

»Sehr wohl«, erwiderte Primus. »Und wenn du gestattest, dann werde ich mich wieder auf den Weg machen. Es ist schon spät, und auf mich wartet mein Lehnstuhl.« Er lupfte den Hut. »Gehab dich wohl.«

»Nicht so hastig«, zischte das Männchen und kratzte über die Saiten, »bleib doch noch.«

In diesem Moment bemerkte Primus, wie seine Füße schlagartig schwer wurden. Wie gelähmt stand er im Schnee und konnte sich nicht mehr von der Stelle bewegen. Er war in eine Falle getappt.

Der Fiedler setzte indessen zu anderen Mitteln an. Grinsend spielte er auf, dass die Töne durch die Nacht schallten. Primus brummte der Kopf. Trotzdem starrte er wie gebannt ins Feuer und konnte seinen Blick nicht davon lösen. Denn auch dieses Mal wurde ein Gegenstand sichtbar, der Primus‘ Aufmerksamkeit auf sich zog.

Was sollte das sein? – überlegte er. Das war kein Möbelstück, dafür war das Ding viel zu flach. Moment mal, ging es Primus durch den Kopf. Das war ein Buch. Genau, jetzt konnte er es deutlich erkennen. Das war das geheime Buch von Magnus Ulme!!!

Mit einem teuflischen Blick sah der Fiedler ihn an. »Und was ist damit, lieber Primus?« Seine Augen funkelten. »Besitzt du das etwa auch, hm?«

Primus hielt die Luft an. Zitternd stand er im Schnee und verwehrte jegliche Antwort.

»Raus mit der Sprache«, befahl das Männchen. »Wo steckt dieses Buch? Denk doch mal nach.«

Denken? Primus wagte an gar nichts mehr zu denken. Bei diesem Stichwort war ihm völlig klar, was hier gespielt wurde. Von diesem Trick hatte Primus schon einmal im Zauberzirkel gelesen. An alles durfte Primus jetzt denken, nur nicht an Ulmes geheimes Buch, das er just zu diesem Zeitpunkt in seiner Tasche trug.

Der Fiedler wurde ungeduldig. »Wo ist das Buch?«, drängte er. »Du besitzt es doch, nicht wahr? Versuche nicht, mich zu täuschen, Primus. Ich warne dich. Die geheimen Niederschriften deines Meisters … wo sind sie?«

Primus nahm sich zusammen. Er dachte an alle Bücher, die er je in Händen gehalten hatte. An die Bücher in seiner Dachkammer, die Bücher im Kaminzimmer und sogar an die Bücher in der Bibliothek von Hohenweis. Aber er verdrängte jeden Gedanken, der mit Ulmes verborgenen Aufzeichnungen zu tun hatte.

Stattdessen schüttelte er den Kopf. »Ich kenne dieses Buch überhaupt nicht«, rief er. »Ich habe es noch nie im Leben gesehen.«

Er schaute in das Gesicht des Fiedlers, dessen Blick ihn geradezu durchbohrte. Mit aller Kraft versuchte dieser, Primus‘ Gedanken zu lesen und in seinen Erinnerungen zu stöbern. Aber Primus war stärker. In seinem Kopf war kein Gedanke mehr an das Buch vorhanden.

Der Fiedler fauchte. Er zog den Bogen wie ein Messer über die Saiten und fuhr herum. In diesem Moment war das Bild in den Flammen auch schon verschwunden. Primus atmete auf.

Doch der üble Geselle war längst noch nicht fertig. Erneut ließ er die Fiedel erklingen und heizte das Feuer an. Jetzt erschien auf einmal etwas Rundliches inmitten der Flammen, ein kleines Gefäß. Das Ding sah aus wie ein Zuckertopf, bauchig und aus roter Erde gebrannt.

Primus war überrascht. Hierbei musste er sich gar nicht weiter anstrengen. Dieses Töpfchen hatte er wirklich noch nie gesehen. Er hob den Kopf und musterte den Behälter, in dessen Innerem eine merkwürdige bläuliche Flüssigkeit glänzte. Zäh wippte sie hin und her. Was sollte das sein? Ein Topf mit Gelee oder Öl?

Schon ertönte die Stimme des Fiedlers. »Und was ist damit? Gewiss kommt dir das hier bekannt vor, mein Freund, nicht wahr?«

Primus aber schüttelte den Kopf.

»Lüg mich nicht an«, widersprach ihm das Männchen, »du weißt genau, was das ist. Was hat es damit auf sich? Raus mit der Sprache.«

»Woher soll ich das wissen?«, schimpfte Primus. »Ich kenne weder diesen Topf und schon gar nicht den blauen Kleister darin. Jetzt lass mich endlich in Ruhe.«

Doch der Kerl ließ nicht von ihm ab. Wütend fiedelte er weiter und versuchte, mehr aus Primus herauszubekommen, aber ohne Erfolg. Über den rätselhaften Topf fand er genauso wenig, wie über Ulmes geheimes Buch. Dennoch spielte er weiter, dass die Saiten glühten.

»Ich komme dir schon noch auf die Schliche«, schnaubte er. »Du kannst dich nicht ewig verstellen.«

Doch noch viel weniger konnte er ewig auf seiner Fiedel spielen. Denn plötzlich ging ein Knall durch die Lichtung, dass im Wald die Äste vibrierten. Eine Saite war gerissen. Wie der Blitz sauste der Draht herum, schnellte durch die Luft und traf den Fiedler an der Hand. Sein Schmerzensschrei schallte durch die Nacht.

Im selben Moment verstummte die Musik. Das Feuer erlosch und dichter Schnee fiel vom Himmel. Der Zauber war gebrochen.

Primus reagierte sofort. Er verwandelte sich so schnell es nur ging und trat die Flucht an. Aus dem Augenwinkel bemerkte er das Männlein, das sich hektisch bemühte, die Saite zu spannen. Mit feurigen Augen schrie ihm der Fiedler hinterher und ballte die Fäuste. Doch Primus war längst im dichten Treiben der Schneeflocken verschwunden.

Zornesrot blieb der Fiedler zurück.

 

Als Primus wenig später den alten Turm erreichte, schien es ihm, als wäre er eine Ewigkeit von zu Hause fort gewesen. Erschöpft und mit klopfendem Herzen flog er durch das Loch in der Fensterscheibe in das Kaminzimmer, landete und versuchte, sich zu beruhigen. So flink wie heute hatte er die Strecke über den Wald noch nie zurückgelegt. Er wechselte seine Gestalt, nahm ein Kissen und dichtete damit die zerbrochene Fensterscheibe ab. Dann ließ er sich erleichtert in seinen Sessel fallen.

Diesen garstigen Musikus würde er bestimmt so schnell nicht vergessen. Primus war es vollkommen schleierhaft, woher dieser Bursche seinen Namen gekannt hatte und wieso ihm die Möbel im Turm so vertraut gewesen waren. Könnte es sein, dass dieser geheimnisvolle Kerl vielleicht schon einmal hier gewesen war? Primus grübelte. Es wäre natürlich möglich.

Noch einmal führte er sich die Geschehnisse vor Augen und dachte an das Abenteuer auf der Lichtung zurück. Am meisten beschäftigte ihn dabei das Töpfchen, das der Fiedler ihm zuletzt gezeigt hatte. Was könnte das nur für eine seltsame Substanz gewesen sein, die darin so bläulich geschimmert hatte? Primus zog Ulmes Büchlein aus der Tasche und strich gedankenverloren über den Umschlag. Zum Glück hatte der Fiedler es nicht entdeckt. In diesem Fall hätten er und Miss Plim ihre Reise zu den Schwefelzinnen wahrscheinlich vergessen können.

Nach einer Weile wandte Primus sich um und starrte misstrauisch zum Fenster. Vielleicht wäre es besser, das Buch zu verstecken?! Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, als wäre es hier nicht sicher vor gierigen Händen.

Kurz entschlossen erhob er sich und flog nach oben zum Dachzimmer. Nachdem er sich zurückverwandelt hatte, trat Primus auf Bucklewhees Standuhr zu. Er öffnete die Klappe über dem Ziffernblatt und bog das Scherengitter mit der Vogelstange zur Seite. Bucklewhee hatte bestimmt nichts dagegen, wenn das Büchlein eine Weile bei ihm untergebracht wäre. So schob Primus das Buch behutsam in den Uhrenkasten, schloss die Klappe und ließ sich, den Kopf voller Gedanken, ins Bett fallen. In der nächsten Sekunde war er eingeschlafen.

Ein Spalt bei der Mauer

 

 

Es ging bereits auf Mittag zu, als Plim noch immer im Bett lag und schlief. Die Sonne strahlte zum Fenster des kleinen Dachbodens herein und blinzelte durch die Vorhänge des hellblauen Himmelbetts. Geblendet rümpfte Plim die Nase. Sie rieb sich die Augen, gähnte und betrachtete die zahllosen Staubflocken, die um sie herum durch die Luft tanzten. Sofort musste sie niesen. Dann krabbelte sie aus dem Bett, tastete mit den Zehen nach ihren Pantoffeln und schlurfte zum Fenster. Plim wischte mit dem Ärmel den Frost von der Scheibe. Hui, staunte sie, mit so einem herrlichen Winterwetter hatte sie nicht gerechnet. Der Himmel war wolkenlos blau und von allen Seiten glitzerte der Schnee. Sie drückte ihre Nase gegen das Glas und spähte nach Süden. So wie es aussah, schien selbst in den Bleibergen praller Sonnenschein zu herrschen. Keine Spur von Eis- oder Schneeregen. Wer hätte das gedacht? Schnell machte sie sich frisch und schlüpfte in ihre Kleider. Dann lief sie gut gelaunt die Treppe hinunter.

In der Hexenküche duftete es noch immer nach Kräutern, Zimt und Bienenwachskerzen. Kein Wunder, schließlich hatten Primus und Plim beinahe bis zum Sonnenaufgang hier unten zusammengesessen. Sie zog die Schürklappe auf, fachte das Feuer an und setzte wie gewohnt den Morgentee auf. Mit einem Pfiff begann das Wasser zu kochen. Jetzt schnell noch ein paar Blätter hineingeworfen, umgerührt, fertig. So saß Plim wenig später neben dem Hexenkessel und pustete in die Tasse.

Sie blickte sich um. Wie ruhig es heute doch war, fiel es ihr auf. So wunderbar friedlich und angenehm still. Ein prächtiger Morgen. Bei genauerer Überlegung konnte sie sich gar nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so einen beschaulichen Moment in ihren eigenen vier Wänden erlebt hatte. Draußen zwitscherten die Vögel, die Sonne lachte, und Miss Plim konnte hier einfach ruhig sitzen und ungestört ihren Morgentee trinken. Wie schön, warum hatte sie das bloß früher nie getan? Genüsslich schlürfte sie den Tee und schloss die Augen. Dann beschlich Plim plötzlich ein Verdacht.

Misstrauisch schielte sie zur Seite. Da stimmte doch etwas nicht. Dieser merkwürdige Friede war eindeutig nicht normal. Sie schaute sich um und überlegte. Vielleicht hatte sich ja über Nacht etwas in der Hexenküche verändert? Doch die Unordnung war haargenau die gleiche wie immer. Die Giftwurzeln und die getrockneten Kräuter hingen noch an der Wäscheleine, ihre Zauberbücher lagen wie gewohnt in den Ecken, und der Wäscheberg, der aus dem Kleiderschrank quoll, war genauso hoch wie eh und je. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Seltsam, dachte Miss Plim, wie man sich doch täuschen kann.

Auf einmal fiel es ihr ein!

Sie richtete ihren Blick auf das Regal mit den Zauberzutaten und zuckte zusammen. Ach du Schreck, jetzt war ihr auf einmal alles sonnenklar. Die zwei lästigen Kröten waren nicht da. Deswegen also die beschauliche Ruhe. Plim hatte die beiden Taugenichtse doch glatt vergessen, nachdem sie sie letzte Nacht vor das Fenster gestellt hatte. Sie waren noch immer draußen im Schnee. Hoppla, dachte Miss Plim, die werden jetzt aber bestimmt ganz schön vor Kälte schlottern. Schnell huschte sie durch den Raum und öffnete das hintere Fenster.

Doch ihre Besorgnis um Taddel und Mills sollte schon im nächsten Moment verflogen sein.

»Ah, wie schön«, schallte es unter der Fensterbank hervor. »Wen höre ich denn da? He, Mills, mir schwant, hier kommt der Zimmerservice. Das Fräulein will uns bestimmt das Frühstück servieren.«

Prustendes Gelächter setzte ein.

»Aber du hast doch gar nicht geläutet«, johlte die andere Kröte.