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Für Sanna

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eISBN 978-3-649-63243-6

© 2019 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Matthias Morgenroth

Umschlaggestaltung: Anne Sent unter Verwendung

eines Fotos von David Schlemer/EyeEm/Getty Images

Innenillustrationen: Shutterstock

Quellenangaben: Seite 304

Lektorat: Frauke Reitze

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-63190-3.

Matthias Morgenroth

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INHALT

MONTAG, 11. MAI

DIENSTAG, 12. MAI

MITTWOCH, 13. MAI

DONNERSTAG, 14. MAI

FREITAG, 15. MAI

SAMSTAG, 16. MAI

SONNTAG, 17. MAI

MONTAG, 18. MAI

DIENSTAG, 19. MAI

MITTWOCH, 20. MAI

DONNERSTAG, 21. MAI

FREITAG, 22. MAI

SAMSTAG, 23. MAI

»Ben?«, rufe ich noch einmal.

Ich wiege die Eisenstange in der Hand.

Meine Waffe.

Schwer und beruhigend.

Ich werde die Tür öffnen, vorsichtig natürlich, und wenn er mir irgendetwas tun will, schlage ich ihn zu Boden.

Ich habe lange überlegt, ob es zu gefährlich ist. Aber meine Waffe ist stark.

Und meine Neugierde ist noch stärker.

Ich packe die Stange mit der rechten Hand. Mit der linken drehe ich den Schlüssel um.

Einmal.

Noch ein zweites Mal.

Ich drücke die Klinke nach unten, ziehe langsam die Tür auf. Ich bin auf alles gefasst.

Da sitzt Ben.

Ganz still.

Ganz friedlich.

Die Augen geschlossen.

Ich betrachte ihn.

Mein Ben. So sieht er jetzt also aus.

So friedlich.

Da schlägt er die Augen auf und sein Blick trifft mich ins Mark. »Marie«, sagt er. »Ich habe es gewusst.«

Ich sitze in einem Scherbenhaufen und meine Welt ist eine Ruine. Doch wenigstens weiß ich jetzt, was ich bin. Oder vielmehr, was ich NICHT bin.

ICH BIN KEIN MONSTER.

Ich schreibe diese Zeilen mit meinem Füller. Mit Tinte. Auf Papier. Ja, ich schreibe unsere Geschichte mit Tinte auf Papier, damit mir niemand die Worte verfälschen kann, denn geschrieben ist geschrieben – aber eben nur, wenn es Papier ist und wenn es keine Pixel sind.

Dies sind meine Aufzeichnungen. Lies sie mit Ehrfurcht. Lies sie mit Furcht. Ich muss versuchen, aus all den Scherben, aus meinen zersplitterten Gedanken wieder einen Menschen zu bauen.

MICH.

Und jetzt fange ich von vorn an.

MONTAG, 11. MAI

Ben.

Ich weiß noch alles. Jede Einzelheit. Wie Ben zum ersten Mal ins Klassenzimmer gekommen ist. Der Bachmann schob ihn nach vorn und stellte ihn uns vor, und alle schauten ziemlich überrascht, weil da mitten im Schuljahr ein Neuer auftauchte, und ich kannte mich selbst nicht mehr.

War ICH noch ICH?

Ich bin sonst nicht so eine, die den Jungs hinterherglotzt, und erst recht bin ich keine von denen, denen die Jungs hinterherschauen. Leider! Im Gegenteil, ich habe meistens das Gefühl, herausgerechnet zu werden, egal, wie bunt ich mich anziehe und ob ich mich schminke oder nicht. Aber dieser Montag war kein gewöhnlicher Montag und alles fühlte sich anders an.

»Das ist Ben Olympion«, sagte der Bachmann. »Er geht ab heute in Ihre Klasse. Nehmen Sie ihn freundlich auf, ja? Aber das tun Sie ja sowieso.«

Als Ben an diesem Montag im Mai ins Klassenzimmer kam, ging die Sonne in mir auf und die Vögel zwitscherten nur für mich. Mann, klingt das kitschig. Aber so war es!

»Ben kann sich an den Tisch ganz hinten setzen«, fuhr der Bachmann fort. »Passt das?«

Ben neigte den Kopf und lächelte und ich lächelte ganz automatisch mit, ich konnte einfach nicht anders. Mit Sonne im Bauch kann man nichts anderes tun, als vor sich hin zu lächeln.

Der Bachmann räusperte sich, aber Ben machte keine Anstalten, sich zu setzen. Er lächelte einfach weiter in die Klasse – und da trafen sich unsere Blicke zum ersten Mal.

Niemand hatte mich je zuvor so angeschaut wie er.

Hätte man mich am Abend gefragt, wie er denn aussieht, der Neue in der Klasse, dieser Ben, ich hätte ihn kaum beschreiben können. Nicht seine glatten dunkelblonden Haare, nicht seine ebenmäßigen Lippen und auch nicht seinen wiegenden Gang, der mir mittlerweile so vertraut erscheint. Alles, woran ich mich erinnern konnte, waren seine Augen. Er hatte mir mitten ins Herz gesehen. Klingt verrückt, aber so habe ich mich wirklich gefühlt. Als hätte er mir ins HERZ gesehen! Als wäre ich für ihn nicht nur eine durchschnittliche Fünfzehnjährige, die hauptsächlich aus Schwabbelfalten am Gürtel, Edelmetallteilen im Mund und bescheuertem Grinsen im Gesicht besteht!

Er hatte MICH gesehen. Marie Inning.

Und ich spürte, wie neugierig er war. Neugierig auf mich?! Warum sollte er ausgerechnet auf mich neugierig sein …? Doch so war es, und die Sonne breitete sich aus, tief in mir drin – beinahe hatte ich den Eindruck, man könnte mich leuchten sehen.

Reden Sie weiter, wollte ich dem Bachmann zurufen, erzählen Sie alles, was Sie wissen! Woher kommt er, dieser Ben? Warum fängt er jetzt, mitten im Schuljahr bei uns an? Was ist das für ein seltsamer Nachname – und wieso schaut er mich so an, dass die Sonne aufgeht?

Einige murmelten was Gemeines, das merkte ich, einige tuschelten und Niko, unser Schönling, warf den anderen Jungs spöttische Blicke zu. Vielleicht fürchtete er die unerwartete Konkurrenz.

Ich aber lächelte weiter. Automatisch. Und mit angehaltenem Atem verfolgte ich, wie Ben jetzt durch den Mittelgang nach hinten zu seinem Platz ging.

So bin ich sonst nicht. Wirklich. Ich weiß auch nicht, was plötzlich mit mir los war, aber die Vögel in meinem Kopf zwitscherten immer lauter und plötzlich spielte leise Musik dazu … Geigen, Trompeten, zarte Flöten …

Elli stieß mich in die Seite.

»Was?«, fragte ich verwirrt.

»Du starrst ihn an.«

»Wen??«

Ihre Worte sickerten nur langsam in mich ein. Und erst im Schneckentempo wurde mir bewusst, dass ich mich höchstwahrscheinlich gerade ziemlich peinlich verhielt. Aber ich konnte nichts dagegen tun.

Elli kicherte. »Mensch, Marie.«

Ich riss mich von Bens Anblick los und murmelte möglichst cool: »Was denn?«

Elli grunzte nur leise vor sich hin.

Sie hatte gut grunzen! Ihr schauten die Jungs ja ständig nach. Obwohl ihr das, zugegeben, zuletzt auch kein Glück gebracht hatte und sie seit zwei Wochen ständig tieftraurigblauen Kajal dick um die Augen trug, nachdem die Geschichte mit Marc auseinandergegangen war. Dabei war sie es selbst gewesen, die Schluss gemacht hatte.

Mein Kopf muss knallrot geworden sein, und als ich mich vorsichtig umsah, um zu prüfen, ob mein peinliches Verhalten sonst noch jemandem aufgefallen war, grinste Yun mich hämisch an. Yun ist unser Klassenschweiger, er glotzt und grinst die ganze Zeit über. Ich wurde natürlich noch röter.

»Vergessen Sie bitte nicht«, bohrte sich nun wieder die Stimme vom Bachmann in mein Ohr, »dass wir kommende Woche mit den Referaten beginnen wollen. Leon, Sie sind der Erste, dann kommen Alina und Pia dran, und dann« – er warf uns einen Blick zu – »Elli und Marie.«

Unser Referat war mir in diesem Moment völlig egal, aber ich nickte reflexhaft, immer noch mit hochrotem Kopf.

»Ich habe das Buch schon gelesen«, flüsterte Elli. »Du auch?«

Ich nickte wieder. »Sowieso.«

Was machte der Neue wohl jetzt? Ich lugte nach hinten. Ben saß an seinem Platz. Logisch. Was hätte er sonst machen sollen?

Elli kicherte wieder – na und, sollte sie doch!

»Ach ja«, hörte ich den Bachmann durch die Geigen und Flöten in meinem Kopf hindurch sagen, »das wäre die Gelegenheit, unseren Neuen gleich mal zu integrieren. Ben, wie wäre es mit einem Referat zu der Novelle ›Der Sandmann‹ von E.T.A. Hoffmann? Sehen Sie sich dazu in der Lage?«

Ben richtete sich auf. »Entschuldigung, ich verstehe die Frage nicht.«

Der schöne Niko grinste spöttisch.

Der Bachmann grinste auch. »Die Frage, ob Sie sich dazu in der Lage sehen, oder wie es mit einem Referat über den ›Sandmann‹ wäre?«

Wie gemein! Der Neue konnte ja noch gar keine Ahnung von dem Deutsch-Projekt haben, das sich der Bachmann für diesen Sommer ausgedacht hatte! Ben reagierte nicht, er schaute den Bachmann einfach abwartend an und ich fand das ziemlich cool.

Der Bachmann wurde zum Glück gleich wieder freundlich. »Also, das Referat soll eine halbe Stunde dauern und uns von jedem Werk die Handlung und die Entstehung präsentieren. Sie haben aber noch zwei Wochen Zeit, bis dahin sehen Sie ja, wie es die anderen machen.«

Ben neigte wieder leicht den Kopf und unsere Blicke begegneten sich zum zweiten Mal …

»Mach ich gern«, sagte er. »Ich liebe Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Ich liebe Romantik.«

ROMANTIK?!

Ich schaute schnell zu Boden. Mein Herz klopfte. Was war denn heute mit mir los?

»Meine Güte«, sagte der Bachmann sichtlich überrascht. »Da haben wir ja einen Experten in der Klasse.«

»Neben mir ist noch ein Platz frei«, rief Josh. »Den hab ich extra freigehalten, falls mal ein EXPERTE in die Klasse kommt.«

Alle lachten. Und Ben lächelte auch.

»Heute Nachmittag hätte ich Zeit«, hörte ich Elli plötzlich neben mir.

»Wozu?«, fragte ich völlig verwirrt. Hatte sie etwa schon länger mit mir gesprochen, ohne dass ich es bemerkt hatte? Heute war mir alles zuzutrauen.

»Na, fürs Referat«, erwiderte Elli. »Soll ich nach der Schule gleich zu dir kommen?«

»Ach so, fürs Referat.«

Wir hatten montags bis 16 Uhr Unterricht. Und irgendwas war heute Abend noch, hatte meine Mutter gesagt, aber ich hatte nicht genau zugehört. »Heute ist schlecht. Morgen?«

»Okay.« Sie pikste mich mit dem Bleistift in die Seite. »Könnte sein, dass du dich sowieso nicht mehr konzentrieren kannst, oder?«

Wie gemein.

Aber ich sah natürlich ein, dass sie recht hatte. Die Musik in meinem Kopf war zu einer ganzen Symphonie angeschwollen.

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In Physik schämte ich mich so sehr für meine Klasse, dass ich es kaum beschreiben kann. Vor allem für die Jungs! Bei allem, was sie taten, dachte ich, meine Güte, was bekommt der Neue wohl für einen Eindruck von uns!

Der Koppe hantierte an einem Versuchsauf bau herum, irgendwas mit Spulen und Kabeln und Stangen und Magneten. Es ging noch einmal um Induktion. Dabei wird Strom hergestellt, indem man in eine Spule aus aufgewickeltem Draht einen Stabmagneten reinschiebt. Und wieder rauszieht. Je schneller man das macht, umso mehr Strom entsteht. Die Jungs machten anzügliche Witze, und wer weiß, vielleicht hätte ich es an einem anderen Tag auch ein bisschen lustig gefunden – aber heute fand ich es nur peinlich, peinlich, peinlich!

»Ich dachte, das wäre Bio«, rief Jasper und grinste schmierig in die Runde. »Rein – raus!«

Niko schlug ihm auf die Schulter. »Und ich wusste gar nicht, dass bei so was Strom entsteht.«

»Nicht, wenn du verhütest!«, rief Leon.

Alle johlten. Sogar einige Mädchen.

»Sie liegen völlig falsch«, presste der Koppe zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Bei diesem Versuch hier gewinnen Sie Energie, bei dem, auf das Sie anspielen, verlieren Sie welche.«

Natürlich, es stimmte, es sah wirklich ziemlich schweinisch aus, was der Koppe da vorn im Physiksaal mit Spule und Stab anstellte. Aber mussten sich die anderen deshalb so aufführen, als wären sie im Kindergarten?

WIR SIND KEIN KINDERGARTEN, versuchte ich in die hintere Bank zu funken, zu Ben, der auch im Physiksaal allein saß und der sich doch wer weiß was denken musste! WIR SIND NETT. WIR SIND COOL. WIR SIND DEINE NEUE KLASSE. Als ich mich traute, mich wieder zu ihm umzuschauen, bemerkte ich jedoch, dass er ganz zufrieden aussah und überhaupt nicht verunsichert, dass er zum Glück aber auch keine Anstalten machte, auf den ganzen Schweinkram der anderen Jungs einzusteigen.

Er sah einfach nur gut aus.

Er sah perfekt aus.

Mir wurde ganz heiß.

Ruhe kehrte für den Rest der Physikstunde keine mehr ein, und bei allem, was der Koppe noch demonstrierte, stöhnte die halbe Klasse anzüglich und rhythmisch. Ich wurde schon wieder blutorangenrot, obwohl ich natürlich auf gar keinen Fall rot werden wollte, und ärgerte mich so sehr über mich selbst, dass ich mir versehentlich auf die Lippe biss, dass es blutete.

»Yun!«, brüllte der Koppe kurz vor Ende der Stunde plötzlich und unser Klassenschweiger fuhr zusammen. »Würden Sie so freundlich sein und Ihr Handy ausmachen? Oder was haben Sie vor?«

»Der dreht Pornos«, meinte Leon und grinste. »Wenn die Spule zum Magneten kommt …«

»Ruhe jetzt!«, polterte der Koppe.

Auch wenn unsere Schule seit Neuestem eine sogenannte Pilotschule ist und wir das Handy in »begrenztem Rahmen«, wie es heißt, verwenden dürfen, von wegen Medienkompetenz und so – während des Unterrichts durfte natürlich immer noch niemand seinen eigenen Kram damit machen. Yun murmelte etwas Unverständliches und schob sein Smartphone in die Hosentasche.

»Nehmen Sie sich kein Beispiel an Ihren Klassenkameraden«, sagte der Koppe zu Ben.

»Mach ich schon«, sagte Ben und der Koppe schaute ein wenig verwirrt drein, weil irgendwie nicht ganz klar war, was Ben damit ausdrücken wollte. Aber auf jeden Fall hatte ER kein Handy auf der Bank liegen.

Unsere Blicke trafen sich zum dritten Mal. Ben schien eher belustigt als genervt zu sein. Und ich war endgültig hin und weg.

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Ich weiß nicht, ob es Zufall oder Schicksal war, jedenfalls stand ich mittags in der Schlange zur Essenausgabe direkt hinter Ben.

Wow. Das kam überraschend.

Mein Zustand hatte sich noch nicht normalisiert, im Gegenteil. Mein Mund war ganz trocken. Meine Lippe war angeschwollen. Ich fühlte mich weniger denn je in der Lage, ein spritziges und witziges Gespräch zu führen.

Ben schaute sich interessiert in unserer Mensa um. Schon wieder schämte ich mich – diesmal für unsere Schule, unsere heruntergekommene, dreckige Schule. Mir fällt es ja gar nicht mehr auf, ich bin das alles schon gewohnt, aber eigentlich ist unsere Schule wirklich eine Schande. In der Mensa bröckelt der Putz von den Wänden und die Holzverschalung schimmelt. Ich wusste, es war albern zu denken, dass Ben vielleicht wieder abhauen würde, wenn es ihm hier nicht gefiele, aber irgendetwas in der Art schoss mir tatsächlich durch den Kopf.

Ich atmete tief durch.

»Da oben steht, was es heute gibt«, sagte ich zaghaft und deutete auf die kleine Tafel an der Wand.

Puh, wie piepsig ich mich anhörte!

»Oh, danke«, sagte Ben und las: »Hackbraten. Kartoffelbrei.«

Vor uns schob Jasper sich mit seinem Tablett weiter. »Salat lass ich heut mal aus«, sagte er grinsend zu uns und nahm sich zwei große Löffel Kartoffelbrei.

Ben tat es ihm gleich.

»Magst du das auch so gern wie ich?«, fragte Jasper mit einem zufriedenen Blick auf seinen Hintermann.

Ben nickte.

»Mit Hackbraten ist Kartoffelbrei ein Traum«, schwärmte Jasper und beugte sich über die Theke. »Kann ich bitte zwei Scheiben haben? Oder drei?«

Die Müller an der Ausgabe zwinkerte ihm zu. »Dich kenn ich doch!«

»Kann ich bitte auch zwei Scheiben haben? Oder drei?«, echote Ben und Jasper lachte.

»Der Neue hat’s echt drauf. Guten Appetit!«

»Danke«, sagte Ben und stellte den Teller mit den drei Scheiben Hackbraten, die auch er bekommen hatte, auf sein Tablett.

Mir schmeckten weder der schleimige Kartoffelbrei noch der Hackbraten mit der braunen Soße. Ich nehme an Tagen wie diesen immer ein Schälchen Salat und eine Semmel, das muss reichen.

»Ich hasse die Mensa«, sagte ich zu Ben, als wir zahlten. Nicht, dass er dachte, ich würde das Zeug hier gut finden.

»Oh, warum denn?«, fragte er und nahm sein Tablett.

»Nichts, was schmeckt«, erklärte ich.

»Nein? Was hättest du denn gern?« Er sah mich neugierig an.

Ich begann zu stottern. »Keine Ahnung. Äh – vielleicht mal was Süßes. Blaubeerpfannkuchen oder Kaiserschmarrn, das wär was.«

»Klingt verführerisch«, sagte Ben und lächelte.

VERFÜHRERISCH.

Hallo?!

Na gut, man soll ja nicht gleich alles auf sich beziehen … Aber es war schon irgendwie besonders, dass er es so und nicht anders sagte. Mein Tablett zitterte in meiner Hand, ich konnte nichts dagegen tun.

Ich versuchte, mich Ben anzuschließen, aber Jasper hatte ihn bereits zu sich an den Tisch gelockt, begeistert darüber, endlich einen gefunden zu haben, mit dem er mal so richtig über Hackbraten fachsimpeln konnte. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit klopfendem Herzen an den Jungs vorbei zum Nachbartisch zu gehen, wo schon Alina und Pia saßen. Wo Elli bloß so lange blieb? Seit sie sich mit Marc verkracht hatte, nachdem der auf Joshs Party mit einer aus der Realschule rumgeknutscht hatte, stand sie mittags oft ewig hinter der Turnhalle und rauchte.

»Ist noch was frei bei euch?«, fragte ich und schob mich schnell auf die Bank, bevor jemand Nein sagen konnte. Der Nachbartisch war immer noch besser als das andere Ende der Mensa.

»Mpf«, machte Alina, und das konnte ich deuten, wie ich wollte.

Alina hatte wie immer ihre eigene Brotzeit dabei, obwohl man das eigentlich nicht Brotzeit nennen konnte, weil sie nie Brot aß, sondern nur Rohkost mit Dip und natürlich Bio.

Pia dagegen kommt aus Spanien und hat einen wirklich beeindruckenden Essensfimmel. Sie bereitet sich jeden Tag in stundenlangen Küchensessions eine perfekte Mahlzeit zu, fotografiert sie dann ab und postet die Foodys unter dem Hashtag #mylovelymeal. So weiß ich abends immer schon, welches Gericht sie am nächsten Tag mit in die Schule bringen wird. Heute waren es gefüllte Paprikaschoten mit Hühnchen.

»Magst du mal probieren?« Pia schob mir ihre Box hin. »Ich bekomm ja Angst vor deinem hungrigen Blick.«

»Oh, danke«, murmelte ich und pikste mit der Gabel hinein.

»Kannst gern viel essen«, sagte Pia, »ich mag eigentlich gar keine Paprika.«

»Warum kochst du sie dir denn dann?«, fragte Alina und biss von einem Radieschen ab.

»Weil es super aussieht«, erwiderte Pia. »Hast du mein Bild nicht gesehen?«

»Doch, doch«, antwortete Alina schnell. Alle wissen, wie empfindlich Pia mit ihrem Online-Kochstudio ist. »Wie hast du es noch mal genannt?«

»Heißer Torero auf der Jagd nach Hühnchen«, sagte Pia.

Ich fand es zwar verrückt, sich etwas zu kochen, nur weil es gut aussieht und man es posten kann, aber ich profitierte ja von diesem Tick, also sagte ich nichts. Stattdessen schielte ich unauffällig hinüber zum Nachbartisch und versuchte, ein paar Worte von Ben aufzuschnappen. Doch in unserer Mensa hallt es leider wie blöde.

Ich merkte natürlich selbst, wie peinlich ich mich immer noch verhielt, aber ich konnte den Blick einfach nicht von ihm abwenden. Mir kam es vor, als sei die ganze Mensa plötzlich für Fasching geschmückt oder für Weihnachten. Alles glitzerte, alles schien voller Geheimnisse zu sein. Und am Nachbartisch … saß der Weihnachtsmann. Nein, besser, viel besser! Der Weihnachtsmann und das Christkind und der Osterhase ZUSAMMEN!

Kann man sich so plötzlich verlieben? Obwohl man noch gar nichts von dem anderen weiß? Nur wegen eines Sonnenaufgangsblicks? Oder vielmehr, wegen drei Blicken?

»Mensch, Marie!«, riss mich Alina aus meinen Gedanken. »Dich habe ich ja noch gar nicht gefragt.«

»Weswegen?« Ich schluckte den heißen Torero runter.

»Na, wegen des Stücks.«

Alina machte beim Schultheater mit, erinnerte ich mich. In ein paar Wochen waren die Aufführungen, wie immer kurz vor Ende des Schuljahrs. Diesmal probten sie ein Musical. My Fair Lady.

»Evi aus der Neunten ist ausgefallen«, erklärte Alina. »Sie hat Pfeiffersches Drüsenfieber, und der Arzt sagt, sie muss über Wochen zu Hause bleiben. Wochen! Jetzt brauchen wir dringend Ersatz.«

Ich war verwirrt. »Und wieso denkst du da an mich?«

»Na, es ist keine große Rolle und du … ich meine … du musst auch nicht singen. Und nur ein bisschen tanzen und küssen.«

Mein Blick musste wohl eindeutig gewesen sein, denn sie verstummte schlagartig. Ich würde mich doch nie im Leben vor zweihundert Leuten auf die Bühne stellen und mich zum Affen machen!

»Nee, nee, lass mal«, wehrte ich ab, »ich bin nicht für die Bühne gemacht. Und schon gar nichts fürs Küssen.«

Oder doch? Ich schielte schon wieder zum Nachbartisch. Aber wenn, dann nicht auf der Bühne, vor allen Leuten! Wenn, dann war das ja wohl jetzt erst mal im echten Leben dran …

Von nebenan dröhnte Gelächter herüber. Jasper war in voller Fahrt. Und Ben schien ihn auch noch lustig zu finden! Oder tat er nur so? Fast gab es mir einen kleinen Stich ins Herz, dass er sich mit dem fettigsten und schleimigsten Jungen der ganzen Klasse abgab. Ich hätte ihm mehr Geschmack zugetraut … Wie er wohl sonst so war? Was er wohl in diesem Moment wirklich dachte? Ob wir dasselbe mochten? Dieselbe Musik hörten? Dieselben Bücher lasen? Immerhin schien Bens Appetit nicht ganz so groß zu sein wie Jaspers, wie ich mit einer gewissen Zufriedenheit feststellte. Den Kartoffelbrei hatte er zumindest noch nicht angerührt, wie es aussah. Hm. Wie sollte ich es bloß anstellen, noch einmal mit ihm ins Gespräch zu kommen?

Ich schob Pia die Reste ihres heißen Toreros zurück. »Danke. War echt HEISS. Was bringst du morgen mit?«

»Was mit Spargelspitzen«, sagte sie.

»Oh«, meinte ich, »die mag ich leider nicht.«

Sie zuckte die Achseln. »Es wird ein super Post. Wirst sehen. Ist halt auch ein Saisongemüse.«

»Ich werde es liken«, versprach ich. »Aber nicht probieren, wenn es okay ist.«

Auf der anderen Seite, einen Tisch weiter, saß Yun, wie immer allein. In der Hand hielt er sein Smartphone und machte ein Foto von uns Mädels.

»He«, rief ich, »Handy weg, ja? Sonst sag ich’s dem Koppe!«

»In der Mittagspause dürfen wir doch jetzt«, sagte Pia und warf einen Blick auf ihr eigenes Handy. »Und in ausgewählten Unterrichtsstunden.«

»Schon«, grummelte ich, »aber ich will nicht, dass Yun ein Bild von mir ins Internet stellt, wie ich das aufesse, was du gestern schon gepostet hast.«

Als ich mich wieder zum Nachbartisch wandte, war Ben aufgestanden und diesem Idioten von Jasper auch noch hinaus auf den Hof gefolgt.

So ein Pech. Jetzt saß ich da, mit meinem heißen Torero und meiner Sonne im Bauch, und wusste nicht, wohin. Seufzend erhob ich mich, um nach Elli zu schauen. Die musste doch mal ausgeraucht haben!

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»Hi, du Ei«, sagte Elli, als ich hinter der Turnhalle auftauchte. »Magst du eine?«

»Natürlich nicht«, wehrte ich ab und hockte mich neben sie. »Ich brauche nur ein bisschen Ansprache.«

Ich deutete auf das Smartphone, das sie in der Hand hielt. »Was machst du?«

»Ich schau mir Joshs neues Video an. NUR FÜR MÄDELS. Heute ist doch Montag.«

Das würde mich vielleicht ablenken. Oder wieder halbwegs auf den Boden bringen.

»Rutsch mal«, sagte ich. »Ich will auch was sehen.«

… und jetzt wird es Zeit, dass ich endlich etwas über Josh schreibe, denn der ist ja schließlich auch eine der Hauptpersonen in diesem ganzen Strudel, in den wir geraten sind und der jetzt gerade erst begonnen hat, uns mit hinabzureißen.

Also. Wie beschreibe ich Josh?

Damals, an diesem Montag im Mai, kannte ich ihn ja noch gar nicht richtig. Damals kannte ich ihn quasi nur von außen. Und ein bisschen von seinem YouTube-Kanal. Denn Josh geht nicht nur in meine Klasse, er ist auch ein YouTuber. Ein ziemlich witziger noch dazu, finde ich, weil er jeden Blödsinn macht, den man sich nur vorstellen kann. Alle zwei Wochen, immer montags, veröffentlicht er ein neues Video auf seinem Kanal »Nur für Mädels«. Ein genialer Titel, weil natürlich genauso viele Jungs wie Mädels wissen wollen, was ein Junge exklusiv nur den Mädchen erzählen will. Und schon schauen ALLE zu und er hat jede Menge Abonnenten.

Josh hat eine etwas zu lange Nase, einen leichten Silberblick und lässt sich die Haare lässig über die Augen fallen. So ist er zumindest bei uns in der Klasse. Im Alltag. Eher unauffällig. In seinen »Nur für Mädels«-Videos trägt er dagegen immer einen BH über seinem T-Shirt, WIRKLICH, und das ist so affig, dass es schon wieder nicht mehr affig ist.

Man kann ihm einen Kommentar schreiben und ihm irgendwelche Aufgaben geben, irgendeinen angeblichen »Mädelskram«, Schminken, Anbaggern, Blumen malen, Häkeln, was weiß ich, und dann testet er das und macht echt großes Kino daraus. Elli sagt immer, das sei voll sexistisch und es gäbe ja wohl überhaupt keinen Kram nur für Mädels oder nur für Jungs, sondern nur für MENSCHEN, aber witzig findet sie es trotzdem, und selbst sie muss zugeben, dass sich die meisten Jungs eben NICHT schminken. Oft genug ist jemand aus der Schule oder aus der Kirchengemeinde oder sonst irgendwer, den wir kennen, in Joshs Videos dabei, und dann wird alles natürlich noch viel lustiger für uns.

Elli ließ das Video noch mal von Anfang an laufen, als ich mich neben sie hockte, und Josh sprang ins Bild, wie immer in voller Montur, BH über T-Shirt, und rief: »Hey, Mädels, hier ist Josh, euer BUSENfreund und Helfer, mit einem neuen Video. NUR FÜR MÄDELS! Wer will mir heute eine Aufgabe stellen?«

Schnitt. Schon steht neben ihm ein Typ im orangen Overall und schaut verdattert.

»Erkan, my Müllmann, bist du ein Mädchen?«, fragt Josh und Erkan schüttelt den Kopf. »Sorry, Faninnen …«

Schnitt. Simon springt ins Bild, Joshs kleiner Bruder aus der Fünften, und sprüht Josh mit Rasierschaum ein. »He, Kurzer, NUR FÜR MÄDELS!«, ruft Josh und schaut ganz verzweifelt in die Kamera.

Schnitt. Dann steht eine uralte Frau mit schlohweißem Haar neben ihm und grinst breit und Josh reißt gekonnt die Augen auf. »Nur für MÄDELS!«, betont er und tut immer verzweifelter.

Aber die Alte nickt gütig und krächzt: »Ab ins Heu mit dir! Das haben wir früher schon so gemacht, das mögen Mädchen heute auch noch!«

Und Josh bricht theatralisch zusammen und stammelt: »Oh nein, DAS ist meine Aufgabe heute?«

Elli kicherte. »Wo hat er denn die Oma aufgetrieben?«

Na ja, und dann ist er eben auf einem Ponyhof. Schnitt. Ein Pferdegebiss von ganz nah. Dramatische Musik. Josh stolziert wieder ins Bild und verspricht, den kompletten Härtetest zu machen, »Reiten lernen und so«.

Ein Mädchen mit braunem Zopf, das sich als Lou vorstellt, reicht ihm Karteikarten mit immer neuen Aufgaben, und Josh versucht, eine Box auszumisten und Zaumzeug anzulegen – aber das Pferd scheint kitzlig zu sein. Am Ende sitzt er aber tatsächlich im Sattel und behauptet, dass nun ja wohl klar geworden sei, warum Jungs sich gern wie ein Hengst aufspielen, um Mädchen rumzukriegen. Und dann macht er das auch noch vor und saust wie ein wild gewordener Gaul durch den Stall und Lou kratzt ihm die HUFE aus.

Wir mussten ziemlich viel lachen.

»Oh my god«, sagte Elli schließlich, »das Video, wo er sich in der Dessous-Abteilung beraten lässt, hat mir zwar noch besser gefallen. Aber dieses war auch gut.«

»Bisschen kindisch«, fand ich, aber natürlich gaben wir dem Video beide einen Daumen nach oben, schon einfach deswegen, weil wir stolz darauf waren, dass Josh, UNSER KLASSENKAMERAD JOSH, so was Cooles auf die Beine stellen konnte und sogar echt ein bisschen Kohle mit dem Quatsch verdiente.

So richtig auf dem Boden war ich allerdings immer noch nicht wieder angekommen und der ganze Nachmittagsunterricht rauschte an mir vorbei, ohne dass ich etwas davon behalten hätte. Leider ergab sich keine weitere Gelegenheit, mit Ben zu reden. Ich wartete nach der Schule sogar extra noch bei den Fahrrädern auf ihn, aber er musste wohl den Hintereingang benutzt haben, denn wir begegneten uns nicht noch einmal.

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»Schau mal, was ich heute geliefert bekommen habe«, sagte meine Mutter, als ich zu Hause ankam und mein Fahrrad in die Garage geschoben hatte. Sie hielt mir ein rotes Kleid hin. »Na, was meinst du? Soll ich das behalten?«

»Ich find’s gut«, sagte ich und warf mich aufs Sofa. »Mist, ich hatte gar nicht auf Klamotten getippt. Sondern auf Creme oder so.«

Wir hatten seit einer Woche ein Probeabo bei einer Smartshopping-Firma. Da braucht man gar nicht mehr anzuklicken, was man bestellen will, sondern man bekommt geliefert, was gut zu einem passt. Das können die errechnen, aufgrund von unserem sonstigen Konsumverhalten oder so. Die meisten in meiner Klasse machten da mit, und mein Vater hatte natürlich auch sofort zugesagt, solange »die Einkäufe im Rahmen bleiben«. Man konnte aber auch einstellen, wie viel man im Monat ausgeben wollte.

Jetzt machten meine Mutter und ich uns jedenfalls ein Spiel daraus zu erraten, was die Algorithmen für uns so errechnet hatten. Bei mir hatte es bisher zweimal gestimmt. Meine Mutter hatte auf ein Buch getippt, und zuerst war tatsächlich ein Krimi gekommen, der sogar richtig gut klang. Was mit Vampiren. Und dann hatte sie auf was Süßes getippt. Und was war gekommen? Eine Packung Kokospralinen! Die alte hatte ich gerade aufgegessen.

»Dann behalte ich’s«, meinte meine Mutter jetzt und drehte das Kleid in den Händen. »Ich schlüpfe sogar gleich rein. Passt doch super, wenn wir nachher ausgehen. Ziehst du dir auch noch was Frisches an? Was Leichtes, es ist doch so warm, findest du nicht?«

Sie musterte mich von oben bis unten. Konnte sie sehen, wie verwirrt ich heute war? So komplett anders als sonst? So voller Sonne und Aufregung? Nein, das vermutete sie sicher nicht, sie konnte ja die romantische Musik nicht hören, die immer noch leise alles untermalte in meinem Kopf.

Stattdessen dachte sie wohl eher: Sei doch mal locker, zieh doch mal die Latzhose aus! Aber Kleider stehen mir nun mal nicht, da fühle ich mich irgendwie zur Schau gestellt.

»Mir ist nicht heiß«, sagte ich daher und fragte vorsichtig nach: »Was ist noch mal heute Abend?«

»Wir wollten doch schick essen gehen mit Papa«, antwortete meine Mutter ein wenig vorwurfsvoll. Sie verschwand mit dem neuen Kleid im Bad. »Wegen des Projekts, das weißt du doch«, rief sie, bevor sie die Tür schloss.

Ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich es vergessen hatte. Aber ich konnte mich einfach nicht auf alles gleichzeitig konzentrieren. Und heute sowieso nicht, Elli hatte recht behalten. Wahrscheinlich würde ich mich beim Italiener nicht mal aufs Kauen konzentrieren können. Mir rutschten immer Bens Augen dazwischen.

Mein Vater wollte sein neues Projekt mit uns feiern, jetzt fiel es mir wieder ein. Er arbeitet bei Audi, wie jeder Zweite hier in Ingolstadt, und beschäftigt sich mit der Entwicklung ganz neuer Autos. Solchen, die selbst fahren. Führerlos. Nur computergesteuert. Das ist die Zukunft, sagt er. KI. Künstliche Intelligenz. Im Grunde baut er Autos, die selber denken sollen. Seit einigen Jahren gibt es eine Teststrecke auf der Autobahn zwischen München und Ingolstadt, und offenbar macht mein Vater tolle Arbeit, denn vor zwei Wochen war er zum Leiter einer neuen Arbeitsgruppe ernannt worden. Wie hatte ich das nur vergessen können … er sprach ja von nichts anderem mehr!

Es klingelte dreimal – das ist unser Familienzeichen – und fast gleichzeitig sperrte mein Vater auf.

»Na, ihr Schätze«, hörte ich ihn rufen. »Feierabend! Im wahrsten Sinne des Wortes: Feier-Abend!«

»Hallo, Bernd«, rief meine Mutter aus dem Bad, »wir sind schon fast fertig.«

Mein Vater lachte. »Das will ich hoffen.«

Ich stand auf. »Hallo, Paps.«

»Schick siehst du aus«, sagte er doch glatt zu mir, obwohl ich immer noch die Latzhose anhatte und keinen Rock und auch nichts Leichtes oder so, und ich warf meiner Mutter, die eben im roten Kleid aus dem Bad trat, einen triumphierenden Blick zu. Auf meinen Vater ist Verlass. Er versteht nichts von Klamotten. Er versteht nur was von Autos.

Mein Handy zirpte. Eine neue Nachricht. Ich wischte die roten Rosen – meinen Sperrbildschirm – zur Seite und hielt die Luft an, weil doch tatsächlich folgende Worte auf dem Display erschienen:

Hi, hier ist Ben.

Mein Herz begann zu klopfen wie verrückt.

BEN.

Hilfst du mir, dich kennenzulernen? Schick mir doch ein Foto von dir, dann kann ich mir die Namen in der Klasse schneller merken. Dies ist meine Nummer und im Anhang findest du ein Foto von mir. Du kannst es einfach herunterladen.

Danke!

See U, Ben

Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Ben wollte ein Foto von mir! Allerdings – zugegebenermaßen wohl von jedem in der Klasse. Oder war das am Ende nur eine fiese Masche? Eine Falle? Spam? Man soll ja immer vorsichtig sein …

Ich an Elli: Hast du auch eine Nachricht von Ben bekommen?

»Na, wer schreibt denn da?«, versuchte mich mein Vater zu necken, weil meine Mutter inzwischen schon mit der Handtasche über der Schulter an der Haustür stand, ich mich aber nicht von der Stelle rührte. »Jemand Besonderes?«

Ich schüttelte den Kopf und starrte weiter auf mein Handy. »Schon besonders. Aber nicht, was du denkst.«

»Aha.« Mein Vater schob mich grinsend zur Tür hinaus.

Warum durchschauen mich immer alle sofort? Ich knurrte.

»Schon gut.« Mein Vater schaute extra auffällig weg. »Ich wollte dich nicht kontrollieren.«

Das Handy zirpte wieder.

Elli: Ja, hab ich.

Ich: Echt?

Elli: Bist du vielleicht eifersüchtig? image

Ich überlas die Spitze und antwortete: Was steht bei dir?

Elli: Hi, hier ist Ben. Hilfst du mir, dich kennenzulernen?

Ich: Wie bei mir. Meinst du, man kann ihm zurückschreiben?

Elli: Unbedingt. Die Frage ist nur, welches Foto ich nehmen soll.

Ich lud den Anhang herunter und klickte ihn mit zitternden Fingern an. Es war ein Porträt von Ben, wie er es angekündigt hatte. Wahnsinn – wer hätte gedacht, dass ich so schnell an ein Foto von ihm kommen würde? Ein sehr gelungenes Bild außerdem. Er schaute ernst. Zugleich neugierig. Mit durchdringendem Blick.

UNWIDERSTEHLICH, fand ich.

Mein Handy zirpte schon wieder.

Elli: Ich nehme das von der Frühlingsparty. image

Ich erinnerte mich dunkel an ein wildes Foto von ihr mit Löwenfrisur.

Hm.

Ich wünschte, ich hätte auch so eins. Ich schaute mich um. Im Garten blühte der weiße Flieder.

»Mama«, fragte ich mit möglichst unbeteiligtem Gesichtsausdruck, »kannst du kurz mal ein Foto von mir machen?«

Mama arbeitet als Fotografin und kann supertolle Bilder machen. Sie warf meinem Vater einen belustigten Blick zu. Mensch. So gemein!

»Wollen wir nicht erst mal zum Italiener gehen?«, fragte sie.

»Lieber sofort«, sagte ich und wurde prompt rot. »Da, vor dem Flieder.«

»Aha«, feixte mein Vater. »Habe ich es doch gewusst. Ein Foto für jemand Besonderen.«

»Wieso denn!«, versuchte ich mich zu verteidigen. »Bei einem Foto mit Flieder ist doch nichts dabei! Sind doch keine roten Rosen oder so.«

»Nein.« Mein Vater grinste in sich hinein. »Flieder ist total unromantisch.«

Ich ging nicht weiter darauf ein, drückte meiner Mutter das Smartphone in die Hand und posierte vor dem Flieder. Und versuchte zu lächeln, ohne dass man meine Spange sah oder den Pickel auf der Stirn, ohne dass ich rot wurde, ohne dass meine Haare fettig schimmerten und ohne dass es zu gestellt aussah und auf keinen Fall verliebt.

Mama musste siebenundzwanzig Fotos machen, bis ich zufrieden war, und mein Vater grinste immer breiter vor sich hin, aber irgendwann war es mir dann egal. Man braucht eben Hornhaut. Auch auf der Seele.

Hi Ben, schrieb ich schließlich zurück. Das ist aber lieb – ich strich das »lieb« wieder und schrieb, das ist aber nett – ich strich das »nett« wieder, weil Jungs vielleicht nicht nett sein wollen, und schrieb, das ist aber cool, dass du dich meldest!

Aber war es wirklich »cool«, dass er sich gemeldet hatte?

Ich löschte alles und schrieb schließlich:

Hallo, Ben. Hier ist mein Foto. Bis morgen! Marie

Das war unverfänglich, aber es deutete an, dass ich mich auf morgen freute und darauf, ihn nicht nur zu sehen, sondern vielleicht auch mit ihm zu sprechen, und dass ich mich außerdem ganz prinzipiell freute, dass er jetzt bei uns in der Klasse war, oder? Um es noch netter zu machen, setzte ich ein Smiley dahinter.

So war es okay.

Und dann gingen wir endlich essen.

DIENSTAG, 12. MAI

»Hallo, Marie!«

»Oh – hallo! Du weißt meinen Namen schon.«

Ich hörte mir selbst beim Antworten zu, so überrumpelt war ich. Ben war direkt auf mich zugekommen!

»Ich habe doch dein Foto!«

»Das war eine – äh – coole Idee von dir, uns nach Fotos zu fragen. Woher hattest du denn meine Nummer?«

Ich klang ganz hohl, aber ich konnte es nicht ändern. Dass Ben mich noch vor dem Unterricht ansprechen würde, hatte ich in meinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt.

»Es gibt doch eine Klassenliste.«

»Stimmt. Äh … haben alle mitgemacht?«

Stotter. Stotter. Meine Güte!

Ben sah heute fast noch besser aus als gestern. Er trug ein weißes Hemd, eine enge Jeans und eine coole Jacke. Er sah so blendend aus, dass ich beinahe die Augen schließen musste.

»Fast alle haben mitgemacht. Und die anderen werden schon noch.«

»Auch die Jungs?«

»Klar. Warum denn nicht?«

»Nur so.«

»Du heißt Marie, du radelst gern, magst Blumen und Hunde.«

Ich war platt. Er wusste nicht nur meinen Namen – er hatte sich sogar schon Gedanken über mich gemacht.

Hatte er Elli gefragt? Oder Alina?

»Woher … woher weißt du das?«

»Du siehst so aus!«

»Oh!«

»Und du magst Flieder.«

»Oh – ja!«

»Und lässt deine Zähne begradigen.«

»Na – das kann ja jeder sehen.«

»Ist das schmerzhaft?«

»Manchmal.«

Wow! Meine Spange schien ihm nichts auszumachen. Der Tag wurde immer besser!

»Wie findest du unsere Lehrer?«, fragte ich, nur um irgendwas zu sagen.

»Muss ich noch prüfen.«

»Prüfen?«

»Wie findest DU sie, Marie?«

»Der Bachmann ist super, die Gayer ist doof, der Koppe ist mir zu hoch.«

»Mir ist der Koppe auch zu hoch.«

»Der mit seinen Physik-Aufbauten. Elektrizität und Magnete und all so was, das interessiert mich nicht so besonders, weißt du.«

»Ich weiß.«

»Du weißt?«

»Du siehst so aus.«

»Mensch, Ben.«

»Du magst eben lieber Flieder.«

»Stimmt.«

»Und Rosen. Das gefällt mir.«

Ich musste an den Sperrbildschirm auf meinem Handy denken und die roten Rosen, die darauf blühten, und ich fragte mich, ob das schon eine konkrete Anmache war, wenn einem unterstellt wird, man würde Rosen mögen …

»Hey, Ben, hast du mein Foto bekommen?«

Das war Marc, der in unser erstes Gespräch hineinplatzte. Ausgerechnet Marc. Seit dem Streit zwischen ihm und Elli ignorierte ich ihn aus Solidarität mit ihr. Doch nun war ich in einer echten Zwickmühle. Sollte ich gehen oder bleiben? Wegen Marc müsste ich eigentlich gehen. Aber wegen Ben wollte ich unbedingt bleiben. Puh. Zum Glück war Elli noch nicht da und deshalb entschied ich mich, erst mal zu bleiben. Sie musste ja nicht erfahren, dass ich mit Marc geredet hatte …

»Hab’s bekommen!«, nickte Ben und lächelte. »Du bist Marc.«

»Genau, und du bist Ben.« Marc warf mir einen knappen Blick zu. »Hi, Marie. Wie geht’s so?«

»MIR geht’s gut«, gab ich zurück. Ich wollte gar nicht schroff klingen. Hörte sich aber doch so an.

»Du gehst gern klettern, hab ich recht?«, sagte Ben, bevor Marc etwas erwidern konnte.

Verblüfft wandte Marc sich zu ihm um. »Stimmt!«

»Coole Sache.«

»Klar.«

»Vor allem, seit es die Ultraleicht-Seile gibt, kennst du die schon?«

»Nee, wieso?«

»Die könntest du gebrauchen. Für die Ausrüstung.«

»Hm.« Marc zog sein Handy heraus. »Wie heißen die genau?«

»Flying Force Seile.«

Marc tippte auf das Display und kräuselte die Lippen. »Hey, die sehen wirklich nicht schlecht aus. Super Bewertungen.«

»Sag ich doch.«

»Und nicht zu teuer. Wer hat dir denn erzählt, dass ich gern klettern gehe?«

»Ich habe mir dein Profil angeschaut und kombiniert, ist doch logisch«, antwortete Ben.

Marc grinste. »Stimmt, da gibt es dieses Bild von mir mit Helm und Seil.«

»Kennst du den Kletterpark an der Altmühl?«, fragte Ben weiter. »Kann man hinradeln. Den Link schick ich dir.«

»Danke!« Marc war total perplex von so viel Service, ich konnte es sehen. »Kletterst du auch?«

»Ja«, sagte Ben. »Gern.«

Ich betrachtete Ben und konnte mir gut vorstellen, wie er in der Wand hing und sich mit starken Armen nach oben zog. Schwitzend. Mit rotem Gesicht.

Die Vorstellung gefiel mir. Wenn da nur nicht sofort dieser andere Gedanke wäre, dieser fiese Gedanke: Würde er sich auch mit einem Mädchen abgeben, das nicht so sportlich war wie er?

»Wie findest du die Lehrer?«, fragte Ben jetzt Marc.

»Geht so«, meinte Marc.

»Wer ist am besten?«

Marc zögerte. »Eigentlich der Koppe in Physik.«

»Finde ich auch«, sagte Ben.

Hä?

Hatte er nicht gerade ganz was anderes behauptet? Vielleicht war er mit den Namen der Lehrer durcheinandergekommen. Oder wollte er nur höflich sein?

»Äh – also ich habe gerade genau das Gegenteil gesagt«, meinte ich vorsichtig. »MIR ist der Koppe zu hoch …«

Vielleicht würde Ben ja seinen Fehler bemerken?

»Ich habe auch gerade das Gegenteil gesagt«, erklärte Ben und lächelte.

Irgendwie süß, wie er so ungeschickt dastand. Und einfach nur nett sein wollte.

Marc schaute uns verwirrt an. »Was redet ihr da?«

»Na, ICH finde den Koppe zu hoch«, sagte ich. »Und Ben MANCHMAL auch, stimmt’s?«

»Manchmal«, wiederholte er. »Wie Marie.«

Marc lächelte mir kurz zu. Es war wahrscheinlich das erste Mal seit dem Vorfall mit Elli, dass er in meiner Gegenwart lächelte. Dann verzog er aber sofort wieder spöttisch den Mund. »Physik und Mädchen, das passt ja auch nicht zusammen.«

»Manche mögen eben Rosen«, stellte Ben diplomatisch fest, »andere berechnen lieber ihr Wachstum.«

»Gut erkannt.« Marc schlug ihm auf die Schulter. »Mann, Muskeln aus Stahl! Ich weiß nicht, ob ich mich trauen soll, mit dir klettern zu gehen. Nicht, dass du mir davonkletterst.«

»Oh, dafür finden wir eine Lösung«, sagte Ben, aber bevor ich mich darüber wundern konnte, kam Elli die Treppe hochgekeucht, und ich trat schnell einen Schritt zurück.

Ich wollte von ihr nicht zu nah bei Marc gesehen werden. Aber sie hatte mit einem Blick die Szene erfasst, rauschte an uns vorbei und rempelte dabei Yun an, der schweigsam wie immer an der Tür zum Klassenzimmer lehnte und vor sich hin starrte.

»Sorry«, hörte ich sie fauchen.

Yun verzog keine Miene.

»Gibt’s Probleme?«, fragte Ben.

»Weiber«, knurrte Marc.

»Weiber«, wiederholte Ben und nickte.

»He«, sagte ich und fühlte mich zwischen allen Stühlen, »ein Weib hört mit!«

Ben blinzelte mir zu. Und das war mir an diesem Morgen wichtiger als Ellis Laune.

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Jetzt habe ich schon sieben Tintenpatronen leer geschrieben und schüttle meine Hand aus. Ein Eichhörnchen springt von einem Ast zum anderen, draußen, vor dem Fenster.

BEN.

Ich muss immer an ihn denken.

Bei jedem Satz.

Ich frage mich, ob ich etwas hätte bemerken können, damals, an diesem Dienstag im Mai. Jetzt finde ich natürlich, ich hätte eigentlich etwas bemerken MÜSSEN. Ich hätte wachsamer sein sollen. Aber so ist es doch meistens, hinterher bist du immer schlauer. Ich werde es trotzdem einfach weiter so erzählen, wie ich es erlebt habe. Ich muss erst das offene Messer beschreiben, bevor ich hineinrenne.

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Natürlich konnte ich mich den Rest des Vormittags über nicht besser konzentrieren als gestern. Spanisch flatterte an mir vorbei. Elli war in den ersten beiden Stunden sauer auf mich, weil sie sehr wohl bemerkt hatte, dass ich mit Marc gesprochen hatte, und es als Vertrauensbruch interpretierte. Was natürlich völliger Blödsinn war.

Während ich von der Tafel die Vokabeln abschrieb, hörte ich plötzlich Pia aus der Reihe vor mir flüstern: »Hey, Marie … findest du den Neuen auch so süß?«

Überrascht beugte ich mich nach vorn. »Was?«

»Na, er wollte gleich meine Nummer haben, und als er gemerkt hat, dass wir aus Spanien kommen, hat er mir Lieder aus den spanischen Charts geschickt. Süß, oder? Ich hab sofort ein paar Songs gekauft, die ich noch nicht kannte. Voll cool.«

»So, hat er das?« Ich hätte mich selbst dafür ohrfeigen können, wie eifersüchtig meine Stimme klang.

»Der hat echt Stil«, warf Pia nach hinten.

»Mhm«, nickte ich kühl.

Neben mir knurrte Elli: »Wird halt noch so ein Weiberheld sein.«

»Ja, und?«, flüsterte Pia. »Komm schon, Marie, sag, dass du ihn auch süß findest.«

Den Teufel würde ich tun. Ich kotz doch meine Seele nicht auf ein Silbertablett und geh damit hausieren! Ich verzog nur den Mund und brachte ein stählernes Grinsen zustande. »Männer wollen nicht süß sein.«

Pia stöhnte. »Gracias, mamá, für diesen Hinweis.«