Greifenstein, Gina Da machen wir´nen Flicken drauf

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1. Mitten ins Herz

Moni war zu früh. Sie war immer zu früh.

Schon als kleines Mädchen war sie immer zu früh gewesen. Bei jedem Kindergeburtstag, zu dem sie eingeladen war, kam sie zu früh. Sogar dann, wenn sie extra spät von daheim losgelaufen war. Trotzdem war sie immer die Erste.

Ein Schultag nach den Weihnachtsferien fiel ihr ein, und sie musste lächeln. Wie alt war sie damals wohl gewesen? Vierzehn oder fünfzehn? So was um diesen Dreh. An der Bushaltestelle hatte sie sich schon ein wenig gewundert, dass keine anderen Schulkinder da waren. Aber nicht genug, um sich wirklich Gedanken darüber zu machen. Es war stockdunkel, ein typischer Januarmorgen eben. Der Bus, in den sie wenig später einstieg, war bis auf ein paar ältere Leute leer und wunderbar still. Endlich einmal konnte sie auf dem begehrtesten Platz im ganzen Bus sitzen, hinten auf der letzten Sitzbank, die die gesamte Breite des Busses einnahm.

Warum sie es nicht da schon gemerkt hatte, war ihr später unerklärlich gewesen, aber erst als sie vor der Schule stand und kein einziges Fenster erleuchtet war, kam ihr in den Sinn, dass etwas nicht stimmen konnte. Sie war mal wieder zu früh – aber ausnahmsweise nicht eine halbe Stunde oder ein paar Minuten, nein, einen ganzen Tag!

Nun, das war natürlich schrecklich peinlich gewesen und wurde zum beliebten Running Gag ihrer Freundinnen: In den nachfolgenden Schuljahren wurde sie, sobald sich irgendwelche Ferien näherten, von ihren Klassenkameraden stets ausdrücklich ermahnt, ja am richtigen Tag in die Schule zu kommen.

Zum wiederholten Mal sah Moni auf die Uhr. Es war noch immer vor der verabredeten Zeit.

Ja, sie war immer zu früh. Rolf dagegen kam regelmäßig zu spät. Seine Abschlussprüfung hätte er fast verpasst – das wusste sie von seiner Mutter, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihn noch nicht gekannt. Zum Standesamt kam er mit quietschenden Reifen und fast zehn Minuten zu spät angehetzt, das hatte sie immerhin hautnah erlebt. Zur kirchlichen Trauung war er wahrscheinlich nur pünktlich angekommen, weil seine Eltern ihn abgeholt und vor dem Altar abgeliefert hatten. In den Kreißsaal kam er atemlos hereingestürzt, da hatte sie Emma schon frisch gebadet im Arm gehalten.

Sie stopfte eine dicke rote Locke, die sich vorwitzig gelöst hatte, in ihre Steckfrisur zurück. Rolf mochte es, wenn sich ihr Haar wild und ungebändigt über ihre Schultern kringelte. Aber sie hatte schließlich nicht das viele Geld beim Friseur gelassen, damit sich das kunstvolle Gebilde schon vor dem Essen in Wohlgefallen auflöste.

»Möchten Sie nicht vielleicht doch schon einen kleinen Aperitif vorweg?«, erkundigte sich der Oberkellner zum dritten Mal höflich und lächelte sie aufmunternd an. Er hatte sie vor einer Viertelstunde zu ihrem Tisch geleitet, und seither hatte sie standhaft jegliche Getränkewünsche verneint.

Inzwischen hatte sie jedoch Durst bekommen und bestellte einen Prosecco, worauf der Kellner strahlend davoneilte, als ob sie ihm damit die größte Freude des Abends bereitet hätte.

Moni sah sich in dem dezent beleuchteten Lokal um und entdeckte an einigen Tischen bekannte Gesichter aus dem öffentlichen Leben. Schon vor Wochen hatte sie diesen Tisch reserviert, denn das Taverna war derzeit das In-Lokal der Reichen und Schönen. Vier Sterne und eine gnadenlos köstliche italienische Küche. Wo sonst konnte man seinen zwanzigsten Hochzeitstag so stilvoll feiern?

Der Prosecco kam, und sie nahm mit geschlossenen Augen einen großen Schluck von dem prickelnden Gesöff. Hmmmm! Und wie schick hier alle angezogen waren! Männlein wie Weiblein saßen in edlen Klamotten an den kleinen Tischen, lächelten sich selig an, teurer Schmuck klimperte an Handgelenken, Hälsen und Ohren. Dezentes Murmeln erfüllte den Raum.

Während Moni das Glas leer trank, musterte sie die Kleider eingehender. Sie kam zu dem Schluss, dass mindestens jedes zweite Abendkleid hier ein Steiger-Kleid war, und ein warmes Gefühl des Stolzes durchflutete sie. Ihr Rolf hatte fast alle diese Leute mit den wunderbaren Kleidungsstücken aus seinem Modehaus ausgestattet – sie waren von ihm ausgesucht, eingekauft und diesen gut betuchten Menschen letztendlich auf den Leib angepasst worden. Sie lächelte glücklich und musste einen Hickser unterdrücken. Die grellorangefarbene Scheußlichkeit dahinten mit der riesigen Stoffrosette wohl eher nicht, entschied sie, so eine Geschmacklosigkeit würde Rolf niemals unterlaufen! Sie musste kichern, denn nicht nur das Kleid war schrecklich geschmacklos, auch die Trägerin war wenig ansehnlich.

Der Alkohol stieg ihr langsam, aber sicher in den Kopf, sie musste dringend etwas essen.

Ihr Blick fiel noch einmal auf die Uhr. Jetzt war er die übliche Viertelstunde über der Zeit. Konnte er nicht einmal an seinem Hochzeitstag pünktlich sein?

Monis Kleid war übrigens auch kein Steiger-Kleid, schließlich wollte sie Rolf ja überraschen. Ihre Freundin Ruth hatte es extra für sie entworfen und in ihrem Schneideratelier genäht, ein schlichtes schwarzes Seidenkleid, mit einem grandiosen Ausschnitt. Allerdings saß das gute Stück etwas eng, eher zu eng – irgendwie musste sie die letzten beiden Wochen wohl eine Winzigkeit an Gewicht zugelegt haben. Überhaupt hatte sie da etwas die Kontrolle verloren, fand sie. Nun, dick war sie nicht wirklich, aber eben auch nicht mehr so schlank wie noch vor ein paar Jahren. Dabei hatte sie nach Emmas Geburt vor sechzehn Jahren schnell wieder in ihre ursprünglichen Klamotten Größe sechsunddreißig gepasst. Erst in den letzten Jahren hatten sie da und dort klammheimlich Pölsterchen angesetzt. Weiblicher war sie geworden – so hatte es Johanna, Rolfs Mutter, charmant in Worte gefasst. Dieses weiblicher bedeutete in Zahlen ausgedrückt Größe vierzig, Tendenz zu zweiundvierzig. Wenn sie nicht bald etwas gegen diese überflüssigen Pfunde unternahm, dann würde sie demnächst aussehen wie dieses Vollweib oder Vollblutweib oder wie die sich nannte, diese Schauspielerin, die gut damit verdiente, weil sie ihre weiblichen Körpermassen als ganz normal und erstrebenswert in ihren Büchern anpries. Andererseits durfte man mit knapp vierzig doch ruhig etwas mehr auf den Rippen haben als mit fünfundzwanzig, oder?

Rolf hatte sich bisher noch nicht negativ dazu geäußert.

Dem Typen mit den dekorativ angegrauten Schläfen, der ihr schräg gegenüber saß, schien sie auch so zu gefallen, wie sie war: Er hatte seinen Blick beharrlich an ihr festgehakt und zwinkerte ihr gerade zu – ungeachtet der weiblichen Begleitung, die mit dem Rücken zu Moni saß und von seinem visuellen Fremdgehen anscheinend nichts mitbekam.

Wo blieb Rolf denn nur? Sie wurde ungeduldig. Außerdem wurde es langsam, aber sicher anstrengend, so aufrecht und mit eingezogenem Bauch herumzusitzen, damit es ja keiner Naht einfallen konnte zu platzen.

Ihr Magen knurrte.

Moni bestellte noch einen von diesen köstlichen Proseccos, schwor sich aber, ihn ganz, ganz langsam zu trinken.

Sie überlegte, was sie essen würde, wenn Rolf denn endlich käme. Die Karte kannte sie inzwischen fast auswendig. Am besten nur eine Kleinigkeit, etwas Leichtes, nahm sie sich vor, etwas, das das Kleid nicht so extrem beanspruchen würde. Das mit Basilikum abgeschmeckte Muschel-Schaumsüppchen vielleicht? Und danach ein Salätchen, Feldsalat mit gebratener Entenbrust an Orangenvinaigrette – oh ja, das klang richtig gut und figurbewusst, das würde sie bestellen.

Ups, das Sektglas war schon wieder leer!

Die freche Locke, die sich erneut aus der teuren Steckfrisur gelöst hatte, ließ sie jetzt unbehelligt baumeln. Dem Drang, den Seitenreißverschluss ihres Kleides ein befreiendes Stück weit zu öffnen, widerstand sie jedoch tapfer.

Da sah sie ihn endlich, eine halbe Stunde zu spät, auf sich zukommen.

»Wo warst du bloß den ganzen Tag?«, raunte er ihr nicht gerade freundlich zu, als er sie flüchtig und kaum spürbar auf die Wange küsste. Er nahm dem herbeigeeilten Kellner die Karte ab und legte sie, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, auf den Tisch.

»Zuerst war ich bei Ruth, wegen des Kleides« – Moni sah bedeutungsvoll an sich herunter –, »dann war ich einkaufen und zuletzt beim Friseur.« Sie spielte, wie sie fand, ungemein verführerisch, mit der abtrünnigen Locke.

Er sah blass aus, fand sie, abgehetzt und unrasiert. Hätte er sich nicht wenigstens rasieren können, wenn er schon kein frisches Hemd angezogen hatte? Überhaupt – das war kein Anzug für ein Nobelrestaurant und einen zwanzigsten Hochzeitstag!

»Ich habe unentwegt versucht, dich zu erreichen«, maulte er und sah sie gereizt unter grimmig zusammengezogenen Augenbrauen hervor an.

Das Kleid schien ihn kein bisschen zu interessieren, was äußerst ungewöhnlich war für ihn, der normalerweise und regelrecht triebhaft jedem Abendkleid nachsah.

»Du weißt doch, dass man bei Ruth da draußen schlechten Empfang hat, und jetzt hängt das Handy an der Steckdose, weil es leer war«, erklärte sie und sah sich nach dem Kellner um. »Trink erst einmal einen Prosecco und entspann dich, immerhin« – sie griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand – »ist heute ein ganz besonderer Tag!« Irgendwann zwischen Suppe und Salat würde sie ihn darauf hinweisen, dass sie keinen Slip trug – früher hatte ihn das immer ganz aus der Fassung gebracht.

Rolf entzog ihr die Hand und rückte mit fahrigen Fingern sein Besteck zurecht, das eigentlich in schönster Ordnung vor ihm aufgereiht lag.

»Ich will keinen Prosecco, ich gehe auch gleich wieder.«

»Wie, du gehst gleich wieder? Was soll das heißen?« Moni verstand nicht recht. »Du weißt immerhin seit zwanzig Jahren, dass heute unser Hochzeitstag ist – wo musst du denn noch hin? Was kann noch wichtiger sein als dieser Abend?«

Sie bekam Gänsehaut. An der Art, wie er sie ansah, wie er mit ihr sprach, erkannte sie, dass etwas nicht stimmte.

»Hör zu, Monika, das fällt mir jetzt nicht leicht, das musst du mir glauben, aber ich kann nicht… und eigentlich wollte ich dich ja anrufen, aber du warst nicht zu erreichen…«

Monika, wann hatte er das letzte Mal Monika zu ihr gesagt? Monilein sagte er normalerweise oder Moni-Maus oder zumindest Moni. Aber er hatte Monika gesagt, und es hatte kalt und hart geklungen. Ihren vollen Namen hatte auch immer ihre Mutter verwendet, wenn sie böse auf sie war, weil sie mal wieder irgendeinen Quatsch angestellt hatte. Johanna, ihre Schwiegermutter, sagte auch Monika zu ihr – nicht, weil sie etwas angestellt hatte, sondern grundsätzlich. Johanna war der eher steife Typ, der immer und in jeder Lebenslage die Contenance wahrte und Spitznamen jeglicher Art unmöglich fand.

»Monika…« – da war es schon wieder, dieses unpersönliche Monika –, »ich möchte mich scheiden lassen.«

Was? Wie bitte? Sie musste sich verhört haben. Heute war der erste Mai, nicht der erste April, also kein Tag, an dem man solch üble Scherze machte. Rolf war zwar ein recht humorvoller Mann, der früher öfter mal zu derart derben Scherzen geneigt hatte – aber dies war kein Augenblick, mit so etwas zu spaßen. Schlagartig wurde Moni klar, dass er es bitterernst meinte.

Ihr Magen krampfte sich zusammen und machte Anstalten, den gerade eben getrunkenen Prosecco wieder von sich geben zu wollen. Sie atmete tief durch, was in dem engen Kleid gar nicht so leicht war. Sie schaffte es nur mit großer Mühe, ruhig zu bleiben.

»Und das wolltest du mir am Telefon sagen?«, presste sie tonlos hervor. »Reichlich geschmacklos, findest du nicht auch?«

Er zuckte nur hilflos mit den Schultern und betrachtete intensiv das in goldenen Lettern eingeprägte Logo des Restaurants auf der Speisekarte.

»Wie heißt sie?«

»Das ist doch vollkommen egal. Du kennst sie nicht«, wich er aus.

»Hoffentlich ist sie älter als deine Tochter!«, zischte Moni kalt. Zum ersten Mal fiel ihr die schwindende Haarpracht ihres Mannes – halt, ihres zukünftigen Ex-Mannes – bewusst auf. Am liebsten hätte sie ihm die beginnende Glatze mit den frisch manikürten Nägeln zerkratzt.

Heiße Wut packte sie. Sie spielte mit dem Gedanken, ihm den Inhalt ihres Glases ins Gesicht zu schütten. So wie es im Film oft gemacht wurde. Es wirkte dort immer so ungemein cool. Aber ihr Glas war ja leider schon wieder leer. Andererseits könnte sie ihm auch das leere Glas an den Kopf werfen, überlegte sie.

»Wie lange geht das schon?«, fragte sie stattdessen und ziemlich gefasst.

»Quäl dich doch nicht selbst…«

»WIE LANGE?« Sie beugte sich weit über den Tisch hinüber, die einschneidende Enge ihres Kleides völlig ignorierend. Und sie war laut geworden, so laut, dass die Leute an den Nebentischen neugierig zu ihnen herübersahen. Moni schenkte ihnen ein maskenhaftes Lächeln.

Sie wollte sich quälen, sie wollte wissen, wie lange sie blind und taub für eindeutige Zeichen seiner Untreue gewesen war. Sie wollte genau wissen, wie lange sie schon so blöd gewesen war, diesem miesen Kerl von Ehemann vertraut zu haben.

»Etwa ein halbes Jahr«, murmelte Rolf.

»Ein halbes Jahr?« Sie lachte höhnisch, aber wieder leiser auf, und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Eine weitere rote Locke entkam der Haarspange, völlig nutzlos, denn Rolf hatte jetzt keine Augen mehr dafür, nie wieder würde er sich für ihre Lockenpracht interessieren.

Wie sieht wohl die Andere aus? Moni schüttelte heftig den Kopf, um diesen absurden Gedanken zu verscheuchen. Noch eine Locke sank auf ihre Schulter herab. Vielleicht sollte sie sich die Haare abschneiden lassen, ganz kurz, den Kopf kahl scheren? Was nutzten schon all diese wunderbaren Haare, wenn Rolf sie nicht mehr wahrnahm?

»Wegen einem halben Jahr im Hormonrausch wirfst du zwanzig Jahre Ehe weg?«

»Sie hat heute Morgen erfahren, dass sie schwanger ist.«

Moni sah ihn stumm an. Da saß der Mann, mit dem sie zwanzig Jahre lang das Bett und das Leben geteilt hatte. Sie hatten eine Tochter zusammen, eine wunderbare Tochter – wie würde sie mit der Nachricht umgehen? Er war auch dicker geworden, stellte Moni plötzlich und mit einiger Genugtuung fest, feist, ja tatsächlich, die Finger waren feist geworden, er hatte ein leichtes Doppelkinn bekommen, das ihr bisher überhaupt nicht aufgefallen war, und ein nicht unerheblicher Bauch wölbte sich über seinem Gürtel. Wenn sie es recht überlegte, dann hatte sie ihn tatsächlich schon lange nicht mehr nackt gesehen, seit wann eigentlich… seit… seit etwa einem halben Jahr?

»Ich glaube, ich muss kotzen!« Moni stand schwerfällig auf, angelte sich die Handtasche von der Stuhllehne und stöckelte unsicher auf den viel zu hohen Absätzen zur Toilette. Am liebsten hätte sie Rolf einen dieser Absätze in den Allerwertesten getreten.

Minutenlang stand Moni über das Waschbecken gebeugt und ließ eiskaltes Wasser über ihre Unterarme laufen. Tränen rannen über ihre Wangen, und mit ihnen das sorgfältig aufgelegte Make-up.

Schniefend betrachtete sie ihr Spiegelbild – rotgeheulte Augen, in Auflösung begriffener Eyeliner, verschmierter Lippenstift – kein sonderlich schöner Anblick. Sie hätte wahrhaftig die Hauptrolle in einem Zombiefilm spielen können! Ihre Frisur hatte sich jetzt vollkommen aufgelöst. Mit fahrigen Fingern zog sie die silberne Spange heraus, die nur noch an ein paar Haarsträhnen hing, und warf sie in den Mülleimer. Mit einem Papierhandtuch entfernte sie notdürftig die verschmierte Schminke und sah sich trotzig entgegen.

»Und jetzt?«, fragte sie ihr Spiegelbild.

Die verheulte Frau ihr gegenüber zuckte wenig hilfreich mit den Schultern. Moni sah neue Tränen aus deren Augenwinkeln herausquellen.

»Lass das!«, fauchte sie sich an, warf den Kopf angriffslustig in den Nacken und straffte die Schultern. »Na also, geht doch«, munterte sie sich auf und öffnete die Tür. Nicht ganz so angriffslustig stahl sie sich durch einen Seiteneingang hinaus, sie wollte Rolf jetzt auf keinen Fall mehr sehen.

2. Alkohol ist auch keine Lösung

Unschlüssig saß Moni im Wagen vor Ruths Atelier. Ihr Auto war fast wie von allein hierhergefahren.

Dort drinnen tobte das Leben, das wusste sie. Ruth feierte mit ihren Angestellten, Kunden und Freunden eine ihrer, dem Lärm nach zu urteilen, erfolgreich überstandenen Modenschauen. Moni bedauerte jetzt zutiefst, dass sie Ruths Einladung nicht gefolgt war, sondern stattdessen diese blöde Hochzeitstagsüberraschung geplant hatte, die sich als erniedrigende Pleite herausgestellt hatte.

Im schummrigen Licht der Innenbeleuchtung des Wagens betrachtete sie prüfend die kläglichen Reste ihres Make-ups im Rückspiegel. Mit etwas Wohlwollen könnte man meinen, sie hätte die ganze Nacht durchgefeiert… aber es war ja erst kurz vor zehn.

Moni knipste das Licht wieder aus, öffnete die Tür und trat in die kühle Nachtluft hinaus. Sie hatte ihre Jacke im Restaurant hängen lassen, stellte sie fröstelnd fest. Das alte Kopfsteinpflaster machte das Laufen mit den hohen Absätzen fast unmöglich. Sie schaffte trotzdem den Weg über den Hof, ohne sich den Fuß zu brechen oder einen Absatz zu verlieren.

»Pfff«, machte sie verächtlich – gerade hatte sie einen Ehemann verloren, da käme es auf einen lächerlichen, unbedeutenden Absatz nun wirklich nicht mehr an!

Und dann stand sie mitten im Atelier, laute Musik, Stimmengewirr, Lachen und schlechte, rauchgeschwängerte Luft umhüllten sie. Sie fühlte sich um Jahrzehnte zurückversetzt, in eine dieser angesagten Diskotheken ihrer wilden Jugend.

»Moni!«, gellte es über den Lärm hinweg zu ihr herüber. Zwei Arme erfassten sie und schlangen sich um sie. Ruth, erhitzt, strahlend und unübersehbar glücklich, hatte sie sofort entdeckt und zerrte sie nun durch tanzende Menschen hindurch in eine stillere Ecke des Raumes.

»Schön, dass du doch noch gekommen bist!« Suchend sah sie sich um. »Und wo ist dein glücklich verheirateter Ehemann?« Sie stockte, als Monis waidwunder Blick sie traf.

»Oh Süße, was ist denn passiert? Du siehst ja aus wie durch die Mangel gedreht!«

Exakt so fühlte sich Moni, Ruth hatte punktgenau getroffen.

»Rolf hat mich verlassen.«

»Wie, verlassen?« Ruth sah sie irritiert an.

»Verlassen, er ist weg, auf und davon, er hat eine Andere. Noch Fragen?« Monis mühsam aufrechterhaltene Fassung brach in sich zusammen, sie sank auf eines der Sitzkissen, die überall herumlagen, völlig ignorierend, dass die Nähte ihres Kleides dabei gefährlich ächzten. Hemmungslos heulte sie drauflos. Wenigstens brauchte sie sich keine Sorgen mehr um ihre Schminke zu machen.

Monilein, da machen wir ’nen Flicken drauf! – Moni hätte schwören können, dass gleich dieser Spruch kommen würde, den sie und Ruth während ihrer Schneiderausbildung für sich als Leitspruch auserkoren und seither zu jeder sich bietenden Gelegenheit angewendet hatten – egal ob sie einen Stoff verschnitten hatten oder etwas kaputtgegangen war. Auch bei Liebeskummer, der damals beinahe zur Tagesordnung gehörte.

Doch der geflügelte Satz kam nicht. Offenbar sah sogar Ruth ein, dass man eine in Scherben liegende Ehe nicht flicken konnte.

»Warte hier!«, sagte Ruth stattdessen, verschwand in der Menge und kam kurz darauf mit einem Glas in der Hand zurück.

»Trink das!«, befahl sie und reichte ihr das Glas.

Moni roch prüfend an der dunklen Flüssigkeit. »Whisky-Cola? Ich mag aber keinen Whisky.«

»Trink!« Ruth ließ nicht locker. »Das beruhigt und dämpft den Schmerz fürs Erste.«

Brav setzte Moni an und trank das großzügig gefüllte Glas mit einem Zug aus. Sie musste sich heftig schütteln, das Zeug schmeckte einfach ekelhaft. Sehr viel Cola war ihrer Meinung nach wohl nicht dabei gewesen. Angenehme Wärme breitete sich in ihrem Magen aus, und tatsächlich, sie wurde ruhiger.

»Schöne Unbekannte, machen Sie mir die Freude und tanzen Sie mit mir!« Ein umwerfend attraktiver Mann stand vor Moni und streckte ihr die Hand auffordernd entgegen.

»Ich bin betrunken«, sagte Moni mehr zu sich selbst als zu dem schönen Fremden. Ruths fatale Mischung zusammen mit den beiden Gläsern Prosecco auf einen ansonsten leeren Magen hatte ihre Zunge schwergemacht.

»Wunderbar, dann passen wir ja perfekt zusammen.« Der Mann grinste, zog sie hoch und hinter sich her ins Tanzgetümmel.

Sie gab nach, kickte die Schuhe von den Füßen und tanzte mit ihm, stundenlang und wie in alten Zeiten. Dazu trank sie noch ein paar der von Ruths empfohlenen Beruhigungsdrinks und fühlte sich zunehmend besser.

 

Das änderte sich schlagartig einige Stunden später, als Moni versuchte, die Augen zu öffnen. Dieses Vorhaben brach sie aber schnell ab, weil sich viel zu helles Tageslicht schmerzhaft durch ihre Pupillen direkt in ihr Hirn zu bohren versuchte.

»Oh Gott«, stöhnte sie.

»Sie lebt!«, hörte sie einen Mann sagen, Nein schreien, und es hörte sich nach Armin an. Ruths Mann? Wo kam der denn her? Und er schrie immer weiter, ihr Kopf drohte dabei zu zerspringen.

»Aber nicht mehr lange, wenn du weiter so rumbrüllst«, jammerte Moni und versuchte sich aufzusetzen, ohne dabei die Augen zu öffnen.

Wo, zum Teufel, war sie? Doch dort, wo ihre Erinnerung sein sollte, war nur ein schwarzes Loch.

Es roch nach Rauch, nach kaltem, abgestandenem Zigarettenrauch. Und sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund, den kannte sie noch von früher, es schmeckte eindeutig nach zu viel Alkohol. Zudem verspürte Moni schier unerträglichen Durst.

Langsam sickerte die Erinnerung dann doch in ihren dröhnenden Kopf. Die Fete bei Ruth fiel ihr ein, ja, genau, und sie hatte getanzt, mit einem extrem gut aussehenden Mann – sie grinste bei dieser angenehmen Erinnerung. Apropos Mann – was war eigentlich mit Rolf? Ihm hätte diese Feier bestimmt auch gut gefallen, auch wenn er nicht unbedingt ein begnadeter Tänzer war…

Die Erkenntnis traf Moni wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Rolf hatte sie verlassen, er hatte eine Andere! Er hatte ihr gestern Abend – nein, schon viel früher! – seine Liebe weggenommen, um sie jetzt einer anderen Frau zu schenken.

Wimmernd rollte Moni sich zusammen. Nein, sie wollte nicht aufwachen, nie mehr.

Der wunderbare Geruch von frisch gebrühtem Kaffee brachte sie schließlich doch dazu, ein Auge nach dem anderen zu öffnen. Sie erkannte Ruths Werkstatt – oder zumindest das, was einmal Ruths Werkstatt gewesen sein musste. Vorsichtig setzte sie sich auf, sorgsam darauf bedacht, dabei keine allzu heftige Bewegung zu machen.

»Hat hier ’ne Bombe eingeschlagen?«, fragte sie mit schwerer Zunge und strich sich die wilden Locken aus dem Gesicht, um das ganze Ausmaß der Bescherung erkennen zu können.

»Ach, halb so schlimm, in einer Stunde ist alles wieder wie vorher«, trällerte Ruth unverschämt munter. Offenbar hatte sie selbst keinen ihrer Beruhigungscocktails getrunken.

Sie hockte sich neben sie und hielt ihr eine dampfende Kaffeetasse unter die Nase.

Moni nahm sie dankbar entgegen und nippte vorsichtig an dem heißen Gebräu. »Da hast du ja hoffentlich keinen Alkohol untergemischt.«

Ruth lachte fröhlich und löste damit mehrere mittelschwere Explosionen in Monis Kopf aus.

»Ich hatte dir übrigens nur eine meiner Geheimmischungen gegen Seelenschmerz empfohlen, was du gemacht hast, grenzt jedoch an Drogenmissbrauch!«

Moni lehnte den Kopf behutsam an die Wand.

»Ich hoffe, du fühlst dich nicht so, wie du aussiehst«, frotzelte Ruth.

»Schlimmer, viel schlimmer!« Gierig nahm Moni einen weiteren Schluck vom Kaffee und spürte langsam ihre Lebensgeister zurückkehren. »Ich werde heute vorsichtshalber in keinen Spiegel sehen.« Sie versuchte ein Lächeln, gab es aber gleich wieder auf. »Bestimmt sehe ich aus wie fünfzig, aber eigentlich fühle ich mich wie sechzig, und irgendwie bezweifle ich zur Stunde, dass ich jemals siebzig werden könnte.«

»Und warum änderst du nichts daran?«, erkundigte sich Ruth.

Moni musterte sie mit krauser Stirn.

»Ich könnte mich erhängen, was hältst du von dieser Lösung?«, sagte sie etwas zu aggressiv.

Ruth lachte wieder dieses schmerzhafte Lachen. »Ich dachte da eigentlich an eine weniger drastische Maßnahme, wie zum Beispiel eine ausgiebige Dusche.« Munter sprang sie auf, und Moni fand das gemein, weil sie sich selbst nur wie in Zeitlupe bewegen konnte.

»Lass mich einfach hier liegen und in Frieden sterben«, bettelte sie und machte Anstalten, sich wieder hinzulegen.

»Nichts da, in meinem Atelier wird nicht gestorben, meine Liebe. Hopp jetzt, komm endlich in die Gänge, wir müssen schließlich dein Leben neu planen!«

 

Moni stand unter dem heißen Wasserstrahl – fünf Minuten, zehn Minuten – sie hatte keine Ahnung. Sie spürte kaum das Wasser, das ihr hart auf den Körper prasselte, aber dieser zermürbende Kopfschmerz löste sich langsam auf. Früher hatten sie öfter zusammen geduscht – sie und Rolf. Eng umschlungen hatten sie in der Dusche gestanden, glücklich, die Haut des anderen zu spüren. Sie glaubte fast, ihr Herz würde zerspringen, als sie sich klar darüber wurde, dass das vorbei sein sollte, dass sie ihm nie mehr so nah sein würde… dass eine Andere ihm jetzt so nah war. Eine Andere durfte jetzt riechen, wie seine Haut roch, nach dem Duschen, nach dem Sex…

Mit einer schnellen Bewegung drehte sie den Regler auf kalt, was sie schlagartig auf andere Gedanken brachte.

In Ruths Bademantel gehüllt erschien sie in der Küche und ließ sich wie erschlagen auf einem Barhocker nieder. Ihr Haar kringelte sich nass auf dem hellen Frottee und sah jetzt dunkelbraun aus, nicht rot.

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Ruth.

»Ich überlege, ob ich mir die Haare abschneiden lasse«, murmelte Moni und ließ langsam den Kopf kreisen. Ganz war der Schmerz doch nicht verschwunden.

»Nun, das wäre schon mal ein Anfang, aber ich meine nicht deine Haare. Die würde ich an deiner Stelle genauso lassen, wie sie sind. Nein, ich meine dein Leben – was wirst du jetzt tun?«

»Keine Ahnung, ich bin bisher noch nie betrogen worden – soviel ich weiß zumindest. Ich bin auch noch nie von einem Ehemann verlassen worden, das sind alles völlig neue Erfahrungen für mich. Ich habe also keinerlei Übung in solchen Dingen, und wenn ich ehrlich bin, hätte ich liebend gern darauf verzichtet, das kannst du mir glauben. Sag du mir, was ich machen soll.«

»Vielleicht ist es ja nur vorübergehend?«

»Mein Schmerz und meine Wut sind jedenfalls nicht vorübergehend!«, fauchte Monika. »Außerdem hat Rolf der anderen Tussi gleich ein Kind machen müssen.«

»Ach du Schande, auch das noch! Was deine Wut angeht, die steht dir allemal zu, meine Süße, und ich hoffe, dass sie dich ordentlich beflügelt. Der Schmerz – der wird erfahrungsgemäß mit der Zeit vergehen. Andere Frage: Liebst du ihn denn noch?«

»Darüber versuche ich mir die ganze Zeit klar zu werden. Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts mehr…« Tränen liefen über Monis blasse Wangen.

Ruth ergriff ihre Hand und drückte sie fest.

»Du solltest es ihm so richtig heimzahlen«, schlug sie vor. »Nimm ihn aus wie eine Weihnachtsgans!«

»Ich würde ihn lieber ganz genüsslich umbringen…«

Ruth lachte ausgelassen. »Na, das hört sich doch wirklich nett an. Hast du schon eine Idee, wie?«

»Es muss wehtun und sehr langsam gehen. Allerdings darf er mich dabei nicht ansehen, sonst werde ich bestimmt wieder schwach und begnadige ihn.«

»Du liebst ihn also noch«, diagnostizierte Ruth.

»Natürlich liebe ich ihn noch«, rief Moni empört. »Vor vierundzwanzig Stunden war ich noch eine glücklich verheiratete Ehefrau… ich dachte zumindest, dass ich das wäre. Und dann, hoppla, eröffnet mir Rolf, dass er mich los sein will. Aber Liebe kann man nun mal nicht per Knopfdruck abstellen. Natürlich bin ich auch schrecklich wütend und verletzt, und ich hasse ihn für diese Gemeinheit. Aber ich liebe ihn auch noch, irgendwo da drinnen in meinem Herzen liebe ich ihn noch, sonst würde es ja nicht so wehtun. Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich existieren soll ohne seine Liebe.« Sie schwieg und drehte den Gürtel des Bademantels um ihren Zeigefinger. »Ich wusste gar nicht mehr, wie grausam sich Liebeskummer anfühlt.«

Ruth nahm die Freundin fest in den Arm. Sie wusste keine Antwort.

»Da ich mit Morden nicht besonders viel Erfahrung habe«, meldete sich Moni dumpf an ihrer Schulter, »werde ich wohl den Vorschlag mit der Weihnachtsgans ins Auge fassen.« Sie löste sich aus Ruths Umarmung und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Wenn sich allerdings doch unvermutet die Gelegenheit ergeben sollte, puste ich ihm das Licht aus!«

»Wirst du im Haus bleiben?« Grinsend wechselte Ruth das Thema.

»Klar – wo, bitteschön, soll ich denn hingehen?« Der Gedanke, das Haus verlassen zu müssen, das sie zusammen mit Rolf gebaut, eingerichtet und so viele Jahre bewohnt hatte, versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz. Der Gedanke, in diesem Haus ohne Rolf wohnen zu müssen, war jedoch nicht viel besser. »Andererseits«, fügte sie deshalb nachdenklich hinzu, »in dem Haus steckt Rolf in jeder Zimmerecke, in jedem Möbelstück – alles wird mich an ihn erinnern. Vielleicht sollte ich mir doch lieber ein neues Zuhause suchen und damit einen Strich unter alles ziehen. Zurück auf Null sozusagen, ein völlig neues Leben.«

»Dann komm doch mit Emma zu uns«, schlug Ruth vor und strahlte sie begeistert an.

Moni ging im Geiste durch Ruths und Armins Haus. Groß war es ja, aber wie würde es sein, nicht mehr seine eigenen vier Wände zu haben, in einer Küche zu kochen, die nicht die eigene war? Moni konnte sich das nicht vorstellen. Als junges Mädchen hatte sie von einer Wohngemeinschaft geträumt, aber jetzt war sie erwachsen.

»Toller Vorschlag, Emma schläft in der Badewanne und ich bei euch im Ehebett, wirklich genial!«

»Doch nicht hier ins Haus!« Ruth rollte vielsagend oder eher nichtssagend die Augen und legte eine dramatische Pause ein, bevor sie weitersprach. »Ich denke da an das leer stehende Nebengebäude«, verkündete sie schließlich.

Moni sah sie zweifelnd an. Sie hatte schon damals nicht verstehen können, wie Ruth und Armin diesen abgelegenen Aussiedlerhof kaufen konnten, um für ihn ein Architekturbüro und für sie eine Schneiderei einzurichten. Und jetzt sollte sie selbst hierherziehen? Weitab von jeglicher Zivilisation? Was würde Emma dazu sagen? Oh Gott, Emma, was würde sie überhaupt sagen, wenn sie erfuhr, was ihr Vater vorhatte?

»Ich muss los!« Moni sprang von dem Hocker, was sie allerdings sofort bereute, denn die Erschütterung brachte den bohrenden Kopfschmerz zurück. »Ich muss es Emma sagen!«

»Denk auf jeden Fall mal darüber nach, es müssten nur die eine oder andere Wand eingezogen und eventuell noch ein paar andere Kleinigkeiten gemacht werden – nichts Großes für Armin und seine Kollegen.«

»Ach, Ruth, so weit ist es ja noch nicht, ich… ich möchte am liebsten gar keine Entscheidungen treffen, noch nicht zumindest.« Moni schluchzte in ihre Hände, die sie vor das Gesicht gelegt hatte.

»He, ich will dich zu nichts überreden, ehrlich, aber du weißt jetzt wenigstens, wo du hinkannst, wenn es hart auf hart kommen sollte.« Ruth legte der Freundin den Arm um die Schultern. »Ich bin für dich da, hörst du? Zu jeder Tages- und Nachtzeit.«

»So wie früher«, murmelte Monika.

»So wie früher«, bestätigte Ruth. »Waren doch echt tolle Zeiten, oder?«

»Vor allem wild«, erinnerte sich Monika.

»… und schlaflos«, ergänzte Ruth.

3. Liebeskummer im Doppelpack

Als Moni zurück in die Stadt fuhr, fand sie, dass der Hof eigentlich gar nicht so weit entfernt war, ein Bus fuhr auch regelmäßig.

Doch sie schob diese Gedanken beiseite, das war jetzt erst einmal vollkommen unwichtig. Wichtig war jetzt nur Emma, die die Nacht bei Rolfs Mutter verbracht hatte und noch von nichts wusste. Wie sagt man seiner sechzehnjährigen Tochter, dass ihr Vater es vorzieht, sein weiteres Leben mit einer anderen Frau und einem anderen Kind zu verbringen, dachte Moni verzweifelt. Ein ganz anderer Gedanke kam ihr, ein Gedanke, bei dem sich ihr Magen angstvoll zusammenballte: Vielleicht wollte Rolf Emma ja mit in sein neues Leben nehmen?

Sie hielt den Wagen auf dem Grünstreifen an, weil sie nicht fähig war weiterzufahren.

Was, wenn er Emma haben wollte, ihre kleine Emma, ihr Baby? Dann, ja dann würde sie ihn wahrscheinlich tatsächlich umbringen! Dieser Entschluss ließ sie absurderweise ruhiger werden, und sie konnte weiterfahren. Gut, wenn man einen Plan B hat, sagte sie sich. Mit Plan A sah es nicht so rosig aus.

 

Bei ihrer Schwiegermutter erwartete Moni eine völlig aufgelöste Tochter, die ihr schluchzend um den Hals fiel, kaum dass sie das Haus betreten hatte.

»Wie konnte er mir das nur antun?«, jammerte Emma in ihren Armen. »Ich hab ihn aber doch so lieb. Er kann doch nicht einfach so was mit einer Anderen anfangen!« Wieder schier endloses Schluchzen.

Moni wurde es schwer ums Herz. Rolf hatte es Emma also schon gesagt – heute Morgen? Oder etwa schon gestern Abend, nachdem sie ihn im Restaurant hatte sitzenlassen? Vielleicht per Telefon, so wie er es auch mit ihr am liebsten gemacht hätte?

Hilflos stand Johanna, Rolfs Mutter, daneben. Sie war wie immer ausgesucht elegant angezogen, ganz wie es sich ihrer Meinung nach für eine, wenn auch ehemalige, Modehausbesitzerin gehörte.

»Seit wann weißt du es denn?«, versuchte Moni das unablässige Schluchzen und Schniefen zu durchdringen.

»Seit vorhin, er hat angerufen.« Emma nahm das Taschentuch, das ihr die Großmutter reichte, und schnäuzte kräftig hinein. »Dieses miese Schwein!«, sagte sie auf einmal vollkommen ruhig.

Nun, das war genau das, was auch Monika empfand, aber dennoch stand es ihrer Meinung nach einer Tochter nicht zu, so über ihren Erzeuger zu reden.

»Es mag nicht richtig sein, was er gemacht hat, Schatz, aber so darfst du dennoch nicht über deinen Vater sprechen. Er liebt dich trotz allem und wird immer für dich da sein«, versuchte sie die Tochter zu beschwichtigen.

»Papa? Wie kommst du denn jetzt auf Papa?« Verwirrt sah Emma sie an. »Ich rede von Simon, dieser Arsch hat vorhin mit mir Schluss gemacht!«

»Simon?«, entfuhr es Monika überrascht – hatte sich denn die gesamte beschissene Männerwelt gegen die Steiger-Mädchen verschworen? In zärtlicher Solidarität umarmte sie ihr Kind.

»Monika, was ist hier los?«, hakte Johanna sofort nach, als Emma nach oben gegangen war, um ihre Sachen zusammenzupacken. »Warum trägst du am frühen Nachmittag ein Abendkleid? Nebenbei bemerkt: Ist es nicht ein wenig zu eng geraten? Und wie war das gerade gemeint, dass es nicht richtig ist, was Rolf gemacht hat?« Ihr forschender Blick ruhte auf der Schwiegertochter.

»Ach, Johanna.« Moni seufzte unglücklich und ließ sich kraftlos in einen der schweren dunkelbraunen Ledersessel sinken.

Johanna setzte sich, kerzengerade wie immer, ihr gegenüber und sah sie abwartend an.

»Er verlässt mich – Rolf verlässt mich.« Moni ließ den Kopf weit nach hinten auf das kühle Leder sinken. »Er hat es mir gestern Abend gesagt, an unserem Hochzeitstag, einfach so vor dem Essen. ›Ach, Monika, was ich dir noch sagen wollte, bevor die Suppe kommt: Ich hab genug von dir.‹«

»Soll das ein schlechter Scherz sein?«, sagte Johanna streng.

»Kein Scherz, bitterer Ernst. Du kannst dich übrigens freuen, du wirst noch einmal Großmutter.«

Als sie den Kopf hob, stand Emma im Türrahmen und sah sie aus weit aufgerissenen Augen an. Mist, schalt sich Moni, so brutal hatte sie es ihr natürlich nicht beibringen wollen!

Sie winkte die Tochter neben sich auf die Lehne des Sessels. Emma ließ sich nieder und sackte wortlos in sich zusammen. Moni legte den Arm um sie.

»Vielleicht lastet ja ein böser Fluch auf uns?«, versuchte sie ihr unglückliches Kind aufzumuntern.

»Quatsch«, zischte die nur. »So was gibt es doch nur im Märchen.«

»Das kannst du dir nicht bieten lassen, Monika«, sagte die Schwiegermutter, nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte.

»Ach nein, was soll ich denn deiner Meinung nach dagegen unternehmen? Soll ich ihn an mich ketten oder, besser noch, ihn im Keller einsperren?«

»Du solltest ihn fertigmachen, egal wie«, verkündete die alte Dame kämpferisch.

Johanna musste da was falsch verstanden haben. Moni sah sie prüfend an. »He, es geht hier um deinen Sohn, das kann nicht dein Ernst sein.«

»Es ist mein Sohn, ja, aber ich habe ihm nicht beigebracht, fremdzugehen und seine Familie sitzenzulassen. Das müssen die Gene seines Vaters sein.«

Moni sah ihre Schwiegermutter schweigend an. Rolf hatte mal etwas angedeutet, nichts Genaues, aber jetzt wusste sie es: Ihr angeblich so unfehlbarer Schwiegervater – Gott hab ihn selig – war tatsächlich fremdgegangen!

Verlegen zupfte Johanna an der bestickten Tischdecke herum. »Ich bin jedenfalls auf deiner Seite, Monika. Ich möchte nur, dass du das weißt.«

»Danke« war das Einzige, was Moni hervorbrachte. Alles hatte sie erwartet, aber mit Sicherheit keine Schützenhilfe von ihrer den Sohn vergötternden Schwiegermutter.

»Du und Emma, ihr könnt gern bei mir einziehen, falls ihr nicht in eurem Haus bleiben wollt.«

Ach du lieber Himmel, das fehlte noch! Moni hievte sich mühsam aus dem Sessel und legte Johanna die Hand auf die Schulter.

»Das wird bestimmt nicht nötig sein, aber ich danke dir trotzdem sehr für dein Angebot.«

Johanna legte ihre rechte Hand auf Monis, drückte sie kurz.

Moni rührte das zutiefst, denn ihre Schwiegermutter war normalerweise niemand, der Zärtlichkeiten verteilte, geschweige denn zuließ.

»Ich will nach Hause«, meldete sich Emma weinerlich.

 

»Versprich mir, nein, schwöre mir, dass wir nicht bei Oma Johanna einziehen! Lieber gehe ich ins Internat oder ins Kloster. Eine Nacht und einen Tag, das ist in Ordnung, aber bei ihr wohnen will ich auf gar keinen Fall!« Emma saß auf dem Beifahrersitz und hatte zornig die Arme vor der Brust verschränkt.

Moni grinste ihre Tochter von der Seite an.

»Ich weiß gar nicht, was du willst, es ist doch schrecklich gemütlich bei Johanna«, neckte sie sie.

»Die Betonung liegt auf schrecklich. Omas Haus ist ein dunkles, altmodisches, gruseliges Museum!«

»Aber Oma Johanna ist doch lieb zu dir.«

»Irgendwie schon, aber nicht so richtig. Sie ist so… verkniffen, finde ich.«

Moni wunderte sich, wie gut Emma ihre Großmutter beschreiben konnte.

»Wenn du in so einem ungemütlichen Haus leben müsstest, wärst du vielleicht auch verkniffen.«

»Sie könnte doch die ollen Möbel rausschmeißen und was Modernes reinstellen. Und sie könnte sich einen Mann suchen«, schlug Emma vor.

»Ach, Engelchen, es ist gar nicht so einfach, ein Leben zu ändern, an das man sich seit vielen Jahrzehnten gewöhnt hat.«

»So wie du und Papa?«

»So wie ich und Papa, genau. Es wird sich vieles für uns ändern, und es wird uns bestimmt nicht alles gefallen.«

»Er bekommt echt ein Kind mit einer anderen Frau?«

Moni nickte und schluckte dabei schwer.

»Ist das dann meine Schwester oder mein Bruder?«

Moni nickte erneut. »Halbschwester«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Beziehungsweise Halbbruder.«

»Eigentlich wollte ich immer ein Geschwisterchen haben, aber doch nicht so!«, sagte Emma vorwurfsvoll.

Monis Blick fiel auf das kleine gelbe Lämpchen, das schon seit einiger Zeit warnend leuchtete. In die nächste Tankstelle bog sie ein und hielt vor einer Zapfsäule.

»Bist du sehr traurig?«, erkundigte sich die Tochter und musterte sie, als sei sie eines der Fläschchen aus ihrem Chemiebaukasten.

»Traurig?« Nein, traurig traf den Zustand ihrer Gefühle nicht so ganz. »Soll ich dir beschreiben, wie ich mich fühle?«

Emma sah sie erwartungsvoll an.

»Nun, ich fühle mich verraten. Ich habe deinem Vater vertraut, und er hat mich verraten. Ich fühle mich wie halbiert, weil dein Vater, der bisher ein wichtiger Teil von mir war, nicht mehr da ist. Und ich fühle mich leer, denn er hat mir das Herz aus der Brust gerissen, und am liebsten möchte ich sterben.«

Emma nahm ihre Hand und hielt sie fest. Still saßen sie so nebeneinander.

»Wir sollten es machen wie die Amerikanerinnen in den Filmen«, schlug Emma schließlich vor.

»Und was machen die amerikanischen Frauen im Film?«

»Sie kaufen bergeweise Eis und löffeln es direkt aus den Bechern, bis ihnen schlecht wird oder bis der Kummer verflogen ist.«

Das klang gut, musste Moni zugeben, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob erstens ihr alkoholgeschädigter Magen mit Eiscreme zurechtkommen würde, und zweitens, ob es überhaupt so viel Eis auf der Welt gab, um ihren Kummer damit zu betäuben. Aber sie fand, dass man es zumindest versuchen musste. Vielleicht war diese simple Methode ja ein Geheimrezept, weil man damit Liebeskummer und verletzte Gefühle einfrieren konnte? Sie sah Debra Winger vor sich – in Staatsanwälte küsst man nicht verdrückte sie so manchen nächtlichen Eisbecher. Auch Ally McBeal war ihres Wissens Anhängerin der Eistherapie. So viele Fernsehfrauen konnten sich doch nicht irren!

»In Ordnung«, sagte sie deshalb. »Ich tanke, und du suchst schon mal das passende Eis für uns aus.«

 

Als sie wenig später zu Hause die Diele betraten, blinkte ihnen das Lämpchen des Anrufbeantworters entgegen.

»Zehn Anrufe«, sagte Emma beeindruckt. »Soll ich?« Sie sah ihre Mutter erwartungsvoll an und ließ den Zeigefinger über dem Abspielknopf schweben.

»Lass hören«, murmelte Moni. Sie ahnte, was sie erwartete.

»Wo bist du denn? Hast du wieder mal dein Handy vergessen? Ruf mich zurück, wenn du das hörst!« Das hatte Rolf wohl vor ihrem Treffen im Taverna auf Band gesprochen, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch völlig ahnungslos war.

»Monika, um Himmels willen, warum bist du einfach verschwunden?« So lautete Nachricht Nummer zwei, die Rolf definitiv nach ihrem Treffen hinterlassen hatte. Wie er Monika sagte, verursachte ihr erneut Gänsehaut.

»Verflucht, wo bist du?«, lautete Nachricht Nummer drei.

Nachricht Nummer vier: »Monika, das ist nicht witzig – denk an unsere Tochter!«

Moni hätte beinahe laut gelacht, sie sollte an Emma denken?! Und was war mit ihm, diesem Heuchler? Dachte er an Emma, wenn er mit der Anderen ins Bett stieg und sie dann auch noch schwängerte? Sie dachte immer an Emma, sie kümmerte sich und sorgte sich, und gleich würde sie bis zur Übelkeitsgrenze Eis mit ihr essen.

»Es ist jetzt gleich Mitternacht – wir machen uns schreckliche Sorgen.« Nachricht Nummer fünf klang entschieden weicher. Aber wer war wir, fragte sich Moni unwillkürlich. Doch nicht etwa er und seine Tussi? Das konnte er seinem Friseur erzählen, ihm könnte ja eigentlich gar nichts Besseres passieren als ein netter kleiner tödlicher Unfall ihrerseits! Aber den Gefallen würde sie den beiden nicht tun, niemals!

»Monika, es ist jetzt weit nach Mitternacht, wo bist du?«

Das, mein Lieber, geht dich jetzt nichts mehr an, dachte Moni grimmig. Um Mitternacht hatte sie kein bisschen an ihren untreuen Ehemann gedacht, ganz im Gegenteil: Ihr Alkoholpegel war zu dieser Zeit schon stark erhöht und da war noch dieser schöne Mann gewesen, mit dem sie wild und ausgelassen getanzt hatte. Sein Gesicht sah sie deutlich vor sich, aber an den Namen konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. P… P… irgendwas mit P, vielleicht aber auch B, wer weiß…

»Ich hoffe, du hast nichts Unüberlegtes getan«, erklang zum siebten Mal Rolfs Stimme.

»Ach, nicht doch, so toll bist du nun auch wieder nicht«, murmelte Moni. Warum dachten Männer immer, man könnte ohne sie nicht überleben? Andererseits: Würde sie ohne ihn leben können? Machte sich Rolf am Ende ernsthafte Sorgen um sie, oder hatte er nur Angst, dass man ihm die Schuld geben könnte, wenn sie sich etwas antäte?

»Verdammt, wo bist du?« Er wiederholte sich.

»Monika, jetzt geh an dieses blöde Telefon! Wir müssen reden!« Blödmann, dachte Moni mit einer nie gekannten Aggressivität.

»Okay, ich gehe jetzt ins Bett.« Rolf klang entnervt. »Melde dich bei mir, auf dem Handy kannst du mich immer erreichen.«

Das war die letzte Nachricht. Auf dem Display konnte sie die Uhrzeit ablesen: zwei Uhr fünfundvierzig. Insgesamt hatte er also über fünf Stunden hinweg versucht, sie zu erreichen. Einen besonders schönen Abend scheint er dann ja nicht gerade gehabt zu haben, resümierte Moni mit einer gehörigen Portion Schadenfreude.

Sie schaltete den Anrufbeantworter ab und starrte das schwarze Gerät gedankenverloren an.

»Bergeweise WhatsApps«, rief Emma aus der Küche, wo das Handy zum Aufladen lag. »Alle von Papa.« Sie sah sich die Nachrichten der Reihe nach an. »Viel Neues ist ihm allerdings nicht eingefallen. Soll ich sie gleich löschen?«

»Ja«, sagte Moni müde und holte Löffel aus der Schublade. Mit Handys und Anrufbeantwortern war das eine geniale Sache: Man konnte einfach alles löschen, was einen nicht mehr interessierte. Mit Herzen war das leider nicht so einfach.

Sie lümmelten sich mit ihren Eisbechern auf die Couch – etwas, was normalerweise strengstens verboten war. Aber derzeit war ja nichts mehr normal.

Emma hatte Titanic eingelegt, dabei wäre Moni mehr nach Stephen Kings Misery zumute gewesen – eine verrückte Frau, die einen Mann quält, ja, das hätte ihr jetzt gutgetan! Aber erstens hatte sie diesen Film nicht im Haus, und zweitens wäre es nicht wirklich die passende Unterhaltung für Emma gewesen.

4. Es war einmal…