Guten Tach – Auf Wiedersehn

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Take Five

  2. Walzer

Vorwort

Dieses Buch ist ein gutes Buch. Der Verfasser hat es selbst geschrieben. Es ist ein Buch über das Leben von einer Person, deren Aufgabe es ist, zum Lachen anzuregen und ernste Sachen zu sagen. Den grauen Alltag von dem Helge Schneider macht er sich selbst bunt, mit einer tollen Musik. Denn eigentlich ist er Musiker, erst hat er Klavier gelernt, dann wurde er Jazzmusiker. Alles, was er nun unternimmt, ist Jazz. Der Mensch ist ein Hochwesen, trotzdem tut er doof. Die Tiere sind manchmal intelligenter. Sie gucken nicht darauf, was man anhat. So auch Helge. »Mir ist egal, was jemand anhat, Hose oder Kleid, wir kommen alle in den Himmel.« Philosophie ist auch bei Helge im Buch. Alles, was in dem Buch noch steht, ist wirklich wahr. Und die Fotos sind auch da. Wenn Helge kein Schriftsteller geworden wär, gäbe es ein Buch weniger unter dem Himmelszelt von dieser bösen und langweiligen Welt. »Die Idee zu dem Buch kam mir, weil ich dachte, hier, das Buch zur Person! Es gibt das Buch zum Film, die Seife zur Schallplatte, den Film zum Auto, das Getränk zum Buch usw., und viele machen so was. Trotzdem ist es selten, daß jemand sein eigenes Buch schreibt. Außer Bill Traven. Doch weiß bis heute keiner, wo er wohnt. Und das ist richtig, denn sonst würden alle dahin gehen und Autogramme holen. Ich möchte auch meine Wohnung verheimlichen, deshalb ist alles, was in dem Buch steht, an verschiedenen Buchstaben vertauscht. Nur die Seitenzahl ist unverändert.« Was ist der Mensch eigentlich? Warum erhebt er sich über den Wurm, die Schnecke? Bestehen wir nicht alle aus dem gleichen Zeug? Erst war Feuer, dann Eis, dann Schachtelhalm, das war eine tolle Zeit. Überall war Schachtelhalm! »Guten Tach, ich hätte gerne zwei Päckchen Schachtelhalm.« Oder: »Einmal Schachtelhalm mit Pommes, zum Mitnehmen!« Usw., man kann stundenlang über dieses Thema erzählen. In dem Buch von Helge steht das ganze Leben von ihm drin, bis jetzt. Der zweite Teil kommt in dreißig, vierzig Jahren.

Das Jahr 1955 war mein Geburtsjahr. Meine Mutter ging mit mir schwanger ins Krankenhaus rein. Ich weiß noch, wie ich rauskam: »AH! Wer kommt denn da!? Schwester Hildegard, schnell, ein Teller Kartoffeln! Ja nun machen Sie schon!« »Hier sind nur Klöße, Herr Doktor!« »Egal, ich hab Hunger.« Der Arzt ißt, ich liege neben dem Teller auf dem Tisch, mit einem Rülpser steht der Mann auf. »So, Frau Schneider, Sie können gehen. Auf Wiedersehen.« Mama und ich fahren mit der Bahn nach Hause.

Ich liege bei Mama und Papa im Schlafzimmer, Tante Erna hat ein eigenes. Marliese ist im Kinderzimmer, wo ich später auch rein soll. Sie ist meine Schwester, drei Jahre älter. Ich liege nächtelang wach und denke nach. Wie heiße ich? Helge? Komischer Name. Hoffentlich werde ich nicht immer verwechselt.

»Meine Schwägerin hat die Kasse!« Dieser Satz soll mich später noch verfolgen.

 

Ich wachse auf. Es ist eine kleine Welt in einer kleinen, sehr niedrigen Wohnung in einer grauen Siedlung. Meine Eltern sind die einzigen Angestellten. Alle anderen sind Arbeiter. Oder gehen gar nicht arbeiten. Auch meine Eltern und sonstigen Verwandten sind klein, außer mein Opa. Das kann man auf dem Foto hier sehen.

Vor dem Haus steht eine Forsythie. Tante Erna paßt auf sie auf. Immer wenn jemand ihr zu nahe kommt, hebt sie den Zeigefinger und klopft an die Scheibe, dabei kann man sie kaum hinter der Gardine erkennen. »Hallo! – Hallo!« Klopf, klopf den ganzen Tag, »gehst du wohl da weg!?«

Die anderen Kinder wollen nichts mit mir zu tun haben. Ich habe einen unsäglich tütenförmigen Kopf als Baby. Auch hatte ich mal eine merkwürdige Krankheit, mein Pillemann ist in wenigen Minuten zu einem dicken Ballon aufgebläht und blau. Ich komme noch mal ins Krankenhaus. Wieder zu Hause, träume ich monatelang denselben Traum. Ein grünes Auto fährt über die Bettdecke und über mich weg, gleichzeitig sitze ich selber drin. Dieser Traum hat mich jahrzehntelang verfolgt. Auch höre ich dauernd einen Dackel dicht an meinem Ohr bellen, mit unerträglich hoher Stimme. Erst viele Jahre später haben wir einen Dackel. Sonst träume ich aber nichts. Ich schäme mich über meinen Namen und über meine Kopfform.

Dafür kann ich von Anfang an Klavier spielen. Meine erste eigene Komposition mache ich mit vier Jahren: Texas. Ein Lied, das ich auch heute noch mit Erfolg singe. Die Idee dazu kam mir allerdings schon Jahre vorher, als ich in der Tragetasche lag.

Windpocken sind sehr schlimm. Ich liege auf dem Bügelbrett, und Tante Erna pudert mich mit irgend etwas ein, es juckt furchtbar. Ich kann schon laufen und renn nachts mit zuen Augen in der Wohnung rum und reiße alle Schubladen und Schränke auf und bilde mir ein, ein Bleistift zu sein. »Ich habe einen Bleistift an!« Mit Schüttelfrost trinke ich ein Glas Sprudel. Aber die schlimmste Zeit meines Lebens ist schon vorbei. Ich meine die Zeit als Säugling, wo ich mich nicht wehren konnte. Jemand hätte doch mit Leichtigkeit meine Fontanelle eindrücken können!

*

Papa, ich selbst und Opa

Hochzeit. V. l. n. r.: Phil Collins, Oma Speldorf, Opa Speldorf, Oma Wanheim, Papa, Mama, Tante Erna

Meine Mutter heißt Anneliese, oft sagt mein Vater »Lieschen« zu ihr. Die beiden haben sich auf dem Finanzamt kennengelernt, meine Mutter hieß auch Schneider, vorher schon, und da fragte er sie, ob sie sich nicht zusammentun könnten, wäre billiger. Es stellte sich dann heraus, daß die Schwester von Mama Erna hieß, und mein Vater war bereits mit ihr bekannt gewesen, sie hatten sich wohl durch meinen Opa kennengelernt, bei dem mein Vater arbeitete. Kann auch ganz anders gewesen sein, da wurde ja nie drüber geredet. Fast vierzig Jahre später habe ich erfahren, daß Papa nach dem Krieg eine Zeitlang mit Opa Schneider von Haus zu Haus ging, mit Schreibmaschinen, mein Opa hatte eine Schreibmaschinenvertretung für Triumph oder so, und sie den Leuten anpries. Vertreter für Schreibmaschinen, ein schwerer Beruf. Die Dinger waren zu der Zeit so schwer wie ein Sack Zement, und dann noch jeder zwei. Angeblich soll mein Vater damals manchmal über die Stränge geschlagen sein, er hatte falsche Freunde, die ihn zum Trinken verführten. Tante Erna stellte ihn vor die Wahl: entweder meine Mutter oder die Taugenichtse. Er entschied sich für meine Mutter.

Sie haben dann geheiratet, und Marliese kam auch schnell auf die Welt. Papa ist katholisch, Mama evangelisch, er nimmt ihre Religion an, es ist ihm egal, die Kirche ist für ihn und Oma Wanheim, das ist seine Mutter, ein falscher Fuffziger. Er ging nur zur Taufe oder so, wenn es unvermeidlich war, hin.

Oma Wanheim war eine echte Granate! Sie konnte stundenlang erzählen und alle in ihren Bann ziehen. Dabei war sie eine überaus selbständige und lebenslustige Frau, ihr Mann war zwanzig Jahre jünger. Er war nicht der Vater von meinem Vater, wer der war, weiß ich bis heute nicht. Henn, so hieß mein Opa also, konnte sehr gut in dem kleinen Wohnstübchen bei meiner Oma auf dem Sofa liegen. Daneben ein Kasten Bier. Oma nahm ihn nachher nicht mehr so ernst. Aber sie kümmerte sich gut um ihn. Er war mal Nachtwächter gewesen und hatte einen Schäferhund im Zwinger. Astrid hieß das Tier. Oma hatte ihr kleines Häuschen selbst gebastelt, so sah es aus, und die Zimmerchen waren auch klitzeklein. Im Gang war ein Kohleherd, vor dem meine Oma tagein, tagaus ihre Zeit vor einer durchs ganze Häuschen ziehenden klaren Suppe mit Markknocheneinlage verbringen konnte. Ganz toll war immer Ostern bei Oma Wanheim. Sie hockte unterm Dach und schmiß immer wieder dasselbe Ei runter auf die Wiese. Ich fand es dann und brachte es stolz zu ihr hoch. Nachher dachte ich, ich hätte hundert Eier gefunden vom Osterhasen.

Ihre Haare waren über einen Meter lang, doch immer zu einem kastaniengroßen Knötchen geknubbelt. Wenn sie sprach, sah sie aus wie eine Haselmaus, die randlose Brille machte die Augen riesengroß, und ihre Bäckchen, in die sie hineinsprach, wackelten energisch. Sie fuhr bis kurz vor ihrem Tod Fahrrad. Oft mußte sie erzählen, wie sie ohne Rücklicht von einem Polizisten angehalten wurde. »Kann gar nicht sein, gucken Sie mal, mein Rücklicht geht doch! Ich fahr jetzt mal ein Stück, und dann können Sie es sehen.« Und weg war sie.

Von ihr habe ich radfahren gelernt. Sie setzte mich auf ihr Rad und schob mich von hinten ein Stück. Dann ließ sie einfach los, und ich knallte voll mit dem Riesending auf die Fresse.

*

Meine Klavierlehrerin hat riesige Titten. Sie kann das, was sie spielt, nicht sehen. Sie kann die Klaviertastatur nur erahnen, beim Spielen guckt sie nur auf ihre unteren Brillenränder. Trotzdem ist sie eine Koryphäe und überall bekannt. Nachdem sie meine drei Jahre ältere Schwester beackert hat, komme ich dran. Was sie mir auch zeigt, ich kann es sofort nachspielen. Mozart, Bach, Hindemith, alle, die so da sind. Noch bevor ich eingeschult werde, mache ich bei Musikwettbewerben mit. Mein erster Auftritt ist bei Cramer und Meermann in Essen oben im Omacafé. Mit Samtschleife, Fräckchen und viel Fett am Kopf, meinen störrischen Wirbel mit einer Haarklammer angelegt, spiele ich vierhändig mit meiner Schwester. Ich bin der Größte. Ganz klar, ich muß den ersten Preis bekommen. Die andern, die da auftreten, machen mehr so in Schnulzen, eine singt »Ich will ’nen Cowboy als Mann«. Und zwei mit Gitarre, Junge und Mädchen, singen was vom Lagerfeuer. Als genau die dann gewinnen, bricht eine Welt für mich zusammen. Ich bekomme einen Trostpreis. Mein ganzes Leben lang wird mich dieses rhombenförmige Stück Trumpf-Schokolade verfolgen! Jedesmal schießen mir die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke. Beim nächsten Konzert, im großen Saalbau in Essen, verspiele ich mich direkt am Anfang und haue auf die Tasten und sage laut ins Mikrofon: »Scheißearschloch«. Bei dem darauffolgenden Auftritt in einer anderen Stadt bin ich zwar zugegen, trete aber nicht auf. Ich habe das, was hinter solchen Vorführungen steckt, schnell durchschaut. Ich will nicht funktionieren, ich will kreativ sein. Die Kreativität eines Menschen kann sich durchaus manchmal dergestalt vollführen, daß man überhaupt nichts macht, gar nichts. Diese Verweigerung seiner Schaffenskraft ist nur dazu nütze, sich in keinster Weise vorprogrammierten Forderungen zu stellen. Noch nicht mal seinen eigenen. Zu Hause spiele ich oft auf dem Klavier. Tante Erna steht immer daneben und haut mit den Fingerknöcheln im Takt auf den Klavierdeckel. »Jam-pam-pam-pam, jam-pam-pam-pam …«, dazu ständig dieses Jampampam. Ich soll Rhythmusgefühl bekommen, und wir haben kein Metronom. Manchmal schlägt sie mit einem Lineal …

Foto mit meiner Schwester Marliese

Meine Schwester Marliese und ich sitzen oft im Flur auf dem Sisalteppich und spielen Rumsitzen. Wir haben Striemen am Arsch von dem Teppich. Ich hatte so tolle Lackschuhe als Säugling, eines Tages waren sie weg. Weil sie mir nicht mehr paßten, hat Tante Erna sie weggeworfen oder verschenkt. Ich kann das nicht verstehen mit meinen drei Jahren, und auch heute noch empfinde ich unausgesprochene Wut darüber. Das hat letztendlich mein ganzes Leben negativ beeinflußt. Da fällt mir ein – der Goldfisch im Bowleglas auf dem Wohnzimmerschrank. Wenn wir lieb waren, holte Tante Erna ihn runter und stellte ihn auf den Tisch, nicht ohne das Glas die ganze Zeit mit beiden Händen zu halten. Wir durften ihn uns angucken.

Tante Erna hat ein eigenes Zimmer mit einem selbstgebastelten Tisch. Christusdorn und Clivia, die Hauptblumen in dem Raum. Da hängt auch das Telefon. »Schneider! Rufen Sie mich bitte mal zu Hause an, dreizwoundzwanzigsiebenundzwannezick!!!« Klack – aufgelegt. Ich habe das nie kapiert, wenn Papa telefoniert hat. Auch reichte er kaum an den Hörer ran, warum hing denn das Telefon so hoch? Er hatte irgendwas beruflich mit Telefonen zu tun, was, habe ich lange nicht herausbekommen. Meine Mutter ging auch arbeiten, im Finanzamt. Mittags stand sie um Punkt eins vor dem Gebäude, und mein Vater kam dann mit dem rosa Renault Dauphine vorgefahren. Dann fuhren sie nach Hause, wo Tante Erna das Essen schon fertig auf dem Tisch stehen hatte. »War lecker, Erna!«, dann schnell auf die Couch gelegt, mit Zeitung unter den Schuhen. Dann ist er eingeschlafen. Genau fünf Minuten dauerte der Schlaf, dann sind sie wieder abgehauen. Ich war nur anfangs beim Essen dabei, ziemlich schnell mußte ich dann in der Küche essen. Oder auf dem Klo. Ich aß wie ein Schwein, deshalb.

Ich mochte das Essen immer nicht. Das schmeckte alles total scheiße. Das Allerschlimmste war mal Pilze. Selbstgesammelt. Dann nur gedünstet, in hohen Tellern, eine Riesenportion, wackelig und grüngelblich, bah! Da fing alles mit an. Ich mußte mit den Pilzen in den Kohlenkeller. Da saß der kleine Helge im Zwielicht neben den Kartoffeln auf dem Hackstumpf. Ich mußte da wohl den ganzen Tag gesessen haben, eingeschlossen. Ich habe die Pilze nicht gegessen.

Später habe ich dann einen Trick erfunden, wie man Essen verschwinden läßt, ohne es aufzuessen. Ich trank eine Plastiktasse Milch leer (bis ich erwachsen wurde, durfte ich nie Porzellantassen nehmen), schob heimlich, sagen wir mal, Rotkohl da rein, versteckte die Tasse in meiner Hose und gab an, aufs Klo zu müssen. Wenn ich durfte, ging ich aufs Klo, machte aber kein Haufen. Den Rotkohl schüttete ich ins Klo. Für ein ganzes Essen mußte ich natürlich ungewöhnlich oft aufs Klo. Daß das niemandem auffiel! Ich gewann mit den Jahren eine ungeheure Fertigkeit dadrin. Schleichen, Türen lautlos öffnen und schließen, klauen, verschwinden, und vor allen Dingen lügen, ich konnte, ohne rot zu werden, von der Schule erzählen, obwohl ich überhaupt nicht da war.

Anschleichen habe ich übrigens von Karl May gelernt. Er war ein guter Freund von mir, ich hatte viele Bücher von ihm bekommen. Meinen ersten Auslandsurlaub 1970 machte ich mit zwanzig Karl-May-Büchern im Rucksack. In Barcelona habe ich dann alle weggeschmissen. Auch die dicken Wintersachen, außer die Knickerbocker aus Bayern, die hab’ ich nach Hause geschickt.

*

Tante Erna fördert mich. Ich darf auf Tapetenresten malen. Es macht mir viel Spaß. Ich verbringe den ganzen Tag mit Malen. Ab und zu bekomme ich eine neue Windel. Die alte ist voll. Dann male ich weiter. Am liebsten male ich Tiere. Ein Reh. Das Reh wird sehr viel gemalt. Ich kenne die anderen Tiere noch nicht. Das Reh kenne ich von dem Wandteppich her, den Tante Erna genäht hatte. Mit Stoffresten hat sie ein Reh gemacht. Sie ist eigentlich Stickermeisterin. Deshalb hat sie auch handwerkliches Geschick, und ich lerne es von ihr weiter. Ich trage in der Wohnung Hut. Ein grünes Federhütchen. Ich nehme den Hut nur im Bett ab. Ich male immer mit Hut. Halbnackt, aber mit Hut. Ich bin stolz auf meinen Hut. Er steht mir gut. Ich bin auch Fan von dem Lied: »Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut …«. Oder noch besser: »Mein Hut, der hat drei Ecken, drei Ecken hat mein Hut, und weil er hat drei Ecken, drum steht er mir so gut!« Mein absolutes Lieblingslied. Mein Vater kann es sogar singen. Er ist total unmusikalisch. Nur Radio, das kann er ein bißchen. Aber nur Zimmerlautstärke. Obwohl er auf nur einem Ohr hört, kann man das Radio in der Wohnung lediglich sehen, so leise ist es. Geschmack für bestimmte Musik hat er auch nicht. Im Auto pfeift er aber oft. Meistens hebt er beim Fahren den Hut zum Gruße. »Herrmann!!« oder »Walter!!!«. Er nennt die Namen, obwohl die Männer, die er grüßt, mindestens zweihundert Meter weit weg sind. Die grüßen auch mit Hut. Oft murmelt er aber nur undeutlich den Namen ins Lenkrad, mit einem Blick auf die betreffende Person. Die Zigarre hat er auf die Unterlippe geklebt, sie wackelt beim Sprechen auf und ab, man kann kaum was verstehen. Der Wagen riecht fürchterlich nach Zigarre. Noch schlimmer ist das Klo, wenn er da sitzt, Tür auf, Zeitung, mit Zigarre, ein unglaubliches Gemisch!

 

Hinter unserem Wohnblock ist eine Wiese, daran anschließend beginnt ein Abhang, der zu einem Sportplatz führt. Dahinter geht’s weiter runter, und man kommt in ein verwildertes Tal, worin ein Bach fließt. Auf der anderen Seite geht es wieder steil hoch, und es beginnt eine andere Welt, die Mühlenstraße. Wir wohnen in der Lerchenstraße. Die Mühlenstraße habe ich noch nie gesehen, ich weiß aber von Halbstarken, die da wohnen. Die Halbstarken sind sehr gefährlich. Wer ihnen in die Finger gerät, hat sein Leben verwirkt. Sie sollen angeblich auch bis in unser Tal vordringen, deshalb ist es verboten, ins Tal zu gehen. Aber es ist sehr schön im Tal, und wir gehen doch dahin. Meine Schwester und ich gründen mit noch einem, ich glaube, der hatte es auf meine Schwester abgesehen, einen Geheimbund. Wir gehen ins Tal hinein und haben Stöckchen in der Hand anstatt Pistole. Auch flüstern wir ununterbrochen. Im Keller haben wir einen geheimen Platz, wo wir ein Notizbuch und einen Bleistift aufbewahren. Unter dem Deckel von dem kleinen grünen Kohleofen. Es ist alles total geheim. Bereits einen Tag später ist der Notizblock mitsamt dem Bleistift verschwunden. Wir hatten noch überhaupt nichts reingeschrieben. Wir durften keinen Geheimbund haben. Tante Erna hatte die Geheimpapiere an sich genommen.

 

Bald ist Nikolaus. Ich darf einen Schuh rausstellen. Am nächsten Morgen ist eine Mandarine drin. Mandarinen sind neu. Man kannte vorher nur Apfelsinen.

*

Meine Mutter heißt Mama, meine Tante heißt Mutti. Marliese und ich sind fest davon überzeugt, daß Mama gar nicht unsere Mutter ist, sondern Tante Erna, weil sie fester haut. Mama kann gar nicht richtig zuschlagen, ihre weiche Hand tätschelt nur kraftlos an der Backe vorbei. Das passiert aber auch so gut wie nie. Wenn sie mal böse ist, kreischt sie: »Ich klatsch’ dich an die Wand!« Wir lachen dann immer, und sie ist traurig. Tante Erna dagegen ist Profi. Mal bekommen wir es mit einem nassen Lederlappen ins Gesicht, mal mit dem Stöckelschuh auf die Knöchel oder mit dem Rohrstöckchen. Ja, der Rohrstock ist sehr gut. Wir müssen immer antreten, die Händchen vorstrecken, und »Swing, Swinnng, Swinnnng« geht es auf die Fingerchen nieder. Nach einer gewissen Zeit treten wir, ohne mit der Wimper zu zucken, an. Wichtiger als darüber zu verzweifeln ist uns die Rache. Wir klauen ihr den Stock. Und zerbrechen ihn. Doch sie, nicht faul, nimmt den Kochlöffel. Verkehrt rum. In unserem Kinderzimmer steht eine Eckbank, dadrunter krieche ich immer, um vor den Schlägen zu entkommen. Ich amüsier’ mich dabei, wie sie mit dem Stöckelschuh ins Leere haut, weil sie nicht dadrunter gucken kann.

 

 

 

Eines Tages kam Onkel Karl zu uns zu Besuch, um sich zu verabschieden, er hatte unheilbar Krebs. Am nächsten Tag war er tot. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben, er sah fürchterlich aus, total dünn und ausgemergelt präsentierte er sich auf unserem Sofa. Ich rannte schreiend aus dem Wohnzimmer. Ich sah ihn das letzte Mal, doch konnte ich ihn auswendig malen.