Cover

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Verstaubte Geschichten

Das Licht vor dem Spiegel

Von Flöten und Glöckchen

Ein Buch aus Messing

Tapsen im Dunkeln

Unerwarteter Besuch

Ein seltsamer Traum

Vergilbtes Papier

Der gewundene Pfad

Die Schwarze Hütte

Die geheime Pforte

Kräutertee und Reisepläne

Verstaubte Geschichten

 

 

Die Abenddämmerung war früh hereingebrochen und die Tage wurden zusehends kürzer. Schleichend hatte der Herbst seinen Anfang genommen. Der lange heiße Sommer, der das Unkrautland über Monate hinweg beherrscht hatte, war nun endgültig vorüber. Wo man hinblickte, färbte sich das Laub. Rot und Gelb schimmerte es hinter den Spinnweben hervor, welche die Büsche an den Wegen umgaben. Es waren milde Wochen. Vorzeichen für einen harten Winter, wie man die Bauern im Land sagen hörte. Doch schienen sie mit ihrer Annahme richtig zu liegen, da schon zur Erntezeit Frost aus den Nordlanden eintraf und den Boden gefrieren ließ. Sogar der Schnee in den Bergen reichte bereits bis in die Täler herab und mit seinen weißen Felswänden erhob sich das eisige Bleigebirge wie eine Leinwand für die herbstliche Farbenpracht.

Auf den Marktplätzen herrschte in jenen Tagen emsiges Treiben. Karren mit Feuerholz verstopften die Straßen und reihten sich vor den Buden mit Äpfeln, Kartoffeln, Pilzen und Kerzen. Die kalte Jahreszeit stand vor der Tür. Zwar gab es tagsüber noch immer sonnige Stunden, doch wurden diese von Mal zu Mal weniger. Die Luft kühlte bereits am Nachmittag ab, und mit dem Sinken der Sonne zog Nebel herauf. Lautlos stieg dieser aus den Feldern, glitt über das Land und hüllte bis zum Abend Städte und Dörfer in schummrige Schleier.

In Klettenheim, einem einsamen und verschlafenen Dörfchen am Nordrand des Finsterwalds, war zu dieser Stunde längst niemand mehr in den Gassen zu sehen. Die abergläubischen Bewohner vermieden es seit Jahrhunderten schon, ihre Häuser nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen. Und dass sie sich nachts dem Waldrand genähert hätten, wäre für sie völlig undenkbar gewesen. Wahrlich, viel zu viel Furcht flößte ihnen der gespenstische Finsterwald ein. Ja, selbst die lehmigen Dorfgassen schienen ihnen nach Sonnenuntergang alles andere als geheuer zu sein. Dazu kam, dass es in Klettenheim nur eine einzige Straßenlaterne gab, und ausgerechnet diese hatten die Dorfbewohner bei einer vermeintlichen Vampirhetze vor einigen Wochen versehentlich zerschmettert. Folglich lag das Dörfchen auch heute ohne Beleuchtung und von Nebelschwaden umgeben vor den nächtlichen Feldern.

Hoch stand der Mond, während aus der Ferne das Schlagen der Kirchturmglocken ertönte. Da geschah es plötzlich, dass ein dünnes Wolkenband den Himmel durchzog und das Mondlicht verschluckte. Im nebeligen Klettenheim wurde es daraufhin augenblicklich stockfinster. Selbst der Schein der Kerzen, der durch die Ritzen mancher Fensterläden blinzelte, konnte gegen dieses Dunkel nichts ausrichten. So schien der ganze Ort im Schatten der Nacht zu versinken – mit einer Ausnahme:

Die einzige Stelle, an der es in Klettenheim nicht durchweg zappenduster war, befand sich bei dem kleinen, windschiefen Haus gegenüber der Konditorei. Hier hatte das Fundament offenbar im Laufe der Jahrhunderte nachgegeben, weshalb sich der ganze Bau nun mehr als deutlich zur Seite neigte. Hätte es das steinerne Nachbarhaus nicht gegeben, dann wäre das wunderliche Fachwerkhäuschen bestimmt schon vor langer Zeit einfach umgefallen. So aber schmiegte es sich eng an die benachbarte Steinwand und ließ seine Efeuranken von einem Hausdach zum anderen klettern.

Bei einer derartigen Schräglage war es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Fensterläden des Hauses krumm und schief in den Angeln hingen. Das galt zumindest für die, die noch nicht heruntergefallen waren. In bunten Farben strahlten die alten Bleiverglasungen durch die Nacht und bildeten im Nebel leuchtende Formen. Und das war längst noch nicht alles. Denn wer genau hinsah, der konnte erkennen, dass aus einem der Fenster im ersten Stock, knapp unterhalb des Schindeldachs, ein faustgroßes Glasstück herausgebrochen war. Aus diesem leuchtenden Loch erklang in jener Nacht eine Geschichte.

Es war keine der üblichen Geistergeschichten, wie sie die Dorfbewohner ständig verbreiteten. Vielmehr handelte es sich um ein einfaches Kindermärchen, das, der Stimme nach zu urteilen, von einer alten Frau erzählt wurde. Es war kurz und seine Handlung recht einfach. Aber wegen einer winzigen Kleinigkeit zählte es dennoch zu jener Art Märchen, welche die Leute plötzlich ins Grübeln bringen und von denen besonders die besagte Kleinigkeit noch für lange Zeit in den Köpfen der Zuhörer hängen bleibt. Allerdings sei zu erwähnen: Die Ungereimtheiten in diesem Märchen fielen nicht nur den jungen Zuhörern auf, denen es erzählt wurde. Noch jemand anderes war zugegen, der aus einer dunklen Ecke heraus lauschte …

»So schnell ihre Füße sie trugen, liefen die Mädchen auf den Lichtschimmer zu«, drang es aus dem Fenster. »Es würde bestimmt nicht mehr lange dauern, so dachten sie, und sie wären wieder zu Hause. Den beiden war kalt und auch der Hunger quälte sie sehr. Das Lagerfeuer, das sie in der Ferne zu sehen glaubten, wirkte so anziehend und wunderbar einladend zugleich, es schien ihnen die letzte Rettung zu sein. Hei, wie es flackerte und lichterloh züngelte. Gewiss konnten sie sich im Schein der Flammen ein wenig ausruhen und ihre verfrorenen Füße wärmen. Vielleicht hatten sie ja auch Glück und sie würden etwas zu essen bekommen?! So hasteten die zwei über Äste und Wurzeln, huschten durch das Gebüsch und folgten dem rötlichen Licht, ohne es auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen. Aber wisst ihr, liebe Kinder«, flüsterte die Stimme, »genau das war ihr Fehler.«

Für eine kurze Zeit herrschte Stille. Dann ging die Geschichte weiter. »Denn bei diesem Lichtschimmer, von dem ich euch heute berichten will, handelte es sich keineswegs um ein knisterndes Lagerfeuer, wie sich sehr bald herausstellen sollte. Es war auch kein gewöhnliches Licht, so wie ihr es von einer Laterne oder einer Fackel her kennt. Dieses Licht war ein Irrlicht! Eines der vielen bösartigen Gespenster, die im Wald ihr Unwesen treiben.«

»Was machen denn diese Irrlichter?«, fragte eine andere Stimme.

»Oh, in der Tat eine ganze Menge. Vor allem treiben sie Schindluder und machen schlechte Scherze. Irrlichter sind heimtückische Waldgeister. Verführerisch leuchtende Trugbilder. Sie bringen euch vom Weg ab, verleiten euch dazu, die Pfade zu verlassen und führen euch schließlich ins Nichts. So war es auch bei diesem hier. Immer tiefer lockte es die Mädchen in den Wald hinein und immer wieder ließ es sich neuen Schabernack einfallen. In der Hinsicht sind alle Irrlichter gleich. Keines von ihnen ist besser als das andere, da beißt die Maus kein’ Faden ab.«

Das Zimmer hinter dem kaputten Fenster des Fachwerkhauses war eng, aber gemütlich. Es bot gerade einmal genügend Platz für einen Schrank, einen Lehnstuhl und drei kleine Betten. An den schiefen Wänden, die sich bis in den Dachstuhl erhoben, hingen Kinderbilder und zahlreiche Büschel getrockneter Kornblumen. Ja, sogar das Fenster war liebevoll verziert, wobei hier vor allem Girlanden aus taufrischem Knoblauch baumelten. Es gab Spielzeug, Musikinstrumente und mehrere Stapel Bücher. Das gesamte Zimmer war erfüllt vom starken Geruch einer Petroleumlampe. Diese stand auf dem Holzboden neben der Tür und richtete ihr Licht auf drei kleine Kinder, die voller Spannung in ihren Betten kauerten.

Die beiden Jungen und das Mädchen hatten die Federdecken bis über die Nasen gezogen. Regungslos blickten sie auf die rundliche Großmutter, die im Nachthemd vor ihnen im Lehnstuhl saß. Die alte Frau trug einen gestreiften Wollschal, mit Pelz gefütterte Pantoffeln und eine große, aufgeplusterte Schlafhaube. Das Licht der Lampe spiegelte sich in ihrer Nickelbrille, während sie in belehrender Manier das Kinn hob.

»Denn plötzlich …«, fuhr sie mit einem Fingerschnippen fort, »mit einem Mal … war das Irrlicht verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Hexerei und Teufelswerk! Die beiden Mädchen im Wald umklammerten einander. Schlotternd blickten sie sich um, stellten sich auf die Zehenspitzen und starrten hilflos durch die Dunkelheit. Längst wussten sie nicht mehr, wo sie waren, geschweige denn, welche Richtung sie hätten einschlagen sollen. Nur eines war ihnen in diesem Augenblick gewiss: Von zu Hause hatten sie sich jetzt weiter entfernt als jemals zuvor.«

Die Frau stieß ein Seufzen aus. »Da standen sie also und guter Rat war teuer. Von den Bäumen erklang der Schrei einer Eule und nur zaghaft schien der Mond durch die Baumkronen. Was sollte jetzt aus ihnen werden? Hier im Wald wollten sie nimmermehr bleiben.«

Die Großmutter bewegte bedrohlich die Finger. »Das Unterholz um sie herum war erfüllt mit allerlei fremdartigen Geräuschen«, flüsterte sie. »Es knisterte und knackte, dass ihnen angst und bange wurde. Sie wussten, dass sie den Wald um jeden Preis wieder verlassen mussten, bevor noch Schlimmeres passieren würde. Also nahmen sie ihren ganzen Mut zusammen und machten sich auf den Weg. Blindlings tasteten sie sich im Dunkeln voran. Die spindeldürren Äste griffen nach ihnen, zerrten an ihren Kleidern und die mächtigen alten Bäume schienen sie all die Zeit über auf gespenstische Weise anzublicken. So stolperten die armen Kleinen vorwärts. Schritt für Schritt, und es schien, als würde die Nacht nie wieder enden wollen.«

Die Kinder in ihren Betten gaben keinen Laut mehr von sich. Alle drei schauten auf die Großmutter, die warnend die Augenbrauen hob.

»Aber die Mädchen waren nicht alleine«, knurrte sie. »Das garstige Irrlicht, … es war noch immer in ihrer Nähe. Erloschen und für ihre Augen unsichtbar, hielt es sich unter Baumrinden versteckt. Von dort sah es zu ihnen herüber und wartete ab. Wenngleich auch nur für kurze Zeit. Denn schon sehr bald kam es wieder zum Vorschein und spielte ihnen den nächsten Streich.«

»Was hat es getan?«, fragte der kleinere Junge.

»Es begann erneut zu leuchten«, war die Antwort, »nur jetzt in einer anderen Form.«

»Wie meinst du das, Großmutter?«

»Irrlichter können sich verändern«, erklärte diese. »Sie gaukeln euch vor, was ihnen beliebt, oder aber, was ihr euch gerade am sehnsüchtigsten wünscht. So war es auch in diesem Moment. Der Schimmer tauchte zwischen den Bäumen auf und glich nun nicht mehr einem flackernden Lagerfeuer, oh nein. Jetzt sah er genauso aus, wie das Fenster am Haus ihrer Eltern. Gewiss könnt ihr euch vorstellen, dass die beiden Mädchen vor Freude aufsprangen. Hals über Kopf rannten sie durch den Wald und blindlings dem Licht hinterher. Aber der Spuk wurde daraufhin nur noch schlimmer. Denn das böse Licht hatte sich jetzt etwas ganz Besonderes für sie einfallen lassen.«

Die Kinder hielten den Atem an.

Nach einer kurzen Pause beugte sich die Großmutter vor und blickte über den Rand ihrer Brille. »Während die Mädchen nämlich dem Licht hinterherliefen«, fuhr sie fort, »änderte dieses seine Größe.«

»Es wurde größer?«

»Ja«, antwortete sie der Kleinen. »Es wuchs an, wobei es sich stetig von den beiden fortbewegte. Dadurch folgten die Mädchen dem Licht auch immer weiter durch den Wald und glaubten, sie würden dem Haus langsam näher kommen. Aber hierbei«, fügte die Frau verschwörerisch hinzu, »täuschten sie sich gewaltig.«

Sie fuchtelte mit ihrem Finger. »Haltet euch deshalb nach Einbruch der Nacht immer schön vom Finsterwald fern. Dort wimmelt es nur so von Spukgestalten, die allesamt nichts Gutes im Schilde führen. Meidet den Wald, so gut es nur geht. Und solltet ihr ihn eines Tages trotzdem betreten müssen, dann verlasst niemals, hört ihr, niemals die Pfade. Habt ihr verstanden?«

Die Kinder nickten respektvoll.

Gerade wollte die alte Dame fortfahren, als ein kühler Lufthauch durch das Loch in der Glasscheibe blies. Sie zupfte an ihrem Schal, stand auf und trottete zum Fenster. Dort zog sie fröstelnd den Vorhang zu. Nach einem prüfenden Blick auf die Knoblauchgirlanden kam sie knarrenden Schrittes wieder zurück. Die Flamme in der Petroleumlampe flackerte.

Mit großen Augen saß das Mädchen in ihrem Bett und betrachtete gebannt die unheimlichen Schatten, die über die Zimmerwand tanzten. Besonders der Lehnstuhl erzeugte eine furchterregende Form. Sie war lang und schmal, glich einem gespenstischen Baum und erhob sich bedrohlich bis in den Dachstuhl hinauf. Geduckt schielte die Kleine nach oben. Da schien es für einen kurzen Augenblick, als hätte sie die Fledermaus bemerkt, welche hoch oben im Schatten zwischen den Dachbalken saß. Nun möchte man meinen, dass Fledermäuse in den Dachstühlen der alten Häuser nichts Außergewöhnliches gewesen wären, schließlich gab es sie überall. Doch diese hier sah anders aus als die Üblichen. Sie war größer, besaß ein rabenschwarzes Fell und trug auf ihrem Köpfchen einen hohen, schmalen und zerknautschten Zylinderhut. Es war niemand anderer als Primus.

Der Schatten des Lehnstuhls schnellte über die Wand, als die rundliche Frau darin Platz nahm. Sofort richtete das Mädchen ihre Augen wieder auf die Großmutter. Der seltsamen Fledermaus über ihr im Gebälk schenkte sie keine Aufmerksamkeit mehr.

Primus war schon vor geraumer Zeit durch das Loch im Fenster geschlüpft und hatte es sich unbemerkt zwischen den morschen Dachbalken bequem gemacht. Der Knoblauch am Fenster hatte ihn dabei nicht im Geringsten gestört. Zwar waren die stinkenden Girlanden ausschließlich seinetwegen dort angebracht worden, aber um ehrlich zu sein, Primus hatte sie nicht einmal bemerkt. Schließlich war er ja auch kein Vampir, wie in Klettenheim alle dachten, wenngleich er als Fledermaus durchaus gewisse Ähnlichkeiten aufweisen konnte.

Doch dieser Eindruck war trügerisch. Denn in Wirklichkeit sah Primus ganz anders aus:

In seiner normalen Gestalt war er ein hageres Bürschchen, mittelgroß, mit einem scharf geschnittenen Gesicht. Um die spitze Nase herum, an der man ihn schon von Weitem erkennen konnte, wirkte Primus immer ein wenig blass, ja geradezu grünlich. Letzteres kam durch seine schwarzen Haare besonders deutlich zur Geltung. Er war altmodisch gekleidet, mit seinem hohen Stehkragen und dem abgegriffenen Frack. Über den Schuhen trug er vergilbte Gamaschen und – sowohl als Mensch wie auch in Gestalt der Fledermaus – stets den schwarzen, zerknautschten Zylinderhut auf dem Kopf.

Wie alt Primus war und warum er sich nach Belieben in eine Fledermaus verwandeln konnte, das wusste er nicht. Einst war ihm etwas Schreckliches zugestoßen, soviel stand fest. … damals, vor langer Zeit, als Primus zusammen mit dem anderen Lehrling von Magnus Ulme einem großen Geheimnis auf der Spur war. Seither hatte sich alles geändert. Magnus Ulme, sein alter Meister, war verschwunden. Und ebenso wie dieser hatten sich Primus’ Erinnerungen an jene Tage spurlos in Luft aufgelöst.

Noch bis vor Kurzem hatte ihn das alles nicht sonderlich beschäftigt. Warum auch?! Primus führte ein Dasein, wie er es sich schöner nicht hätte vorstellen können. Er lebte in Ulmes altem Turm, schlich stundenlang durch die Räume und trieb sich nach Herzenslust in der großen Stadtbibliothek von Hohenweis herum. Seine Abende verbrachte er zumeist über Büchern oder flatterte lustig durchs Land. Er musste sich um nichts und niemanden kümmern, und wenn es nach ihm ginge, dann könnte das ruhig alles so bleiben.

Gespannt lümmelte er nun in seinem Versteck und lauschte der Geschichte der alten Großmutter. In den Mundwinkeln klebten ihm noch die Überreste seines letzten Besuchs in der Klettenheimer Backstube – wohlgemerkt Primus’ unumstrittener Stammladen. Dort hatte es heute Plundergebäck und ofenfrische Nussschnecken gegeben. Sogar Zimtplätzchen hatten in den Regalen gelegen, wobei er diese im Dunkeln fast übersehen hätte. Die Klettenheimer machten einfach das beste Backwerk, davon war Primus überzeugt. Aus diesem Grund kam er auch nahezu jede Woche aufs Neue, um die Leckereien gründlich zu testen. Das betrieb er nun schon seit über zweihundert Jahren, und die Klettenheimer versuchten wiederum alles, um dem endlich ein Ende zu setzen. Allerdings waren die Dorfbewohner dabei nicht sonderlich erfolgreich, wie unschwer festzustellen war, ganz im Gegenteil. Primus empfand es sogar als außerordentlich komisch, wenn das halbe Dorf wieder einmal wutentbrannt mit Fackeln und Schaufeln bewaffnet hinter ihm herrannte und ihn schimpfend durch die Straßen jagte.

Aber wie dem auch sei, heute Nacht hatte er ursprünglich nicht vorgehabt, sonderlich lange auszubleiben. Sein Besuch in Klettenheim war vielmehr als kurzer Nachtimbiss während seiner Kaminlektüre gedacht gewesen. Doch als er vorhin die Konditorei durch den Schornstein verlassen hatte – die Klappe der Katzentür war mittlerweile mit einem Vorhängeschloss gesichert –, da war ihm vor dem Haus die Stimme der alten Großmutter ans Ohr gedrungen. Für Schauergeschichten hatte Primus schon immer eine Schwäche gehabt, und daher konnte er natürlich nicht widerstehen, sie sich aus nächster Nähe anzuhören. So rekelte er sich nun satt und zufrieden auf seinem Dachbalken und streckte behaglich die Flügel aus.

Wenig später erzählte die Großmutter weiter.

»Die Mädchen liefen und liefen. In weiten Bögen rannten sie dem Licht hinterher. Mal ging es nach links, dann wieder nach rechts und anschließend schnurstracks geradeaus. Das Ganze ging so lange, bis sie nicht mehr konnten. Erschöpft blieben sie schließlich stehen. Das Licht war verblasst. Und diesmal«, sagte die Großmutter, »kam es auch nicht mehr zurück.«

Sie nahm einen tiefen Atemzug. »Verwundert blickten die beiden sich um. Der Finsterwald sah nun auf einmal ganz anders aus. Und von den vormals mächtigen Bäumen waren nur noch ein paar astlose Stümpfe übrig.« Die alte Frau spitzte die Lippen.

»Wisst ihr, wo die beiden nun waren?«, murmelte sie zwischen ihren Zähnen hindurch.

»Nein«, gähnte Primus.

Doch von den drei Kindern unter ihm im Zimmer kam keine Antwort.

»Die beiden waren so weit gelaufen«, tuschelte die Großmutter, »dass sie den Finsterwald schon lange hinter sich gelassen hatten.« Sie weitete die Augen. »Die Mädchen befanden sich jetzt an jenem Ort, vor dem sogar Erscheinungen wie Irrlichter Angst haben. Das nun, Kinder, waren die Westlichen Sümpfe!«

Primus hob das Kinn. Überrascht schielte er zu der Gruppe hinunter.

»Eines steht fest«, raunte die Frau. »Dort drüben, in den Westlichen Sümpfen, gibt es Dinge, die sind tausendmal gefährlicher als das Gesindel im Finsterwald, so wahr ich hier sitze.«

Die Stille hielt an.

Erst nach einigen Momenten reckte der ältere der beiden Jungen seinen Kopf. »Was sind das für Dinge?«, fragte er vorsichtig.

Ja, das wüsste ich auch gerne, dachte Primus und spitzte die Ohren.

»Die Westlichen Sümpfe sind ein allzu geheimnisvolles Gebiet«, sagte sie. »Besonders abgelegen und nur schwer zugänglich. Kaum ein Mensch, der gewagt hat, es zu betreten, ist jemals wieder von dort zurückgekehrt. Man erzählt sich, die Sümpfe seien lebendig

»Lebendig?«, fragte der Junge. »Was meinst du mit lebendig?«

»Genau, wie ich es sage«, entgegnete sie. »Die Sümpfe fangen euch ein. Sie stellen euch Fallen, hüllen euch in giftige Nebel und verschlingen jeden, der sich dorthin begibt. Dunkle Mächte sind da am Werk. Baumnymphen, Wassergeister und bitterböse Hexen.«

Dann verstummte die Frau.

Langsam und prüfend lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. »… und was sich inmitten der Sümpfe befindet, das wisst ihr ja, oder?«

Tatsächlich? – überlegte Primus. Das weiß ich nun wiederum nicht.

Diesmal war es das kleine Mädchen, das auf einmal das Wort ergriff: »Die Schwarze Hütte«, antwortete sie bibbernd.

Die Großmutter lächelte überrascht. »Ganz recht«, bestätigte sie. »Und ohne es zu wissen, gingen die Mädchen geradewegs darauf zu.«

Nach diesen Worten setzte sich Primus auf. Jetzt wurde es doch glatt interessant. Er rutschte vor bis zur Kante des Balkens und blickte gebannt in das Zimmer hinunter. Das Licht in der Petroleumlampe hatte nachgelassen. Behutsam drehte die Großmutter den Docht nach oben, während ihr Primus voller Ungeduld dabei zusah. Heute Nacht war es nicht das erste Mal, dass er die Leute von der Schwarzen Hütte erzählen hörte. Über diesen Ort war ihm schon mehrfach etwas zu Ohren gekommen. Allerdings hatte Primus bisher immer geglaubt, dass man damit den alten Turm meinen würde, in welchem er wohnte. Schließlich machten die Leute um diesen einen ebenso großen Bogen wie um den gespenstischen Finsterwald. Dass man aber hierbei von einem gänzlich anderen Gebäude sprach und dass dieses darüber hinaus in den Westlichen Sümpfen stehen sollte, das war ihm nun vollkommen neu.

Endlich erzählte die Großmutter weiter.

»Die zwei wateten durch die Sümpfe, sprangen über blubbernde Tümpel und stießen plötzlich, wie aus dem Nichts, auf einen schmalen, verwilderten Pfad. In engen Schlangenlinien führte dieser nach Westen. Natürlich folgten ihm die Mädchen sogleich. Hand in Hand gingen sie dahin, ohne zu wissen, was sie am Ende erwartete. Sie erreichten den Schneckenbach, tappten über eine Holzbrücke und kamen schließlich an eine Stelle, von der aus der Pfad fortan mit pechschwarzen Kieseln bedeckt war. Dünne Birken voll welker Blätter säumten den Weg, und von irgendwo aus der Luft vernahmen sie Laute.« Die alte Frau hielt ihre Hand ans Ohr. »Es schien so, als würden Stimmen leise zu ihnen flüstern.«

»Stimmen?«, fragten die Kinder.

»Ja, Stimmen. Säuselnd und kaum wahrnehmbar erfüllten diese die Luft. Die Mädchen wussten nicht, wie ihnen geschah. Überrascht blieben sie stehen und blickten sich um. Doch so sehr sie sich auch bemühten, sie konnten weit und breit niemanden entdecken. Also beschritten sie weiter den kiesigen Pfad. Länge für Länge und Windung für Windung. Aber mit jedem Schritt, den sie von nun an taten, wurde auch das Geflüster deutlicher: … fort, hinfort und weg geschwind …, drang es raschelnd an ihre Ohren. … fort, hinfort von diesem Ort … Was hatte das zu bedeuten? Wer sprach da zu ihnen? Schließlich blickte eines der Mädchen nach oben in die Wipfel der Bäume. Sie traute ihren Augen nicht. Wie von Geisterhand geführt neigten sich die Baumkronen im Mondlicht und schillernde Blätter glitten zu Boden. Jetzt begriffen sie, woher diese Stimmen kamen. Es war das Laub, das zu ihnen sprach.«

»Das Laub in den Sümpfen kann sprechen?«, fragte der größere der beiden Jungen.

»In den Westlichen Sümpfen ist alles lebendig«, flüsterte die Großmutter. »So auch die Blätter, der Wind und das Wasser.«

»Und der Nebel?« Die Augen des Mädchens begannen zu leuchten.

»Ja, meine Kleine«, lobte die Frau, »auch der Nebel ist dort lebendig.«

Primus kratzte sich ungläubig am Kopf.

»Aber in diesem Moment«, fuhr sie fort, »waren es die Blätter der schneeweißen Birken, die den Mädchen zu Hilfe eilten. Unentwegt sprachen sie auf die beiden ein, flüsterten ihnen Warnungen zu und rieten ihnen, nicht weiterzugehen. Die Schwarze Hütte, so müsst ihr wissen, war nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Eines der Mädchen legte daraufhin den Kopf in den Nacken. Es hielt die Hände an den Mund und rief fragend zu den Blättern empor: Wohin sollen wir denn gehen, inmitten der Sümpfe? Wohin? Die Antwort der Blätter folgte sofort. Rauschend beugten sich die Wipfel der Birken und deutlicher als zuvor erklang die Stimme des Laubes: … erwartet den Nebel, er bringt euch dahin, ging es durch die Nacht. … er trägt euch hinfort und schützt euch vor ihm. Zunächst wussten die beiden nicht, wovon das Laub sprach«, sagte die alte Dame. »Wie um alles in der Welt sollte ihnen ausgerechnet der Nebel zu Hilfe kommen, hier in diesen Sümpfen? Die beiden Mädchen sahen sich ratlos an. Doch dann geschah das Unglaubliche. Die Stimmen der Blätter wurden leiser, verstummten und mit ihnen auch jegliches andere Geräusch in der Umgebung. Fast schien es, als hätte jemand eine unsichtbare Decke über die Sümpfe gelegt.«

Die Großmutter lächelte. »Da war es auf einmal, dass feiner Dunst aus dem Dunkel der Nacht hervortrat, fließend und anfangs kaum merklich. Die zwei trauten ihren Augen nicht. Kurz darauf verdichteten sich die Schleier, wickelten die Mädchen ein und hoben sie sachte vom Erdboden empor. Wie auf Kissen und umhüllt von Daunen stiegen sie mit dem Nebel über die Baumwipfel hinauf.«

Auf den Gesichtern der drei kleinen Kinder zeichnete sich Erleichterung ab.

»Ja, so hat es sich zugetragen, meine Lieben«, sagte die Frau. »Und so schwebten die beiden über die nächtlichen Sümpfe dahin, bis zu ihren Eltern nach Hause.« Sie tippte mit dem Finger auf die Armlehne des Stuhls. »Doch eines war ihnen gewiss«, fügte sie mit einem scharfen Tonfall hinzu. »Niemals wieder wollten sie sich in die Nähe des Finsterwaldes, geschweige denn der Westlichen Sümpfe begeben, niemals. Und auch ihr solltet euch stets von diesen Gebieten fernhalten, versprochen?«

Die Kinder nickten. Die Geschichte hatte offenbar ihre Wirkung gezeigt.

Primus hingegen schob die Unterlippe vor. Was für ein seltsames Märchen, dachte er. So etwas hatte er in all den Jahren noch nie gehört. Ausgesprochen bemerkenswert, gar keine Frage. Vor allem, da ihn einige Dinge doch gewaltig daran störten. Denn diese Geschichte schien ein wenig zu hinken. Und außerdem: Angesichts dessen, dass angeblich noch kaum jemand aus den Westlichen Sümpfen zurückgekehrt war, hatte die alte Großmutter den Weg dorthin doch erstaunlich genau beschrieben. Wie konnte das sein? – rätselte er. Ein Pfad … gewunden und aus pechschwarzen Kieseln …?

»Großmutter«, sagte das Mädchen, »können die Blätter im Finsterwald auch sprechen?«

»Na, das wäre ja noch schöner«, brummte Primus und drehte sich auf den Rücken.

»Vielleicht«, antwortete die Frau. »Der Finsterwald ist unvorstellbar groß und bestimmt gibt es dort verborgene Plätze, die ebenso magisch sind wie die in den Sümpfen.« Sie deckte die Kinder nacheinander zu und strich ihnen über die Köpfe.

Dann griff sie nach der Lampe. »Auf jeden Fall solltet ihr immer in der Nähe des Dorfes bleiben. Ich weiß nämlich genau, dass ihr vor einigen Wochen alleine durch den Wald spaziert seid.« Sie wippte vorwurfsvoll mit dem Fuß. »Jetzt aber wickelt euch fest ein und schlaft schön.« Mit diesen Worten rückte sie ihren Schal zurecht und tappte zur Tür.

Doch sie kam nicht sehr weit.

»Du, Großmutter«, flüsterte der kleine Junge.

»Ja?« Sie drehte sich um.

»Die Brücke, von der du gesprochen hast. Du weißt schon, die in den Sümpfen.«

Primus zuckte erwartungsvoll mit der Augenbraue und grinste.

»Was ist denn damit?«, fragte sie.

»Äh, es ist nur …«, der Kleine räusperte sich vorsichtig. »… der Schneckenbach fließt gar nicht durch die Westlichen Sümpfe.«

»Wie meinst du das?«

»Nun, er fließt in den Finsterwald hinein. Zumindest haben wir das in der Schule gelernt.«

»Bist ein kluges Bürschchen, wie mir scheint«, flüsterte Primus, »und aufmerksam obendrein.« Er hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Fehler einem der Kinder aufgefallen war.

»Ja weißt du, mein Schatz …«, sagte die Frau. »Die Geschichte ist schon sehr, sehr alt. Sie stammt noch aus den Tagen lange vor Lebzeiten meiner Urgroßmutter. Und vielleicht gab es ja damals einen Wasserlauf, der vom Schneckenbach weg in die Sümpfe führte, wer weiß?! In Hunderten von Jahren ist schließlich vieles möglich. Jetzt aber macht eure Äuglein zu.« Sie lächelte die Kinder noch einmal an und schloss knarrend die Tür.

Daraufhin entfernten sich ihre Schritte.

Primus blickte ins Leere. In seinem Kopf schossen die Gedanken umher. Dabei war es nicht der mysteriöse Bach, der ihn beschäftigte, und auch nicht die für einen Sumpf so unpassenden schwarzen Kiesel. Nein, etwas ganz anderes hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Von draußen ertönte nun dumpf das Läuten der Kirchturmglocken.

Ein wenig träge raffte Primus sich auf. Er breitete seine Flügel aus und glitt lautlos von seinem Versteck ins Zimmer hinunter. Keines der Kinder hatte den Luftzug gespürt, der durch den Raum strich. Unbemerkt kroch Primus unter den Vorhang, kletterte an diesem empor und stahl sich durch das Loch in der Fensterscheibe nach draußen. Der Mond strahlte jetzt hell auf die Häuser und der Nebel hatte sich mittlerweile ein wenig verzogen. Primus griff nach einem kleinen Stoffbündel, das er vor seinem Besuch auf dem Fensterbrett abgelegt hatte, und flatterte in Gedanken versunken über die Felder in Richtung Finsterwald.

Währenddessen lag der kleine Junge noch immer mit offenen Augen im Bett. Die Geschichte der alten Großmutter wollte ihn einfach nicht loslassen. Er drehte sich auf die Seite und blickte zu seiner kleinen Schwester hinüber.

»Tinchen«, sagte er zu ihr, »schläfst du schon?«

Die Kleine grummelte leise.

»Weißt du vielleicht, vor wem der Nebel die beiden Mädchen beschützen sollte?«, fragte er.

Doch er erhielt keine Antwort. Das Mädchen war bereits eingeschlafen. Nachdenklich zog er daraufhin die Decke über seine Ohren und rollte sich ein. Gleich morgen früh, so dachte er, würde er Großmutter danach fragen.

Das Licht vor dem Spiegel

 

 

Mit dem Bündel in seinen Krallen flatterte Primus über die Felder. Leider hatte es heute in der Konditorei keine Sonnenblumenkerne mehr gegeben, weshalb er für Bucklewhee zur Abwechslung eine Handvoll Sesamkörner eingepackt hatte. Bucklewhee, das kleine intellektuelle Hühnergerippe aus Primus’ Standuhr, spielte zwar meist den großen Feinschmecker, freute sich aber trotzdem immer über die Knabbereien, die Primus ihm von seinen Ausflügen mitbrachte. Am liebsten mochte er Rosinen und zerstückelte Walnüsse. Nur Kürbiskerne durfte man Bucklewhee nicht mehr anbieten, nachdem sich der Gockel einmal fürchterlich an einem der Kerne verschluckt hatte. Selbst Wochen später musste sich Primus die Leidensgeschichte des kleinen Gerippes immer wieder aufs Neue anhören, und Bucklewhee war jedes Mal empört, wenn Primus dabei einen unaufmerksamen Eindruck machte.

Wenig später tauchte der Distelpfad unter ihm auf. Primus ging tiefer und flatterte an aufgerichteten Heubüscheln vorbei nach Süden. Der Mond stand hoch am Firmament, als Primus die letzten Nebelschleier hinter sich ließ. Vor ihm lag der Finsterwald. Im Licht der Nacht huschte er zum Waldrand hinüber, wo er schon bald jene Stelle erreichte, an der sich die knorrigen Bäume wie eine Pforte über den Distelpfad krümmten. Von dort führte der Weg ins Dunkel hinein.

Im Gegensatz zur übrigen Landbevölkerung zeigte sich Primus von dieser Finsternis wenig beeindruckt. Als Fledermaus besaß er die Fähigkeit, sich, wenn es darauf ankam, in beinahe völliger Dunkelheit orientieren zu können. Davon einmal abgesehen kannte er die Strecke natürlich mittlerweile in- und auswendig. In den letzten zweihundert Jahren war er sie so oft geflogen, dass er den Weg durch den Wald wahrscheinlich sogar rückwärts und im Halbschlaf gemeistert hätte.

Er folgte dem Pfad über Buckel und durch Gruben, flog unter umgestürzten Bäumen hindurch und stieß immer weiter ins Waldesinnere vor. Die Luft war kühl und angenehm frisch. Überhaupt, im ganzen Wald roch es so gut wie schon seit Monaten nicht mehr, da es die stinkenden Staubpilze zu dieser Jahreszeit endlich nicht mehr gab. Die ekligen braunen Knollen waren durch die Sommerhitze wie Mais in der Pfanne zerplatzt, sodass der gesamte Wald noch bis vor wenigen Wochen wie ein riesiger Kuhstall gemuffelt hatte. Es war grauenvoll gewesen. Bis zu den Nebelfeldern hatte der Pilzstaub in der Mittagshitze gestunken, weshalb sich Primus wieder einmal für zahlreiche Stunden in den Keller verkrochen hatte. Nun aber stieg ihm der Duft von Harz und Tannennadeln in die Nase. Er schnupperte verzückt und sauste schlenkernd dahin.

In der Mitte des Waldes kam Primus schließlich an die Stelle, an der sich der Distelpfad mit dem Kräutersteig kreuzte. Dieser zweite Waldweg war ein klein wenig breiter als der Distelpfad und verlief quer durch den Wald, vorbei am Ufer des Mondwassersees, bis in die Hauptstadt nach Hohenweis.

Und eben hier, an jener verlassenen Kreuzung inmitten des Waldes, stand ein hölzerner Wegweiser mit vier pfeilförmigen Schildern.

Primus hatte schon, solange er zurückdenken konnte, seine Freude an dem alten Wackelgestell. Denn jedes Mal, wenn er hier vorbeikam, drehte er dieses in eine andere Richtung. Nach Hunderten von Jahren gehörte das praktisch zu seinem Ausflugsprogramm. Daher auch in dieser Nacht. Guter Dinge gab er dem erstbesten Schild einen Klaps, der Wegweiser schnellte herum, und Primus flog gut gelaunt weiter.

Doch dann, anders als in all den vorherigen Nächten, unterbrach Primus plötzlich seinen Nachhauseweg und ein Gedanke kam in ihm hoch. Kritisch blickte er zur Waldkreuzung zurück und legte die Stirn in Falten. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Wenig später drehte er kurz entschlossen um. Er flatterte das letzte Stück zurück, segelte einmal flink um den Wegweiser herum und landete schließlich über diesem auf einem Baum. Von dort aus schaute er auf die vier Schilder hinunter.

Sie waren allesamt verwittert und fingerdick mit Moos überzogen. Dennoch konnte Primus die Inschriften noch immer gut lesen: Klettenheim hieß es auf dem ersten Schild, welches nach der heutigen Drehung mitten ins Gebüsch wies. Der Reihe nach folgten Hohenweis, die Nebelfelder und schließlich auch das Schild mit der Inschrift Westliche Sümpfe. Ganz wie es der Zufall wollte, zeigte es geradewegs auf einen Baum mit einem gefährlich aussehenden Wespennest.

»Na, das passt ja«, murmelte Primus.

Er wandte den Kopf und schaute zur Seite. Ganz gleich, wo der Wegweiser gerade hindeutete, Primus wusste genau, in welcher Richtung die sagenumwobenen Sümpfe liegen mussten. Klettenheim befand sich im Norden und die Nebelfelder im Süden. Folglich war es der Kräutersteig, der dorthin führte, oder wie dieser Pfad im weiteren Verlauf auch immer heißen mochte. Für Primus war es nicht weiter verwunderlich, dass er selbst noch nie auf die Idee gekommen war, in diese Richtung zu fliegen. Der Pfad war hier mit Büschen fast vollständig zugewachsen und kaum zu erkennen. Im Vorbeifliegen hatte er ihn nie richtig wahrgenommen. Nun aber reckte er den Hals und lugte neugierig über die Büsche nach Westen. So wie es aussah, schien sich der Wildwuchs bereits nach einem kurzen Wegstück zu legen. Der Pfad musste also begehbar sein.

Unruhig zappelte Primus mit den Flügeln. Nach der Geschichte der alten Großmutter verspürte er natürlich sehr große Lust, die Sümpfe auf der Stelle gründlich zu erforschen. Wer weiß, was sich dort noch so alles verbarg?! Sprechende Blätter und schwarze Hütten …? Ja, möglicherweise sogar noch andere Dinge.

Er überlegte. Wie groß waren diese Sümpfe eigentlich? Wo im Wald fingen sie an und wo hörten sie auf? Er wusste keine Antwort auf diese Fragen.

Erneut blickte er auf den kleinen verwunschenen Pfad. Sollte er sich wirklich heute Nacht noch ins Abenteuer stürzen und diesen erkunden? Oder wäre es nicht doch klüger, die ganze Sache erst einmal bei Tageslicht zu betrachten? Vielleicht von ganz weit oben aus der Luft. Genau! Von dort hätte er bestimmt einen prächtigen Überblick und konnte die Gegend ausloten. So wollte er es machen.

Er nickte entschlossen. Für heute zog er es vor, sich mit ein paar Büchern vor den Kamin zu setzen. Ein letztes Mal noch schaute er auf den Pfad, bevor er sich entspannt vom Ast gleiten ließ.

Aber halt! – durchzuckte es ihn. Einen Augenblick noch. Täuschte er sich oder hatte er dort hinten in der Dunkelheit etwas bemerkt? Er zwinkerte und stierte angestrengt den finsteren Weg entlang. Tatsächlich! Unweit von ihm schien sich etwas unter den Bäumen zu befinden. Etwa hundert Schritte hinter der Kreuzung. Gab es da etwa noch einen Wegweiser?

Egal, dachte sich Primus. Kaminfeuer hin, Kaminfeuer her. Was auch immer das sein mochte, dieses Ding musste er sich jetzt ansehen.

Eilig sauste er los und flog auf das seltsam anmutende Gerüst zu, das offenbar mitten auf dem Pfad stand. Mit Sicherheit konnte er schon einmal sagen, dass es aus Brettern gefertigt war und etwa die Größe eines Leiterwagens besaß. Vielleicht war es ja eine alte Marktbude der Hügelkobolde, könnte ja sein. Nur, was steht die hier mitten im Wald herum? Viel Kundschaft schien es in dieser Gegend jedenfalls nicht gerade zu geben.

Als Primus näher heranflog begriff er, worum es sich in Wirklichkeit handelte. Und in diesem Moment war er doch mehr als verblüfft.

Hier im Finsterwald, irgendwo zwischen den Bäumen wo keine Menschenseele hinkam, befand sich eine Absperrung. Zusammengenagelt und aufgerichtet, fast wie bei einer Baustelle. Primus landete auf einem Stein und sah sich das Ding mit offenem Mund an. Ein dickes Brett prangte davor, auf dem eine gepinselte Warnung stand.

»Todesgefahr«, las Primus. »Betreten der Sümpfe verboten!« Fassungslos schüttelte er den Kopf. Dann aber beugte er sich vor. Weiter unten stand noch etwas. »Gezeichnet und genehmigt – Der Stadtrat.«

Primus war doch sehr verwundert. Warum um alles in der Welt hatte man gerade hier, in dieser hinterletzten Ecke des Landes, ein Verbotsschild aufgestellt? Er blickte sich um. Die Gegend wirkte auf ihn kein bisschen gefährlicher oder ungefährlicher als der Rest des Finsterwalds. Auch der kleine Pfad schien ganz normal weiterzuführen. Sehr merkwürdig … Eine Sache jedoch fiel ihm ganz deutlich ins Auge: Denn sollte dies der Pfad zur Schwarzen Hütte sein, dann verlief dieser, anders als in der Geschichte der alten Großmutter, nicht kurvenreich und in Schlangenlinien, ganz im Gegenteil. Kerzengerade zog er sich von hier aus weiter durchs Unterholz.

Der ganzen Angelegenheit würde er nachgehen, soviel stand fest. Doch für heute hatte Primus erst einmal genug. Andernfalls würde er in dieser Nacht bestimmt nicht mehr nach Hause kommen. Jetzt, so entschloss er sich, war es wirklich Zeit für ein gemütliches Kaminfeuerchen mit anschließender Bettlektüre. Er schwang sich in die Luft und machte sich geschwind und ohne weitere Unterbrechung auf den Heimweg.

 

Es war bereits tiefste Nacht, als Primus die Nebelfelder erreichte. Die Luft war kühl und der Himmel sternenklar. Aus dem Wasser des nahe gelegenen Schneckenbachs stiegen Dunstschleier auf. Langsam glitten sie über die Felder, senkten sich ab und bildeten eine milchige Ebene, die bis zum Horizont reichte. Wie eine Insel ragte der Hügel mit dem alten Turm darauf aus dem Nebelmeer und zeichnete sich stolz vor dem Nachthimmel ab. Primus ging in den Landeanflug über. Er sauste über die kaputte Schneckenbachbrücke, flog den Weg zum Hügel hinauf und segelte durch die zerbrochene Fensterscheibe des Kaminzimmers in das Gemäuer hinein.

Sogleich nahm er seine menschliche Gestalt an und richtete sich auf. »Hallo, ich bin wieder zu Hause!«, rief er zu Bucklewhee hinauf.

»Das hat aber ganz schön lange gedauert«, schallte es von oben aus dem Dachgeschoss. »Was hat es denn heute gegeben?«

Primus setzte den Hut ab und klopfte sich den Staub von den Kleidern. »Zimtplätzchen«, antwortete er. »Man merkt richtig, dass der Herbst da ist.«

Er ging zum Kamin, dessen Asche noch immer leicht glimmte. Nach und nach legte er einige Holzscheite hinein. Dann pustete er in die Glut. »Außerdem hatten sie heute Plundergebäck und ofenfrische Nussschnecken«, rief er, »und eine wirklich verblüffende Gutenachtgeschichte gab es noch dazu.«

»Sag bloß, die hat dir der Konditor erzählt?«, kam es von oben.

»Natürlich«, lachte Primus. »Das tut er doch immer, während ich seine Torten verspeise. Ach ja, bevor ich es vergesse, schau mal her!« Er nahm das kleine Bündel und warf es in die Luft. »Ich habe dir ein paar Sesamkörner mitgebracht. Die magst du doch, oder?«

»Oh, wie schön«, trällerte Bucklewhee. »Vielen Dank auch. Sesam am Samstag, das finde ich geradezu geniös. Quasi ein Sesamstag. Deine Zeitung ist übrigens noch immer nicht gekommen«, rief er, »ich habe extra noch einmal nachgesehen.«

»Soso«, sagte Primus und ließ die Mundwinkel hängen, »diesmal lässt sich der Kesselverlag aber Zeit.« Er ging zum Fenster und blickte in den Garten hinaus.

Unter einer Eiche, direkt neben der Gartenmauer, befand sich ein strubbliger Berg aus Blättern und Zweigen. Es war ein Komposthaufen – und zwar einer der ganz besonderen Sorte. Denn dieser gehörte Snigg, dem dicken Kürbis, der üblicherweise darauf schlief oder zumeist erfolglos zwischen dem Reisig nach Essen suchte. Snigg war seines Zeichens der Gärtner des Turms, zumindest behauptete er das seit jeher steif und fest. Kaum ein anderer hätte schließlich den Komposthaufen so kunstvoll zusammenschieben und, nach seinen Worten, zu einem kuscheligen Schlafplatz verwandeln können.

Enttäuscht warf Primus einen Blick auf die Eiche. Der alte Baum war im Inneren hohl und stellte, mit einem seiner Astlöcher, das Ende der Postleitung dar. Dieses hölzerne Rohrsystem führte, mit einigen Abzweigungen, vom Turm aus unter den Nebelfeldern hindurch bis in die Hauptstadt nach Hohenweis. Eine solche Art der Wurzelrohrpost gab es im Unkrautland überall. Zweifellos eine praktische Einrichtung, wie jedermann zugeben musste. Auf diese Weise konnte man von jeder noch so abgelegenen Einöde einen zuverlässigen Schriftwechsel führen, ohne dass der Briefträger dabei verschollen ging. Und nicht zu vergessen: Sollte die Leitung irgendwann einmal verstopft sein, dann brachte sie der Kundendienst der Hügelkobolde sofort wieder in Ordnung.

Nun gehörte Primus nicht gerade zu jenen Anwohnern, die regelmäßigen Briefverkehr betrieben. Aber eine Sendung erhielt er dennoch jeden Monat. Es war der Zauberzirkel, das Magazin für Alchemie und Zauberkünste schlechthin. Primus freute sich jedes Mal riesig über die neueste Ausgabe und konnte es kaum erwarten, bis endlich die nächste eintraf. Diesen Monat aber ließ die Lieferung bereits seit Tagen auf sich warten.

Er wechselte seine Gestalt und flatterte vom Kaminzimmer ins Dachgeschoss hinauf. Dort stellte er sich erneut auf die Beine. »Na, das ist wieder mal typisch«, schimpfte er. »Wie könnte es auch anders sein. Raus mit dir aus meinem Bett, aber sofort!«

Zwischen den rot karierten Kissen von Primus’ riesigem Eichenbett hockte Bucklewhee. Kopfschüttelnd saß das kleine Hühnergerippe da und schmökerte interessiert in einem der Bücher.

Er hob den Schnabel und schaute Primus voll Erstaunen an. »Hast du gewusst, dass es Sonnenuhren gibt, die nachgehen?«, fragte er verblüfft.

»Bitte was?«

»Na, das steht hier«, sagte Bucklewhee und deutete mit dem Flügelknochen auf das Buch. »Pass mal auf, ich zitiere: Durch die Umstellung von Winter- auf Sommerzeit gehen alle Sonnenuhren landesweit um sage und schreibe eine Stunde nach.« Er grunzte überlegen. »Da sieht man es wieder«, schnappte er und wackelte mit dem Kopf. »An dieser Stelle darf ich bemerken, und, sofern du gestattest, möchte ich das mit allergrößtem Nachdruck bekunden: Es geht doch nichts über eine klassisch präzise Pendeluhr, sofern man sie richtig in Schuss hält.«

Primus rutschte zu Bucklewhee auf das Bett und las den Artikel.

Sogleich streckte Bucklewhee sein Hühnerbrüstchen raus. »Des Weiteren möchte ich anführen«, sagte er mit selbstbewusster Miene, »dass meine tiefgreifende Erfahrung in Sachen pünktliche Zeitansage den Tagesablauf eines zivilisierten Haushalts krisenfest sichert und das fortwährend bei Tag und bei Nacht. Mit Technik«, verkündete er tänzelnd, »und nicht etwa mit Sonnenschein.« Er deutete mit dem Flügel zur Decke. »Denn in der Nacht«, rief er feierlich, »scheint keine Sonne!«

Nach diesem Vortrag herrschte Stille.

»Das ist mir auch schon mal aufgefallen«, murmelte Primus. Er legte sich auf den Bauch und blätterte durch die Seiten.

Unterdessen wies Bucklewhee auf ein Bild hin, auf dem ein steinerner Pfeiler zu sehen war. »Dieses Ding hier zum Beispiel«, sagte er, »geht erst wieder richtig, wenn wir November haben.«

»Dann muss man es halt zwischenzeitlich woanders aufbauen«, meinte Primus.

»Na, das stellst du dir so einfach vor«, gackerte Bucklewhee. »Schlepp du einmal diesen Pfeiler hier durchs Land.«

Nach diesen Worten beugten sich die beiden über das Buch. Lautstark wurde jetzt argumentiert und geplappert. Ideen wurden ausgetüftelt, wie sie haarsträubender nicht hätten sein können. Über Apparaturen aus unzähligen Brettern und Latten, die man möglicherweise aus Teilen des alten Turms hätte herstellen können. Und natürlich, wie so oft, ging die ganze Diskussion auch heute schon bald in eine sinnlose Blödelei über. Zum Schluss gab es wieder einmal nichts weiter als kreischendes Gelächter, das bis zum Waldrand erschallte.

Lachend und mit Tränen in den Augen lag Primus im Bett. So einen Spaß hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Und auch Bucklewhee rollte auf dem Kopfkissen hin und her, wobei er sich japsend seine Rippen hielt. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich die beiden wieder beruhigt hatten.

Schließlich trottete Bucklewhee aus dem Bett. Er schnappte sich das Bündel mit den Körnern und sprang rüber zum Scherengitter, das aus der Standuhr ragte. Dort setzte er sich vorne auf die Vogelstange. Sofort klappte das Metallgitter ein. In Windeseile verschwand der Gockel hinter der kleinen Klappe am Uhrenkasten, bevor aus dem Inneren eifriges Körnerpicken ertönte.

Unterdessen rückte Primus die Bücher beiseite. Auf dem Bett konnte man sich vor lauter Lesestoff ja kaum noch richtig ausstrecken. Er schwang sich aus den Federn und fing an, die Wälzer neben dem Bett auf dem Fußboden zu stapeln. Da waren Bücher über Erdbewegungen, Bücher über Steilhänge und Gletscher sowie zahlreiche Werke voller Märchen und Legenden der Bergwelt. Sie alle hatte Primus im Keller gefunden, in dem versteckten Raum hinter den Weinfässern. Er hatte sich seit Monaten mit nichts anderem mehr beschäftigt, als mit den Geheimnissen des südlich gelegenen Gebirges.

Dabei interessierte ihn eine Sache ganz besonders: Primus suchte nach einem Weg. Nach einem Weg hinauf zu den schwer zugänglichen Gipfeln der Schwefelzinnen. Irgendwo dort oben, so vermutete er, lagen die Ruinen einer Festung. Ganz sicher war er sich dabei zwar nicht, doch wenn dem so wäre, hoffte er, dann steckte dort möglicherweise der Schlüssel zu all den Geheimnissen, die das Unkrautland barg.

das