Cover

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Prolog

Von Bildern im Pfeifenrauch

Hexenware und alter Krempel

Ein Stock in der Erde

Das alte Gemälde

Ein leises Flüstern

Verdächtiger Besuch

Vom Kringeltantchen

Alte Legenden

In der Geisterwarte

Losch und Lumes

Geister, Elfen, dunkles Wasser

Neues vom Zauberzirkel

Prolog

 

 

Lange vergessen waren die Verse von einem Baum, von einem Licht und von rätselhaften Inseln.

 

 

 

So lauschet still der alten Mär,

von fremden Orten, lange her,

vom Reich, worin die Bäche münden

und das schwerlich ist zu finden.

 

Einst war es, dass ein Mägdelein,

versteckt bei blassem Mondenschein,

im Inselreich am Fenster stand

und wartend sah zum festen Land.

Die Nacht war klar, nichts regte sich,

verheißungsvoll und wunderlich.

 

Ergriffen trat das Mägdlein vor

und sah zum Firmament empor.

Wo fern am großen Himmelsdom,

die Sterne nahmen Position.

Das Herz ihr schlug, die Augen weit,

kein Zweifel mehr, jetzt war die Zeit.

 

Und siehe da, ein Licht erschien,

gar bläulich hell, so wunderschön.

Das magisch einen Baum umgab,

umringt von sieben Mädchen, zart.

Sie standen still unter der Linde,

hielten sich beherzt die Hände.

 

Die Haare lang, die Kleidchen weiß,

mit bloßen Füßen, stets im Kreis,

verweilten sie im Lichte blau,

bis von den Zweigen tropfte Tau.

Ein Regen, klar wie Sternenlicht,

fiel auf der Mädchen Angesicht.

 

Und lieblicher als ehedem,

ihr Antlitz nun ward anzuseh’n.

Ein leises Sprüchlein, hörbar kaum,

drang übers Wasser. Nur ein Traum?

Da schwand das Licht, in dunkler Nacht,

die Zeit war um, es war vollbracht.

 

Das Mädchen hoch im Kämmerlein,

seufzt leise auf zum Mondenschein:

»Hach, könnte ich doch sein wie sie,

für immer Kind, alt würd’ ich nie.

Und könnt’ auch ich bei ihnen steh’n,

im Kreis der Elfen, das wär’ schön.«

____

 

So ging das Jahr, der Frost zog auf,

und Unheil trat an seinen Lauf.

Denn bald schon kam herbei der Tag,

als flüsternd jemand Ratschlag gab.

Und ihr gar trügerisch verriet,

worin der Elfen Zauber liegt.

 

Da war das Mägdlein wie entfacht,

in Sehnsucht nach der einen Nacht.

Sie schlich hinaus, verbarg sich fein,

bis endlich kam der blaue Schein.

Und als der Tau fiel auf das Land,

lief sie herbei mit off’ner Hand.

 

Die Elfen vor Entsetzen schrien,

bleich vor Angst, bereit zu fliehen.

Sie riefen laut und inniglich:

»Oh, Mädchen, trink das Wasser nicht!«

Zu spät! Das Licht erlosch im Nu.

Zu Furcht kam Wehgeschrei hinzu.

 

Als aus der Finsternis hervor

ein Schrecken trat wie nie zuvor.

Von dunklen Kräften, mächtig, groß,

der Schaum ihm von den Lefzen floss.

Und schauderhaft das Brüllen klang,

bevor er auf die Inseln sprang.

 

Die alten Mauern, dick und schwer,

zerbarsten, stürzten tief ins Meer.

Es brachen Brücken, Türme wankten,

bebend unter seinen Pranken.

Erst im Schein der Sonne pur

verschwand das Tier, gar ohne Spur.

 

Es schläft, so sagen es die Sterne,

auf den Inseln, in der Ferne.

Wo nur noch die Person verweilt,

die einst dem Kind hat Rat erteilt.

Doch selbst die Sterne wissen nicht,

was noch fand statt, im blauen Licht.

____

 

Und wo das Mägdlein war verblieben,

stand nie im Sternenglanz geschrieben.

Von Bildern im Pfeifenrauch

 

 

Es geschah in den alten Tagen, in einem längst vergangenen Sommer vor sehr langer Zeit. Ein warmer Lufthauch strich durch das Land und ließ den Wetterhahn auf dem Dach der Dorfschule tänzeln. Hin und her drehte er sich im Schein der Mittagssonne. Mit leisem Quietschen von links nach rechts und wieder zurück. Kurz darauf wurde er langsamer. Er blieb stehen, und das Geräusch verstummte. Zumindest so lange, bis der nächste Lufthauch kam. Dann ging das Quietschen wieder von vorn los. Sonst aber regte sich nichts in der drückenden Hitze. Es war absolut still … damals, im Juli des Jahres 579 (nach Zeitrechnung des Unkrautlands).

Vieles hatte es seinerzeit nicht gegeben, erzählte man sich in den kommenden Jahrhunderten. Und vieles war anders gewesen. Etwa die Minen der Hügelkobolde. Sie hatten sich noch nicht so geräumig präsentiert, und ihre weit verzweigten Stollen hatten auch noch nicht bis unter die Hauptstadt geführt. Wahrlich, alles war ein wenig kleiner gewesen, und das Leben im Unkrautland war langsamer verlaufen.

Von Klettenheim, dem verschlafenen Weiler am Nordrand des Finsterwaldes, war damals noch fast nichts zu sehen. Gerade einmal acht kleine Häuser zählte das Dörfchen, und die Klettenheimer waren mächtig stolz auf dieses Ergebnis. Als Kreisstadt bezeichneten sie ihr winziges Dorf oder gar als Kulturzentrum. Welch eine Anmaßung. Dabei kam die besagte Anzahl der Häuser einzig und allein dadurch zustande, dass man den Hühnerstall und das verlassene Wespennest gleich neben dem Ortseingang dazurechnete. Aber um ehrlich zu sein, in Klettenheim gab es um diese Zeit überhaupt nichts, was erwähnenswert gewesen wäre. Selbst die Kirche mit dem spitzen Turm sollte erst in den kommenden Jahren errichtet werden. Und von einer schummrig leuchtenden Straßenlaterne oder einer duftenden Konditorei hatte man in Klettenheim noch nicht einmal zu träumen gewagt.

Anders war es dagegen in Krötenfels, einem verwinkelten Fachwerkdorf nordwestlich der Hauptstadt Hohenweis. Der beschauliche Ort mit seinen sechs Dutzend Häusern lag in geringer Entfernung zur Stadtmauer von Hohenweis und besaß in diesen frühen Jahren sogar schon ein Rathaus. Da konnte nicht jedes Dorf mithalten, gar keine Frage. Und das war bei Weitem nicht alles. Es sollte noch besser kommen. Denn abgesehen vom Rathaus mitsamt dem alten Nachtwächter, verfügte Krötenfels auch über einen Marktplatz. Es gab dort mehrere Läden, ein Wirtshaus mit Herberge und als Krönung sogar eine Schule. Das war nun wirklich etwas Außergewöhnliches. Besonders, weil es sich bei dieser Schule um eine Grundschule der staatlichen Alchemisten und Hexengilde handelte. Das war ein Qualitätssiegel, das sich durchaus sehen lassen konnte. Von nahezu allen Höfen der näheren Umgebung kamen die Kinder hierher, um sich später einmal an der ehrwürdigen Akademie der Hauptstadt bewerben zu können oder um, nach einer erfolgreichen Ausbildung, ihr eigenes Geschäft zu eröffnen.

Und genau dort in Krötenfels, auf dem Dach der kleinen Dorfschule, brütete nun der rostige Wetterhahn in der Hitze der Mittagssonne.

Da ertönte plötzlich ein Klingeln. Die Schulglocke fing an zu läuten, und mit der angenehmen Ruhe, die kurz zuvor noch geherrscht hatte, war es erst einmal vorbei. Schlagartig setzte reges Geplapper ein, das durch die Fenster der Klassenzimmer nach außen drang. Es wurde geredet und geträllert. Türen wurden zugeknallt, und in den Gängen des Schulhauses breitete sich nach allen Seiten das Tappen von Schritten aus. Die letzte Stunde würde gleich beginnen, und bald wäre der Unterricht für heute vorüber.

Das galt natürlich auch für die vierte Klasse, ganz hinten am Ende des Korridors. Dort stand für die kleinen Hexen und Alchemisten lediglich noch das Fach Kräuterlehre auf dem Programm, bevor es für alle nach draußen ins Freie gehen sollte.

Schnell füllten die Kleinen ein letztes Mal ihre Tintengläser auf. Sie zückten die Schreibfedern, breiteten die Pergamentrollen aus und legten die Lehrbücher auf die Tische. Dann blieben sie sitzen. Der Einzige, der jetzt noch fehlte, so stellten sie fest, war der Lehrer.

Es war ein sehr kleines Klassenzimmer mit gerade einmal zehn altertümlichen Schulbänken und einem Lehrerpult. Dieses war schmal und überaus hoch, weshalb es an der Rückseite zusätzlich noch mit ein paar hölzernen Stufen versehen war. Gleich daneben befand sich die Tafel. Zudem gab es noch einen wurmstichigen Schrank, zahlreiche Bilder von Kräutern und Giftpflanzen an den Wänden sowie ein komplexes mechanisches Gerät zum Erklären der Himmelskörper. Alles in allem ein ganz gewöhnliches Klassenzimmer für die vierte Jahrgangsstufe. Gar nichts Besonderes. Und in diesem harrten die Kinder geduldig aus und warteten auf Meister Silbertiegel.

Wenig später näherten sich auch schon Schritte.

Knarzend bogen sich die Dielen im Gang, bevor kurz darauf die Tür aufging. Ein bärtiger Kobold mit kugelrundem Bäuchlein und glänzender Halbglatze betrat das Klassenzimmer. Dieser war so klein, dass ihn viele der Schüler zunächst gar nicht bemerkten. Meister Silbertiegel kannte das schon seit Jahren. Daran ließ sich leider nichts ändern.

Würdevoll richtete er sich auf. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte seine knorrige Nase in die Höhe und stieß ein Räuspern aus. Na also, jetzt hatten ihn auch die Kinder in den hinteren Reihen wahrgenommen. Das Gebrabbel im Raum verstummte, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Zufrieden schloss Silbertiegel die Tür. Er verzog das Gesicht zu einer möglichst strengen Miene und stolzierte mit erhobenem Kinn durch den Raum. Meister Silbertiegel hielt sich schließlich für eine Respektsperson.

Allerdings sahen das nicht alle so.

»Der Alte schreibt bestimmt eine Prüfung«, flüsterte ein Junge in der ersten Reihe. »Das bemerke ich schon an seinem komischen Gang.«

Der Kobold fuhr herum. »Wie war das?«

Blitzschnell streckte Silbertiegel den Finger aus und deutete auf den Jungen.

»Was hast du gesagt?«

Seine Stimme klang irgendwie verschnupft. Beinahe so, als würde er sich die Nase zuhalten.

»Gar nichts«, erwiderte der Junge. »Ihr habt Euch getäuscht.«

»Ich hab’s genau gehört.«

Silbertiegel legte den Kopf zur Seite und zog die Augen zu zwei Schlitzen zusammen.

»Wie ist dein Name?«

Der Junge zuckte mit den Schultern.

»Aber das wisst Ihr doch«, entgegnete er. »Ich bin seit vier Jahren in Eurer Klasse.«

»Aha«, sagte der Kobold und winkte ab. »Na gut. Äh, ich meine. Na dann. Ich, äh …«

Und er stolzierte weiter. Der gute Meister Silbertiegel war immer leicht aus dem Konzept zu bringen. Das wusste mittlerweile jeder.

Er ging auf das Lehrerpult zu, kletterte die Stufen empor und glättete seinen Bart. Dann spitzte er die Lippen.

»Seid gegrüßt«, verkündete er.

Das Echo folgte sofort.

»GUUU-TEN MOOOR-GEN MEIIIS-TER SIL-BER-TIIIIE-GEL«, schallte es im Chor, wenngleich es auch schon nach Mittag war.

Silbertiegel nickte. Ein hastiges Grinsen überflog sein Gesicht, worauf der Kobold schnell seine Brille aufsetzte. Anschließend ging es los.

»Wir haben in der letzten Stunde über die Wurzeln der Schattendistel gesprochen«, drang es nasal vom Pult herunter. »Ist euch dieses Gewächs denn gut in Erinnerung geblieben?«

»JAAAAAA«, tönte die Klasse.

»Schön«, frohlockte Silbertiegel, »das erquicket mich gar sehr. Dann bin ich mir sicher, dass sich meine Schüler bestens mit der Wirkung dieser Wurzeln auskennen.«

Der Junge von vorhin beugte sich zu seinem Banknachbarn hinüber.

»Siehst du?«, flüsterte er. »Ich habe dir doch gesagt, dass er eine Prüfung schreibt.«

Silbertiegel lugte über seine Brillengläser.

»Und ich bin mir auch sicher«, fuhr er fort, »dass ihr mir schriftlich einige Fragen beantworten könnt, sobald ich euch die Pflanzen zeige.«

Bei diesen Worten hielt Silbertiegel einen Schlüssel in die Höhe. Er zuckte mit einer Augenbraue, wobei er gleichzeitig auf den Schrank verwies, der an der Wand gleich neben der Tafel stand. Darin lagerte bekanntlich das Unterrichtsmaterial für die einzelnen Schulfächer. Und natürlich waren darin auch die Töpfe mit den Gift- und Zauberkräutern eingeschlossen.

Mit einem Mal wurde es mucksmäuschenstill in der Klasse. Die Schüler hielten den Atem an, und jeder biss sich auf die Lippen. Tatsächlich, so ging es den Kindern durch die Köpfe, jetzt war es eindeutig: Meister Silbertiegel plante eine Klassenarbeit.

Flugs ließ er den Schlüssel wieder in seiner Tasche verschwinden. Er lupfte die Robe und stieg die Stufen vom Podest herunter. Unten angekommen begann er, den Raum für die anstehende Prüfung vorzubereiten. Das ging sehr schnell, und das tat er jedes Mal. Nie und nimmer hätte Meister Silbertiegel es sich nachsagen lassen, dass man bei ihm während einer Prüfung hätte abschreiben können. Nein, nicht bei ihm.

Mit rücklings verschränkten Händen schlenderte der Kobold durch die Bankreihen und sorgte für die nötige Ordnung.

»Hier rutschen wir einmal ein wenig auseinander«, säuselte er. »Und auch dort drüben. Ein wenig mehr Abstand, wenn ich bitten darf. Was ist das hier für ein Zettel, hm? Weg damit, aber sofort.«

So ging es von einer Schulbank zur nächsten. Bei einem schlanken Jungen mit kurz geschnittenen blonden Haaren blieb er stehen.

Der Knabe schien sich dem Ernst der Lage offensichtlich überhaupt nicht bewusst zu sein. Gänzlich unbeteiligt und mit aufgestütztem Kinn ließ der Junge seinen Federkiel schweben und drehte ihn dabei in der Luft. Hier musste Silbertiegel einschreiten.

»Schau an, schau an«, sagte er und nickte, »das ist ja typisch. Der werte Herr Ulme hat natürlich wieder einmal etwas Besseres zu tun.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Diesen Zauber-Hokuspokus lassen wir jetzt aber schön bleiben, ja? Wir haben schließlich Kräuterlehre.«

Der blonde Junge blickte auf.

»Oh, ich bitte um Verzeihung«, entgegnete er ruhig. »Tut mir leid. Ich war nur gerade noch so vertieft in das Thema der vorherigen Stunde.«

»Sehr lobenswert, Magnus«, näselte Silbertiegel, während er sich durch den Bart fuhr. »In der Tat, sehr lobenswert. Aber mit Kräutern und Wurzeln hat diese Wissenschaft rein gar nichts zu tun. Mein Thema ist schließlich auch interessant, möchte ich meinen.«

Schnell hob Silbertiegel die Hand. »Nein, äh, ich muss mich verbessern«, warf er ein. »Mein Thema ist sogar noch viel interessanter. Also Schluss mit der Spielerei und gut zuhören.«

Er klatschte in die Hände.

»Das gilt übrigens für alle«, rief er, wobei er in seine Tasche griff. »Schreiten wir zur Tat. Ich werde euch jetzt gleich einige Pflanzen zeigen, und ihr schreibt mir auf, welche Wirkung …«

Silbertiegel verstummte. Überrascht runzelte er die Stirn und wühlte in der Tasche. Anschließend sah er auf den Boden.

»Wo ist denn mein Schlüssel?«

Er bückte sich und schaute unter die Schulbänke. Nichts zu sehen. Da hörte sich doch alles auf.

Verdutzt wandte er sich an ein kleines Mädchen, das an der Bank gleich neben Magnus Ulme saß.

»Smill«, fragte er, »sag mal, liegt hier vielleicht irgendwo mein Schlüssel herum?«

Die kleine Smill hieß eigentlich Esmilana. Sie war ausgesprochen hübsch, hatte langes silbriges Haar und grüne Augen. Für gewöhnlich wirkte das zarte Mädchen immerzu ein wenig unsicher, ja beinahe ängstlich. Aber wahrscheinlich war sie mit ihren neun Jahren einfach noch viel zu klein für die vierte Klasse.

Das war jedenfalls die Meinung, die die Lehrer vertraten. In Wahrheit aber, und das wusste ansonsten die ganze Schule, hatte Smill es faustdick hinter den Ohren. Das war eine Eigenschaft, die offenbar in ihrer Familie liegen musste. Denn ihre Mutter und ihre Großmutter sowie die ganze Sippschaft von Smill waren ausnahmslos aus dem gleichen Holz geschnitzt. Von ihnen war eine wie die andere. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Brav und artig legte Smill die Hände in den Schoß.

»Einen Schlüssel?«, entgegnete sie leise. »Was denn für einen Schlüssel?«

»Na, der Schlüssel für den Dings … äh, Dings … Unterrichtsschrank«, antwortete er. Meister Silbertiegel war mittlerweile wieder einmal völlig verwirrt. »Den habe ich doch gerade noch in der Hand gehalten.«

Nach allen Seiten sah er sich um.

Smill aber schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Schlüssel gesehen«, beteuerte sie mit einer sagenhaften Unschuldsmiene. »Seid Ihr Euch da auch wirklich sicher, Herr Lehrer? Vielleicht habt Ihr ihn ja gar nicht dabeigehabt. Das könnte doch sein, oder?«

Sie legte den Kopf zur Seite und klimperte mit den Wimpern.

Silbertiegel stand der Mund offen.

»Oben auf dem Pult habe ich diesen Schlüssel hervorgeholt«, beteuerte er. »Und ich habe ihn der Klasse gezeigt. Das habe ich doch nicht geträumt.«

Da riss Smill plötzlich die Augen auf.

»Stimmt!«, rief sie. »Den habe ich gesehen.«

»Wunderbar«, freute sich Silbertiegel. »Ich habe es doch gewusst.«

Doch Smill wedelte bereits mit dem Finger.

»Aber das war beim letzten Mal«, wandte sie ein. »Das war nicht heute.«

»Wie bitte?« Silbertiegel traute seinen Ohren nicht. »Was sagst du da?«

»Aber gewiss doch«, nickte Smill. »Vor genau einer Woche war das. Da habt Ihr uns einen Schlüssel gezeigt. Ich erinnere mich noch ganz genau, weil ich Euren Unterricht ja immer soooo spannend finde. Aber wo dieser Schlüssel jetzt ist?« Sie hob ratlos die Schultern. »Da kann ich Euch wirklich nicht helfen.«

Silbertiegel war sprachlos. Mit hängenden Armen stand der Kobold da und starrte ins Leere.

»Das gibt es doch nicht«, brummte er. »Wie kann denn das sein? Ich könnte schwören, dass ich vorhin … also wirklich. Ich bin doch nicht …«

Er drehte sich um.

»Ach, was soll’s«, winkte er ab. »Nicht so schlimm. Dann eben ein anderes Mal.«

Und er stieg die Stufen zum Lesepult empor.

In der Klasse breitete sich indessen spürbar Erleichterung aus. Ohne Schlüssel – keine Prüfung, hieß es für die Schüler. Das Thema hatte sich dann wohl erledigt. Was für ein Glück.

Der blonde Junge aber richtete seine Augen auf die kleine Smill. Schmunzelnd sah er sie an und schüttelte dabei seinen Kopf. Magnus Ulme wusste ganz genau, wo der gesuchte Schlüssel steckte. Und wer ihn Meister Silbertiegel aus der Tasche gezogen hatte, das wusste er auch.

Mit einem herzerweichend treuen Blick saß die kleine Smill an ihrer Schulbank. Sie lächelte Magnus Ulme zu und faltete fromm die Hände. So, als könne sie kein Wässerchen trüben.

Eine halbe Stunde später war die Schule aus.

 

Wolkenlos blau präsentierte sich der Himmel, als die Kinder aus dem Schulhaus strömten. Die Hitze lag noch immer schwer über dem Land, und von den Wiesen und Feldern breitete sich der Duft des Sommers aus.

Smill hatte ihren kleinen Lederranzen auf den Rücken geschnallt, während sie sich mit den anderen Kindern durch die hohe Eingangstür zwängte. Dieses Szenario war ohrenbetäubend und lief nahezu jeden Tag auf dieselbe Art und Weise ab. Sobald die Schulglocke geläutet hatte, ging es hier zu wie beim Schlussverkauf für Hexenbesen.

Unter lautem Gekreische wurde gedrückt, geschubst und sich gegenseitig auf die Füße getreten. Das war völlig normal. Und ganz besonders bei so einem Traumwetter wie heute wollten natürlich alle so schnell wie möglich nach draußen.

Wenig später hatte auch Smill es geschafft. Sie rannte über den Pausenhof, hastete mit wehenden Zöpfen am Schulbrunnen vorbei und steuerte schnurstracks auf den großen Torbogen zu. Dahinter erwartete sie ein sonniger und sorgenfreier Nachmittag.

Doch plötzlich wurden ihre Schritte langsamer. Sie reckte den Hals und spähte aus. In der Ecke neben dem Tor standen drei Jungen aus der Nachbarklasse.

Vorsichtig blieb sie stehen.

Das hat gerade noch gefehlt, schoss es Smill durch den Kopf. Diese Trottel hatte sie ja völlig vergessen. So verärgert, wie die drei Gesellen dreinguckten, hatten die gewiss noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen. Möglich wäre es jedenfalls. Vielleicht hatte ja die Zaubermischung, die Smill ihnen während der Pause verkauft hatte, doch nicht so gut gewirkt?

Nervös rollte Smill mit den Augen. Was sollte sie tun? Die Kerle waren schließlich zu dritt und noch dazu viel größer als sie. Klarer Fall, da musste ein Fluchtplan her und zwar hurtig.

Sie schaute sich um. Aber der Schulhof besaß nur einen Ausgang, und über die Mauer konnte sie nicht klettern. Herrje, fieberte sie, das konnte jetzt tatsächlich schwierig werden.

Doch für eine Flucht war es ohnehin schon zu spät. Mit einem wütenden Gesichtsausdruck kam der erste der drei Burschen auf sie zugeschritten.

»He, du«, sagte er und sprach dabei mit einer so unfassbaren Piepsstimme, dass Smill sich nur schwer das Lachen verkneifen konnte. »Komm doch mal her.«

Smill hielt die Luft an. Dann atmete sie einmal ganz tief durch und nahm sich zusammen. Die Mixtur für den Große-Muskeln-Zauber, die sie den drei Burschen zusammengestellt hatte, besaß offensichtlich Nebenwirkungen. Und nicht nur das. Diese Nebenwirkungen waren geradezu rekordverdächtig. Smill hätte niemals gedacht, dass ein Mensch überhaupt zu solchen Tönen fähig war. Eine Sensation! Das Rezept musste sie sich unbedingt merken.

Aber vorerst gab es Wichtigeres zu tun.

In diesem Moment musste sich Smill erst einmal aalglatt und geschäftstüchtig geben. Jetzt oder nie, dachte sie. Als zukünftige Hexe war dies praktisch die allererste Unterrichtsstunde im Fach Umgang mit extrem unzufriedenen Kunden.

Sie zwinkerte den Jungen zu.

»Worum geht es denn?«, fragte sie scheinheilig, wobei ihr unter heftigen Zuckungen beinahe die Tränen kamen.

Die Antwort folgte sofort.

»Das wirst du gleich sehen«, fiepte der Junge und ruderte mit den Armen. »Du miese kleine Hexe, du wirst jetzt dein blaues Wunder erleben.«

Wutentbrannt ging er auf Smill los. Er streckte die Hand nach ihr aus, während auch seine beiden Freunde mit hochroten Köpfen herbeigerannt kamen.

Ach du Schreck, durchzuckte es Smill, jetzt hatte sie den Salat. Bei dieser Sorte von Kunden würde offensichtlich auch kein Gutzureden mehr helfen. Jetzt hieß es für Smill Beißen und Kratzen. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Aber im Zweifelsfall konnte die Kleine das ganz ausgezeichnet.

Sie ging in Position. Selbstbewusst fletschte sie die Zähne und fuhr die Krallen aus, als die drei Burschen aus ungeklärter Ursache plötzlich stehen blieben. Respektvoll blickten sie über Smill hinweg.

Diese wandte sich um. Hinter ihr stand Magnus Ulme.

»Hallo Smill«, sagte er, »hast du wieder einmal etwas ausgefressen?«

Sie richtete sich auf. Ein wenig überrascht sah sie zu Magnus empor, der sie mehr als einen Kopf überragte. Es war ihr noch nie aufgefallen, dass er so groß war. Und gutaussehend war er auch, das musste sie sich eingestehen. Nun, dachte sie, er war ja auch schon zehn.

»Nein«, trällerte Smill, »alles in Ordnung. Könnte nicht besser laufen.«

Sie warf den drei Jungen einen flüchtigen Blick zu und hob neckisch die Augenbrauen. »Aber wenn du schon hier bist«, sagte sie zu Magnus, »ich wollte gerade zum Tor hinaus. Komm, wir gehen zusammen.«

Sie schaute ihn mit ihren großen grünen Augen an und hakte sich bei ihm ein.

Magnus nickte. »Können wir machen«, sagte er. »Meinetwegen.«

Die anderen Jungen standen unterdessen wie begossene Pudel im Hof und sahen ihnen nach.

»He«, fiepte der größere der drei, »und was soll jetzt aus uns werden?«

»Ein Schluck Seifenlauge wird helfen«, rief Magnus über seine Schulter. »Schmeckt zwar grässlich, aber dann kommt die alte Stimme wieder zurück.« Und er fügte hinzu: »Irgendwann zumindest.«

Das waren ja Aussichten.

»Moment mal«, riefen die Jungen. »Woher willst du denn das wissen?«

»Weiß ich eben«, kam es als Antwort.

Er lächelte und ging mit der kleinen Smill zum Schultor hinaus.

 

In der warmen Sommerluft spazierten die beiden Kinder durch die Gassen von Krötenfels. Es war mittlerweile schon weit nach Mittag, und über den Dächern der Häuser lachte die Sonne. Magnus hatte seine weiße Schülermütze tief ins Gesicht gezogen, während er mit beiden Händen die Träger seines Schulranzens festhielt.

Aufmerksam sah er sich um. Er blinzelte unter der Schirmmütze hervor und betrachtete den Weg, der zwischen den Fachwerkhäusern hindurchführte. Das kleine Örtchen hatte seinen Namen wahrlich zu Recht verdient, wie Magnus wieder einmal feststellen musste. Aus allen Häuserwinkeln, Kelleröffnungen oder Mauernischen guckten dicke Kröten hervor, und ständig sprangen ihm diese Viecher genau vor die Füße. Er und Smill mussten mächtig aufpassen, dass sie nicht stolperten oder versehentlich auf einer der Kröten ausrutschten.

Da! In diesem Moment kam auch schon die nächste herbeigehüpft.

Magnus hob die Arme, machte einen großen Schritt und balancierte über die Kröte hinweg. Das wäre geschafft. Er gab ein Brummen von sich und sah zu Smill hinunter.

»Eure Lieblingstiere springen aber auch bei jedem Wetter hier herum«, sagte er. »Sogar bei dieser Hitze. Das hätte ich gar nicht gedacht.«

Entrüstet schaute Smill ihn an. »Was heißt hier Lieblingstiere?«, protestierte sie. »Ich habe mit Kröten überhaupt nichts am Hut.«

»Echt?« Magnus gab sich skeptisch. »Das kann ja gar nicht sein, oder?«

»Doch«, bekräftigte sie.

Er schob die Unterlippe vor.

»Glaube ich nicht.«

»Aber, wenn ich es dir doch sage«, rief Smill. »Ganz im Gegenteil. Ich kann diese glibberigen Klöße überhaupt nicht leiden.«

Sie streckte ihre Zunge heraus und schüttelte sich.

»Bäh«, schlotterte sie. »Kröten sind ja sowas von eklig. Und nicht nur das. Die haben auch Warzen«, rief sie. »Genau, eklige, hässliche Warzen … und stinken tun sie auch. Pfui, Spinne.«

»Aber ich dachte, du willst einmal eine Hexe werden«, entgegnete Magnus.

»Natürlich«, kam es entschlossen zurück. »Und das werde ich auch. Das wirst du schon sehen. Ich werde sogar eine große Hexe.«

»Na also«, bemerkte Magnus. »Dann brauchst du auch eine große Kröte.«

»Warum?«, blaffte Smill. »Wie kommst du denn auf so einen Unsinn?«

Er breitete die Arme aus. »Große Hexe, große Kröte«, erwiderte er. »Das gehört sich nun mal so. Jede anständige Hexe hat eine Kröte zu Hause. Zumindest haben wir das so in der Schule gelernt. Ist für Hexen praktisch eine Standardausrüstung.«

Das sah die kleine Smill jedoch anders.

»Ja, aber das stimmt nicht«, rief sie und lief mit aufgerissenen Augen neben ihm her. »Vollkommener Blödsinn. Meine Mutter ist schließlich auch eine Hexe. Und zwar eine ziemlich gute. Das kannst du mir glauben. Und bei uns zu Hause gibt es keine Kröten.«

»Wirklich nicht?«

»Nein«, keifte sie. »Und wenn ich später einmal Kinder habe, dann kriegen die auch keine Kröten. Das verbiete ich nämlich.«

Sie deutete auf zwei besonders dicke Exemplare, die wie zwei faule Landstreicher in einer Ecke lungerten.

»Da«, sagte sie, »schau doch mal hin. So eine Plage hole ich mir doch nicht ins Zimmer. Mit denen hat man bloß Ärger. Das letzte Mal haben die mir sogar die Zunge herausgestreckt, als ich vorbeigegangen bin. Das muss man sich mal vorstellen.«

Magnus lenkte ein. »Und bei dir zu Hause gibt es wirklich keine Kröten?«, fragte er. »Ehrlich nicht?«

»Äh-äh«, verneinte die Kleine und schüttelte dabei den Kopf, dass ihre Zöpfe wirbelten. »Keine Kröten. Weder meine Mutter hat eine, noch meine Großmutter. Ja, nicht einmal das Kringeltantchen hat so ein Getier. Keine Spur von Kröten. Da haben die uns in der Schule etwas völlig Falsches beigebracht.«

Erstaunt sah Magnus zu Smill.

»Was für ein Tantchen?«, wollte er wissen und zog die Nase kraus.

»Mein Kringeltantchen«, wiederholte Smill. »Die hat auch keine Kröte. Und das will etwas heißen.«

»Aha«, brummte Magnus, »dein Kringeltantchen hat also auch keine Kröte. Was, um alles in der Welt, ist denn ein Kringeltantchen?«

»So eine blöde Frage«, schnaufte Smill, »was könnte das wohl sein?!«

»Pfft«, pustete er, »keine Ahnung.«

»Aber das ist doch klar«, erklärte Smill. » Das ist eben eine Tante, die Kringel macht. So einfach ist das.«

Doch damit gab sich Magnus nicht zufrieden.

»Und was sind das für Kringel?«, hakte er nach. »Knabbert man die zum Tee?«

»Nein«, sagte Smill, »das sind Rauchkringel.«

»Bitte was?«

»Pfei-fen-rauch«, betonte Smill.

Sie eilte voraus, drehte sich um und lief rückwärts vor Magnus her.

»Du weißt schon«, verdeutlichte sie, wobei sie mit ausgestreckten Armen Kreise in der Luft formte. »Rauchkringel eben. So dampfende Ringe, die aus einer Tabakspfeife herauskommen.«

»Qualmende, alte Hexen«, schmunzelte er. »Das wird ja immer besser.«

»Ja, ganz gewiss«, rief Smill. »Das sind nämlich ganz tolle Kringel, die meine Tante da macht.«

»Aha«, sagte er, »wer’s glaubt. Was soll denn an einem Rauchkringel toll sein, hm?«

»Das kann ich dir sagen«, konterte sie. »Mit denen kann man in die Vergangenheit schauen.«

»Wie?« Erstaunt merkte Magnus auf. »Deine … äh, dein Kringeltantchen kann in die Vergangenheit schauen? Du machst Witze, oder?«

Mit diesen Worten verlangsamten sich seine Schritte.

»Nein, gar nicht«, rief Smill. »Das macht sie ständig. Das ist sogar richtig lustig.«

»Wieso ist das lustig?«

»Na, weil man da zum Beispiel sehen kann, was sie früher einmal alles angestellt hat«, erklärte Smill. »Und mein Tantchen sieht sich diese Sachen ständig an. Das ist wirklich zum Totlachen.«

Sie wippte mit dem Fuß, hob den Zeigefinger und tippte Magnus auf die Nase.

»Jetzt sage ich dir einmal etwas, mein Lieber«, fing sie an. »Gegen das, was unsere Eltern früher ausgefressen haben, sind wir heute richtig anständig«, knurrte sie. »Die Erwachsenen tun nämlich immer bloß so, als wären wir heute so schlecht erzogen. Aber das ist Humbug. Die Großen waren mindestens genauso schlimm, wenn nicht noch schlimmer. In den Rauchkringeln kommt das nämlich alles heraus. Hähä, da sieht man das ganz deutlich.«

Dann zuckte Smill mit den Schultern.

»Mein Tantchen mag es bloß nicht so gerne, wenn man ihr dabei zusieht«, sagte sie.

»Nicht?«

»Nö«, murrte Smill. »Ist ihr irgendwie peinlich.«

Doch schon im nächsten Moment fügte sie mit einem breiten Grinsen hinzu:

»Mache ich aber trotzdem, hihi.«

Sie schwang die Beine und drehte sich im Kreis.

Magnus blieb stehen. Fassungslos betrachtete er Smill und verschränkte die Arme.

»Jetzt mal langsam«, sagte er. »Ich komme da noch nicht so ganz mit. Deine Tante kann also Bilder aus der Vergangenheit auftauchen lassen? Habe ich das richtig verstanden?«

»Mhm.« Smill nickte.

»Und wie macht sie das?« Magnus kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

»Oh, das ist ganz leicht«, antwortete sie, »überhaupt kein Problem. Meine Tante stopft sich einfach ihre Pfeife, denkt an etwas, das sie gerne sehen würde, und bläst dann einen Rauchkringel.«

Das war Magnus zu wenig.

»Ja, und dann?«, drängte er. »Was ist dann?«

»Wenn man in diesen Kringel hineinblickt«, fuhr Smill fort, »dann sieht man die Szene, die man sich gewünscht hat, deutlich vor sich. Das ist genau wie bei einem Bild. Nur, dass es sich bewegt.«

Magnus war überwältigt.

»Ist nicht wahr.«

»Doch«, sagte Smill, »ist es. Ein absoluter Wahnsinnszauber, echt. Das geht natürlich nur so lange, wie der Kringel in der Luft bleibt. Sobald er sich aufgelöst hat, ist alles wieder verschwunden. Aber dann pustet man sich eben schnell einen neuen. Das kann man machen, so lange man Lust hat.«

Plötzlich richtete Smill sich auf.

»Du«, sagte sie und schaute Magnus entschlossen in die Augen, »willst du das vielleicht mal sehen?«

»Hä?«

»Na klar«, rief sie und nahm ihn bei der Hand. »Das ist doch die Idee. Komm einfach mit. Ich wohne gleich dort drüben. Kringeltantchen sitzt mittags immer auf der kleinen Bank, draußen auf dem Feld. Wenn wir uns beeilen und Glück haben, ist sie noch da. Dann können wir ihr dabei zusehen.« Sie winkte ab. »Ach was«, fügte Smill lachend hinzu. »So, wie ich mein Kringeltantchen kenne, ist die bestimmt noch da. Jetzt komm schon.«

»Gut«, freute sich Magnus und rannte ihr hinterher. »Da bin ich aber gespannt.«

»Wir müssen nur leise sein und uns anschleichen«, rief Smill, während sie mit wehendem Rock die Straße entlanglief. »Wenn Kringeltantchen was merkt, wird sie wütend. Dann müssen wir abhauen.«

»Alles klar«, sagte er. »Ich bin schon vorsichtig.«

Und sie verschwanden in den Straßen.

 

Es dauerte nicht lange, bis Magnus und Smill den Dorfrand von Krötenfels erreicht hatten. Von der Sonne geblendet ließen sie die Fachwerkhäuser hinter sich und traten ins Freie. Zu allen Seiten breiteten sich grüne Wiesen aus, und nur noch vereinzelt erblickten die beiden ein Anwesen oder ein altes Gehöft.

Begleitet von zahlreichen Libellen ging es dahin. Das kleine Mädchen kannte die Strecke zu sich nach Hause natürlich ganz genau. Und als zukünftige verwegene Hexe kannte sie selbstverständlich auch die besten Abkürzungen. Die beiden sprangen über einen Bach, kletterten über Mauern und Holzzäune und rannten wie die Wilden durch die Grundstücke laut schimpfender Nachbarn. Für Smill schien das alles nichts Neues zu sein, und Magnus hatte einen Riesenspaß dabei. Wenige Minuten später kamen sie endlich im Garten von Smills Eltern an.

Es war ein verwunschenes Gärtchen, voll mit Beeten, Blumentöpfen und Sträuchern. Unter einer Gruppe von Kiefern stand ein schmales Haus. Es war mit Schindeln gedeckt, von Efeu überwachsen und mit einem langen dünnen Schornstein versehen.

Verzaubert schaute Magnus sich um. Nie zuvor hatte er eine solche Idylle gesehen.

Doch dann dachte er wieder an das Kringeltantchen.

»Also«, setzte er an, »wo ist denn deine…?«

Smill wedelte mit der Hand.

»Psst«, tuschelte sie, »ich will nicht, dass meine Mutter uns hört. Die durchschaut das sofort.«

Magnus duckte sich. »Wo … ist … denn … deine … Tante?«, flüsterte er.

»Na, hör mal», zischte Smill. »Die sitzt doch nicht bei uns im Garten. Da könnte ja die ganze Nachbarschaft in die Rauchkringel sehen. Ich habe dir doch erzählt, dass sie um diese Uhrzeit immer auf dem Feld ist.«

Smill zeigte mit dem Daumen über die Schulter.

»Das Feld ist gleich da hinten«, sagte sie. »Auf der anderen Seite von unserer Hecke.«

»Hinter der Hecke da?«

Magnus starrte auf eine kurz geschnittene Sträucherhecke, die ihm bestenfalls bis zur Stirn reichte.

»Ja«, sagte sie, »dahinter ist eine große Wiese mit einem Bäumchen. Und dort ist auch eine Bank, etwa hundert Schritte von hier. Da sitzt sie immer und…«

Das letzte Wort blieb Smill im Munde stecken.

Sie riss ihre Augen auf. Dann hob sie die Nase in den Lufthauch und schnupperte.

»Riechst du das?«

Magnus nickte.

»Stinkt nach Pfeifenrauch.«

»Genau«, kicherte Smill, »ich hab’s doch gesagt. Sie ist noch hier.«

Endlich wurde es interessant. Das wollte sich Magnus nicht entgehen lassen. Neugierig hob er den Kopf und streckte sich.

Doch Smill zog ihn sofort wieder nach unten.

»Hiergeblieben«, befahl sie, »und Kopf runter. Wir müssen doch in Deckung bleiben. Wenn Kringeltantchen uns bemerkt, macht sie bloß wieder Gezeter. Dann bekommen wir am Ende gar nichts zu sehen.«

Da mochte Smill recht haben. Eine Lagebesprechung war nötig. Wie eine Diebesbande gingen die zwei Kinder in die Hocke. Sie steckten die Köpfe zusammen und bereiteten einen Schlachtplan vor. Und natürlich gab Smill dabei den Ton an.

»Jetzt pass mal auf«, instruierte sie fachmännisch, »wir machen das so: Wir legen unsere Schulranzen hier auf den Boden und kriechen unter der Hecke durch. Ich gehe zuerst, verstanden? Du kommst dann gleich hinterher.«

Magnus verkniff sich ein Grinsen.

»Sobald wir auf der anderen Seite herauskommen«, fuhr Smill fort, »erspähen wir Kringeltantchen schon von Weitem, wie sie auf ihrer Bank sitzt. Sie ist nicht zu übersehen.«

»Alles klar«, bestätigte er. »Und dann?«

»Dann schleichen wir uns von hinten an sie heran«, erklärte Smill, »und schauen ihr über die Schulter. Das ist vollkommen ungefährlich«, räumte sie ein. »So mache ich das immer. Wenn du schön leise bist, dann merkt sie auch nichts.«

»Gut«, sagte Magnus, »verstanden.«

Damit konnte das Abenteuer losgehen. Wie geplant schnallten die zwei Kinder zuerst ihre Schulranzen ab. Sie legten die Taschen dicht bei der Hecke ins Gras und machten sich auf. Magnus betrachtete ein letztes Mal die dichte Blätterhecke, bevor er auch seine Mütze abnahm. Sicher ist sicher. Am Ende würde er damit noch an einem Ast hängen bleiben oder sie würde ihm ins Gesicht rutschen. Flink legte er die Mütze auf seinen Schulranzen und stopfte sich das Hemd in die Hose. Dabei richtete er sich auf. Er streckte sich, wobei sein Blick versehentlich über die buschige Gartenhecke huschte.

Sofort riss Smill ihre Augen auf.

»Bleib bloß unten«, schnaufte sie, während sie ihn zu Boden zog. »Was machst du denn da?«

Magnus knirschte mit den Zähnen.

»Tut mir leid«, sagte er. »Das war ein Versehen.«

»Pah.« Smill verschränkte die Arme.

Dann aber zog Magnus die Stirn in Falten.

»Du«, sagte er verwundert, »das Bäumchen, von dem du vorhin gesprochen hast …«

»Ja?«, fragte Smill. »Was soll denn damit sein?«

»Das ist aber ganz schön groß«, kam es als Antwort.

»Ach, Schnickschnack«, entgegnete Smill, »das ist doch nicht groß.«

»Also, das sehe ich aber anders«, gab er zurück. »Ich finde den Baum sogar gewaltig. Und von einem See in dieser Gegend habe ich auch noch nie etwas gehört.«

Smill sah ihn verständnislos an.

»Bitte was?«

»Aber da hinten ist doch ein See«, sagte Magnus, »… ein kleiner See mit einer Insel darin. Davon habe ich ja noch gar nichts gewusst.«

»Ach, was redest du da«, wunderte sich Smill. »Da ist kein See. Wie kommst du denn auf so einen Unsinn? Nun komm schon, wir müssen los.«

Mit diesen Worten duckte sich Smill. Sie ging in die Knie und krabbelte auf allen Vieren unter der Hecke durch. Magnus kam ihr im dichten Abstand hinterher.

Knisternd und raschelnd schob er sich durch das Laub. Er zwängte sich unter störrischem Astwerk hindurch, bog die trockenen Zweige zur Seite und kam wenig später pustend und schnaufend an der anderen Seite der Hecke wieder heraus. Da stieß er mit seinem Kopf auf einmal gegen Smills Beine.

Schnell wischte er sich die Blätter aus dem Gesicht. Er spuckte den Schmutz aus und sah verwundert zu Smill empor. Das kleine Mädchen stand regungslos vor ihm im Gras und starrte geradeaus.

Magnus erhob sich. Stumm ließ auch er seinen Blick über die Felder schweifen, wobei ihm vor lauter Staunen der Mund offenstand. Da war kein Baum, stellte er fest. Und da war auch kein rauchendes Tantchen. Und von einem glitzernden See, den er vor wenigen Minuten noch gesehen hatte, fehlte auch jede Spur.

Es dauerte einen Moment, bis Magnus wieder zu Worten fand.

»Was ist hier eigentlich los?«, murmelte er.

Doch von Smill kam keine Antwort. Gedankenverloren schüttelte sie den Kopf.

Dann rannte sie schreiend los.

»KRINGELTANTCHEN«, rief sie, »WO BIST DU??? HAAAALLO!!!«

Das Mädchen lief kreuz und quer über die Wiese und blickte in alle Richtungen.

»KRINGELTAAAAANTCHEN«, schrie sie. »HALLO, ZEIG DICH!!!«

Doch es war sinnlos. Von ihrer geheimnisvollen Tante war weit und breit nichts zu sehen.

Mitten auf der Wiese blieb Smill schließlich stehen. Sie stemmte die Hände in die Hüften, warf Magnus einen entschlossenen Blick zu und deutete zu Boden.

»Da war die Bank«, beteuerte sie, während Magnus auf sie zugeeilt kam. »Genau hier, wo ich jetzt stehe.«

Anschließend zeigte sie zur Seite.

»Und direkt daneben«, sagte sie mit verbissenem Blick, »da war der kleine Baum. Du glaubst mir doch, oder etwa nicht?«

Aber Magnus wusste inzwischen selbst nicht mehr, was er glauben sollte.

»Tja, also«, stammelte er. »Tut mir leid, aber ich für meinen Teil … also, ich habe hier gerade eben einen See gesehen.«

Jetzt reichte es ihr.

»Ach, du immer mit deinem See«, schimpfte Smill. »Hier hat es noch nie einen See gegeben. Wie kommst du denn auf diesen Unsinn? Der einzige See, den ich kenne, das ist der Mondwassersee. Und der liegt ja nun wirklich nicht vor unserer Haustür.«

»Hm«, grübelte Magnus, »da hast du wohl recht. Der Mondwassersee liegt ganz woanders.«

Dann aber verschränkte er die Arme und wippte unschlüssig mit dem Kopf.

»Und dennoch«, bekräftigte er. »Ich schwöre Stein und Bein, dass hier ein See gewesen ist. Wirklich, das musst du mir glauben. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Das Wasser war klar und hat richtig gefunkelt.«

Nachdenklich ging er in die Knie. Er streckte den Arm aus und strich mit den Fingern durch das dichte Gras. Merkwürdig, so stellte er fest, dieses Gras war ungewöhnlich weich. Ganz anders, als Magnus es von dieser Gegend gewohnt war.

Plötzlich verharrte er.

Er tastete zwischen den Halmen und fing an, im Gras zu wühlen. Als er wenig später wieder aufstand, hielt er etwas Weißes in der Hand.

Smill trat näher.

»Was ist denn das?«, fragte sie verwundert. »Wo hast du das denn gefunden?«

»Das lag hier im Gras«, antwortete Magnus. »Gleich vor meinen Füßen.«

»Ja, und was ist das?« Smill schaute sich das rätselhafte Objekt von allen Seiten an. »So etwas habe ich ja noch nie gesehen.«

Magnus lächelte. Denn anders als Smill wusste er ganz genau, was er gerade in Händen hielt.

»Das ist eine Muschel«, sagte er.

»Hä? Eine was?«

»Eine Muschel«, wiederholte Magnus. »Das ist die Schale von einem kleinen Tierchen, das irgendwo im Meer lebt. Weit, weit weg von hier.«

Erstaunt ließ Smill das Kinn hängen.

»Und was bitte macht diese Muschel direkt neben unserem Haus? Hier gibt es kein Meer. Wer hat die hergebracht?«

Ein guter Punkt.

»Das würde mich auch interessieren«, stimmte ihr Magnus zu. »Genau das habe ich mich auch gefragt.«

Schweigend betrachtete er das seltene Stück im Sonnenlicht. Dann blickte er noch einmal zu Boden. Er runzelte die Stirn und sah sich erneut das sonderbare Gras an, das ihn umgab. Irgendetwas schien hier nicht zu stimmen, beschlich es ihn. Etwas war faul.

»Na komm«, sagte er schließlich zu Smill, »lass uns von hier verschwinden. Vielleicht ist deine Tante ja inzwischen nach Hause gegangen. Das könnte doch sein, oder? Vielleicht war sie ja gar nicht hier auf dem Feld, und wir sind umsonst hergelaufen.«

»Stimmt«, rief Smill, »du könntest recht haben. Herrje, darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Ich sehe gleich mal nach.« Und sie rannte los.

»Jetzt warte doch«, schrie ihr Magnus hinterher, »ich komme mit. Wenn dein Kringeltantchen zu Hause ist, dann wird sie dir schon nicht davonlaufen.«

Smill blieb stehen. Sie blickte zu Magnus zurück und wartete auf ihn. Anschließend gingen die beiden über die Wiese, zum Garten zurück.

»Was ist eigentlich mit Meister Silbertiegels Schlüssel?«, fragte Magnus, während sie über das Feld wanderten. »Ich glaube, er wird ihn vermissen.«

Smill gab sich unbeeindruckt.

»Was denn für ein Schlüssel?«

»Na der, den du ihm während des Unterrichts aus der Robe gezogen hast«, erinnerte er sie.

»Ach, der«, summte Smill. »Den hat er längst wieder in seiner Tasche.«

»Wirklich?«

»Aber sicher doch«, nickte sie. »Hat er gar nicht gemerkt.«

Die beiden lachten. Dann krabbelten sie unter der Hecke hindurch, und Smill eilte ins Haus. Doch Kringeltantchen war nicht da.

 

Auf den Sommer des Jahres 579 folgte der Herbst, und nach dem Herbst kam der Winter. So vergingen die Jahre, während Smill langsam größer wurde. Eines Tages erlangte sie das Hexendiplom – so, wie ihre Mutter und ihre Großmutter viele Jahre zuvor. Und haargenau wie bei diesen, waren die Leute auch bei Smill sehr misstrauisch, ob während der Abschlussprüfung alles mit rechten Dingen zugegangen war. Bei einer Hexe wie Smill konnte man schließlich nie wissen. Aber ganz gleich, was auch geredet wurde, die Antwort darauf sollte für alle Zeiten ein Geheimnis bleiben.

Magnus trat der ehrwürdigen Akademie von Hohenweis bei. Dort wurde er Professor für magische Künste und unterrichtete schon bald Geheimwissenschaften wie Alchemie und Astrologie. Selbst Mythologie zählte zu seinen Fachgebieten, wobei ihn dieses Thema von allen am meisten faszinierte. Er bezog einen Turm inmitten der Nebelfelder, in dem er seine Forschungen betrieb und eines Tages selbst Lehrlinge ausbildete. Vielen Mysterien ging er auf den Grund, und zahlreiche Geheimnisse deckte er auf. Und so entschlüsselte Magnus Ulme auch alte Legenden, die in tiefer Vergessenheit schlummerten und die außer ihm kaum jemand zu deuten vermochte.

Die Zeit verstrich.

Hexenware und alter Krempel

 

 

Mehr als zweihundertfünfzig Jahre später blies erneut ein milder Wind durch das Land. Doch diesmal war es ein Wind, der zur endenden Winterszeit wehte und der auch den letzten Schnee binnen weniger Tage zum Schmelzen brachte. Welch eine Freude. Der lange strenge Winter, der das Unkrautland in den letzten Monaten fest im Griff gehabt hatte, war hoch ins eisige Nordland gezogen. Dort schien er zu verweilen, und es gab keine Anzeichen, dass er so bald zurückkehren würde. Wahrlich, die Wettergläser und der ehrwürdige Rat der Wetterhexen sollten recht behalten: Mit dem 1. März des Jahres 833 (nach Zeitrechnung des Unkrautlands) zog der Frühling ins Land.

Allerorts tropfte nun das Eis von den Dachpfannen. Die Brunnen in den Dörfern begannen zu tauen, und von den Hängen der Bleiberge plätscherte das Schmelzwasser zu Tal. Die Natur erwachte aus ihrem Schlaf. Das war ein Ereignis, das man nicht nur sehen, sondern auch ganz deutlich hören konnte. Es raschelte in den Büschen und brummte in den Wiesen. Und im gespenstischen Finsterwald ging es geradezu drunter und drüber.

Noch nie hatte sich das Dickicht zwischen den Bäumen schneller ausgebreitet, als in den letzten Tagen. Innerhalb kürzester Zeit war der gefürchtete Wald mit Ranken und Gestrüpp derart verwachsen, dass selbst ortskundige Waldgeister keinen Ausweg mehr fanden. Spinnweben spannten sich von einem Baum zum anderen, Wurzeln bohrten sich aus dem Boden, und an allen nur erdenklichen Stellen versperrten Äste die Wege. Der Wald war teilweise kaum noch passierbar.

Winterkeule