Der Smaragddrache

Der Smaragddrache

Tareks Schicksal

Britta Strauss

Drachenmond Verlag

Seht ihr den Stern dort draußen? Man nennt ihn Tarek, das ewige Gestirn. Seit jeher ist er ein Wegweiser.

Ein Licht in der Dunkelheit, das selbst dann noch

standhaft bleibt, wenn alle anderen Sterne verlöschen. Wenn ihr zu ihm hinaufblickt, dann denkt daran, was der König meiner Geschichte für die getan hat, die er liebt.

Und denkt daran, dass das Band zwischen zwei Seelen niemals zerstört werden kann.


Die Märchenerzählerin

Inhalt

Was in Teil 1 geschah

1. Gemmas Erwachen

2. Das Bild im Spiegel

3. Die geheime Nacht

4. Der Bullenhund

5. Bittere Erkenntnis

6. Ohne Ausweg

7. Das Fest unter dem Königsmond

8. Die Königin der Grünen Steppe

9. Königsmörder

10. Durch das Feuer

11. Das Erwachen des Drachen

12. Auf Leben und Tod

13. Ein Palast aus Mondstein

14. Die Rückkehr des Drachen

15. Die Wege des Schicksals

16. Erwachen im Dschungel

17. Ein freier Mensch

18. Der Preis der Magie

19. Lieder des Dschungels

20. Der Wesen der Dunkelheit

21. Der Geschmack der Freiheit

22. Ein neues Leben

23. Bittersüßes Sehnen

24. Dschungelhitze

25. Sieger und Besiegte

26. Der schwarze Tod

27. Die Wanderung der Shyama-Büffel

28. Ein Schatten zieht herauf

29. Die Stille des Grabes

30. Das Schweigen des Dschungels

31. Das Herz des Drachen

32. An einer fernen Küste

Epilog

Über die Autorin

Was in Teil 1 geschah

In einer eiskalten Winternacht wird die Prinzessin der Grauen Küste geboren. König Gereon sieht die Hoffnung auf einen Thronerben zerschlagen. Gemäß der Tradition seines Volkes steht es ihm zu, seine Tochter dem Tod zu überantworten. Trotz seiner Enttäuschung und seines Zornes entscheidet er sich dafür, das Kind leben zu lassen. Lediglich durch ihre Amme Malakat und den alten Diener Kafir erfährt Gemma Zuneigung. Beide werden zu einer Art Elternersatz für das einsame Mädchen.

Zur gleichen Zeit, in der die Prinzessin geboren wird, findet Ixchal, die Königin eines sagenumwobenen Dschungelvolkes namens Aman-Kaja, eine verbrannte Wiege im Fluss. Groß ist ihr Erstaunen, als das Kind darin noch am Leben ist. Ixchal vermutet, dass ein heiliger Flussdelfin seine Seele dem Kind überantwortet hat, um es von den Toten zurückzuholen. Sie nimmt sich des Jungen an und gibt ihm den Namen Tarek.

Achtzehn Jahre später kehrt Tarek aus seinem ersten Krieg gegen die Knochenmenschen zurück. Das Kämpfen und der Tod widern ihn an, zudem überkommt ihn das Gefühl, dass die immer weiter wachsenden Städte und Siedlungen der Feinde letztendlich den Untergang seines Volkes verursachen werden. In dieser dunklen Stunde vernimmt er den Ruf des Smaragddrachen. Seit tausenden von Jahren ranken sich zahllose Legenden um dieses magische Geschöpf. Jeder junge Mann sehnt sich danach, den Ruf zu vernehmen, um als Nachfolger des Drachen zum Gott aufsteigen zu können. Tarek jedoch, der sich seit jeher am wohlsten fühlt, wenn er allein durch den Dschungel streift, sieht sich dieser Bürde nicht gewachsen. Als Prinz seines Volkes ist es ihm noch dazu bestimmt, eines Tages den Thron zu besteigen – gerade in Kriegszeiten eine Verantwortung, der Tarek gerne aus dem Weg gegangen wäre. Doch die Wahl des Drachen steht unwiderruflich fest, und so erfüllt der Prinz den Wunsch der sterbenden Kreatur: Er tötet den Drachen mit seinem Schwert und übernimmt nicht nur seine Kraft, sondern auch seine Unsterblichkeit. Von nun an schlägt in seiner Brust ein Herz aus Smaragd. Als frisch gebackener Gott kehrt Tarek in seine Heimat zurück und trifft dort auf ein seltsames Geistermädchen namens Skyla. Das freche Geschöpf stellt sich als ehemalige menschliche »Hülle« des Smaragddrachen heraus und hat beschlossen, dem Prinzen eine Zeit lang mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Zur gleichen Zeit nimmt Gemmas Schicksal hoch im Norden eine folgenschwere Wendung. Ihr eigener Vater verkauft sie an Antares, den grausamen König des Südens. Antares hat nahezu sämtliche Länder und Völker unterjocht, lediglich bei den Aman-Kaja ist ihm dies noch nicht gelungen. Insgeheim verfolgt der Südkönig ein weiteres Ziel: Er trachtet nach der legendären Macht des Smaragddrachen, um als mächtigster aller Herrscher in die Geschichte einzugehen und Unsterblichkeit zu erlangen. Hierbei ist ihm Yleria behilflich, die letzte noch lebende Hexe des Menschenreiches. Sie verfügt über einen magischen Spiegel, der offenbart, dass Tarek das Herz des Drachen trägt – und dass allein Gemma in der Lage ist, ihn in eine Falle zu locken.

Dank seiner neuen Kräfte hat sich der Prinz in der Zwischenzeit zu einem unbezwingbaren Gegner entwickelt, der Antares’ Armeen in die Knie zwingt. Um die Drachenkraft seines erbittertsten Feindes zu erlangen, verschleppt Antares die Nordprinzessin in seine Burg am Rande des Dschungels. Als kleine Geste seiner vorgetäuschten Zuneigung schenkt der Südkönig seinem zukünftigen Eheweib das Ei eines Basilisken, aus dem kurze Zeit später ein Weibchen schlüpft. Gemeinsam mit Malakat und Kafir wartet Gemma fern ihrer Heimat auf das Unvermeidliche: ihre Hochzeit mit Antares. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr leidet das Mädchen unter seinem Schicksal. Eines Tages entdeckt Gemma Ylerias Spiegel und erblickt darin Tarek, der zum König der Aman-Kaja gekrönt wird. In einem durch Spiegelmagie bewirkten Moment stehen sich beide einen Augenblick lang gegenüber – und fühlen sofort eine Bindung zueinander. Ylerias Falle schnappt zu, ohne dass Gemma etwas davon ahnt. Während sich die Nordprinzessin und der frisch gekrönte Herrscher der Aman-Kaja erneut in einem Traum begegnen, erschafft Yleria einen kräftezehrenden Zauber, der Antares’ Todfeind endgültig besiegen soll. Von Yleria vergiftet, glaubt Tarek Gemma auf einem verlassenen Schlachtfeld zu sehen. Als er ihr zu Hilfe eilt, findet er sich von Soldaten umzingelt wieder. Gemeinsam mit seinen Freunden O’bat und Khalik gerät er in Antares’ Gefangenschaft.

Als Gemma von Tareks Gefangennahme erfährt, ist sie entsetzt – und spürt, dass sie auf gewisse Weise die Schuld daran trägt. Währenddessen lässt Antares all seine Wut an den drei Aman-Kaja aus, sehr zu Ylerias Missfallen, denn das unbeherrschte Verhalten des Südkönigs macht die Verwirklichung ihres Ziels umso schwerer. Um an das Herz des Drachen zu kommen, ist es notwendig, dass Tarek seine menschliche Gestalt abwirft. Yleria offenbart Antares ihren eigentlichen Plan: Gemma und Tarek müssen sich näherkommen, um ihre Liebe letztlich als Waffe verwenden zu können. Die Gier des Südkönigs nach der Macht des Drachen ist groß genug, um ihn diesen demütigenden Weg einschlagen zu lassen. Mithilfe eines verzauberten Halsreifs bändigt Yleria Tareks Willen und bedient sich heimlich an seiner Macht. Dadurch gelingt es ihr, ihre eigenen magischen Kräfte zu stärken. Bald kommt heraus, dass die Hexe ihre ganz eigenen Ziele verfolgt und ihre Loyalität Antares’ gegenüber nur vorgetäuscht ist. Währenddessen versucht Tarek vergeblich, den Drachen zu befreien. Nicht einmal Skyla steht ihm zur Seite und so bleibt ihm keine andere Wahl, als sein Schicksal hinzunehmen.

Nach Gemmas und Antares’ Vermählung muss die Nordprinzessin eine grauenhafte Hochzeitsnacht über sich ergehen lassen. Ihre Seele droht an dem Erlebten zu zerbrechen, doch Yleria behauptet, Gemma trüge zwei Söhne unter ihrem Herzen, um Antares von seiner Frau fernzuhalten. Der abergläubische König folgt dem Ratschlag. Nach diesem Vorfall fasst Gemma ein zartes Vertrauen zu der Hexe. Fortan ist es Gemmas und Malakats Aufgabe, Tarek in der Sprache und in den Gewohnheiten der zivilisierten Welt zu unterrichten. Anfangs stehen noch Misstrauen und Zorn zwischen den grundverschiedenen Menschen, doch bald finden die Nordprinzessin und der Aman-Kaja näher zueinander. Beide erkennen sich als Gefangene, die weder aus noch ein wissen und alles für ihre Freiheit tun würden.

Eines Tages benimmt sich Gemmas Basilisk seltsam: Er würgt einen golden leuchtenden Kristall heraus, der in Gemmas Händen zu Asche zerfällt. Kurz darauf fällt sie in einen todesähnlichen Schlaf. Malakat und Yleria fürchten um das Leben des Mädchens, doch Tarek erkennt, was wirklich vorgefallen ist. Basilisken gehen manchmal mit einem Menschen oder einem Tier eine enge emotionale Bindung ein, die auf selbstloser Liebe beruht. Ist sein Gefährte dem Tode nahe, opfert der Basilisk die Hälfte seiner Lebenskraft und erschafft einen Flammenkristall, der selbst die tödlichsten Krankheiten zu heilen vermag. Niemand kann sich erklären, weshalb der Basilisk für die vermeintlich gesunde Gemma einen Kristall erschaffen hat, doch Tarek erkennt im Opfer des Tieres eine Wahrheit, die den letzten Rest Misstrauen in ihm beseitigt: Wem ein Basilisk die Hälfte seiner Lebenskraft schenkt, der muss ein gutes Herz besitzen. Infolgedessen wächst seine Wut auf Antares. Daran ändert sich auch nichts, als man Tarek plötzlich wie einen edlen Gast behandelt. Letztendlich erkennt er, dass er nur auf eine Weise entkommen kann: gemeinsam mit Gemma und Malakat.

Doch Antares’ Hexe überlässt nichts dem Zufall.

Kapitel 1

Gemmas Erwachen

Gemma

Als ich erwachte, füllte der Königsmond das gesamte Fenster aus. Merkwürdig. Gestern hatte er nicht einmal die Hälfte meiner Aussicht bedeckt. Es herrschte immer noch tiefe Nacht, der Wind raschelte in den Bäumen und das Zirpen der Grillen besaß jenen schläfrigen, unwirklichen Klang, der einem das Gefühl gab, die Welt hätte sich in eine andere Realität gekleidet. Tashma lag zu einer Kugel zusammengerollt neben mir und schnarchte leise vor sich hin. Ihre Schweifspitze lag über dem leicht geöffneten Schnabel und flatterte bei jedem schnorchelnden Atemzug. Eine weitere seltsame Sache. Normalerweise wachte der Basilisk auf, sobald ich auch nur blinzelte.

»Amaru sei Dank, Ihr seid wohlauf.«

Eine Stimme ließ mich zusammenzucken.

Ylerias Stimme!

Dort, im Schatten neben dem Fenster, erhob sich die Hexe von ihrem Sessel und trat an mein Bett. Was tat sie in meinem Zimmer? Warum sah sie mich an, als hätte ich soeben ein Wunder vollbracht?

»Was soll das?« Verwirrt rieb ich mir den Schlaf aus den Augen. »Was tust du hier?«

Ylerias Lächeln war so falsch wie das zähnestarrende Grinsen eines Schlammhechtes. Sie trug ein kostbares Kleid aus dunkelrotem Brokat, dessen tiefer, geschnürter Ausschnitt förmlich von ihren Brüsten gesprengt wurde. Vermutlich genau der Geschmack meines Gatten.

»Ihr habt fast zwanzig Tage lang geschlafen, Herrin«, säuselte die Hexe. »Wir haben uns große Sorgen gemacht.«

Ich lachte nur, griff nach Tashma und kraulte ihr die Kopffedern. Selbst von meiner Berührung wachte sie nicht auf, sondern schlief seelenruhig weiter. »Solch ein Unsinn.«

»Es ist wahr, Majestät. Wir alle fürchteten um Euer Leben. Malakat, Kafir und der Aman-Kaja wollten nicht von Eurer Seite weichen. Erst vor einer guten Stunde sind sie in ihre Gemächer zurückgekehrt, um ein wenig zu schlafen. Bitte glaubt mir, Herrin. Seht Ihr nicht den Stand des Mondes? Seht Ihr nicht, wie weit er gewandert ist?«

Ich verstand gar nichts mehr. Wie war das möglich? Zwanzig Tage? Ach was, das war völlig unmöglich. Doch wenn ich aus dem Fenster sah, hatte ich den Beweis für Ylerias ungeheuerliche Behauptung direkt vor Augen.

»Was ist passiert?« Ich rüttelte sanft an Tashmas Schulter. Die Basiliskendame rührte sich nicht, aber sie gab ein beruhigend unwirsches Schnaufen von sich. »Wie kann ich zwanzig Tage schlafen?«

Yleria musterte mich skeptisch, als würde sie damit rechnen, dass ich irgendetwas Seltsames tat. Etwas, das ihr schaden könnte. »Malakat fand Euch bewusstlos vor dem Fenster. Kein Heiler vermochte zu sagen, was Euch fehlte. Ihr habt weder Anzeichen einer Krankheit aufgewiesen, noch wart Ihr durch Stiche oder durch Bisse verletzt.«

Ungläubig schlug ich die Decke zurück, atmete tief durch und versuchte, aufzustehen. Mein Körper gehorchte mühelos. Müsste ich nicht kraftlos und erschöpft sein? Zwanzig Tage! Bei allen Frostgeistern, von so etwas hatte ich noch nie gehört.

»Aber ich hätte verdursten und verhungern müssen.« Entgeistert starrte ich auf meine Handflächen, als könnten sich die feinen Linien darauf zu Botschaften formen. »Warum fühle ich mich gesund und ausgeruht?«

Yleria neigte den Kopf und dachte nach. Ein kalter, berechnender Glanz flackerte in ihren unnatürlich grünen Augen. »Ihr habt in letzter Zeit so viel durchgemacht«, sagte sie schließlich mit sanfter Stimme. »Manchmal flüchtet sich der Geist in eine Ohnmacht, wenn zu viel Eindrücke auf ihn einstürmen. Hin und wieder seid Ihr halbwegs zu Euch gekommen. Malakat hat Euch Suppe und Tee eingeflößt. Und da ich vermute, dass es Euch erfreuen wird: Unter Eurem Herzen wächst kein Kind heran. Der rote Mond kam und ging, und falls da ein Funke des Lebens in Eurem Bauch gewesen war, so hat er ihn mit sich genommen.«

Ich begriff nicht sofort, worauf die Hexe anspielte. Doch als mir schließlich ein Licht aufging, schoss brennende Hitze in meine Wangen.

»Ihr müsst Euch deswegen nicht genieren.« Yleria zwinkerte mir zu, als versuchte sie, Malakats mütterliche Fürsorge nachzuahmen. »Schließlich weiß jede Frau ein Lied davon zu singen.«

Ich räusperte mich und nickte. Einerseits erleichterte mich die Nachricht, andererseits barg sie eine unleugbare Gefahr. Wie lange konnten wir unsere Lüge noch aufrecht halten? Wann würde Antares Verdacht schöpfen?

Zwanzig Tage …

Bei allen Geistern und Göttern, wie war das nur möglich? Was mochte in der Zeit alles passiert sein? Warum erinnerte ich mich an nichts? Diese Kleidung … vorhin hatte ich ganz andere getragen. Nein, nicht vorhin.

Vor einem halben Mondlauf.

»Es fühlt sich an, als hätte ich kaum eine Stunde geschlafen.« Langsam strich ich über meinen Unterarm und spürte Gänsehaut unter meinen Fingern. »Ich verstehe das alles nicht.«

Yleria lächelte. »Fühlt sich nicht jede Nacht kurz an? Man schläft ein und schlägt einen Moment später die Augen wieder auf. Doch zwischen dem einen und dem anderen Zwinkern sind mehrere Stunden vergangen.«

»Ich verstehe trotzdem nicht, wie so etwas passieren konnte.«

»Nun, ich habe von solchen Fällen gehört. Nach allem, was geschehen ist, wundert es mich nicht, dass Euer Körper in Mitleidenschaft gezogen wurde.«

Ich strich über das perlmuttblaue Gewand, in das man mich gehüllt hatte. Es ähnelte den weiten Nachthemden, die ich in der Burg der Grauen Küste getragen hatte, nur war dieses hier aus dünnem, weich fließendem Stoff, der wie das Innere einer Muschel schimmerte. Malakat, Kafir und Tarek waren nicht von meiner Seite gewichen? All die Zeit hatten sie über mich gewacht? Dass die Amme und der Waldkrieger mein Wohl über das ihre stellten, wunderte mich nicht. Während meiner Kindheit hatten sie mich so oft getröstet, wenn ein Fieber mich gepackt oder eine Krankheit mich an das Bett gefesselt hatte. Doch Tarek? Er war noch immer unser Feind. Ein Gefangener, der meine Welt verabscheute und ihre Bewohner hasste. Warum war er bei mir geblieben? Warum hatte er ebenso auf mich achtgegeben wie die beiden Menschen, die mir näher standen als irgendjemand sonst?

»Dem Aman-Kaja scheint viel an Euch zu liegen.« Die Hexe schien meine Gedanken lesen zu können. Mit sanft wiegenden Hüften trat sie an mein Bett und lächelte verschwörerisch. »Er saß stundenlang an Eurem Bett und bestand darauf, den Unterricht in Eurem Zimmer fortzuführen. Ich musste ihn praktisch zwingen, in sein Gemach zurückzukehren.«

»Gemach?« Meine Wangen wurden heiß. Ich stellte mir vor, wie er an meinem Lager gewacht, wie er mich angesehen und sich um mich gesorgt hatte. »Ist er nicht mehr im Kerker?«

»O nein.« Yleria kicherte leise. Zweifellos sah sie die Farbe auf meinen Wangen und zog ihre Schlüsse daraus. »Antares hat ihn in einem der Gästezimmer einquartiert. Hier im westlichen Flügel, im Blauen Gang, die dritte Tür links.«

Argwöhnisch musterte ich die Hexe. Sie beschrieb mir die Lage des Zimmers, als rechnete sie damit, dass ich mich heimlich zu Tarek schlich. Er war also ganz in meiner Nähe. Seltsam, dass Antares ihm einen solchen Vertrauensvorschuss zugestand. Ich kannte meinen Gatten erst seit zwei Mondläufen, doch das war lang genug, um zu wissen, dass er niemals ohne Hintergedanken Gnade walten ließ.

»Wird er ihn gehen lassen, Yleria?« Ich blickte in die kalten grünen Augen der Hexe und fühlte mich, als stünde ich einem Lindwurm in Menschengestalt gegenüber. »Bitte sei ehrlich zu mir.«

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Ihr habt mich um Ehrlichkeit gebeten und die Wahrheit ist, dass ich keinen Ausweg sehe. Deshalb muss ich Euch um etwas bitten, meine Königin.«

»Worum?«

»Folgt mir in mein Turmzimmer und blickt noch einmal in den Spiegel.«

Widerwillen war das Erste, das ich bei diesem Gedanken empfand. Mit dem Teufelsding hatte das Spiel der Hexe angefangen und irgendein Instinkt flüsterte mir ein, dass es auch damit enden würde. »Weshalb?«

»Ich muss Antworten finden, Majestät. Antworten auf das, was geschehen ist. Vor allem brauche ich einen neuen Weg.«

»Was für einen Weg?«

»Den in unsere Freiheit. Der Spiegel vollbringt keine Wunder. Er lässt mich die Zukunft nicht in klaren Bildern sehen, sondern verbirgt Ratschläge unter seiner Oberfläche. Es mögen Wegweiser sein, aber sie sind in Nebel gehüllt. Und manchmal verschwinden sie wie Irrlichter im Sumpf. Wenn Ihr diesem Ort den Rücken kehren wollt, müsst Ihr mir noch einmal helfen.«

»Ich dachte, du hättest einen Plan.«

»Ich hatte auch einen«, erwiderte Yleria. »Mehr oder weniger. Ich kenne Antares’ Schwächen und ich weiß, wie sie zu unserem Vorteil zu nutzen sind. Doch der König ist mächtig und hat auf uns alle ein wachsames Auge. Glaubt nicht, dass Ihr unbeobachtet seid, nur weil er sich auf der Jagd befindet. In der Burg lauern tausend Augen und Ohren. Unsere Befreiung gestaltet sich schwieriger, als ich erwartet hatte.«

Ich musterte Yleria zweifelnd. »Wie lange lebst du auf dieser Burg? Wie lange dienst du Antares schon? Willst du mir wirklich erzählen, dass du dich in ihm geirrt hast?«

Die Hexe wirkte ertappt. Sie räusperte sich zweimal und starrte auf die Spitzen ihrer schwarzen, kostbar bestickten Schuhe. »Es tut mir leid, Herrin. Aber bevor Ihr und der Aman-Kaja gekommen seid, habe ich niemals an Flucht gedacht. Meine Lage schien ausweglos zu sein. Es gab kein Schlupfloch. Kein Licht am Ende der Nacht.«

Falls Yleria erwartete, dass ich Mitleid mit mir empfand, befand sie sich auch diesmal auf dem Holzweg. »Sagtest du gerade, Antares ist immer noch auf der Jagd?«

»Ja. Ich habe auf einen Botenvogel verzichtet, denn Euer Wohlergehen liegt in meiner Verantwortung. Wenn ich ihm gesagt hätte, in welchem Zustand Ihr Euch befindet, hätte er mich auspeitschen und verstümmeln lassen.«

»Aber hat er nicht schon durch andere erfahren, was passiert ist? Du sagtest doch, die Burg hätte tausend Augen und Ohren.«

Yleria wirkte einen Moment lang gereizt. Mit unübersehbarer Mühe schluckte sie eine bissige Bemerkung herunter, neigte ein wenig den Kopf und antwortete mit freundlicher Stimme: »Ich habe achtgegeben, dass niemand von Eurem Zustand erfährt. Malakat, Kafir und Tarek sind die Einzigen, die davon wissen. Amaru sei Dank hat Antares alle übrigen Bewohner der beiden königlichen Flügel ausquartiert, seit der Aman-Kaja hier unterrichtet wird.«

»Nicht einmal Mogoa weiß, was passiert ist?«

»O nein.« Yleria schnaubte und rümpfte ihre kleine, wohlgeformte Nase. »Dieses Mädchen ist schwatzhafter als ein Spatz. Ich habe sie für die Feldarbeit im benachbarten Dorf eingeteilt. In ein paar Tagen wird sie wieder hier sein. Der König ist ungeduldig, Herrin. Jeder Tag, der verstreicht, macht ihn gefährlicher. Ausnahmsweise hat er eine weise Entscheidung getroffen, als er zur Jagd aufgebrochen ist. Doch fürchte ich, dass er sehr bald zurückkehren wird. Es ist gut, dass Ihr aufgewacht seid. Nicht auszudenken, was sein Zorn angerichtet hätte.«

Es lag tatsächlich Angst in den Augen der Hexe. Pure, nackte Angst vor der Gewalt ihres Herrn. Auch wenn ich ihrer Freundlichkeit kein Vertrauen entgegenbrachte, sehnten wir uns doch nach demselben Traum. Endlich frei zu sein.

Bei diesem Gedanken tauchte eine Erinnerung auf. Hatte ich nicht vor Kurzem – nein, vor zwanzig Tagen – über das nachgedacht, was nach unserer Befreiung geschehen würde? War ich nicht hoffnungslos gewesen, verzweifelt und wütend? Im Hier und Jetzt konnte ich mir diese Dunkelheit nicht mehr erklären. Alles würde gut werden, wenn wir erst einmal frei waren. Malakat und Kafir kannten eine Antwort auf jede Frage. Sie würden wissen, wo wir Zuflucht und ein neues Leben fanden.

Eines nach dem anderen, sagte der Waldkrieger stets. Und so würden wir es handhaben. Zuerst kam die Befreiung, danach alles andere.

»Lass uns gehen.« Ich stand auf, warf noch einen Blick auf Tashma und überzeugte mich davon, dass ihr Atem ruhig und gleichmäßig ging. Dann raffte ich mein Gewand und schritt an Yleria vorbei zur Tür. »Wenn es unserer Flucht dient, werde ich dir helfen.«

Kapitel 2

Das Bild im Spiegel

Mondlicht strömte durch die Säulengänge und verwandelte den Garten in ein märchenhaftes Labyrinth. Schwärme von Motten und Leuchtkäfern flatterten um Fackeln und Laternen, der Nachtjasmin stand in voller Blüte. Sein schwerer Duft erinnerte mich an die langen Nächte, die ich mit Tarek und Malakat verbracht hatte. An die wohltuende Stimme des Aman-Kaja, das Lachen meiner Amme und die kostbaren, allzu flüchtigen Momente der Zeitlosigkeit. Zwanzig Tage waren an mir vorbeigegangen, ohne dass ich sie wahrgenommen hatte. So viel verlorene Zeit. So viele Sorgen, die ich Malakat und Kafir bereitet hatte.

Oh, bei allen Frostgeistern! Wie hatte das nur geschehen können? Wenn es eine Krankheit gewesen war, die mich niedergestreckt hatte, warum fühlte ich mich so ausgeruht und klar im Kopf? Nichts tat weh, ich empfand weder Hunger noch Durst. Was also hatte mich so lange schlafen lassen? Und wie war es während meiner Abwesenheit mit dem Unterricht weitergegangen? Hatten sich Tarek und Malakat überhaupt auf irgendetwas konzentrieren können?

Und weshalb, bei allen Geistern und Göttern, war der Aman-Kaja so um mein Wohlergehen besorgt?

Als wir das Turmgemach erreichten, ließ mich die Hexe zuerst eintreten. Hastig schob sie einen Riegel vor, trat vor den Spiegel und vollführte eine ungeduldige Geste in meine Richtung. Als ich mich zu ihr gesellte, sah ich mich in dem seltsamen, von duftendem Rauch erfüllten Zimmer um. Das Leuchten dutzender Kerzen und Windlichter tauchte es in einen warmen Schimmer und vermittelte eine fast schon heimelige Behaglichkeit. Yleria hatte nicht nur Ordnung geschaffen, ihr war sogar das Kunststück gelungen, dem fensterlosen Gemach Gemütlichkeit zu verleihen.

Bunte Laternen baumelten von der Decke, die Sessel waren mit dunkelgrünem Samt überzogen. In den Ecken hingen keine Spinnweben mehr und der Boden war mit weichen Teppichen ausgelegt. Nur das mit schwarzer Seide bezogene Bett jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ob Yleria die Aufmerksamkeit meines Gatten genoss? War sie ihm gerne zu Willen oder zwang er sie so, wie er mich gezwungen hatte?

»Keine Angst, meine Königin.« Aufmunternd nickte die Hexe mir zu. »Ihr müsst nichts tun. Überlasst dem Spiegel alle Entscheidungen.«

Nichts tun? Nun, das würde ich wohl hinbekommen. Abwartend starrte ich auf die glatte, silbrige Fläche, in der sich die bunten Lichter des Raumes auf wundersame Weise vervielfachten. Sie bildeten einen Tunnel, der sich kaum merklich drehte und ganz sacht an mir zog. Ich trat einen Schritt näher, erfüllt von einer angenehmen Leichtigkeit, blickte in den trägen Tanz aus Farben und streckte meine Hand nach dem Spiegel aus.

»Gemma«, flüsterte es ganz leise in der Ferne. »Gemma … ich lebe, solange du dich an mich erinnerst.«

Ein zarter Schmerz flammte in meinen Fingerspitzen auf. Und plötzlich zerfiel meine Welt zu Scherben. Im ersten Moment stand ich noch aufrecht da, überwältigt von einem abgrundtiefen Schrecken, im nächsten kauerte ich auf dem Boden, weinte mir die Augen aus dem Kopf und spürte, wie mir das Herz entzweigerissen wurde. Eine namenlose Qual hielt mich zwischen ihren Kiefern gefangen. Sie biss zu, immer tiefer, immer brutaler, bis ich nicht einmal mehr weinen konnte, sondern stumm vor Schmerz ins Leere starrte. In der furchtbaren Gewissheit, dass alles vorbei war. Dass es kein Morgen gab. Keinen weiteren Atemzug. Sondern nur noch Einsamkeit.

Ich wusste nicht, was geschehen war.

Ich wusste nicht einmal, was mir der Spiegel gezeigt hatte. Eine Dunkelheit, für die ich keine Worte fand, hatte meine Seele in zwei Hälften gerissen und eine davon verschlungen. Tief in mir klaffte ein Loch, das niemals mehr gefüllt werden konnte. Aber was war es, das mir fehlte?

Yleria nahm mich sanft bei den Schultern und half mir auf die Beine. Ich wollte um etwas weinen … um jemanden … doch die Leere ließ keine Tränen zu.

»Was ist passiert?«, krächzte ich. Meine Kehle war so eng, dass die Worte kaum mehr waren als ein hervorgehauchter Gedanke. Mein Geist wollte fliehen. Weit fort. So weit, dass mich nicht einmal mehr die Erinnerung einholen konnte.

»Ich weiß es nicht, Herrin. Der Spiegel hat allein zu Euch gesprochen.«

»Du hast nichts gesehen? Gar nichts?«

Hinter dem schlangengrünen Blick der Hexe wogte ein Meer aus Gedanken. Keinen davon würde sie mit mir teilen, ganz gleich, was ich zu ihr sagte.

»Nur Schatten«, antwortete sie ausweichend. »Nichts, das ich hätte erkennen können. Aber manchmal enthüllt sich die Botschaft erst später. Wie ich schon sagte, Herrin. Ich muss darüber nachdenken.«

»Dann denk schnell.« Ich wollte allein sein. Mehr als alles andere brauchte ich Dunkelheit und Stille. Yleria schien das zu spüren, denn am Fuße der Treppe machte sie kehrt und ließ mich ohne ein weiteres Wort stehen.

Allmählich fiel das, was der Spiegel mir angetan hatte, in sich zusammen. Mein Schmerz wurde zu einer Erinnerung, die Erinnerung zu Nebel. Ich erwachte aus einem Fiebertraum, dessen Nachhall wie eine Krankheit in meinen Knochen steckte und mein Herz so mühsam schlagen ließ, als würde Pech durch meine Adern kriechen. Yleria hatte behauptet, dass der Spiegel nicht die Zukunft zeigte. Zumindest keine, die unausweichlich war. Warum fühlte es sich dann genau so an?

Warum war es, als hätte ich in den Abgrund der Welt geblickt? In eine Tiefe, die keinen Grund und kein Ende besaß?

Mitten im Gang blieb ich stehen, starrte auf meine Hände und spürte, wie ihnen etwas entrissen wurde. Ich hatte jemanden festgehalten. Mit aller Kraft. Doch sein Herzschlag war durch meine Finger geflossen wie heißes Blut.

Ich lebe, solange du dich an mich erinnerst …

»Verdammtes Hexenwerk!« Blindlings rannte ich dem Schmerz davon, lief mit wehendem Kleid durch den Gang, sprang die Treppe in das Erdgeschoss hinunter und floh in den königlichen Garten hinaus. Wie eine Erstickende sog ich den Duft der Bäume und des Nachtjasmins in mich hinein, versuchte den Frieden des Ortes und die Stille des Augenblicks zu trinken.

War es Ylerias Absicht gewesen, mich zu verängstigen? Spielte sie mit mir, wie es in den alten Zeiten die Hexen und Magier so gern getan hatten, um Menschen zu quälen und ihre Furcht als Zaubermittel zu benutzen? Niemals würde ich ihr vertrauen. Niemals! Und wenn sie noch so oft beschwor, auf meiner Seite zu stehen.

Ich rieb mir mit beiden Händen über das Gesicht, als wäre das Gefühl des Verlustes nichts weiter als Dreck, den ich fortwischen konnte. Dann tappte ich auf nackten Füßen durch das taunasse Gras, lehnte mich an einen Baumstamm und blinzelte in den Himmel hinauf.

Nicht nachdenken.

Alles, nur nicht nachdenken.

Nach einer Weile kam Tashma aus dem Schatten eines Ganges herangetrottet. Mit hängenden Flügeln watschelte sie zu mir, blieb vor mir stehen und starrte mich aus großen, traurigen Augen an. »Was ist denn?« Ich bückte mich und kraulte ihre Kopffedern. »Geht es dir gut?«

Die Basiliskendame stieß ein klägliches Winseln aus. Sie umrundete mich ein paarmal, schnupperte an mir, winselte erneut und leckte mir mit ihrer blauen Zunge über die Hand.

»He, was ist denn? Hast du dir Sorgen gemacht? Es tut mir leid. Es tut mir wirklich furchtbar leid.«

Tashma seufzte und schnaufte eine Rauchwolke aus. Wieder musterte sie mich mit diesem bestürzten Blick, dann sprang sie wie ein Ziegenbock in die Luft und rannte mit wedelndem Schweif zu einem der Nussbäume, die sich unter der Last ihrer Früchte nur so bogen. Eine Weile hockte sie einfach nur da, legte den Kopf in den Nacken und starrte wie gebannt in das Astwerk hinauf. Dann begann Tashma, sich wie ein wild gewordener Kreisel um sich selbst zu drehen und aufgeregt zu zwitschern.

»Was ist denn los?« Lustlos trottete ich zu ihr und folgte ihrem Blick. Nichts. Keine Eule, kein Affe und auch keine Eichhörnchen. »Siehst du Gespenster? Da oben ist nichts.«

Der Basilisk ließ sich nicht beirren. Immer ungeduldiger hüpfte und sprang er herum und bellte das unsichtbare Ding an, als wollte er es auffordern, endlich herabzusteigen.

»Ach«, seufzte ich müde. »Jetzt sei schon still.«

Erschöpft wanderte ich ein Stück in Richtung Teich, sank unter einer Weide in das Gras und lehnte mich gegen den Stamm. Ich wollte schlafen. Einfach nur schlafen. Dabei hatte ich zwanzig Tage lang nichts anderes getan.

Tarek

Es war vollkommen sinnlos. Sobald ich die Lebensenergie der Bäume sehen konnte und es schaffte, sie anzuzapfen, nahm sie mir der Halsreif wieder weg. Dieses verdammte Ding schien einen eigenen Willen zu besitzen. Sogar eine eigene Art von Grausamkeit. Ständig gaukelte er mir das Gefühl vor, endlich stärker geworden zu sein, nur um dann umso schmerzhafter zuzuschlagen und mir förmlich die Haut von der Kehle zu brennen. Heute dagegen saugte er mich auf eine sanfte, fast spielerische Weise aus, als wollte er mir vor Augen führen, wie mühelos er mich im Zaum hielt.

Ich fluchte ein paarmal, streckte mich auf dem nächstbesten Ast aus und versuchte, meine Wut zu zügeln. Wenigstens verschafften mir die Stunden nach unserem Unterricht ein wenig Erleichterung. Allmählich kehrte ich sogar halbwegs zu meiner alten Form zurück, auch wenn eine Handvoll Bäume bei Weitem nicht an die endlosen Weiten des Dschungels heranreichten und meinen Hunger nach Bewegung kaum stillen konnten. Aber es lagen jede Menge große Steine herum. Steine, die ich in manchen Nächten stundenlang stemmte, um mich gebührend darauf vorzubereiten, Antares das Herz aus der Brust zu reißen. Wäre der Halsreif nicht gewesen, hätte ich längst O’bats Ausmaße erreicht. So jedoch konnte ich nur jene Phasen nutzen, in denen Ylerias Fessel mir eine Pause gönnte. Als wäre sie ein Jäger, der den Willen seiner Beute brach, indem er sie wieder und wieder befreite und erneut einfing.

Mit einem hauchfeinen Knistern tanzte ein Netz aus leuchtenden Fäden um mich herum, kroch über meine Haut und versprach mir neue Kraft. Aber was brachte es ein? Nichts außer einem Halsreif, der mir die Haut verbrannte und sich an meiner Energie satt fraß.

Dösend ließ ich die Arme vom Ast hängen, blinzelte in das raschelnde Laub hinauf und versuchte zu vergessen, wo ich war. Von irgendwoher kam eines der zahmen Äffchen herbeigehüpft, die sich die Knochenmenschen gerne als Haustiere hielten. Keckernd setzte es sich auf meine Brust, rollte seinen Schweif wie eine Schnecke ein und musterte mich mit schiefgelegtem Kopf. Es stank erbärmlich nach Parfüm und trug alberne Kleidung mit Rüschenbesatz. Auf seinem Kopf hatte irgendjemand eine Mütze aus Samt befestigt und in seinem linken Ohr baumelte ein goldener Ring. Kurzerhand befreite ich es von dem Flitterkram, warf das Zeug ins Gebüsch und kraulte das Tierchen, bis es sich auf meinem Bauch zusammenrollte und fast augenblicklich einschlief. Dabei gab es in regelmäßigen Abständen leise Geräusche von sich, sodass ich das Zwitschern in der Tiefe zunächst auf meinen kleinen Gast schob. Erst nach einer Weile dämmerte mir, dass das zunehmend ungeduldige Keckern nicht von ihm stammte.

Oh, was war nur aus mir geworden?

Ein halbblinder, tauber Tapir?

Schläfrig warf ich einen Blick in die Tiefe und erkannte Gemmas Flammenzehrer, der wie ein Irrlicht im Kreis herumsprang und lauthals nach mir rief. Geisterhaft hell stand das Mädchen neben ihm und versuchte herauszufinden, was seinen Gefährten so in Aufruhr versetzte. Ratlos schaute es hierhin und dorthin, schließlich murmelte es etwas Unverständliches, setzte sich an den Fuß einer Weide und lehnte seinen Rücken gegen den Stamm.

Nach fast zwanzig Tagen war Gemma endlich aufgewacht. Was, bei Zumas blinden Augen, hatte der Flammenkristall nur geheilt? In keiner Geschichte war von einem solch langen Schlaf die Rede. Ich hatte von drei Tagen gehört, einmal auch von fünf. Doch niemals von zwanzig.

Während all der Zeit hatte ich mehrmals befürchtet, sie würde überhaupt nicht mehr aufwachen. Stundenlang hatten Malakat und Kafir von Gemmas Leben erzählt. Von einem Vater, der sie nicht geliebt hatte. Von einer Mutter, die ihr Unglück in Gleichgültigkeit ertränkte. Von einem versklavten Waldkrieger, der sich zusammen mit einem wilden, traurigen Mädchen in die Freiheit hinausschlich, und einer Dienerin, die ihr Bestes tat, um all das Fehlende in Gemmas Leben zu ersetzen. Ich wusste nun, welch stattlichen Preis Antares an ihren Vater, den König der Grauen Küste, gezahlt hatte. Und ich wusste, wie sehr das Mädchen darunter gelitten hatte, wie ein lästiger Gegenstand verkauft worden zu sein.

Gemma hatte niemals einen Feind getötet. Sie war niemals in den Krieg gezogen und hatte niemals blind vor Hass auf schreiende Körper eingeschlagen. Allein ihr Geschlecht trug die Schuld an ihrem Schicksal. Antares’ und Ylerias Wahl war auf das Mädchen gefallen - und dessen eigener Vater hatte es widerstandslos in die Hände eines Ungeheuers gegeben.

Wenn da noch ein Rest Misstrauen gewesen war, hatten Malakat und Kafir ihn ausgelöscht. Ich wollte von meinem Ast springen und zu dem Mädchen zu gehen, doch etwas, für das ich keine Worte fand, ließ mich reglos verharren. Gemma war schöner denn je. Ihr locker geflochtener Zopf glänzte wie Frost im Mondschein, um ihren Körper floss ein hellblaues, hauchzartes Gewand. Nur der Geruch des Mädchens passte nicht zu dieser Reinheit. Ihm entströmte der Gestank dunkler Magie.

Was in aller Welt hatte Yleria ihr angetan?

Ich schob den Affen von mir herunter und bewegte mich langsam in Richtung Baumstamm, wo die Schatten tiefer waren. Irgendein seltsames Spiel ging hier vor sich. Ein Spiel, das sich um Gemma und mich drehte.

Plötzlich erschien eine helle Gestalt auf dem Ast neben mir, im gleichen Augenblick ergriff der Affe Hals über Kopf die Flucht und verschwand im Labyrinth der Baumwipfel.

»Skyla!«

»Allerdings.« Das Drachenmädchen grinste mich an, hob die Arme zu einer fragenden Geste und flüsterte: »Worauf wartest du?«

»Was?«, erwiderte ich überrumpelt.

»Ach Tarek, du weißt genau, was ich meine.« Offenbar hatte sie dem endgültigen Tod ein Schnippchen geschlagen, denn von Schwäche war nichts mehr zu sehen. Ihre Augen blitzten unternehmungslustig, ihr Vogelfederkleid leuchtete wieder in sattem Gelb. »Warum lässt du sie warten? Das ist unhöflich. Hast du etwa Angst, sie könnte dich hässlich finden? Falls ja, dann lass dir gesagt sein, dass du ein Dummkopf bist.«

»Sei still!«

»Ach was.« Sie gluckste, zwinkerte mir zu und stieß mir mit überraschender Kraft beide Hände vor die Brust. »Runter mit dir!«

Instinktiv griff ich nach einem Ast – zu spät. Mein altes Ich hätte sich im Sturz gedreht wie eine Katze und wäre geschmeidig auf beiden Beinen gelandet. Doch jetzt, da ich mich mit einem mickrigen Garten begnügen musste und der Zauber einer Hexe durch mein Blut kroch, fiel ich wie ein Stein zu Boden. Die Krone des Baumes raste von mir weg, dann presste mir ein gewaltiger Schlag die Luft aus den Lungen.

Ich lag im Gras wie ein abgeschossener Affe.

Verdammt!

»Du meine Güte!« Skyla tauchte neben mir auf, kaute auf ihrer Unterlippe herum und trat von einem Geisterbein auf das andere. »Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Du bist doch sonst so anmutig und geschickt.«

»Ich … werde … dich …«

»Ich dachte«, plapperte sie weiter, »dass du auf deinen Füßen landen würdest. Stattdessen fällst du aus dem Baum wie eine überreife Mango! Nun ja, mach dir nichts draus. Du siehst nämlich ausgesprochen gut aus, wie du da im Gras liegst und vor dich hin leidest.«

»Skyla!« Ein scharfer Schmerz fuhr in meine rechte Seite. »Was … verflucht noch mal … sollte das?«

»Tut mir leid. Wirklich. Ich wollte euch beiden nur auf die Sprünge helfen.«

»Was?«

Skyla rollte mit den Augen und seufzte theatralisch. »Ach Tarek. Du weißt genau, was ich meine.«

»Ich dachte, du wärst schwach.«

»Das war ich auch. Aber jetzt … nun ja, wahrscheinlich musste ich einfach nur mal ausschlafen. Es geht mir wieder gut. Zumindest gut genug, um dir unter die Arme zu greifen. Jetzt hör mir mal genau zu, Tarek. Nutze die Vorzüge, mit denen Mohini dich so großzügig ausgestattet hat, anstatt sie in all deiner schrecklichen Bescheidenheit zu verleugnen.«

»Verfluchte Made!« Rasselnd schnappte ich nach Luft. Kein Knochen schien mehr dort zu sein, wo er hingehörte. Noch nie war ich von einem Baum gefallen! Nicht ein einziges Mal! Dafür würde ich dem Drachenmädchen das lausige Fell über die Ohren ziehen!

»Komm her!«, knurrte ich. »Komm sofort her, damit ich dir den Hintern versohlen kann.«

»Ähm, nein. Lieber nicht. Viel Glück euch beiden.« Skylas Gestalt verpuffte und ließ ein mattes Glimmen in der Luft zurück. Oh, ich würde ihr das Innere nach außen krempeln! Ich würde dieser heimtückischen Eidechse niemals wieder auch nur ein einziges Wort glauben.

Mit wild schlagenden Flügeln und aufgestellten Kopffedern fiel der verrückt gewordene Basilisk über mich her. Eine nasse Zunge schleckte einmal quer über mein Gesicht, dann setzte sich das Tier neben mich und rief nach seiner Herrin. Auch das noch!

Vorsichtige Schritte erklangen.

Geisterhaft leuchtete Gemmas Helligkeit in der Nacht.

»Geht es dir gut?« Ihre Stimme war die eines kleinen Vogels. So leise, zart und verschüchtert, dass ich sie nur zu gerne in meine Arme geschlossen hätte. Als sie bis auf wenige Schritte herangekommen war, verharrte sie wie ein verängstigtes Tier und starrte mich an. Nur zögernd begriff ich den Grund für ihre Furcht: Ich lag halbnackt vor ihr, während mein Kaftan irgendwo dort hinten im Gebüsch hing.

Mühsam kämpfte ich mich auf die Beine, wandte ihr den Rücken zu und taumelte zwischen die Büsche. Irgendwo hier musste dieses verdammte Stück Stoff sein! Ich drehte mich hierhin und dorthin, bis ich einen dunklen Schatten ausmachte. Ah ja, dort drüben. Hastig zog ich den Kaftan vom Strauch, streifte ihn über und schloss die Knöpfe.

Als ich wieder zurück auf die Lichtung trat, rechnete ich damit, allein zu sein. Doch Gemma und Tashma standen noch immer dort, wo ich sie zurückgelassen hatte.