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Die Herausgeber

 

PD Dr. Michael Coors ist theologischer Referent am Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG) in Hannover.

 

Prof. Dr. Alfred Simon ist wissenschaftlicher Leiter der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) in Göttingen.

 

Prof. Dr. Bernd Alt-Epping ist leitender Oberarzt in der Klinik für Palliativmedizin der Universitätsmedizin Göttingen.

Michael Coors, Alfred Simon, Bernd Alt-Epping (Hrsg.)

Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

Medizinische und pflegerische Grundlagen – ethische und rechtliche Bewertungen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034194-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-034195-1

epub:    ISBN 978-3-17-034196-8

mobi:    ISBN 978-3-17-034197-5

Inhalt

  1. 1     Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF): Ein einleitender Überblick
  2. Michael Coors, Alfred Simon, Bernd Alt-Epping
  3. Teil 1: Medizinische und pflegerische Grundlagen
  4. 2     Lebenssatt – die Sicht des Geriaters
  5. Matthias Pfisterer
  6. 3     Der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit in der hausärztlichen Praxis
  7. Roland Hanke
  8. 4     Zum pflegerischen Umgang bei Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit
  9. Angelina Verhorst
  10. 5     Der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – Psychiatrische Perspektive
  11. Barbara Schneider
  12. Teil 2: Ethische und rechtliche Bewertungen
  13. 6     Ernährung am Lebensende – Situationen moralischer Ungewissheit fordern ethisch reflektierte Entscheidungen
  14. Annette Riedel
  15. 7     Empirische Daten zum Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit
  16. Nina Luisa Hoekstra, Alfred Simon
  17. 8     Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit = »passiver« Suizid – was folgt?
  18. Dieter Birnbacher
  19. 9     Zur theologisch-ethischen Bewertung des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit: Eine evangelische Perspektive
  20. Michael Coors
  21. 10  Warum der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit nicht als Selbsttötung im Sinne des § 217 StGB zu sehen ist – und welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben
  22. Oliver Tolmein
  23. 11  Grenzziehungen zwischen Suizid und freiwilligem Nahrungsverzicht (FVNF)
  24. Gerald Neitzke
  25. 12  Der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit in Abgrenzung zum Suizid: Kasuistiken und Analogien
  26. Bernd Alt-Epping
  27. Teil 3: Fazit der Herausgeber
  28. 13  Konsense, Kontroversen, Desiderate
  29. Michael Coors, Alfred Simon, Bernd Alt-Epping
  30. Autorenverzeichnis
  31. Sachregister

1          Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF): Ein einleitender Überblick

Michael Coors, Alfred Simon, Bernd Alt-Epping

1.1       Der FVNF und die Suizidhilfe-Diskussion

Nachdem der Deutsche Bundestag am 06.11.2015 nach langen gesellschaftlichen und politischen Debatten eine gesetzliche Regelung der Hilfe zur Selbsttötung beschlossen und im neuen § 217 StGB die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt hatte, standen sehr schnell Abgrenzungsfragen im Raum. Dazu gehört auch die Frage, was im Sinne dieses Gesetzes als Selbsttötung gilt und was nicht. Während sich relativ leicht klären lässt, dass Hilfe zur Selbsttötung klar von der palliativen Sedierung und von der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen aufgrund einer selbstbestimmten Willensäußerung der Patientin oder des Patienten zu unterscheiden ist, wird die Frage, ob der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit mit dem Ziel des Herbeiführens des eigenen Todes eine Form der Selbsttötung ist, unterschiedlich beantwortet und kontrovers diskutiert. Die unterschiedlichen Perspektiven auf diese Frage und die Konsequenzen der unterschiedlichen Antworten werden in den Beiträgen dieses Bandes ausgeführt – bewusst auch jenseits der im engeren Sinne juristischen Frage, wie der FVNF mit Blick auf § 217 StGB zu bewerten ist.

Die Diskussion wird dadurch verkompliziert, dass es primär nicht nur um die Frage geht, ob der FVNF eine Form des Suizids ist oder nicht, sondern darum, welche moralischen Verpflichtungen sich ergeben, wenn ein Mensch den Wunsch nach FVNF bzw. nach Begleitung beim FVNF äußert. Genau wie in der Diskussion um den Suizid und die Suizidhilfe geht es in erster Linie um die Frage, ob, und wenn ja, welche Hilfe gegenüber Menschen angebracht ist, die ihr Leben auf dem Weg des FVNF beenden wollen. Diese Frage hängt nun aber offensichtlich damit zusammen, wie der FVNF selbst bewertet wird. Diese Bewertung macht sich dann mitunter daran fest, ob der FVNF als Suizid begriffen wird oder nicht. Das heißt, die ethische Diskussion über den FVNF und die Hilfe dabei wird letztlich ausgehend von unterschiedlichen Bewertungen des Suizids und der Hilfe zum Suizid diskutiert – genau dies spiegelt sich darin, dass der FVNF in der deutschsprachigen Diskussion erst ausgehend von der neuen Gesetzgebung zur Suizidhilfe zu einem breiter wahrgenommenen ethischen Thema wurde.

Dieser »parasitäre« Charakter der Diskussion macht sie zum Teil besonders unübersichtlich, weil sich hier unterschiedliche Positionierungen zum Umgang mit Suizid und Suizidhilfe und unterschiedliche Positionen bezüglich des FVNF überlagern: So gibt es (1.) Positionen, die den FVNF als Suizid charakterisieren und damit gegen ein Verbot der Hilfe zur Selbsttötung argumentieren und es gibt (2.) Positionen, die dieselbe Identifikation von FVNF und Suizid vornehmen, um damit den FVNF und die Begleitung hierbei zu problematisieren. Zugleich gibt es (3.) Positionen, die die Identifikation des FVNF mit dem Suizid ablehnen, sei es aus rein definitorischen Gründen, oder sei es, weil sie die Begleitung von Menschen beim FVNF deutlich von der Hilfe zur Selbsttötung abgrenzen wollen, die ihnen als ethisch problematisch gilt. Eine weitere (4.) Position sieht den FVNF zwar als eine Form des Suizids an, vertritt aber die Auffassung, dass die medizinische Begleitung dabei (zumindest in der Regel) keine Hilfe beim Suizid ist, sondern eine palliative Begleitung von Menschen, die sich durch den FVNF selbst töten.

1.2       Die Diskussion im internationalen und deutschsprachigen Kontext

Die Praxis des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit und die Diskussion darüber ist nicht neu, sondern hat durch die neue Gesetzgebung in Deutschland nur eine verschärfte Relevanz erfahren, die dann auch die ethische Diskussion forciert. In der internationalen Fachliteratur wird das Thema »Voluntary stopping eating and drinking« (VSED) schon sehr viel länger auch ethisch diskutiert (z. B. Bernat et al. 1993; Quill et al. 1997).

In Deutschland haben Chabot und Walther schon im Jahr 2006 ein Buch unter dem Titel »Ausweg am Lebensende« publiziert, das inzwischen in fünfter Auflage erschienen ist. Die Autoren plädieren – wie auch schon Bernat et al. (1993) – für die Option des FVNF als Alternative zur Suizidhilfe, insbesondere angesichts dessen, dass diese in den meisten Ländern verboten und für viele, insbesondere Ärztinnen und Ärzte, eine ethisch problematische Option darstellt. Hier bietet für Chabot und Walther der FVNF einen Ausweg an, den sie auch als Weg des passiven Suizids kennzeichnen – eine Bezeichnung, die in der aktuellen Diskussion u. a. von Birnbacher (2015) aufgegriffen wird. Dass das Buch von Chabot und Walther inzwischen in fünfter Auflage erschienen ist, macht deutlich, dass hier offensichtlich ein Bedarf getroffen ist: Angesichts zahlreicher Probleme im Umgang mit schwierigen ethischen Entscheidungen am Lebensende gibt es Bedarf an »Auswegen am Lebensende«. Ob der FVNF in diesem positiv wertenden Sinn ein Ausweg ist oder ob er eine »palliative option of last resort« (Quill et al. 1997), also eine ultima ratio Option und keine Option neben anderen darstellt, ist sicher eine der wesentlichen ethischen Fragen, die in den Beiträgen dieses Bandes diskutiert wird.

1.3       FVNF oder »Sterbefasten«? Zur Begrifflichkeit

Für die deutsche Diskussion, insbesondere für die breitere öffentliche Wahrnehmung, sind darüber hinaus einzelne Erfahrungsberichte von betroffenen Angehörigen von Bedeutung (zur Nieden 2016; Luckwaldt 2018). Insbesondere in diesen deutschsprachigen Erfahrungsberichten wird der FVNF häufig als »Sterbefasten« bezeichnet, ein Begriff, der auch in der medialen Darstellung häufig Verwendung findet. Dieser Begriff ist aus mehreren Gründen problematisch: Zunächst darf man bezweifeln, dass der Begriff des Fastens eine angemessene Beschreibung des Vorgangs des FVNF ist. Denn Fasten bezeichnet zunächst »die völlige Enthaltung von Speise und (in der Regel) Trank aus kultischen Gründen« (Gerlitz et al. 1983). Religionsgeschichtlich stand dabei ursprünglich eine reinigende Funktion des Fastens im Vordergrund: Böse Geister und Dämonen sollten durch das Fasten vertrieben werden. Das Fasten konnte aber auch als Buße für begangene Sünden, aus Trauer oder mit dem Ziel der ekstatischen Gottesbegegnung geschehen (Gerlitz et al. 1983). Grundsätzlich zielt das religiös-kultische Fasten nie auf den Tod, sondern auf eine Vertiefung des (religiösen) Lebens und auf Reinigung von den Mächten der Sünde und des Todes.

Zum anderen zielt der Begriff »Sterbefasten« offensichtlich darauf, die ursprünglich positive moralische Bewertung des Fastens im religiösen Kontext auf den FVNF zu übertragen. Sowohl in seiner religiösen als auch in der säkularisierten Form ist Fasten in der Regel positiv konnotiert und es verbindet sich damit zugleich der Respekt vor der Leistung des Verzichts. Zudem könnte der Begriff des »Sterbefastens« im euphemistischen Sinne einen symptom- und belastungsfreien Prozess suggerieren, der aus klinischer Perspektive keineswegs gesichert ist. Das Thema des FVNF unter dieser Überschrift zu diskutieren, hieße also, die Frage der ethischen Bewertung tendenziell schon beantwortet zu haben und dementsprechend sind die einschlägigen Bücher und Onlineportale (wie z. B. www.sterbefasten.de), die unter dieser Überschrift zu finden sind, auch darauf ausgerichtet, den FVNF im positiven Sinne als einen Ausweg am Lebensende zu propagieren.

Eine solche Position zu beziehen, ist vollkommen legitim. Im besten Falle werden die damit getroffenen Entscheidungen ethisch reflektiert und begründet. Weil das Ziel dieses Bandes aber eine offene Diskussion über die unterschiedlichen Bewertungsmöglichkeiten des FVNF ist, greifen wir im Titel bewusst zu dem zwar sperrigen, aber dafür klar deskriptiven Begriff des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit.

1.4       FVNF und Ernährung am Lebensende

Mit diesem Begriff wird zunächst weitgehend klar beschrieben, worum es geht – zu ergänzen wäre lediglich, dass das Ziel des FVNF das Herbeiführen des eigenen Todes ist. Insbesondere die Betonung der Freiwilligkeit des Verzichts ist dabei alles andere als trivial, denn die Freiwilligkeit unterscheidet den FVNF deutlich von anderen, ähnlichen Phänomenen. Freiwilligkeit setzt nämlich zunächst voraus, dass eine bewusste Entscheidung für den Verzicht getroffen wurde. Dies trifft aber für viele, häufig hochaltrige, Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen oder anderweitig schwer kranke, sterbende Patientinnen und Patienten nicht zu, die aufgrund ihres körperlichen Gesamtzustandes keinen oder einen verringerten Bedarf an Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr haben. Diese Menschen entscheiden sich nicht dafür, auf Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten, sondern sie essen und trinken einfach zunehmend weniger, weil sie keinen Hunger und keinen Durst mehr haben. Das kann mitunter auch pathologische Gründe haben, aber es ist in vielen Fällen ein ganz normaler Verlauf im hohen Alter, bei schwerer Krankheit und/oder am Lebensende.

Die Abgrenzung zwischen Fällen, in denen es sich um eine klare, freie Entscheidung zum Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit handelt und Fällen, in denen der Bedarf an Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr schwindet, wird allerdings in der Praxis häufig auch fließend sein. Gerade darum stellen wir die Diskussion um den FVNF in diesem Band auch in den Horizont der weiteren Diskussion zum Umgang mit Ernährung am Lebensende überhaupt.

1.5       Zum Aufbau des Buches

Im ersten Teil des Buches finden sich an der Praxis orientierte Beiträge, die aus unterschiedlichen Perspektiven schildern, was bei der Begleitung eines Menschen beim FVNF zu beachten ist. Matthias Pfisterer stellt einleitend aus ärztlich-geriatrischer Perspektive einen Fall vor, um in die Problematik des Umgangs mit Fragen der Ernährung am Lebensende und mit dem FVNF einzuführen (image Kap. 2). Roland Hanke geht sodann alle aus hausärztlicher Perspektive relevanten Aspekte der Begleitung eines Patienten beim FVNF durch (image Kap. 3). Angelina Verhorst berichtet vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen als Pflegerin im Hospiz über die pflegerischen Herausforderungen in der Begleitung von Menschen beim FVNF (image Kap. 4). Barbara Schneider geht sodann aus psychiatrischer Perspektive darauf ein, was grundsätzlich im Umgang mit Todeswünschen allgemein und Suizidwünschen im Besonderen zu beachten ist (image Kap. 5). Diese praxisorientierten Beiträge sind natürlich nicht frei von moralischen Bewertungen, aber die ethische Diskussion dieser Bewertungen steht hier nicht im Vordergrund.

Im zweiten Teil des Buches rücken dann die moralischen Bewertungsfragen und ihre ethische Reflexion in den Vordergrund. Annette Riedel führt zunächst in ethische Fragen rund um die Ernährung am Lebensende insgesamt ein und verordnet das Thema des FVNF in diesem Kontext (image Kap. 6). Nina Luisa Hoeckstra und Alfred Simon bieten dann einen Überblick über empirische Studien zum FVNF und stellen Ergebnisse einer eigenen empirischen Studie zu Erfahrungen und Einstellungen zum FVNF in der deutschen Ärzteschaft vor (image Kap. 7).

Die folgenden beiden Beiträge plädieren aus unterschiedlicher Perspektive und mit unterschiedlicher Konsequenz dafür, den FVNF als eine Form des Suizids zu betrachten. Dieter Birnbacher versteht den FVNF als Suizid durch Unterlassen bzw. als »passiven Suizid« und spricht sich dafür aus, die Unterstützung beim FVNF ebenso wie die Hilfe zur Selbsttötung ethisch gleichermaßen als zulässig zu bewerten (image Kap. 8). Michael Coors argumentiert aus der Perspektive evangelischer Theologie dafür, dass die zentrale ethische Unterscheidung diejenige zwischen dem Herbeiführen des Todes und dem Zulassen des Sterbens ist und dass in diesem Sinne der FVNF zwar als eine Form des Suizids, aber die Begleitung eines Menschen beim FVNF in der Regel nicht als Suizidhilfe, sondern als palliative Begleitung gelten sollte (image Kap. 9).

Die letzten drei Beiträge in diesem Abschnitt differenzieren aus unterschiedlichen Perspektiven zwischen Suizid und FVNF. Zunächst begründet Oliver Tolmein seine juristische Einschätzung, dass der § 217 StGB (Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung) sich nicht auf die Begleitung eines Menschen beim FVNF erstreckt (image Kap. 10). Gerald Neitzke zieht aus ethischer Perspektive Grenzen zwischen FVNF und Suizid, identifiziert aber auch Gemeinsamkeiten zwischen FVNF, Suizid und Therapiebegrenzung. Darum schlägt er vor, diese als unterschiedliche Formen eines selbstverfügten Sterbens zu verstehen (image Kap. 11). Abschließend grenzt Bernd Alt-Epping aus medizinischer Perspektive, ausgehend von palliativmedizinischen Kasuistiken, den FVNF vom Suizid ab (image Kap. 12).

1.6       Dank

Einige Beiträge dieses Bandes gehen auf Vorträge im Rahmen einer Tagung des Zentrums für Gesundheitsethik (ZfG) in Hannover zurück, die dort am 16. März 2017 in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) unter Leitung der Herausgeber dieses Bandes stattfand. So gilt unser Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ZfG, insbesondere seiner damaligen Direktorin Dr. Andrea Dörries, dem Vorstand der DGP, insbesondere deren Präsidenten Prof. Dr. Lukas Radbruch, für die Unterstützung und Förderung der Tagung. Den Herausgebern der Münchner Reihe Palliative Care – Prof. Dr. Gian Domenico Borasio, Prof. Dr. Monika Führer, Prof. Dr. Dr. Ralf Jox und Prof. Dr. Maria Wasner – danken wir für die freundliche Aufnahme des Bandes in die Reihe und dem Kohlhammer Verlag für die Unterstützung bei der Erstellung des Bandes. Elin Scheel und Dorian Weber danken wir für die Unterstützung bei der Korrektur und formalen Bearbeitung der Beiträge. Insbesondere aber danken wir allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit an diesem Band.

Literatur

 

Bernat JL, Gert BG, Mogielnicki RP (1993) Patient Refusal of Hydration and Nutrition. An Alternative to Physician-Assisted Suicide or Voluntary Active Euthanasia. Archives of Internal Medicine 153: 2723–2731.

Birnbacher D (2015) Ist Sterbefasten eine Form von Suizid? Ethik in der Medizin 27: 315–324.

Chabot B, Walther Chr (2017) Ausweg am Lebensende. Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken. 5. Aufl. München/Basel: Reinhardt Verlag.

Gerlitz P, Mantel H, Hall SG, Crehan JH (1983) Art. Fasten/Fasttage. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 11, S. 41–59.

Luckwaldt F (2018) Ich will selbstbestimmt sterben! Die mutige Entscheidung meines Vaters zum Sterbefasten. München/Basel: Reinhardt Verlag.

zur Nieden Chr (2016) Sterbefasten. Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – Eine Fallbeschreibung. Frankfurt a. M.: Mabuse Verlag.

Quill TE, Bernard L, Brock DW (1997) Palliative Options of Last Resort. A Comparison of Voluntary Stopping Eating and Drinking, Terminal Sedation, Physician-Assisted Suicide, and Voluntary Active Euthanasia. Journal of the American Medical Association 278: 2099–2104.

 

 

 

 

Teil 1:  Medizinische und pflegerische Grundlagen

2          Lebenssatt – die Sicht des Geriaters

Matthias Pfisterer

2.1       Respekt und Lebensqualität stehen im Mittelpunkt

In der Altersmedizin ist man häufig mit der Frage konfrontiert, ob die verminderte oder komplett eingestellte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme eines hochbetagten Patienten als bewusste willentliche Entscheidung zu deuten ist oder ob sie Ausdruck einer evtl. reversiblen und behandelbaren Ursache ist. Insofern gilt es, in jedem einzelnen Fall abzuwägen, welche Intensität von Diagnostik und Behandlung für diesen individuellen Patienten angemessen ist, denn in jedem Fall müssen die Lebensqualität und der Respekt vor der unantastbaren Würde des betroffenen Menschen im Mittelpunkt jeglicher Überlegung stehen.

2.2       Hochbetagte sind besonders anfällig für Störungen der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme

Der Volksmund sagt: »Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen«. Das bringt sehr gut zum Ausdruck, dass der Genuss von Speisen und Getränken zum körperlichen und seelischen Wohlbefinden beiträgt. Dies gilt besonders für multimorbide, gebrechliche ältere Menschen, bei denen eine unzureichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme Ausdruck von relevanten Störungen der Gesundheit auf körperlicher, psychischer und/oder sozialer Ebene sein kann. Erschwerend kommt hinzu, dass auch gesunde Hochbetagte durch altersabhängige Veränderungen des Geschmacks- und Geruchssinns, der Steuerung des vegetativen Nervensystems, der Aktivität und Durchblutung des Magendarmtraktes, der Produktion und Ausschüttung für die Verdauung bedeutsamer Hormone (Roberts und Rosenberg 2006), sowie Veränderungen des Zahnstatus eine Risikogruppe für verminderte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme darstellen. Gerade die häufig zu findende Multimorbidität älterer Menschen führt dazu, dass unterschiedlichste Medikamente verordnet werden, die wiederum durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen wie Mundtrockenheit, Schluckstörung, Übelkeit/Erbrechen, Inappetenz oder Geschmacksstörungen zu verminderter Nahrungsaufnahme beitragen können. Ebenso zählen Einsamkeit, Depression, chronische Erkrankungen (z. B. chronisch obstruktive Lungenerkrankungen oder Herzinsuffizienz) und die verschiedenen Formen von Demenzerkrankungen zu den Hauptursachen von verminderter Nahrungsaufnahme und damit des Gewichtsverlustes bei alten Menschen (Löser et al. 2007).

2.3       Hochrisikogruppe Menschen mit Demenz

Besonders häufig sind Störungen der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme bei Menschen mit Demenz zu beobachten. In einer internationalen Studie konnte gezeigt werden, wie eng der Zusammenhang zwischen dem Schweregrad einer Demenzerkrankung und dem Ausmaß des Gewichtsverlustes bzw. der Nahrungsaufnahme ist. Dagegen erscheinen die Effektstärken von Vergleichen unterschiedlicher Regionen weltweit eher unbedeutend (Albanese et al. 2013). In einer anderen Beobachtungsstudie zum klinischen Verlauf fortgeschrittener Stadien von Demenzerkrankungen bei 323 Pflegeheimbewohnern zeigten in einem Beobachtungszeitraum von 18 Monaten 86 % der Menschen Essprobleme (Mitchell et al. 2009). Somit wird deutlich, dass Ernährungsprobleme bei weit fortgeschrittenen Demenzerkrankungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Sie können auch bei bester pflegerischer und dem Erkrankungsstadium angemessener Versorgung auftreten.

2.4       Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme als Ursache für Konflikte mit Angehörigen

Im klinischen Alltag eines Geriaters und Palliativmediziners sind Probleme wie Inappetenz, Ekel vor dem Essen, vermindertes Durstgefühl, reduzierte Wachheit (Vigilanz), Übelkeit und/oder Erbrechen, Verstopfung, Schluckstörung und Desorientiertheit sehr häufig bei Patienten mit weit fortgeschrittenen chronischen onkologischen und nicht-onkologischen Erkrankungen zu beobachten. Immer wieder kommt es in solchen Fällen zu konflikthaften Situationen zwischen Patient und Angehörigen oder Betreuenden, da sie Essen und Trinken als Garanten für ein Weiter- bzw. Überleben sehen und die Essenszubereitung häufig als Liebesbeweis verstanden wird. Die fehlende oder geringe Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme wird dann schnell mit dem Verzicht auf Leben beziehungsweise der Aufgabe des Lebenswillens verknüpft. Der Patient dagegen hat häufig das Gefühl, nicht essen zu können, während die Angehörigen den Wunsch haben, dass er wieder essen können soll. Dies zeigt exemplarisch auf, wie in solchen Situationen körperliche, psychische und soziale Aspekte die Situation beeinflussen.

In den letzten 25 Jahren ist dem Autor im Rahmen seiner Tätigkeit als klinisch tätiger Geriater und Palliativmediziner kein Patient begegnet, der aus stabiler gesundheitlicher Situation heraus einen Verzicht auf Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr umgesetzt hätte. Es handelte sich vielmehr um Menschen mit weit fortgeschrittenen Erkrankungen in palliativer Situation, die glaubhaft vermittelten, dass sie nicht mehr essen und trinken wollen und können. Die Komplexität solcher Fälle wird im Folgenden anhand eines realen Fallberichtes dargestellt. In dem Fall finden sich wesentliche in der aktuellen Literatur beschriebenen Aspekte zum Thema freiwilliger Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung wieder (z. B. Ivanovic’ et al. 2014; McGee und Miller 2017; Wax et al. 2018).

2.5       Kasuistik: Herr P., 86 Jahre

Herr P. ist ein geistig reger 86-jähriger pensionierter Oberamtsrat, der in seiner Heimatgemeinde auch wegen seines sozialen Engagements in verschiedenen Vereinen, seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Leiter des Standes- und Grundbuchamtes und seiner langjährigen Tätigkeit als Kreistagsabgeordneter hohes Ansehen genießt. Er bildet mit seiner Frau, mit der er seit über 60 Jahren verheiratet ist, das Zentrum einer Großfamilie (drei Töchter, einen Sohn im Alter zwischen 60 und 48 Jahren, neun Enkel, einen Urenkel).

Seit Jahren leidet Herr P. unter einer medikamentös leitliniengerecht behandelten, jedoch fortschreitenden chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD Stadium Gold IV), die dazu führte, dass er körperlich wenig belastbar ist und auf die kontinuierliche Zufuhr von Sauerstoff (2 l/Minute) über eine zehn Meter lange Sauerstoffleitung angewiesen ist. Die Sauerstoffleitung bestimmt im häuslichen Bereich seinen Aktionsradius (Küche, Wohnzimmer, Toilette, Terrasse). Bei Familienfesten und Besuch besteht er auf den Verzicht der Sauerstoffzufuhr, weil er »ohne Schlauch im Gesicht« teilnehmen möchte. Dies hält er dann eisern für wenige Stunden mit teilweise zyanotischen (blauen) Lippen durch. Den Folgetag muss er dann wegen Erschöpfung im Bett verbringen. Die Benutzung eines Rollators akzeptiert er trotz deutlicher Gangunsicherheit nur selten. Der Vorschlag, einen Rollstuhl zu besorgen, um längere Gehstrecken zu überwinden, wird mit dem Hinweis abgelehnt, so hinfällig sei er doch nicht.

Seit über fünf Jahren sind bei ihm erhöhte weiße Blutkörperchen (Leukozytose) und erhöhte Entzündungswerte zu beobachten, deren weitergehende Abklärung (z. B. Knochenmarkspunktion) er gegenüber seinem Hausarzt und im Rahmen zweier Krankenhausaufenthalte beständig abgelehnt hat. An weiteren Erkrankungen bestehen: eine Niereninsuffizienz (Stadium III), die auch zu einer renalen Anämie (Therapie mit Erythropoetin) geführt hat; Bluthochdruck; Durchblutungsstörungen der Beine (pAVK Stadium IIb nach Fontaine) und Angiodysplasien des Magens mit Blutungsneigung; Zustand nach Katarakt-Operation (Grauer Star) beidseits und ein Zustand nach einer Hämorrhoiden-Operation vor Jahrzehnten, die durch Vernarbungen zu teilweiser Stuhlinkontinenz bei Durchfallepisoden führt.

Zu seinem erfahrenen 66-jährigen Hausarzt Dr. L. hat Herr P. ein vertrauensvolles Verhältnis. In Phasen mit Krankheitsdynamik besucht Dr. L Herrn P. mindestens einmal wöchentlich zu Hause. Der Hausarzt pflegt in medizinischen Fragen, die Herrn P. betreffen, mit dessen ausdrücklicher Zustimmung einen engen Austausch mit dem Sohn, der als Arzt in einem Krankenhaus tätig ist. In seiner Patientenverfügung hat Herr P. seine Wünsche formuliert. Die Inhalte hat er gemeinsam mit seinen vier Kindern besprochen. In wirtschaftlichen Angelegenheiten ist die im gleichen Hause lebende Tochter vorsorgebevollmächtigt, in gesundheitlichen Belangen der als Arzt tätige Sohn. Ein häufig von ihm geäußerter Wunsch ist, eines Tages zu Hause sterben zu können.

Der Rückgang der körperlichen Leistungsfähigkeit hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass Herr P. sich schrittweise von Tätigkeiten wie Radfahren, Rasenmähen, Straße kehren und Einkaufen verabschieden musste. Diese Arbeiten wurden Zug um Zug von seiner sieben Jahre jüngeren, rüstigen Ehefrau übernommen. Er kompensiert dies mit dem Lesen unzähliger Romane und Krimis, dem Lösen von komplexen Kreuzworträtseln sowie Betrachten von Fernsehbeiträgen zu sportlichen Ereignissen (insbesondere Fußball) und Naturfilmen. Zudem bringt er sich in die Hausaufgabenbetreuung zweier im Hause lebender Enkelkinder im Grundschulalter ein und hilft seiner Frau bei der Essenszubereitung. Aber auch hierbei machen sich zunehmend die verminderte Belastbarkeit und Stresstoleranz bemerkbar.

Phasenweise äußert er, »genug vom Leben« zu haben und »nicht mithelfen« zu können, und dass er »nur noch rumsitze«. In solchen Phasen beteuern ihm seine Ehefrau und die erwachsenen Kinder, wie sehr seine Anwesenheit ihnen am Herzen liege und dass man ihn brauche. Auch der Verweis auf die von ihm vor über 30 Jahren geleistete Pflege der demenzkranken Schwiegermutter oder die Jahre, als die Kinder auf seine Hilfe angewiesen waren und diese Hilfe nun gerne zurückgäben oder den Beitrag, den er in der Enkelbetreuung leistet, scheinen ihn dann nicht von seiner Einstellung abzubringen.

Herr P. fällt in eine tiefe existentielle Lebenskrise, als Anfang Juli 2017 seine Ehefrau vollkommen unerwartet an einem plötzlichen Herztod im gemeinsamen Schlafzimmer verstirbt. Trotz des engen Zusammenhalts der Familie, des günstigen Umstandes, dass eine der Töchter mit ihrem Mann und den beiden Enkelkindern im gleichen Haus wohnt und sofort die Versorgung des Vaters leisten kann, nehmen Äußerungen wie »ich habe genug vom Leben« und »ich kann nicht mehr« zu. Auch regelmäßige Besuche durch die anderen Kinder, die Schwägerin und die Enkel bringen in der Trauerphase nur kurze Ablenkung.

Zur Überraschung der Familie zeigt Herr P. einige Wochen nach dem Tod seiner Frau trotz der starken Trauerreaktion den Willen zur selbstständigen Lebensführung. Überlegungen zur Einbeziehung einer Haushaltshilfe oder einer 24-Stunden-Hilfe werden von ihm mit dem Hinweis auf die Unterstützung durch die Tochter und seine eigenen Fähigkeiten abgelehnt. Tatsächlich bewältigt er in den nächsten Monaten die Körperpflege weiterhin selbstständig und schafft es, Frühstück und Abendessen selbst zuzubereiten. Er zeigt weiter Interesse an seinen gewohnten Tätigkeiten wie verfolgen der Sportschau oder Bücher lesen. Zudem erkundigt er sich mit Interesse nach Ereignissen aus dem Familienleben. Dass ihm die morgendliche Körperpflege und der Bekleidungswechsel viel abverlangen, zeigt sich daran, dass er dafür ca. eine Stunde benötigt und sich anschließend längere Zeit ausruhen muss.

In dieser Lebensphase kommt es vier Monate nach dem Tod der Ehefrau zu einer weiteren akuten Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und zum Fortschreiten der Lungenerkrankung mit Rückgang der Belastbarkeit. Eine durch den Hausarzt wegen des Verdachts auf eine Bronchitis eingeleitete Therapie mit Antibiotika und Diuretika zeigt nur kurzfristig Besserung. Herr P. beschreibt seine Dyspnoe mit den Worten: »Es ist manchmal so, als ob mir jemand mit zwei Händen den Hals zudrückt.« Das Angebot der Einweisung in ein Krankenhaus weist er mehrfach zurück. Auch das Angebot, die Atemnot mit Opiaten zu lindern, lehnt er wiederholt gegenüber Hausarzt und Familie ab, da er davon überzeugt ist, dass er durch deren Einnahme die Kontrolle verlieren könnte und dann vermehrt Hilfe annehmen muss.

»Ich habe genug«

Herr P. äußert wiederholt, dass das Gefühl »der Last, zu leben«, die positiven Aspekte des Lebens überwiege. Ärztlicherseits besteht angesichts des klinischen Gesamteindrucks Einigkeit, dass aktuell keine mit Pharmaka zu behandelnde Depression vorliegt. Herr P. benennt seine Perspektivlosigkeit und sein in dieser Situation als zwecklos und belastend empfundenes Leben. Äußerungen wie »Ich habe genug«, »Ich bin es leid«, »Mir reicht’s!«, »Ich sitze nur noch rum und bin für nichts mehr zu gebrauchen!« nehmen zu. Er empfindet sich als Belastung für Familie, »Ich mache Dir so viel Arbeit.« Auch Beteuerungen von unterschiedlichen Familienmitgliedern, dass die Unterstützung gerne geleistet werde und dass man ihn brauche, scheinen nicht gehört zu werden. Er antwortet dann: »Es ist nichts gegen Euch. Ich kann nicht mehr, das müsst ihr doch verstehen! Ihr wisst nicht wie das ist.«

»Kannst Du mir etwas geben?«

Vor dem Hintergrund dieser an Häufigkeit zunehmenden Diskussionen bittet Herr P. seine im Hause lebende jüngste Tochter und seinen als Arzt tätigen Sohn an einem Freitagabend Ende November 2017 zu einem Gespräch. In dem Gespräch fragt er den Sohn: »Kannst Du mir etwas (zum Sterben) geben?«. Als der Sohn diese Frage verneint und zum Ausdruck bringt, dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren zu können und zudem meint, nach einem solchen Schritt selbst nicht damit zurechtzukommen, fragt Herr P.: »Welche anderen Möglichkeiten gibt es?«. Der Sohn nennt ihm mehrere Möglichkeiten: a) eine erneute Krankenhausaufnahme mit dem Ziel, die Atemnot und Belastbarkeit möglichst zu bessern, b) den Einsatz lindernder Medikamente im häuslichen Bereich mit ähnlichem Ziel, c) Verzicht auf Essen und Trinken sowie, falls erforderlich, die Gabe lindernder Medikamente (»Wirkung dann wie ein Schnaps«), d) der Gang in die Schweiz, dort sei Unterstützung beim Suizid möglich. Der Sohn erklärt, dass das Heft des Handelns beim Vater liegen muss und nicht beim Sohn. Herr P. äußert in der emotionalen Diskussion den Wunsch, »das mit dem Verzicht auf Essen und Trinken und dem Schnaps« umsetzen zu wollen. Auf Vorschlag des Sohnes wird verabredet, dass Herr P. seinen Wunsch nach dem Wochenende, am Montag, mit seinem Hausarzt besprechen wird, um dann über das weitere Vorgehen zu entscheiden.

Der erste Tag ohne Essen und Trinken

Breits am folgenden Samstagmorgen bleibt Herr P. im Bett und teilt seiner im Hause lebenden Tochter mit, dass er nichts frühstücken und nichts trinken wolle. Er lehnt auch die Einnahme seiner Medikamente ab und beendet die Sauerstofftherapie. Dem von der Tochter herbeigerufenen Sohn versichert er, dass dieses Vorgehen seinem Willen entspreche und erlaubt auf Nachfrage, dass der Sohn die beiden anderen Kinder über die Entscheidung des Vaters informiert. Die Nachricht löst bei allen große Betroffenheit aus. Eine Tochter reist noch am gleichen Tag an, um das Gespräch mit dem Vater zu suchen, die andere Tochter ist emotional so aufgewühlt, dass sie erst am Folgetag anreisen kann. Im Laufe des Samstags bleibt Herr P. im Bett und lehnt wiederholt Getränkegebote ab. Zur Linderung der Dyspnoe akzeptiert er erstmals am Samstagnachmittag das Kleben eines Opioid-Pflasters (Fentanyl TTS 12 µg/h). Im Bett liegend wirkt er ruhig und entspannt, die meiste Zeit dösend oder schlafend. Lediglich um 18.00 Uhr verlässt er das Bett, um gemeinsam mit seinem Sohn bis 20.00 Uhr die Sportschau zu schauen. Dies bereitet ihm sichtlich Mühe, er dämmert zwischendurch weg, besteht aber trotzdem darauf, die Sendung bis zum Ende anzusehen und lehnt weiterhin die Sauerstoffzufuhr, die Gabe seiner Dauermedikation und Getränke ab. In der Nacht schläft die im Hause lebende Tochter heimlich im Nebenzimmer, um gegebenenfalls wegen der Gangunsicherheit bei Bedarf Hilfe leisten zu können. Herr P. selbst hatte seinen anwesenden Kindern vermittelt, dass sie ruhigen Gewissens in ihr jeweiliges Zuhause zurückkehren könnten, da er gut zu Recht komme. Tatsächlich beobachtet die heimlich in der Wohnung verbliebene Tochter einen unsicheren, aber selbstständigen Toilettengang. Auch in dieser Phase bringt Herr P. klar zum Ausdruck, dass es ihm ein großes Bedürfnis ist, sich selbstständig zu versorgen und niemandem zur Last zu fallen.

Der zweite Tag, die Schwäche nimmt zu

Am Sonntagmorgen akzeptiert Herr P. erstmals Unterstützung durch seine jüngste Tochter bei der Körperpflege im Badezimmer (Waschen + frischer Schlafanzug). Er wirkt sehr schwach und bewältigt trotz schwerster Atemnot die Gehstrecke von ca. sechs Metern mit einer Hilfsperson vom Schlaf- ins Badezimmer und zurück. Danach verlässt er das Bett nicht mehr. Im Bett wirkt er entspannt und ohne schwere Atemnot.

Im Laufe des Sonntags kommen die älteste Tochter, einer der drei Schwiegersöhne, die Schwiegertochter und vier Enkelinnen zu Besuch. Insbesondere der ältesten Tochter fällt es schwer, die Entscheidung des Vaters hinzunehmen. Beim Eintreffen in der elterlichen Wohnung ist sie so aufgewühlt, dass zunächst weitere Familienmitglieder beruhigend und erklärend auf sie einwirken müssen, bevor sie die Kraft findet, mit dem im Schlafzimmer liegenden Vater über die aktuelle Situation zu sprechen. An diesem Tag erklärt Herr P. sowohl seiner ältesten Tochter als auch seinem Schwiegersohn in Einzelgesprächen, warum er nicht mehr könne und erreicht, dass beide seine Entscheidung akzeptieren. Für die ihn besuchenden Enkelinnen im Alter zwischen 16 und 22 Jahren findet er liebevolle Worte und bringt zum Ausdruck, wie stolz er auf sie sei.

Der dritte Tag: »Das dauert noch eine Weile!«

Nach ruhiger Nacht ohne erkennbare Unterbrechungen (eine der Töchter »hält Wache« im Nachbarzimmer) ist Herr P. weiterhin schwach und wünscht keine Sauerstoffzufuhr, Nahrung oder Getränke. Er äußert nicht das subjektive Erleben von Hunger und Durst. Am Morgen und in der Mittagspause kommt der von den Kindern informierte Hausarzt Dr. L. zum Hausbesuch und überzeugt sich in einem Vier-Augengespräch mit Herrn P. ebenfalls von dessen Entscheidung. Anschließend verabreicht er ihm wegen Atemnot jeweils ein Opioid (1 mg Hydromorphon s. c.), was einen gut lindernden Effekt zeigt und dazu führt, dass Herr P. für kurze Zeit schläft. Die im Rahmen der Hausbesuche stattfindenden kurzen Gespräche mit den anwesenden Angehörigen, in denen der Hausarzt Dr. L. sein Verständnis für die Situation des Vaters zum Ausdruck bringt und die Begleitung im häuslichen Umfeld zusichert, erlebt die Familie als wichtige Bestätigung und Stütze für die weitere Begleitung.

Im Laufe des Montags besuchen drei weitere Enkel und ein Schwiegersohn Herrn P. an seinem Krankenlager, um Abschied zu nehmen. Alle berichten unabhängig voneinander, dass Herr P. für jeden eine persönliche wertschätzende Botschaft hat und sich mit ihnen an gemeinsame Erlebnisse erinnert. Die Ankündigung des ältesten Enkels: »Ich komme am Mittwoch wieder«, beantwortet Herr P. mit folgenden Worten: »Warum so bald wieder? Das dauert noch eine Weile!«.

Am Montagabend klagt Herr P. gegenüber seinem Sohn, dem Arzt, erstmals »Es ist ein schwerer Weg!« und äußert Unzufriedenheit über die Ungewissheit, wie lange es noch dauern wird. In dieser Nacht bleibt der Sohn beim Vater und verabreicht ihm wegen Atemnot erneut ein Opioid (1 mg Hydromorphon s. c.). Damit schläft Herr P. ohne Atemnot die ganze Nacht durch.

Am Endes des vierten Tages der erlösende Tod

Am Dienstagmorgen reagiert Herr P. nicht mehr auf Ansprache, verzieht jedoch beim Versuch, ihn zu lagern, das Gesicht, was von den Anwesenden als Schmerzäußerung gedeutet wird, weshalb man ihm ein Opioid (2 mg Hydromorphon s. c.) verabreicht. Nach Einsetzen der Wirkung des Schmerzmittels kann durch eine der Töchter und den Sohn eine Inkontinenzvorlage eingebracht werden, ohne dass Herr P. Hinweise für ein Schmerzerleben zeigt. An diesem Tag ist die intensive Mundpflege von großer Bedeutung, da Herr P. deutliche Zeichen von Mundtrockenheit zeigt. Darüber hinaus gibt sie den anwesenden Kindern die Möglichkeit, etwas für ihren Vater »zu tun«.

Am Dienstagmittag kommt der Hausarzt Dr. L zum Hausbesuch und gibt der Familie durch sein ruhiges und fürsorgliches Verhalten Rückhalt und Bestätigung für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Die älteste Tochter liest dem schlafenden Vater »schöne Geschichten« vor und im Laufe des Tages erscheinen abwechselnde Besucher aus dem engeren Familienkreis, um sich zu verabschieden.

Seit Samstagnacht hat Herr P. keine Ausscheidung mehr, weder Stuhlgang noch Urin. Am Dienstagabend entwickelt Herr P. eine leicht rasselnde Atmung, welche als Zeichen des herannahenden Todes gedeutet wird. Alle vier Kinder beschließen daraufhin, gemeinsam im Nachbarzimmer in Hörweite zu übernachten. Nachdem um 23.00 Uhr das Licht für die Nachtruhe gelöscht wird, verstirbt Herr P. um 23.29 Uhr in Anwesenheit seiner Kinder.

Die Zeit danach

Am nächsten Morgen kommt der Hausarzt Dr. L. vor seiner Sprechstunde zur Leichenschau und drückt der Familie sein Beileid aus. Herr P. verbleibt den ganzen Mittwoch in seinem Bett, um der Familie Zeit zum Abschied und Innehalten zu geben. Seine Töchter waschen ihn und kleiden ihn so an, wie er sich es gewünscht hätte. Am Nachmittag kommt die Gemeindepfarrerin, die auch die Aussegnung und Beerdigung der Ehefrau würdevoll begleitete und es gelingt im Beisein der Großfamilie eine bewegende Aussegnung, bei der neben Gebet und gemeinsamen Liedern einzelne Familienmitglieder die Gelegenheit für persönliche Erinnerungen nutzen. Von den Beteiligten wird die Aussegnung als sehr bewegendes Ereignis mit Trost spendendem Gemeinschaftsgefühl erlebt. Gegen 18.00 Uhr kommen die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens und überführen den Leichnam von Herrn P.

Die Urnenbestattung von Herrn P. findet Anfang Dezember 2017 statt. In seiner Todesanzeige veröffentlicht die Familie folgenden Text: »Du bist deinen Weg zu Ende gegangen. Traurig sind wir, weil du uns fehlst. Dankbar sind wir, für die Zeit mit dir. In unserem Herzen lebst du weiter.« Auch im Rückblick herrschen in der Familie Zufriedenheit und Dankbarkeit über die gemeinsame Bewältigung dieses Weges vor. Es besteht Konsens darüber, den Überzeugungen und Wünschen von Herrn P. in hohem Maße entsprochen zu haben.

2.6       Kommentar zum Fallbericht

Der Fall von Herrn P. zeigt exemplarisch einige der eingangs beschriebenen Aspekte des Verzichts der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme bei hochbetagten Menschen. Besonders deutlich wird das Ineinandergreifen von körperlicher, psychischer und sozialer Dimension des Verzichts. Auch die von Herrn P. genannten Gründe für den Wunsch, bald sterben zu können: das als sinnlos/zwecklos empfundene Leben, eine Belastung für die Familie zu sein, die schlechte Lebensqualität, die Sehnsucht, zu Hause zu sterben und die hohe Bedeutung von Autonomie und Selbstständigkeit finden sich sehr häufig bei anderen Patienten in ähnlicher Situation.