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Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

Grafik Landkarte auf den Seiten 4–5: Katja Langmaier nach einer Idee von Veza Quinhones-Hall unter Verwendung von „Colton’s Nebraska“, G.W. Colton, 1869, www.oldmapsonline.com

© Querverlag GmbH, Berlin 2019

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Zeichnung von Hannah Basser.

ISBN 978-3-89656-657-7

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Für

Veza Mein Lagerfeuer

Alex Mein Whiskey

Einöde

Ich war gerade am Brunnen, um Wasser zu holen, als ich den Prediger herankommen sah. Das heißt, ich sah nicht ihn, sondern den Staub, der unter den Hufen seines Pferdes aufstob, als er über das in der Hitze des Sommers stumpf und gelb gewordene Gras der Prärie ritt. Es war noch lange nicht Mittag und doch flirrte die Luft schon unter den unbarmherzigen Strahlen der Sonne. Der Wind hatte über Nacht eine Handvoll Steppenroller vor meine Veranda getrieben und da lagen sie jetzt nutzlos wie scheißverdammte feine Pinkel und rührten sich nicht. Ich begann zu schwitzen, als ich den Eimer aus dem Brunnen hochzog, und nahm gleich dort mit der hölzernen Kelle den ersten Schluck vom kalten Wasser, um mir die Trockenheit aus dem Mund zu spülen. Ich blieb am Brunnen stehen und blickte so lange in die Richtung der dünnen Staubfontäne in der Ferne, bis meine Lider schmerzten und ich sehen konnte, dass es nur ein einsamer Reiter war, der da auf mein Haus zukam.

Langsam und vorsichtig, sodass ich nichts verschüttete, trug ich den randvollen Eimer nach drinnen und stellte ihn neben die Waschschüssel, die im hinteren Teil des Raumes neben dem Bett auf einer Holzkommode stand. Eine Kanne voll Wasser schüttete ich dort hinein, zog mein Hemd aus und wusch mir den Staub des vorangegangenen Tages von Oberkörper und Gesicht. Ich kämmte mein nasses Haar nach hinten, schüttelte das Hemd aus, zog es wieder an und streifte die Hosenträger, die an meinen Beinen hinabgehangen waren, über meine Schultern. Dann goss ich Kaffee in meinen kleinen Blechnapf, biss ein Stück vom Kautabak ab, der nach all den Jahren zwar meine Zähne bereits dunkel werden ließ, auf dessen Geschmack ich aber dennoch nicht einen Tag lang hätte verzichten wollen, nahm meine Flinte und setzte mich in den alten Schaukelstuhl auf der Veranda, um den Reiter dort zu erwarten.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er nah genug herangekommen war, sodass ich irgendetwas an ihm erkennen konnte. Mein Kaffee war bereits ausgetrunken und der Blechnapf stand auf den verwitterten Dielen der Veranda, dort, wo auch Pa ihn immer abgestellt hatte und wo das Holz jetzt dunkel war von seinem Blut, das ich tagelang nicht geschafft hatte, aus den verfluchten Dielen zu bürsten, nachdem der Dreckskerl Joe Bane ihn hier an dieser Stelle aus gut dreißig Ruten Entfernung mitten in die Stirn getroffen hatte. Das war einige Jahre her und inzwischen war der Schmerz verblasst, doch die Erinnerung war noch immer so klar, als wäre Pa erst gestern von diesem Schaukelstuhl aus vor seinen Herrn getreten, um Rechenschaft abzulegen. In dieser Einöde auf sich allein gestellt zu sein, war für niemand ungefährlich, für eine Frau allerdings war es nachgerade irrwitzig, und so war ich froh, dass ich im Umgang mit der Flinte geübt war.

Als der Reiter näher kam, legte ich den Finger an den Abzug des Gewehrs, dessen Lauf scheinbar salopp auf meinen Beinen lag, tatsächlich jedoch geradewegs auf den Unbekannten gerichtet war, der nun in Sichtweite gekommen seinen Hut zog und schwenkte. Er ritt auf einem eleganten braunen Mustang und ich konnte sehen, dass er einen verflucht stattlichen Anzug trug. Er schien mittleren Alters zu sein, und als er den Hut hob, sah ich darunter dunkles Haar, das mit Pomade zu einem ordentlichen Scheitel gekämmt war.

„Man sagt mir“, rief er mir aus vielleicht zehn Ruten Entfernung zu, „dies sei der Ort, an dem ich Annie Goodlick finden könne.“

Er zügelte sein Pferd, das leicht tänzelnd stehen blieb.

„In der Tat?“, rief ich zurück und spuckte in einem perfekten Bogen Kautabaksaft von der Veranda geradewegs in seine Richtung. Die jahrelange Übung ließ mich dabei lässig aussehen. Es war eine Art, im Stehen zu pissen, bei der ich mithalten konnte. Mein Revier, Freundchen.

„Mein Name ist Clarence Ginty, ich komme aus Sioux City. In Aurora sagte man mir, das hier sei Ma’am Goodlicks Haus. Sind Sie Ma’am Goodlick?“

„Sie kommen den ganzen verdammten Weg aus Sioux City, um Annie Goodlick zu finden?“

„Nein, Ma’am, nicht den ganzen Weg aus Sioux City. Von dort bin ich aufgebrochen mit dem Ziel, einen Kopfgeldjäger in meinen Dienst zu nehmen, doch unterwegs stellte ich fest, dass mein Auftrag wohl von ungewöhnlicher Natur ist, und keine Seele hat sich meiner erbarmt. Von Sioux City aus ritt ich nach Omaha und dann nach Westen. Ich war schon in Columbus, als der Sheriff dort mir sagte, es gebe nahe Aurora eine Frau namens Annie Goodlick, die ihm vor einigen Jahren die O’Sweeney-Brüder gebracht hätte. In Aurora schließlich schickte man mich weiter nach Süden und hier bin ich nun auf Ihrer Türschwelle gelandet. Darf ich näher kommen, Ma’am? Mein Pferd braucht Wasser.“

Ich erinnerte mich an den Sheriff in Columbus. Er war vor Jahren schon ein alter Mann gewesen, besonnen und einer der wenigen, der meine Profession nicht infrage stellte, zumindest nicht auf eine Art, die es mich hätte wissen lassen, und den verflucht meisten Männern war es schließlich genau daran gelegen.

Ich wollte keinen Auftrag annehmen. Ich war erst zwei Wochen zuvor aus St. Louis zurückgekehrt, wo ich einen Mistkerl namens One-Eyed Bill Montey – einen Mann, der weder einäugig war noch Bill hieß, jedoch so genannt wurde, weil er gefälschte Silber-Dollar-Zertifikate ausgab, die von so schlechter Qualität waren, dass das Porträt Martha Washingtons darauf aussah, als zwinkerte es mit dem linken Auge – an den Sheriff übergeben und für seine Gefangennahme gerade einmal fünfzig Dollar Kopfgeld erhalten hatte. Mir blieben immer nur die Lumpen, für die sich andere Kopfgeldjäger nicht interessierten, weil es sich für die Summe, die auf ihren Kopf stand, kaum auszahlte, überhaupt ein verdammtes Pferd zu satteln. Aber ich hatte keine Mittel, mich anders durchzubringen. Das Land, auf dem ich lebte, gab kaum genug her, um mein Pferd zu versorgen, und um zu heiraten war ich mindestens zu alt, jedenfalls zu bockig, vor allem aber war ich unwillig. Also blieb mir, was mein Pa mich gelehrt hatte. Ohne seinen Namen, den hier in Nebraska jeder Sheriff kannte, wäre ich wohl verhungert. Die meisten Typen sahen es nicht gerne, wenn ich mit meinen unziemlichen Hosen, meinem breitbeinigen Gang und meiner Fresse voller Kautabak in ihr Revier eindrang. Der Tochter Rutherford Goodlicks gestand man jedoch kleine Freiheiten zu, die anderen Frauen verwehrt blieben.

Nach dem langen Ritt zurück aus St. Louis war ich nun sehr froh, wieder zu Hause zu sein. Auch Alecto, die verdammt noch mal nicht mehr die Jüngste war, hatte sich auf der langen Reise verausgabt und ich würde ihr sobald keine große Anstrengung zumuten. Ohne ein Wort zu sagen, stand ich also auf und winkte den Reiter heran. Mochte er doch mit gestilltem Durst das Weite suchen. Meine Flinte behielt ich im Arm. Als er schließlich vor mir stand, sah ich, dass er etwas jünger war, als ich gedacht hatte. Sein Gesicht war staubig, bis auf einen buschigen Schnurrbart aber glattrasiert und ansehnlich.

„Ich nehme keinen Auftrag an“, sagte ich und nahm die Zügel seines Pferdes in die Hand.

Ohne auf eine Reaktion von ihm zu warten, führte ich das Pferd hinter das Haus, wo meine Alecto im Schatten an der Tränke stand. Sie wich einige Schritte weit zurück, als ich mit dem Hengst daherkam. Sie hätte jederzeit laufen können, schließlich war sie nicht angebunden, doch wahrscheinlich war auch sie neugierig. Es kam nicht alle Tage ein anderes Pferd hier auf der Farm vorbei. Ich schlang die Zügel des Mustangs um einen Pflock und er begann sofort gierig zu saufen wie ein Siedler, der gerade den ersten Saloon entdeckt hat. Alecto kam mit geblähten Nüstern ein paar Schritte näher, um sich den Besuch anzusehen. Der Reiter war mir gefolgt und jetzt sah ich aus den Augenwinkeln, dass sein rechtes Bein wohl steif war, sodass er es hinter sich her durch den Staub zog. Er schien mir zu jung, um ein Kriegsversehrter zu sein, dennoch dachte ich sogleich an Pa und sein krummes Bein, das ihm im Krieg von einem Konföderierten beinah weggeschossen worden war, und das mir mit meinen vier Jahren bei seiner Rückkehr so große Angst eingejagt hatte, dass ich mich hinter dem Kittel von Tante Nora versteckt hatte, statt ihm in die Arme zu fallen.

„Kommen Sie ins Haus, Mister. Ich hab Kaffee auf dem Feuer.“

„Vielen Dank, Ma’am.“

„Miss“, korrigierte ich ihn.

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und sah jetzt erst, was mir vorhin nicht aufgefallen war: Er trug ein hölzernes Kreuz um seinen Hals. Er sah, wie meine Augen kurz daran hängenblieben, griff an die Tasche seines Anzugs, zog ein Buch heraus, hielt es mir entgegen und meinte: „Der Herr begleitet mich auf meiner Reise. Er wird Ihnen Ihre Gastfreundlichkeit vergelten, Miss.“

Ich nickte.

Meine Entschlossenheit, ihn schnell wieder loszuwerden, begann bereits zu schwanken, als der Prediger ihren Namen nannte: Mary Dippin. Was um alles in der Welt war es, das andere Kopfgeldjäger davon abhielt, sich auf die Jagd nach der gottverdammten Mary Dippin zu machen? Als Bankräuberin hatte sie sich mit ihrer Bande in den letzten Jahren in mindestens drei Staaten einen Namen gemacht. Sie war so berühmt wie berüchtigt, so schön und gewitzt, und es gab Banken, die sich damit brüsteten, von ihr ausgeraubt worden zu sein. Aber sie war sicherlich keine schwierige Angelegenheit für einen Kopfgeldjäger.

Tausend Dollar, so sagte der Prediger, seien auf Dippins Kopf ausgesetzt. Bevor ich noch meine Ungläubigkeit im Angesicht dieser Summe kundtun konnte, ergänzte er, tausend, seit Dippin drei Wochen zuvor bei einem Bankraub in Sioux City seine Ehefrau, seine geliebte Dora, erschossen habe.

„Tausend“, sagte er noch einmal und fügte hinzu, „tot oder lebendig.“

Ich ahnte, wie sein Auftrag lautete. Tot oder lebendig hieß dieser Tage nämlich tot. Kein Kopfgeldjäger machte sich mehr die Mühe, einen Gefangenen womöglich tagelang vor sich herzutreiben, immer Gefahr laufend, seinen hart erarbeiteten Lohn an die Flucht des Schurken zu verlieren. War der Gefangene bei der Übergabe an einen Sheriff tot, galt es einzig zu beweisen, dass er tatsächlich der Mistkerl war, der gesucht wurde. Angesichts der Tatsache, dass Halunken solchen Kalibers eine Spur an Menschen nach sich zogen, die Schaden genommen hatten und bezeugen konnten, wen sie da vor sich hatten, keine große Schwierigkeit. Kein Kopfgeldjäger würde bei einer Frau eine Ausnahme machen.

„Ich bin ein gottesfürchtiger Mann, Miss Goodlick. Und meine Dora, Gott hab sie selig, sie war das sanfteste Geschöpf mit dem größten Herzen. Ich habe sie geliebt, und wenn auch manchmal Rache meine Augen trübt, mein Herz weiß, dass ich es ihrem Andenken schuldig bin, dass Mary Dippin am Leben bleibt. Der Herr wird sie richten, wenn sie dereinst vor ihn tritt. Ich als sein treuer Diener hier auf Erden fühle mich verantwortlich dafür, im Andenken an mein geliebtes Weib, jemanden zu finden, der jenen zuvorkommt, die Mary Dippin nun nach dem Leben trachten. Sie soll ihr Gerichtsverfahren bekommen und ich werde dort um ihr Leben bitten, denn dem Menschen steht es nicht zu, Recht zu üben, das Jesus, unserem Herrn, vorbelassen ist.“

Ich hörte mir alles an, was der Prediger zu sagen hatte. Er redete lang. Er war ein Geläuterter, so erzählte er. Er sei selber ein Halunke gewesen, ein Dieb und Hurenbock. In Waterloo, Iowa, habe er dann einen Mann beim Poker betrogen, der ihm fast das Leben aus dem Leib geprügelt habe, bevor er ihm als ewige Erinnerung an den Vorfall den kleinen Finger der rechten Hand abgeschnitten habe und ihn selbst im Dreck der Straße vor dem Saloon hatte liegen lassen. Er habe das Bewusstsein verloren, und als er aufgewacht sei, habe er sich tot und im Himmel geglaubt, denn das schönste Geschöpf, auf das je sein Blick gefallen sei, habe ihm ins Gesicht gesehen und gelächelt, als sie bemerkt habe, dass das Leben sich zwischen den verschwollenen Schlitzen seiner Augen­lider regte. Das war seine Dora gewesen.

Doras Vater, erzählte er weiter, war Arzt in Waterloo gewesen und Dora pflegte ihn, Ginty, gesund, bis nichts mehr ihn an sein früheres Leben erinnerte als sein steifes Bein und sein fehlender Finger. Dora brachte ihm die Lehren der Bibel bei, zeigte ihm das Beten und was es bedeutete, anderen mit Nächstenliebe zu begegnen. Er war sich sicher, dass Gott ihm einen Engel geschickt hatte und ihm eine zweite Chance gab, und er nahm sie dankbar an. Seine Liebe zu Dora ließ ihn eifrig die Heilige Schrift studieren und bald schon machte er sich in der Gemeinde einen Namen als frommer und barmherziger Mann, den viele um Rat fragten und um Hilfe baten. Er arbeitete hart, und als ein anderer um Doras Hand anhielt, versuchte er sein Glück, gestand ihr seine Liebe und – bis heute noch erschien es ihm unfasslich – sie erwiderte sie.

An dieser Stelle seiner Erzählung brach er ab. Er blieb einfach nur sitzen, starrte auf seine Hand – die mit dem fehlenden Finger –, die reglos auf dem groben Holz meines Tisches lag. Ich stand auf, holte die Flasche Kentucky Bourbon, die neben meinem Bett am Boden lag, und füllte zwei Gläser. Ich war es gewohnt zu trinken und wollte mir vor dem Prediger keine Blöße geben, denn inzwischen war ich von seiner Geschichte so bewegt und so beeindruckt von den festen Überzeugungen, die er an den Tag legte, wenn er von seiner Trauer sprach und dennoch das Leben Mary Dippins mit dieser glühenden tugendhaften Vehemenz verteidigte, dass mir mein Vorsatz, ihn unverrichteter Dinge wieder von hier fortzuschicken, immer blasser vor Augen stand. Sollte ich mich also doch in seinem Auftrag auf den Weg machen, so wollte ich ihm keinen Grund geben, an mir und meinem Vermögen zu zweifeln, mich mit den rauhen Gesellen messen zu können, die Mary Dippin nun wohl nach dem Leben trachteten. Hätte ich Idiotin mich doch bloß nicht von seinem rührseligen Geplapper weichklopfen lassen.

Ich hob das Glas, das ich vor mich hingestellt hatte, und leerte es in einem Zug. Der Prediger beäugte die bernsteinerne Flüssigkeit vor sich, wie Odysseus wohl die verdammten Sirenen angesehen haben musste, als er sich Anthemoessa näherte. So saß der Prediger einige Minuten, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus, nahm das Glas und stürzte den Inhalt hinunter. Noch bevor er das Glas mit Wucht auf dem Tisch abgestellt hatte, sah ich, wie seine Schultern in sich zusammensackten. Er schlug die andere Hand vor sein Gesicht und schluchzte.

„Bitte, Miss. Ich flehe Sie an! Es ist das Einzige, was ich für meine Dora noch tun kann.“

Statt zu antworten, goss ich die Gläser noch einmal voll.