Erwachsen-klein.jpg

Alle Charaktere, Schauplätze und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

© Querverlag GmbH, Berlin 2019

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale.

ISBN 978-3-89656-659-1

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Kein Hindernis aus Stein hält Liebe auf.

Was Liebe kann, das wagt sie auch.

– Shakespeare, Romeo und Julia

N’oubliez pas de me rendre mon crayon.

– Thomas Mann, Der Zauberberg

1

Thomas stand auf Clemens’ Beerdigung herum. Katha verbarg das Gesicht in den Händen, während Mau-Mau ihr die Schulter rubbelte. Mit der anderen Hand tippte sie Beat an, der auf sein Handy schielte. Die Parteispitze bildete lose Grüppchen. Der Vorsitzende sah auf die Uhr, dann zu Thomas und hob die Hand zum Gruß. Thomas nickte ihm zu.

Leute aus der Agentur waren gekommen. Vermutlich hatte es eine Rundmail gegeben. Bis hinunter zum Praktikanten trugen alle Schwarz und sahen verkleidet aus. Alle Jungs unterhalb vom Juniorchef trugen Turnschuhe; die Mädels besaßen offenbar durch die Bank dunkle Schuhe mit flachen Absätzen. Im Gegensatz zu den Jungs hatten sie die Gelegenheit genutzt, Accessoires auszuführen, die man nur bei einer Beerdigung tragen konnte: einen Hut, eine Stola, schwere geerbte Ohrclips.

Ein Auto kam den Kiesweg hinauf. Der taubenblaue Mercedes musste fast ein halbes Jahrhundert alt sein, war aber tadellos gepflegt. Thomas schloss die Augen.

Die Sonne scheint ja, dachte er. Er hielt das Gesicht in die Wärme und holte tief Luft.

Im Trauerraum ging die Musik los, die Clemens sich gewünscht hatte.

Morgenlicht weckt meine Seele auf / Ich lebe wieder und bin frei

Hinter den geschlossenen Lidern kamen Thomas jetzt die Tränen. Er schluckte schwer. Das Knirschen der Räder kam näher und verstummte. Der Motor erstarb. Türen knallten. Thomas fuhr zusammen.

Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocken / Die Spuren der Verzweiflung wird der Wind verwehen

„Na, mein Junge.“

Thomas blieb die Luft weg, als Edgar ihn umarmte. Er öffnete die Augen nicht.

„Hallo, Papa.“

Edgar drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Die Lippen waren nass, und der Bart stachelte. Er roch nach Bier und Lederjacke.

Alles ist wie immer, dachte Thomas. Nichts hat sich geändert. Seit ich ein Kind war, hat sich eigentlich nichts geändert.

Er schluchzte und erschrak selbst darüber.

Ich sehe die Wälder meiner Sehnsucht / Und den weiten sonnengelben Strand

„Na, dann wollen wir deinen Mann mal unter die Erde bringen“, sagte Edgar und schob sich an ihm vorbei. Und als hätte die ganze Versammlung auf dieses Signal gewartet, war jetzt Räuspern zu vernehmen, Schritte, Kleiderrascheln und Schnäuzen, als die Trauergemeinde an Thomas vorbei nach drinnen ging, der noch immer mit geschlossenen Augen dastand.

Die Musik verstummte.

„Wir können dann anfangen“, sagte Edgar leise zu irgendjemandem, der anscheinend auf diese Art von Anweisungen wartete.

Thomas wusste selbst nicht, worauf er wartete. Dann fiel es ihm ein: auf Clemens.

Aber Clemens war vor einem Monat bei einem Autounfall gestorben und würde ihn nie wieder an die Hand nehmen und irgendwo hinführen. Dreißig Jahre hatten sie sich gekannt und oft geliebt, und Clemens war immer derjenige gewesen, der Thomas an die Hand genommen hatte. Jetzt stand er alleine und schaffte es nicht, sich umzudrehen.

Die Sonne schien ihm immer noch ins Gesicht, und dass da eine tröstende Wärme war, als streichelte ihn jemand, machte Thomas so froh und traurig zugleich, dass er schon wieder schluchzen musste.

„Thomas? Kommst du dann?“, rief Edgar.

Thomas hörte Füßescharren, Flüstern und Husten. Die Unruhe galt ihm.

„Ja, gleich“, wollte er sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er schluckte schwer.

Ein Musikfetzen plärrte los.

Ich ficke deine Mutter ohne Schwanz / Ich rauch dein ganzes Leben in ’nem Blunt

„Beat!“, schrie Katha.

„Du makst dem jetzt sofurt out!“, knurrte Mau-Mau hinterher.

Fick dich, du Hurentochter / Fick dich, du Hurensohn / Ich hab dafür gezahlt, also tanz!

„Ja, okay! Ey, ich bin hier auf ’ner Beerdigung. Ich ruf dich später zurück.“ Beat traf so haargenau das Register zwischen „gelangweilt“ und „aggressiv“, wie es nur Teenager können.

Sofurt!“

Sorry.“

„Du machst das jetzt aus!“

„Ja-ha.“

Vereinzelt wurde gekichert.

Edgar räusperte sich vernehmlich.

Jetzt traute man sich zu lachen. Jemand klatschte ein paarmal in die Hände.

„Thomas, wir warten hier alle auf dich. Kommst du dann auch?“

Es war Edgar deutlich anzuhören, wie sehr er die Situation genoss. Genau so hätte er auch auf einer seiner Vernissagen vor den Kameras stehen können.

Thomas beugte sich vor und kotzte sich auf die Schuhe.

Zum schwarzen Anzug trägt man ausschließlich schwarze Schuhe, dachte er. Das hatte er, wie vieles andere in Stilfragen, von Edgar gelernt. Natürlich hatte er es nie so perfekt umsetzen können wie der weltweit renommierte Fotokünstler Edgar Edel.

„Langweilig muss es trotzdem nicht sein. Wir sind ja keine Spießer. Stiefeletten!“ Er rang nach Luft und kotzte gleich noch mal drauf.

„Das“, sagte Beat, „ist ja echt mal superpeinlich!“

„Du hörst sofurt auf, dem zu filman!“

Nur ’n Foto.“

Sofurt!“

„Der Junge erkennt halt ein gutes Motiv, wenn er eins sieht“, sagte Edgar.

Bänke wurden gerückt. Irgendwas fiel um. Aufgeregtes Geraune. Absätze klackerten näher.

„Thomas!“

Er öffnete die Augen, blinzelte und wischte sich den Mund ab. Katha riss ihn in ihre Arme.

„So eine Riesenscheiße“, flüsterte sie.

„Aber echt.“ Über ihre Schulter sah er Edgar, der die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen anblickte. Beat stritt sich immer noch mit Mau-Mau um das Handy. Die Agenturleute rutschten in den Bänken herum, weil der Chef auf der Beerdigung von seinem Ehemann gekotzt hatte. Die Parteispitze schaute zum Vorsitzenden. Der hatte den Kopf gesenkt und die Hände gefaltet, um in präsidialer Ruhe abzuwarten, bis der Sturm sich gelegt hatte.

„Wir müssen hier nicht bleiben, weißt du?“ Katha nahm seinen Kopf in die Hände und sah ihm in die Augen. Ihr Make-up war so dramatisch verlaufen, dass sie fast wieder aussah wie damals, als sie sich kennengelernt hatten, vor Clemens und vor Beat. Für einen Moment war die Frau Professorin Katharina Sternheim mit der Eigentumswohnung im Schöneberger Altbau beinahe wieder Katha. Ratten-Katha. Kunstkacke-Katha, LilaLesben-Katha. „Wir können einfach gehen, Thomas.“

„Nee, lass mal.“ Er hielt sich an ihrem Hals fest. „Danke. Aber ich will das jetzt machen.“

„Sicher?“

„Sicher.“

„Okay.“ Sie hakte sich bei ihm unter, und gemeinsam gingen sie durch die Bankreihen des Trauerraums.

So plötzlich, wie der Aufruhr entstanden war, war er auch wieder verebbt. Jetzt war nichts mehr zu hören als ihre Schritte auf dem Steinboden. Alle starrten sie an, als sie auf die Urne und das Bild von Clemens zuschritten.

„Wenn du mich so unterhakst, denken die, du bist meine Pflegerin.“

„Das denken die eher, weil du noch Kotze auf deinen Schuhen hast.“

Ihr Geflüster war in der Stille sehr gut zu hören. Thomas erkannte ein paar lächelnde Gesichter. Jemand von der Agentur zeigte ihm den gereckten Daumen.

Das Bild von Clemens war groß. Er strahlte, wie immer.

Katha senkte ihre Stimme noch weiter. „Tut mir leid wegen Beat. Er ist zurzeit einfach ein Arsch.“

„Er sieht aus wie ich in seinem Alter. So einen Scheiß hätte ich auch gemacht.“

„Du warst doch viel zu brav.“

„Nee. Ich musste schließlich irgendwie die Aufmerksamkeit meines Vaters erregen.“

Katha tätschelte ihm den Arm. „Der ist auch ein Arsch. Das wissen wir doch. Aber du, da steht die Asche von deinem toten Liebsten. Jetzt wollen wir weinen, bis uns die Augen ausfallen.“

„Ich kann das nicht. Ich kann das nicht, wenn alle zugucken.“

Thomas merkte, dass seine Hände zitterten. Er schluckte und schluckte, aber der Kloß im Hals ging nicht weg. Clemens strahlte ihn an.

„Die sehen nur unseren Rücken. Ich zähle bis drei.“

„Katha, das wird nicht funktionieren. Ich versuche das mit dem Heulen, seit der Anruf kam. Es geht nicht.“

„Eins.“

Hinter ihnen schwoll das Rascheln und Räuspern wieder an.

„Katha, bitte.“

„Zwei.“ Sie hielt ihm ein Taschentuch hin. Ohne nachzudenken, griff er danach.

„Ich will das nicht. Ich will hier nicht sein. Ich kenne die alle gar nicht, und die, die ich kenne, die mag ich nicht.“

„Du kennst mich. Und du kennst den da in der Urne. Es ist gut für dich, und du machst das jetzt.“

„Auf keinen Fall.“

„Drei.“

Und Katha heulte los. Sie hielt sich nicht mit bebenden Schultern und gepresstem Geschnüffel auf. Sie stieß ein lautes Jammern aus, das eher an Geburtswehen erinnerte. Es gab kein anderes Geräusch mehr auf der Welt. Thomas warf einen Blick über die Schulter. Die gesamte Parteispitze starrte mit geschürzten Lippen zu Boden und zog wie Schutz suchend die Schultern hoch. Die Agenturleute sperrten Mund und Nase auf, als stünden sie für ein Plakat über unglaublich niedrige Preise vor der Kamera. Mau-Maus Miene war versteinert. Edgar hatte die Hände vor der Nase zu einem Zelt gelegt und schien alles für ein zukünftiges Bild abzuspeichern. Beat schaute nicht hin. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht und schaute gelangweilt aus dem Fenster.

Thomas folgte seinem Blick. Die Sonne.

Thomas schloss erneut die Augen und hielt das Gesicht ins bunte Licht, das warm durch die Fenster fiel.

Neben ihm verebbte Kathas Geburtsheulen. Er hörte einen dumpfen Aufprall und gleich darauf scharfes Einatmen, vielstimmiges „Ohhh!“ und sogar einen spitzen Schrei.

Sie wird doch nicht …?, dachte er. Er öffnete das linke Auge einen Spalt weit. Sie hatte. Katha war auf die Knie gefallen und lag jetzt heulend auf allen vieren da. Thomas machte das andere Auge auch noch auf.

Über ihr strahlte Clemens aus seinem Bild. Die Urne war weiß und blau gebändert wie eine Suppenterrine.

„Mama!“ Beat kam angerannt. Mau-Mau stürzte mit wehenden Ponchoärmeln hinterher. Aus den Reihen der Agenturleute wurden jetzt ganz unverhohlen Fotos gemacht. Die Parteispitze schielte zum Vorsitzenden, aber der hielt immer noch eisern den Blick gesenkt, sodass es ihm alle gleichtun mussten.

Danke, dachte Thomas. Danke, Katha!

Und während die Trauerversammlung erneut im Chaos versank, warf er einen letzten Blick auf das Bild seines toten Mannes und nahm sein Strahlen mit in die lichtdurchflutete Stille hinter den geschlossenen Augenlidern. Die Sonne strich ihm warm über das Gesicht, weil sie für alle da war. Die Lebendigen und die Toten. Die Ärsche und die Hurensöhne. Die mit und die ohne Schwanz. Die Parteispitzen, die Werbeleute, die, die wissen, dass zum schwarzen Anzug schwarze Schuhe gehören, die, die nur Turnschuhe haben, und die, die den Tick mit den Stiefeletten kennen. Und die, die sich verlassen fühlen und nicht wissen, wohin mit sich, obwohl sie von allen Menschen umgeben sind, die ihr Leben bevölkern.

Thomas weinte nicht.

2

Die Beerdigung fand am Freitag statt. Am Montag saß Thomas in einem Meeting.

„Ähm“, sagte Renate. „Bist du sicher, dass du heute hier sein willst?“

Die anderen Teilnehmer des Meetings waren in ihre Unterlagen vertieft oder plauderten leise miteinander. Thomas ließ die Papiere sinken und schaute seine Mitgeschäftsführerin über den Rand seiner Brille hinweg an. „Warum denn nicht?“

„Weil“, sagte Renate. Sie tippte mit dem Radiergummi hinten am Bleistift auf den Konferenztisch. „Weil … ich dachte, wegen der Beerdigung.“

„Was ist mit der Beerdigung?“, fragte Thomas. „Ach so. Wegen dem Kotzen.“ Er lachte. „Ja, das war ein bisschen peinlich. Ich hoffe, ihr habt euch alle nicht zu sehr geschämt wegen mir.“

„Also eigentlich nicht wegen dem Kotzen.“ Renate zwinkerte ein paarmal sehr schnell und presste die Lippen zusammen, während sie sich zu Thomas hinüberbeugte, ein Auftakt, den er aus zahllosen Kundengesprächen kannte. Sie wollte ihm irgendetwas Unangenehmes verkaufen. Renate hatte den „Laden“ gemeinsam mit ihm gegründet und war für den guten Eindruck beim Kunden zuständig. Im Team ging das Gerücht um, dass sie mit einer Kombination aus clean eating und der Grinberg-Methode dafür gesorgt hatte, dass sie nur noch jeweils vier Stunden menstruierte, und zwar immer am exakt gleichen Tag ihres Zyklus, um ihre Arbeitstermine störungsfrei planen zu können.

Zuzutrauen wär’s ihr, dachte Thomas. Eigentlich komisch, dass die hier mit so einem abgekauten Bleistift sitzt. Irgend so ein sündteurer Füllfederhalter wäre mehr ihr Stil. Wahrscheinlich irgendwie gekoppelt an ihr Tablet, sodass gleich ein Word-Dokument und eine Minipräsentation aus den Notizen wurden.

Plötzlich glaubte er zu wissen, woher ihre Bauchschmerzen kamen.

„Ach, wegen Kathas Auftritt. Du kennst bestimmt Katha? Nein? Komisch, ich hatte die bestimmt mal bei einer Party … also, das ist eine uralte Freundin von mir. Sie ist die Mutter meines Sohnes.“

Die Tür ging auf, und eine junge Frau trat herein, die Thomas noch nie zuvor im Laden gesehen hatte. Sie schleppte einen Laptop in einer Schultertasche und einen Stoß großformatiger Papiere, die aus einer labbrigen Aktenhülle quollen und jeden Moment zu Boden zu gleiten drohten. Aus dem Papierwust ragte eine schmale, blasse Hand und umklammerte einen Coffee-to-go-Becher.

„Wer ist das?“, fragte Thomas.

„Du hast einen Sohn?“, fragte Renate.

Die junge Frau drehte sich langsam um sich selbst wie ein besonders gewichtiger Planet in einem Modell des Sonnensystems, und alle ihre Trabanten, Laptop, Papiere, Becher, strudelten ihr träge hinterher. Zweck dieser Rotation war es, die Tür mit dem Po aufzudrücken und sich zugleich in den Raum zu schieben. Kurz sah es aus, als wollten die Papiere nun wirklich ihr Gravitationsfeld verlassen, aber dann wurden sie in der Bewegung wieder eingefangen und in die Aktenhülle zurückgedrückt.

„Warum hilft denn da niemand?“, flüsterte Thomas.

Renate nahm die Brille ab. „Thomas, ich kenne dich jetzt wie lange? Fünfzehn Jahre? Und ich erfahre heute, dass du einen Sohn hast?“

Das Gemurmel im Raum war verstummt, wahrscheinlich, weil alle gebannt zusahen, wie das System aus Frau und Trabanten in den Raum walzte. Jetzt versuchte die Unbekannte, den Kaffee auf dem Tisch abzustellen, ohne dass der Laptop von der Schulter rutschte oder die Papiere auf den Tisch kippten und alles mitrissen. Es handelte sich ohne Zweifel um eine seltene Himmelserscheinung, wie sie nur alle paar Jahrzehnte und auch dann nur bei gutem Wetter zu observieren war. Im Gesicht der jungen Frau zeigte sich eine starke Rotverschiebung.

„Beat“, sagte Thomas, ohne den Blick von dem Schauspiel abzuwenden.

„Wie heißt der?“ Renate kniff die Augen zusammen.

„Beat.“ Thomas wedelte mit der Hand. „Die Mütter. Sie haben beide einen etwas extravaganten Geschmack. Katha ist Kunstprofessorin, und Mau-Mau ist Künstlerin, da …“

„Beat.“ Renate ließ sich in den Sitz zurückfallen. „Das ist doch kein Name. Beat. Sagen die Leute da nicht immer ‚Beat‘ wie ‚Beatles‘?“

„In der Schweiz ist das ein ganz normaler Name, und es gibt viele berühmte Beats. Sportler hauptsächlich. Und einen Kunsthistoriker, und so ist die Mama drauf gekommen.“

„Und du hattest da gar kein Mitspracherecht?“

Thomas schüttelte den Kopf. „Es hieß damals, ich bin nur für die Zeugung verantwortlich. Schwule und Lesben mit Kindern, das war da alles noch nicht so wie heute. Ich hab gezeugt, und seitdem will das Kind mich eigentlich nicht großartig sehen. Und jetzt erfreut es uns durch Rap-Zoten auf der Beerdigung meines Mannes.“

„Ach, der war das.“ Renate stöhnte. „Und sag mal, Zeugung, da hast du in ein Reagenzglas gewichst oder was?“

Der Kaffeebecher war inzwischen sicher auf dem Tisch gelandet. Ein Kreuz an der Außenwand verriet, dass es sich um ein Milchschaumprodukt handelte.

„Ich habe nicht in ein Glas gewichst. Entschuldige, ich bin von Beruf Aufschwätzer, und die beiden Frauen sind auch eher technikfern. Keiner von uns wusste, wie so was geht. Es war dann alles ganz altmodisch. Müssen wir das jetzt besprechen?“

„Wir haben es fünfzehn Jahre nicht besprochen.“

„Ich wusste nicht, dass ich dir die Geschichte meiner Vaterwerdung schulde. Nach fünfzehn Jahren kannst du wohl dieses Meeting abwarten. Was passiert hier überhaupt? Und, um mich zu wiederholen, wer ist das?“ Thomas deutete mit dem Kinn auf die Planetenfrau, die es inzwischen geschafft hatte, die Papiere auf dem Tisch abzulegen. Sie lächelte zaghaft, strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und ließ aufseufzend die Schultern fallen. Sie lächelte. Hübsch, dachte Thomas. Und so jung. Müssen so junge Leute überhaupt schon arbeiten? Gehören die nicht noch an irgendeine Uni, wo sie lange schlafen dürfen, vorzugsweise nicht alleine, um frisch zu sein für die nächste Demo?

Renate fummelte sich eins der Handouts aus dem Stapel, der jetzt herumgereicht wurde.

„Das ist Frau von Rabenstein. Die ist neu hier. Und was heute stattfindet, ist eine Präsentation zu einem neuen Produkt, irgend so eine App, was mit Storytelling und Multimedia. Ich frage mich, warum wir hier mit schmutzigen Zetteln aus dem Kopierer arbeiten.“

„Na, ist doch mal was anderes.“ Thomas nahm sich eine Kopie und reichte den Stapel weiter. „Weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal ein Handout gekriegt habe.“

„Ich wusste nicht, dass wir noch einen Kopierer irgendwo rumstehen haben.“ Renate beugte sich vor und ließ die Bleistiftspitze über das Papier fahren. „O Gott, ich glaube, das wird ganz schlimm. Die Frau von Rabenstein hat bestimmt viele Talente, aber solche Auftritte liegen ihr, glaube ich, nicht so.“

Thomas beäugte ebenfalls den DIN-A3-Bogen. „Sind das Ameisen? Hat sie uns Ameisen mitgebracht? Ist das ein Gag?“

„Das sind keine Ameisen. Das ist die Schrift.“ Renate seufzte. „Was hat die denn studiert? Ich dachte, diese jungen Bachelor-Leute sind so irre auf Zack in puncto Außenwirkung und Entertainment und so. Aber das ist ja wirklich mal sehr …“ Sie suchte nach dem passenden Wort. „Inhaltslastig.“

„Wolltest du mich deshalb heute nicht dabeihaben?“ Thomas stupste sie leicht in die Seite. „Weil das hier möglicherweise eine peinliche Veranstaltung einer Newcomerin wird, die der Alte nicht mitkriegen soll?“

„Ich wollte dich heute nicht dabeihaben, weil ich finde, dass du drei Tage nach der Beerdigung deines Mannes hier noch nichts verloren hast. Du hast überhaupt noch keinen Tag freigemacht, seit Clemens tot ist. Das ist kein gesunder Trauerprozess.“

„Mir geht’s gut, danke.“

„Das glaube ich nicht.“

„Du, das wirst du mir doch bitte selber überlassen, wie es mir geht. Ich habe den Laden mitgegründet, ich arbeite hier seit fast zwanzig Jahren, der gehört mir praktisch. Das ist mein Wohnzimmer. Mir geht’s gut, wenn ich hier bin. Mir geht’s nicht gut, wenn ich alleine zu Hause die Wände anstarre. Ja?“

Renate hob die Hände. „Okay. Wie du meinst.“

Frau von Rabenstein räusperte sich. „Hallo? Ich würde dann gerne … können wir dann?“

Die letzten Gespräche verstummten. Thomas sah sich um. Die Umsitzenden musterten das Handout mit hochgezogenen Augenbrauen. Einige grinsten sich unverhohlen zu. Es würde wohl wirklich eine peinliche Veranstaltung werden.

Ich hoffe, du kannst das retten, du Frau von Rabenstein, dachte er bei sich. Ich ertrage es nämlich nicht, wenn so hoffnungsfrohe Frischlinge sich öffentlich reinreiten.

Frau von Rabenstein holte tief Luft.

Come on, dachte Thomas. Hau sie alle um.

Dann fing Frau von Rabenstein an, das Handout vorzulesen.

Renate ließ leise den Kopf in die Handflächen sinken.

Die jungen Männer in der Runde grinsten feist und setzten sich breitbeiniger hin. Die Wanduhr tickte laut.

Frau von Rabenstein sah vom Blatt auf. Ihre Pupillen rannten in den Augenhöhlen herum wie zwei verschreckte Hasen, als sie sich im Raum umsah. Sie räusperte sich. Dann las sie weiter, schneller, und die Häschen schlugen Haken.

Wird nichts nützen, dachte Thomas. Vom immerhin interessanten Himmelskörper zu zwei Karnickeln auf der Flucht innerhalb weniger Minuten, da wird selbst mir ein bisschen schwindelig.

Er hob die Hand. Renate sah auf. Die jungen Männer runzelten die Stirn und setzten sich wieder gerade hin.

„Frau von Rabenstein!“ Er winkte. „Huhu.“ Jemand kicherte. Frau von Rabenstein stockte und wurde so rot, als hätte sie sich gerade der Sonne zugekehrt.

„Ja?“

Die Stille im Raum veränderte sich. Es war nicht mehr die geladene Stille, in der eine Handvoll Menschen dachte: Wieso tut denn keiner was? Sie hielt sich bereit, um etwas in sich geschehen zu lassen.

„Danke.“ Thomas griff nach Renates Bleistift und drehte ihn in den Fingern. „Beziehungsweise, Entschuldigung, dass ich Sie so einfach … können wir Du sagen? Ja? Ich heiße Thomas.“

„Julia“, sagte Frau von Rabenstein. Sie tastete nach ihrem Kaffee.

„Julia.“ Thomas nickte und drehte weiter den Stift. „Also, Julia, entschuldige, dass ich dich so einfach unterbreche. Du hast dir da ja sehr viel Mühe gemacht mit deinem …“ Er tippte auf das Handout. „Mit deiner Übersicht hier.“

Einer der jungen Männer schnorchelte durch die Nase. Thomas warf ihm einen Blick zu. Er verstummte.

„Nur, ich bin schon etwas älter. Und außerdem war am Freitag die Beerdigung meines Mannes.“

Alle im Raum senkten den Blick, was ein eigenes Geräusch verursachte. Als würden viele Vögel die Flügel streichen, dachte Thomas.

„Scheiße“, entfuhr es Julia von Rabenstein. Sofort legte sie die Hand an den Mund. „Sorry. Sie sind das. Du bist das!“

„Ja!“ Thomas lächelte sein gewinnendes Lächeln, von dem er genau wusste, dass es ihm recht gelungene Grübchen ins Gesicht zauberte. „Ja, ich bin das. Scheiße indeed, gell? Der Alte sitzt in der Präsentation. Ist aber gar nicht schlimm. Ich will nämlich gar nichts Böses. Ich will mich ja bloß entschuldigen, wie gesagt. Ich kann nämlich nicht so. Also, so gut zuhören heute. Und Hausaufgaben hab ich auch keine gemacht.“

„Hausaufgaben?“ Julia wühlte in den Unterlagen. „Ich weiß da jetzt gar nicht, was das so im Einzelnen …“

„Ich meinte, ich hab’s nicht mal geschafft, mich da vorher briefen zu lassen, worum’s überhaupt geht bei dieser App hier.“

Thomas breitete entschuldigend die Hände aus. „Und ich weiß, das ist jetzt so eine fiese Chefnummer, also ein totales Ausnutzen meiner Privilegien, und ich entschuldige mich in aller Form …“

Ein besonders blasbereit herumlümmelnder Juniormitarbeiter, der Thomas direkt gegenübersaß, schürzte die Lippen. Thomas warf den Bleistift nach ihm. Der Getroffene zuckte zusammen und schaute so böse, als hätte Thomas ihn angespuckt. Renate machte ein kleines Geräusch, das Thomas kurz irritierte – wer war das jetzt gleich wieder, und warum fand Renate, man solle den nicht mit Bleistiften beschmeißen? –, aber er war schon mitten in seinem Ding. Solche kleinen Auftritte waren das, was ihn im Laden großgemacht hatte, und der Hauptgrund, warum es ihm hier oft so viel besser ging als irgendwo anders, wo er bloß er selber war. Danke, Papa, dachte er bei sich. Die großen Auftritte, damit bin ich aufgewachsen. Gibt kein besseres Vorbild.

Thomas holte tief Luft. „Du! Ich weiß, ich bin nicht der Chef. So ein Laden ist das hier nicht.“

Der getroffene Jungmann rieb sich immer noch den Hals, wo der Stift ihn erwischt hatte. Julia sah erschrocken zwischen den beiden Männern hin und her und schien jetzt ganz Kaninchen geworden zu sein.

„Aber das Gerede von alten Leuten, das muss man ertragen, ja? Kannst ja auch gleich was sagen. Du weißt ja sicher schon, wie die App da geht. Jedenfalls, Julia …“ Er wendete sich wieder Frau von Rabenstein zu. „Es würde mir total helfen, wenn du mir diese App einfach mal zeigen würdest. Ich glaube, das geht irgendwie?“ Er sah in die Runde, und schon stand jemand gebückt auf und fummelte an irgendwelchen Kabeln herum.

„Wie, zeigen?“ Julia umklammerte den Kaffeebecher mit beiden Händen und hielt ihn sich vors Gesicht. Die Kaninchenpupillen hockten ganz still da und baten stumm darum, nicht gefressen zu werden.

„Na, wenn du das auf dem Handy mal anwerfen könntest, und wir probieren das dann einfach mal.“

„Ja, okay. Das geht natürlich. Das können wir … Ich bräuchte aber wen, der da mal einfach was erzählt. Ich sagte ja bereits, das ist so ein Spracherkennungs-Slash-KI-Tool, eine Storytelling-Schnittstelle quasi, die in sozialen Medien vor allem …“

Thomas stand auf und ging nach vorne. Hinter ihm und Julia tauchte die Benutzeroberfläche der App als Projektion an der Wand auf.

„Was muss ich machen?“

Julia trank und sammelte sich. „Okay. Da tippe ich jetzt einmal. Jetzt können wir ein Foto von dir machen, so.“

Thomas versuchte, möglichst dämlich auszusehen. Offenbar war es ihm gelungen, denn als sein Konterfei hinter ihm an der Wand erschien, wurde gelacht. Julia musste auch lachen.

„Schön. Oder nicht so schön.“

Mehr Gelächter.

„Und jetzt drückst du auf das Mikro. Genau, dann erscheint jetzt hier die Timeline. Die Symbole sind ja relativ selbsterklärend. Geburt, Eltern, Schule, Herz ist für erste Liebe … wenn das dann mit deinem Facebook-Account gekoppelt ist, ist das personalisiert. Die App guckt dann, ob da schon Lebensereignisse abgespeichert sind und Familienfotos. Aber für heute wird’s auch so gehen, oder? Das ist jetzt vielleicht ein bisschen spontan …“

„Nö, ich kann gut über mich reden. Das mache ich am liebsten.“ Thomas zwinkerte ihr übertrieben zu.

Der, den er mit dem Bleistift getroffen hatte, funkelte ihn böse an. Klaas, fiel ihm plötzlich ein. Klaas hieß der und war schon wer im Laden. Irgendein Junior-Senior-Executive-Consultant-of-Vice-Irgendwas. Tja, der war jetzt sauer.

„Hier muss ich drücken?“, fragte Thomas noch mal betont blöde, um Julia zu erheitern und Klaas zu ärgern. Renate saß mit verschränkten Armen und hochgezogenen Augenbrauen da. Was war denn heute bloß mit der los? Die hatte ihn doch früher immer kapiert.

„Da musst du drücken“, nickte Julia. Opa hatte verstanden, wie das mit dem Touchscreen funktionierte. Ein kleiner Glockenton war zu vernehmen. Ein gelber Balken kroch an der Timeline auf dem Bildschirm entlang.

„Okay, geht los, ja? Na, ich rede einfach mal so drauflos. Guten Tag, mein Name ist Thomas, ich bin, wie alt bin ich denn gleich? Also, über vierzig auf jeden Fall, eigentlich schon …“ Er unterbrach sich. „Ist das jetzt noch okay für die arme KI? Nicht dass die aus dem Tritt kommt.“

Julia schüttelte den Kopf und bedeutete ihm weiterzureden.

„Schön. Na, also ein Mann, genau, ein Mann bin ich auch noch, ein Mann in den besten Jahren, wie man so sagt, wie ich sage, also, außer mir eigentlich keiner sagt. Wie alt bist du, Julia?“

„Achtundzwanzig“, sagte Julia.

„Achtundzwanzig schon? Weia. Das sieht man dir gar nicht an. Na, in deinem Alter ist das noch kein Kompliment. Also, mein Vater ist der international renommierte Fotokünstler Edgar Edel. Ich sage das so, weil er das selber immer so sagt. Name klingt ausgedacht, ist aber echt. Ich heiße nicht Edel, sondern Weißmann, nach meiner Mutter, die ich aber nie bewusst kennengelernt habe, denn sie ist gestorben, als ich noch ein ganz kleines Kind war. Ja, alleinerziehender Papa, ganz modern noch Mitte der Siebziger, frühen Achtziger. Viel erzogen hat er aber nicht an mir, der international renommierte Fotokünstler, wie man mir vielleicht heute noch anmerkt. Habe sie aber alle mitgekriegt als Kind, Nina Hagen und den Martin, den Kippenberger, Ikemura, Penck, als er im Westen dann war, die ganze Tödliche Doris und all so brutale Leute. So bin ich eher, glaube ich, ganz sanft geworden. Tja, was ist das hier? Schule? Ganz gerne gegangen, ganz gute Noten, war ein angenehmer Kontrast zum Zuhause, wo alles immer, na eben so war, wie man sich das bei den Neuen Wilden vorstellt. Mensch, Pubertät, puh, schwer, wenn der Papa schon alle Grenzen übertreten hat. Da war ich still, ja, zu still für meinen Alten.“

„Na, immerhin schwul“, sagte jemand leise.

Thomas stockte. Er beschattete die Augen mit der Hand. Wer hatte das gesagt? Das Projektorlicht blendete ihn. Komisch, dachte er. Das muss ein Unwetter sein, was sich da draußen zusammenbraut. Das war doch vorhin noch nicht so dunkel. Wie spät es wohl ist?

„Lustig, dass du das … ja, das war wirklich was, wo ich meine Ehre ein bisschen gerettet hab bei meinem alten Herrn. Wenigstens schwul, ja. Der war ja selber. Also, mein Vater hat ja nichts ausgelassen. Machoschweine waren das alle, er und seine Kumpane. Das war ja damals die Betonzeit, die No-Future-Zeit, ja. Eine kalte Zeit. War vorbei mit den Hippies. Die waren große Schweiger und Lederjackenträger und bartstoppelbewehrt. Und wenn’s gegangen wäre, dann hätten sie ihre Kunst den Leuten mitten in die Fresse rein, mit Stacheldraht drum und Glassplittern. Haben sie manchmal auch gemacht.“

Thomas schluckte. Er versuchte, um das Projektorlicht herum einen Blick auf die Zuhörenden zu erhaschen. Vor den Fenstern war der Himmel fast schwarz. Julia hockte neben ihm auf dem Schreibtisch, trank Kaffee und sah ihn fragend an. Ihre Augen sahen kein bisschen mehr aus wie Kaninchen. Sie waren genauso schwarz wie die Sturmwolken draußen. Thomas’ Mund war trocken. Er schluckte. Der Balken auf dem Handybildschirm lief weiter.

„Es war ganz normal bei uns, dass ich von der Schule nach Hause kam, und mein Vater lag noch im Bett oder war gerade beim Frühstück mit irgendeinem Typen. Oder auch einer Frau. Und lustig, mit dem schwul, meine erste Freundin, das war ja eine Frau, ein Mädchen. Klar, Freundin.“

Thomas schluckte erneut. Außer dem Kaffeebecher in Julias Hand war weit und breit kein Getränk zu sehen. „Kann mir mal jemand ein Glas Wasser …?“, fragte er und hob erneut die Hand gegen das Projektorlicht. Er blinzelte. Es war, als wäre er mit Julia ganz allein im Raum. Julia zuckte mit den Schultern und hielt ihm den Kaffee hin. Er nahm einen hastigen Schluck. Jemand hustete.

„Wie alt waren wir denn da?“, fuhr Thomas fort. „Fünfzehn? Sechzehn? Als ich ihr gesagt habe, dass ich mir vorstellen könnte, auch mit einem Jungen zu schlafen, da hat sie mich verlassen. Per Brief hat man das damals noch gemacht. Sie war immer kränklich und oft in irgendwelchen Luftkurorten. Aus St. Peter-Ording oder von irgendeiner Hallig kam da so ein dicker Umschlag. Gespickt mit vielen Hermann-Hesse-Zitaten und was man als kluger junger Mensch so liest. Sie könnte den Gedanken nicht ertragen, woran ich wohl gedacht hätte, wenn wir intim geworden wären. Sie hat schon damals wirklich so geredet. Heute ist sie, glaube ich, Professorin. Philosophie. Sehr entlegene Gebiete. In einem ruhigen, rationalen Weltwinkel. Wie Schottland oder der Schweiz.“

Er nahm Julia erneut den Becher aus der Hand und trank. Sie musterte ihn stirnrunzelnd, aber nicht unfreundlich. Thomas musste daran denken, dass er sie beim Hereinkommen für eine Art Planetensystem gehalten hatte. Jetzt fühlte er sich taxiert, beobachtet und vermessen wie eine seltene und etwas Furcht einflößende Himmelserscheinung. Ich rede ja einen totalen Blödsinn, dachte er bei sich. Das muss der Stress sein, wegen der Beerdigung. Er wollte schnell weitersprechen.

„Ich habe natürlich immer nur an sie gedacht dabei. Sie war sehr hübsch. Mein Mann, Clemens …“, hob er an. Seine Stimme versagte. Er schluckte und schluckte, aber der Kloß im Hals ging nicht weg.

„Mein verstorbener Mann …“ Das sage ich zum ersten Mal so, fiel ihm auf. Mein verstorbener Mann.

„Er hatte so einen Witz. ‚Ich bin Thomas’ Mann‘, hat er immer gesagt, wenn wir irgendwo eingeladen waren. Dabei war er ja meistens der Eingeladene, bei seinen Parteigeschichten, und ich das Anhängsel. Das haben die Leute immer sehr an ihm gemocht. Dass er so bescheiden war. Er war natürlich überhaupt nicht bescheiden. Das war so seine Masche. Wenn er gesagt hat: Ich bin Thomas’ Mann, wie der Schriftsteller, nur mit Apostroph. Da war gleich keiner mehr böse. Damals mussten wir immer noch damit rechnen, dass jemand böse ist, wegen dem Schwulsein. Und wenn er das so lustig gesagt hat, ich bin Thomas’ Mann, da waren alle gleich versöhnt. Auch wenn sie vormittags im Bundestag noch verkündet hatten, dass man diese Aids-Seuche eindämmen muss. Und Leute wie uns in Lager stecken. Die Klemmschwestern von der CDU. Und die liberalen Zahnärzte und Rechtsanwälte. Mit ganz schön vielen davon ist er dann ja später noch verschwunden. Die von der CDU streichen es gleich aus ihrem Gedächtnis, hat er oft gesagt. Und die Zahnärzte und Rechtsanwälte fahren hinterher nach Hause und denken, morgen sag ich’s der Brigitte oder der Uschi oder wie die Frau auch immer heißt. Morgen sag ich’s ihr, dass ich bi bin.“

Thomas rieb sich mit den Handballen die Augen.

„Das ist wirklich ein sehr ungünstiges Licht. Ich muss total bescheuert aussehen.“ Seine Hände waren nass, und seine Augen brannten.

„Thomas.“ Das war Renate. „Thomas, das reicht jetzt. Mach mal Schluss.“

„Das kann man wohl sagen, dass das jetzt reicht“, sagte jemand anders. Klaas.

Thomas winkte ab. „Es geht schon. Ich war nicht eifersüchtig wegen dem Rumvögeln. Ich fand es blöd, dass er das wegen der Politik gemacht hat. Aber wahrscheinlich war es nicht nur wegen der Politik. Warum ich das erzähle …“

„Thomas.“ Renate klang bittend.

„Das frage ich mich auch, warum er uns das erzählt.“ Klaas, spöttisch.

„Er hat immer gesagt, Thomas, zeig mir einen Bisexuellen, dann zeig ich dir ein Einhorn. Die sind genauso selten. Es gibt nur Schwule wie uns und Normalos und Normalos, die Angst haben. Clemens hat nicht viel gehalten von Zwischenstufen. Er war immer sehr entschieden. Und bei dem Unfall war er ja auch gleich sofort tot. Es hat nicht mal eine Sekunde gedauert, haben die Ärzte gesagt.“

Seine Wangen waren nicht vom Licht so heiß. Er weinte. Mit einem scharfen „Klack“ wurde der Projektor abgeschaltet. Bunte Punkte tanzten vor Thomas’ Augen. Renate war aufgestanden und hatte noch die Hand am Projektor. Julia reckte sich über den Tisch und tippte auf das Smartphone, um die App zu beenden. Wieder ertönte die Glocke.

„Eingabe wird verarbeitet“, sagte eine sanfte Maschinenstimme.

Thomas blinzelte die Tränen weg. Renate stand immer noch und starrte ihn fassungslos an. Die anderen in der Runde schauten verlegen zu Boden. Nur Klaas sah ihn unverhohlen an und grinste.

„Fahr mal nach Hause“, sagte Renate leise. „Ruh dich aus. Komm erst mal klar.“

Jetzt, wo der Projektor verstummt war, herrschte Stille im Raum. Thomas atmete heftig. Er versuchte, sich zu beruhigen, weil es ihm peinlich war, so laut zu keuchen, aber es gelang ihm nicht.

Wieder ertönte die Glocke.

„Hallo, Thomas“, sagte eine sonore Männerstimme. „Danke für deine Eingabe. Hier ist deine Story.“

Musik schwoll an.

„Machen Sie das aus!“, herrschte Renate Julia an. Die starrte Thomas nur an wie in Trance. Begleitet von der Musik fuhr die Stimmer aus der App fort: „Hallo, mein Name ist Thomas. Ich bin ein bisexueller Mann in den besten Jahren. Zurzeit bin ich Single. Mein Vater ist sehr erfolgreich, ebenso wie meine Freunde von früher. In mir bin ich immer ein bisschen Kind geblieben. Zu meinem Beruf gehört es, andere zu begleiten.“

„Ausmachen, hab ich gesagt!“

Julia erwachte aus ihrer Starre. Sie hechtete über den Tisch und hieb so heftig auf das Display, dass sie fast das Handy vom Tisch fegte.

„Das stimmt doch alles gar nicht“, sagte Thomas leise.

Klaas lachte laut. Er legte den Kopf in den Nacken und brüllte, dass man seine Zähne sehen konnte. „Das ist ja wunderbar!“, schrie er. „Das ist ja einfach ganz großartig! Ein bisexueller Mann in den besten Jahren. Ein echter Entscheider für unseren Laden.“ Er klatsche mit großer Geste in die Hände und schüttelte wiehernd den Kopf. „Zu seinem Beruf gehört es, andere zu begleiten. Ich fühle mich so gut, dass das der Macher bei uns in der Firma ist. Der hier jedes Meeting an sich reißen darf. Chapeau! Einfach nur: Chapeau!“

In der Runde wurde jetzt überall gegrinst.

„Sie sind jetzt sofort still“, sagte Renate leise.

„Es stimmt wirklich alles nicht“, sagte Thomas. „So ist das doch nicht.“ Ihm war schwindelig, und weil er nicht aufhören konnte zu weinen, sah er alles verschwommen.

Klaas senkte in gespielter Demut den Kopf. „Tut mir leid. Tut mir leid. Es ist gut zu wissen, dass die Silberrücken bei uns von ihren Weibchen verteidigt werden.“

„Raus mit Ihnen“, sagte Renate.

„Ach, ich muss jetzt gehen?“ Klaas stand ebenfalls auf.

Thomas sah zu Julia, die die Szene mit offenem Mund beobachtete. Achtundzwanzig, dachte er. Renate und Klaas schrien sich inzwischen an. Die restlichen Mitarbeiter verfolgten die Auseinandersetzung mit gespannter, ja fast freudiger Miene. Wie einen Boxkampf, dachte Thomas. Und er war schon längst k.o. Mit einem Mal fiel es ihm schwer zu stehen. Sein Anzug schien zentnerschwer an ihm zu hängen, als bestünde er aus reiner Müdigkeit.

„Ich werde gehen“, sagte er. Niemand in der Runde hörte ihm zu. Julia legte ihm die Hand auf den Arm.

„Ich werde gehen“, sagte er noch einmal, lauter. „Hallo. Ich gehe jetzt.“

Renate und Klass verstummten. Alle Gesichter wandten sich ihm zu.

„Ich gehe jetzt nach Hause“, sagte er. „Und ich glaube, ich komme auch erst mal nicht mehr wieder. Nein. Ich komme gar nicht mehr wieder. Ich kündige.“

Er ging. Mit jedem Schritt schien der Anzug schwerer zu werden. Es fühlte sich an, als sickerte die Müdigkeit aus dem Stoff durch die Haut bis in die Knochen. Weitergehen, dachte Thomas. Du musst weitergehen. Wenn du jetzt zusammenbrichst, kommst du hier nie mehr raus.

„Thomas“, rief Renate hinter ihm.

„Da haut der einfach ab“, schnaubte Klaas. „Klar. Wieso nicht?“

Als er schon den Fahrstuhlknopf gedrückt hatte, hörte er schnelle Schritte hinter sich. Julia kam ihm hinterhergelaufen.

„Hier, bitte“, sagte sie. Thomas erkannte nicht gleich, was sie ihm hinhielt.

„Dein Stift“, sagte Julia. Es war Renates Bleistift, mit dem er nach Klaas geworfen hatte.

„Danke“, sagte er. Er wollte danach greifen, aber sie zog ihn weg, wühlte in der Innentasche ihres Jacketts nach einem Stück Papier und kritzelte etwas darauf. Dann drückte sie ihm Stift und Papier in die Hand.

„Was ist das?“, fragte er.

„Da kannst du mich anrufen. Falls du mal den Rest der Story hören willst. Die App ist wirklich ziemlich gut.“

Thomas steckte Stift und Papier ein. Die Fahrstuhltür öffnete sich.

Julia hob die Hand und winkte. Ganz hinten im Flur stand Renate. Daneben, die Hände in den Hosentaschen, Klaas. Aus allen Flurtüren glotzten Leute.

Thomas winkte Julia ebenfalls zu.

Die Fahrstuhltür schloss sich.

Dann ging es abwärts.