image

Aber wir hatten dich doch alle so lieb

Siegfried Nitz

Siegfried Nitz

Aber wir hatten dich doch
alle so lieb

Roman

image

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch die Abteilung deutsche Kultur der Südtiroler Landesregierung

image

© Edition Raetia, Bozen 2017

Umschlag: Dall’O & Freunde

ISBN print: 978-88-7283-586-9
ISBN ebook: 978-88-7283-353-7

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com.

Hansi und Anne gewidmet

Die erzählte Geschichte fußt auf einer wahren Begebenheit.
Originalzitate aus Briefen sind kursiv gesetzt.

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Weitere Literaturtipps

I

Aus dem Nachher erschien Margareth, der Nichte des Ingenieurs, das Läuten an der Wohnungstür ein ungewöhnlich langes und kräftiges, ein – wie sich herausstellen sollte – tatsächlich Unheil verkündendes Sturmläuten gewesen zu sein, mit welchem ein Sonderbote der Post den an sie adressierten und versicherten Eilbrief aus dem Büro eines renommierten Anwalts überbrachte. Den Erhalt des Briefes sollte sie mit ihrer Unterschrift bestätigen, was sie, aufgescheucht wie sie war, auch widerspruchslos tat, oder doch nicht –, sie hätte nicht mehr darauf schwören können.

Von diesem Augenblick an erfuhr sie alle ihre Wahrnehmungen und Handlungen, auch die allergewöhnlichsten und alltäglichsten, in ein Licht aus Zweifel und Verunsicherung getaucht. Jeder auch noch so fest erscheinende Tatbestand könnte mit bald mehr, bald weniger geistigem Kraftaufwand in sein Gegenteil gekehrt, jede Wahrheit in eine Unwahrheit gewendet werden. Margareth las den Brief ein zweites und ein drittes Mal: Die Anwaltskanzlei sei von ihrem Klienten Herrn Helmuth Bacher mit allen Vollmachten ausgestattet, ihr die Position der Alleinerbin streitig zu machen und das ihm zustehende Erbteil bei ihr einzutreiben. Sie möge die Freundlichkeit haben, mit dem Büro einen Termin für ein Gespräch zu vereinbaren. Sofern möglich, solle ein außergerichtlicher Weg die Lösung im Streitfall bringen.

Wie sollte sie dieses Angebot zu einer – wie ihr schien – friedlichen und hoffentlich auch weniger kostspieligen Lösung verstehen: als ein wirklich ernst zu nehmendes, weil offenbar auf den Gebrauch der Vernunft ausgerichtetes, oder als einen bewusst gelegten Fallstrick, ein trojanisches Pferd, weil die Annahme des Angebotes implizit auch die Anerkennung einer Schuld bedeuten könnte?

Mit einem Mal fühlte sie sich auf der Anklagebank sitzen: Hatte sie nicht mit Wissen und Gewissen Onkel Franz’ und Tante Lenas letzten Willen quasi als Auftrag erfüllt? Der Name Helmuth Bacher war in diesem, mit Testament fahrig überschriebenen, zerfledderten Zettel nicht vorgekommen. Diesen wie dessen Nachkommen hatte Onkel Franz bereits außertestamentarisch als freiwillige Vorleistung mehr als ausreichend versorgt. Das wusste sie.

Es waren jetzt gut zehn Jahre her, dass Herr und Frau Ingenieur in kurzem Abstand nacheinander gestorben waren und diese ihre Nichte Margareth als Alleinerbin eingesetzt hatten. Ihr Gerechtigkeitssinn werde sie leiten, allein sie könne ihrer beider Werk der Wiedergutmachung fortsetzen und zum Abschluss bringen. Davon waren sie beide überzeugt gewesen.

Die Ingenieurs hatten aber das Erbe mit so vielen kleinen Hinterlassenschaften, mit Einschränkungen und Legaten bedacht, dass zu erben die Nachkommen dazu zwang, posthum all jene Aufträge der Erblasser zu erfüllen, welche diese unerfüllt jenen zurückgelassen hatten.

Zugleich war Margareth in diesen zehn Jahren mehr und mehr der Tatsache gewahr geworden, als Alleinerbin voll und ganz einen Dunstkreis mitgeerbt zu haben, worauf sie gut und gerne verzichtet hätte: teils noch wunde, teils erkaltete Beziehungen zu privaten und Geschäftsfreunden, mündlich und beiläufig gemachte Versprechungen, allzu lange unausgesprochen gebliebene Erwartungen, Warnungen gar und dann und wann wohl auch schlechtes Gewissen diesem oder jenem gegenüber – häufig also offene Rechnungen, die nicht materiell beglichen werden konnten.

Es war ihr bisher erspart geblieben, das mit „Privat“ beschriftete Aktenbündel zu öffnen. Tante Lena hatte sie gebeten, dies „nur im Notfall“ zu tun. Und diesen „Notfall“ hielt Margareth jetzt für gekommen: Helmuth Bacher war nach insgesamt zwanzig Jahren aus der Haft entlassen worden und war offenbar beim Anwalt hier in der Stadt gewesen. Er war also wieder da. Und sie war aufgepeitscht: Hatte er sie vielleicht schon aus einem Hinterhalt heraus belauert und wusste bereits, wo sie wohnte? Verschwanden da nicht immer wieder zwei Augen hinter einem Baumstamm im Park oder hinter einem Kiosk? Da waren Schatten, die aufzogen und verflogen. Kannte dieser Mann vielleicht auch schon den Namen von Margareths Hund, hatte er bereits ausspioniert, wann sie morgens aufstand, wann sie aus dem Haus ging, mit welchem Gemüseeinkauf und wann sie zurückkam?

Die Angst vor diesem Menschen, die Angst vor seiner Nähe versetzte sie in einen fiebrigen Dauerzustand. Sie hatte diesen Mann vor fünfzehn Jahren kurz vor seiner Verurteilung ein erstes und letztes Mal gesehen: Sie würde ihn bestimmt nicht wiedererkennen. Die Beklemmungen, die Fragen und Zweifel türmten sich zu einer riesenhohen, unüberwindbaren Felswand in einem Talschluss auf.

Dennoch wollte sie – wo doch der Fall leider neu aufgerollt, wo eben, auch von Margareth selbst, erst Zugeschüttetes wieder aufgeworfen und bisher verdeckt Gebliebenes schonungslos enthüllt würde – alles tun, um nicht zu scheitern bei einem Lösungsversuch, an dessen Ende alle Beteiligten das Karussell der Wünsche und Ansprüche mit der Überzeugung wieder verlassen könnten, sie seien gerecht behandelt worden. Damit würde der Ingenieur sich erlöst und ohne Schuld wähnen können. Auch sie selbst würde ihre Rolle dann wieder abgeben und den Auftrag als erledigt betrachten können. Ihr Bestreben war es, sich nicht auf eine ungewisse Bergwanderung sozusagen einzulassen, auf der – unmerklich zunächst, doch allmählich deutlicher spürbar und beschleunigt – die physischen Kräfte zuerst, die psychischen dann schwinden würden, während dichter und dichter werdende Nebel einen Schleier um das Gehirn legen. Das solle nicht geschehen.

Sie werde hingegen das, was sich als ein Kreuzweg abzuzeichnen begann, mit einem Bergführer planen: von der Bergstation der Seilbahn aus das erste, niedere Horn umgehen, dafür mehr Zeit benötigen, aber weniger Höhenmeter bewältigen müssen; sie werde Hügelwelle für Hügelwelle, hinter denen die Felswand im Anstieg bald verschwindet, bald wieder auftaucht, die noch zu bewältigende Wegstrecke mit den verbleibenden Kräften, mit der Uhrzeit und dem Mutwillen des Wetters vermessen; und sie werde den mit dem Näherrücken des Zieles zugleich immer länger werdenden Abstieg ebenso mit einrechnen. Sie werde, einmal angekommen, sich auf einen Stein, sich auf die Welt und in die Welt setzen, den Horizont abtasten, den Himmel nach Ost, West, Süd, Nord benennen und über die Werke der Menschen buchhalten.

Sie werde sich professionellen Beistand bei einem Rechtsanwalt suchen, alle Materialien von den Briefen bis zu den Zeitungsartikeln und Fachgutachten studieren, sie werde entscheiden, wie tief sie in die Schlünde und Abgründe schauen wolle, die sich in dem privaten Ordner auftun würden.

Ob aber Margareth es schaffen werde, das zu ertragen, ohne dass Körper und Seele daran Schaden nähmen –, zu sehen, wie Stein für Stein die Mauer einzubrechen beginnt, durch deren Errichtung die Ingenieurs geglaubt hatten, die an sie gestellten Ansprüche zumindest teilweise abgedeckt zu haben.

Da sind diese bisher kaum beachteten Zeichen auf der Platte von Onkel Franz’ Schreibtisch, verschieden große, eckige und runde Zeichen, die etwa von Gläsern oder Tassen stammen mögen, die auf der lackierten Holzplatte lange stehen geblieben, schließlich dort vergessen worden waren. Das Bild eines vielgliedrigen Räderwerkes schlägt sich durch, das irgendeinmal unerwartet, als sei es das erste Mal, zum Stillstand gekommen sein muss. Der Holzlack ist ausgefressen, die Ätze hat Bahnen gelegt, hat Verästelungen genagt von den Rändern der Gegenstände nach innen und nach außen. Da ist ein großer, ein rechteckiger, blasser Fleck: Da muss etwas für längere Zeit gelegen haben, hingelegt, um jeden Tag einmal weggeworfen und einmal wieder aufbewahrt zu werden. Der Umfang eines Pergaments aus Tante Lenas Schublade passt genau darauf.

Der Anruf der Polizeidienststelle am Abend eines Vorfrühlingstages erschüttert die Welt des Ingenieurs und seiner Frau Lena und lässt sie dann einstürzen. Die Bluttat, von der die Polizei sie in Kenntnis setzt, fällt wie ein Betonblock auf sie nieder. Die beiden wissen nicht, wie sie sich helfen sollen. Der Schmerz brennt sie von innen aus, erstickt das Wort, löscht es aus.

Für Tage vermögen sie nicht, einander ins Gesicht zu schauen. Sie schweigen, schließen sich in ihrer Villa ein, hinterlassen im Betrieb die Nachricht, sie seien verreist. Das Dienstmädel kommt einmal morgens, dann gegen Mittag noch einmal, und noch einmal am Abend, schellt und schellt, es rührt sich nichts. Im Betrieb erst wird die Haushilfe auf ihre Nachfrage über den Verbleib ihrer Herrschaft über ihre Abwesenheit in Kenntnis gesetzt. Sie solle warten, bis sie wieder gerufen werde. Das geschieht dann nach Tagen, nachdem die Lebensmittel allmählich ausgehen, die Luft der ständig geschlossenen Fenster wegen nicht mehr zum Atmen ist und der Ingenieur plötzlich und unaufhaltsam aus seinem Schweigen ausbricht und seine Ohnmacht herausröhrt. „Wie haben wir uns das verdient!“ Oder ist es die Wut über sein eigenes Unverständnis, über seine Egozentrik, über seine erhobenen Hauptes und mit Verachtung für andere zur Schau getragene Überzeugung, wonach fast alles in der Welt steuerbar und machbar sei. Oder ist es die über ihn spät, zu spät hereinbrechende Einsicht, dass Vernunft und Planung nicht zugleich auch die Ultima Ratio all dessen sind, was sich in der Welt bewegt?

Es passt zu ihm, dass er sich an Fakten und nur an Fakten orientiert, dass fast ausschließlich ein lineares, sequenzielles, ein naturwissenschaftlich deduktives Denken ihm das Werkzeug vermittelt, Welt und Menschen zu begreifen. Jenseits dessen sind ihm komplexes Nebeneinander und Verschiedenheit nur Störfaktoren, wenn sie ohne sichtbare, greifbare Ergebnisse, wenn sie nur „Gerede“ bleiben. In seiner sonoren, modulationsreichen Stimme gesprochen klang vieles gleich von Anfang an überzeugend und musste nicht mit vielen Worten angereichert – er hätte wohl gesagt: verwässert – werden. Er fürchtete all das, was keine festen Konturen hatte, was trübe und problembehaftet war; er war ein Entscheider, scheute Konflikte und ging diesen frühzeitig, dann und wann auch vorzeitig, aus dem Weg.

Hat er vor etwa einem knappen Jahr den Brief mit dem Befund Dr. Larchers, des Facharztes für Nervenkrankheiten, nicht ernst genug genommen, ihn in der pochenden, in der schrill fordernden Art als Störung und Bedrängung empfunden?

Und dass er einen nervenkranken Sohn haben sollte, … Waren denn die Szenen, die sich vor etlichen Jahren in seiner Villa zwischen ihm und Sohn Helmuth abgespielt hatten, schon erste Anzeichen für die Krankheit des Sohnes gewesen, hatten also nichts mit seiner Vaterrolle zu tun, welche er nicht habe übernehmen dürfen, wohl aber mit Helmuths Erbgut? Hätte er sich diesem Menschen gegenüber als dessen Vater, als dessen verhinderter Vater, und trotz alledem, was zwischen ihnen an Feindschaft gewesen war, noch über die freiwillig gemachten Versprechen hinaus verpflichtet fühlen sollen? Was mehr hätte er für seinen Sohn tun sollen? Zweifel packen ihn, Vorwürfe fressen sich ihm durch alle Eingeweide.

Hätte Helmuth vielleicht doch noch ein Betriebschef werden können, nicht besser, nicht schlechter als andere auch? Wer kann die Hand ins Feuer legen dafür, was aus einem Menschen werden kann – trotz aller Widrigkeiten, die sich ihm in den Weg stellen? Allerdings ließen dann Helmuths spätere, aus dem Krieg mitgebrachte schwere Kriegsverletzungen immer wieder teils unterschwellig, teils offen geäußerte zusätzliche Zweifel an seinen Voraussetzungen aufkommen, einen Produktionsbetrieb, eine Betriebsgruppe fachlich und finanztechnisch erfolgreich zu führen. Ach wäre doch die Nichte Margareth ein Bub gewesen!

Kein Wunder also, dass er Margareth als der einzigen, ihm noch verwandtschaftlich einigermaßen nahestehenden und dazu fähigen Person, wenn schon nicht mehr die Führung des Betriebes, so doch die Abwicklung aller mit diesem zusammenhängenden, privaten Verflechtungen anvertraut.

Das ehemals beträchtliche private Vermögen war inzwischen stark geschrumpft und in vielen Verästelungen zerronnen. In den mit „Privat“ gekennzeichneten Ordnern fielen ihr zum Teil peinlich genau nach Tagen, Monaten und Jahren gereihte Dokumente in die Hand: Rechnungen, Zahlungsaufträge, Mahnschreiben, technische, den Betrieb ebenso wie medizinische, den Gesundheitszustand des Ingenieurs betreffende Fachgutachten, Skizzen von Bauvorhaben, Fotos, persönliche Notizen, Bittbriefe und Dankesschreiben. Neugier und Furcht zugleich umschleichen diese Ordner. Doch sie war Onkel Franz und Tante Lena Dank schuldig. Diese hatten von Zeit zu Zeit ihr Studium unterstützt. Leider war es kein betriebswirtschaftliches oder technisches, sondern „nur“ ein pädagogisches und musisches gewesen, und sie hatten ihr kraft ihrer Bekanntschaften die ersten Schritte in eine Schauspielkarriere in den nahen Großstädten geebnet. Angesichts auch solcherlei erfahrener Zuwendungen gestand sie sich den tief in der Seele drinnen verborgenen Wunsch nicht ein, den nämlich: dass vieles wohl eher mit Onkels und Tantes Tod hätte begraben sein und begraben bleiben sollen. Sie hätte ganz bestimmt leichter damit gelebt, von vielem gar nicht erst zu wissen. Denn dieser Wissensvorsprung setzte sie einerseits der Versuchung aus, diesen in strittigen Situationen als Faustpfand für oder gegen die eine oder andere Seite der Verwandtschaft zu benutzen. Andererseits führte er dazu, dass ihr das Wissen um Geheimnisse zugemutet wurde, das sie nicht hatte. Sie fühlte sich deshalb auch innerhalb der Familie belauert, wurde zunehmend still und stiller, erledigte alles weitestgehend allein und in einer Haltung, die als salomonisch hätte bezeichnet werden können.

Dem Rechtsanwalt, den sie sich zur Unterstützung ihres Unterfangens ausgesucht hatte, händigt sie den Brief des Facharztes für Nervenkrankheiten Dr. Larcher aus, in welchem dieser – etwa ein Jahr vor der verschleiernd sogenannten Katastrophe – an den Ingenieur schreibt:

Er habe seinen Sohn Helmuth seit einiger Zeit in Behandlung. Sein nervaler Zustand lasse sehr zu wünschen übrig. Neben der Kopfverletzung bestünden noch starke psychische Faktoren, die für ihn sehr belastend seien. Er stehe derzeit beruflich vor sehr schwierigen Aufgaben, über die er sich aber kaum hinaussieht. Es sei für den weiteren Lebensweg seines Patienten sicher, er möchte sagen, von entscheidender Bedeutung, dass diese Pläne zu einem Erfolg führten. Bei der ganzen Sachlage erscheint es mir nun unerläßlich, daß Sie, sehr geehrter Herr Ingenieur, möglichst bald zu mir kommen, damit ich Ihnen die Situation eingehend darlegen und Sie um Hilfe in meinen Bestrebungen um Ihren Sohn bitten kann, – was von entscheidender Wichtigkeit ist.

Nun spricht der Brief des Neurologen tatsächlich von seinem „Sohn“, des Ingenieurs „Sohn“, von dem er geglaubt hatte, sich durch freiwillig eingegangene Verpflichtungen freigemacht, auch freigekauft zu haben. So geschrieben, vor ihm liegend, steht „Ihr Sohn Helmuth“ jetzt da wie ein Hindernis, das nicht zu umgehen, nicht zu überspringen ist. Der Ingenieur spürt ein eigenartiges Ziehen in der Brust. Er erleidet einen Schwächeanfall, muss sich hinlegen. Nach mehrtägigen Untersuchungen im Krankenhaus und einem Klinikaufenthalt zur Rekonvaleszenz antwortet der Hausarzt gut einen Monat später dem Facharztkollegen im Auftrag seines Patienten:

Er sei seit vielen Jahren der behandelnde Arzt des Ingenieurs und seiner Familie. Der Ingenieur habe in den vergangenen fünfzehn Jahren schon einige Male einen totalen Nervenzusammenbruch erlitten, der ihn zu seinem schweren Nachteil jeweils für Monate von seinem Betrieb ferngehalten habe. Von einer langwierigen Venenentzündung im letzten Jahr und von einer neuerlichen totalen Nervenerschöpfung im Anschluss daran habe er sich immer noch nicht ganz erholt. Er sei nur halbtägig arbeitsfähig und schon geringe seelische Belastungen, Sorgen oder Ärger lähmten seine Arbeitskraft schnell und vollständig. Weil der Ingenieur und Herr Bacher vor einigen Jahren nach schwersten, häßlichen Zusammenstößen zur Erkenntnis kamen, daß ihre Charaktere nicht zusammenpassen, haben sie miteinander gebrochen. Ich habe nunmehr meinem Patienten aus gesundheitlichen Gründen raten müssen, sich weder unmittelbar noch mittelbar mit den Problemen des Herrn Helmuth Bacher zu befassen.

Doch es kommt anders. Ob er will oder nicht: Der Ingenieur muss sich mit Helmuth Bacher befassen, muss sich gegen seinen Willen in die Verantwortung ziehen lassen. Dass der Nervenarzt Dr. Larcher eine Besprechung des Falles Helmuth Bacher als unerlässlich bezeichnet hatte, zerstückelte ihm seitdem umso mehr den Schlaf, je weniger er dieser Bitte nachkam, sie verdrängte und zu vergessen suchte.

Onkel Franz, der Ingenieur, war in der Zwischenkriegszeit, genauer: in den Dreißigerjahren, zu einem Pionier im Hoch- und Tiefbau, insbesondere im Tunnelbau und im Bau von Hochalpenstraßen avanciert. Er galt als der Erfinder komplexer Konstruktionssysteme, die er sich auch hatte durch Patente schützen lassen, und völlig neuer Bohrmaschinen, die in der Folge weit über die heimatlichen Grenzen hinaus in Betrieb waren. Angesichts begrenzter finanzieller Mittel nach dem zweiten Krieg war es von ausschlaggebender Bedeutung, dass sich der Ingenieur neben seinen fachtechnischen Leistungen unermüdlich um die Beschaffung ebenso öffentlicher wie privater Finanzmittel wie amtlicher Genehmigungen für Bauvorhaben verschiedenster Art bemühte.

Eine stattliche Erscheinung und eine geradezu besessene Schaffensfreude täuschten darüber hinweg, dass er von brüchiger Gesundheit war. Allzu früh wurde er kränkelnd und blieb über Jahre hinaus nur bedingt voll arbeitsfähig.

Er soll ein väterlicher Freund seiner Mitarbeiter gewesen sein. Seine edle, vornehme Gesinnung und seine menschlichen Eigenschaften hätten ihn insbesondere zu einem Förderer der Jugend gemacht. Dem aus wertvollster Arbeitsleistung Abberufenen werde in der Heimat und weit darüber hinaus ein ehrendes Gedenken bewahrt bleiben. So will es der Nachruf.

Margareth lässt die Zeitungsseite zusammen mit anderen Papieren aus der Hand auf den Schoß gleiten. Da gibt es etwas, was sie innehalten lässt: Ein „Förderer der Jugend“ hieß es? Und dennoch hatte er in der Erziehung und in der Förderung seines Sohnes doch eher versagt, so dieser denn tatsächlich sein Sohn und er selbst dessen Vater war. Das war niemals restlos zweifelsfrei geblieben und war durch kein einziges Dokument schriftlich belegt. Doch dass Helmuth sein Sohn war, dessen war Margareth sich sicher: Man hätte wohl nur nachrechnen brauchen, um zu einem der Wahrheit nahen Ergebnis zu kommen. Dennoch: Was konnte schon sicher sein oder als sicher gelten – angesichts des Flickwerks aus Mutmaßungen und Nachreden, aus ganzen Erzählungen und einzelnen Informationen, die ihr gleich von mehreren Seiten teils offen zugetragen, teils heimlich gesteckt wurden. Schließlich ließ auch sie das allzu scharfe Seziermesser liegen, verzichtete auf das weitere Zersägen der Wirklichkeit und blendete Beunruhigendes und Unangenehmes aus.