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Vito von Eichborn

Mein Mallorca

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Zitate zu Beginn der Kapitel stammen aus: George Sand, Ein Winter auf Mallorca, frei bearbeitet nach der Übersetzung von K. Elsner, 1848, Reprint Antigua Imprenta Soler, Palma de Mallorca 1974.

© 2013 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Simone Hoschack / Petra Koßmann, mareverlag Hamburg

Abbildung Premium vector /Shutterstock

Karte Peter Palm, Berlin

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-363-7

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-183-1

www.mare.de

Inhalt

Wie ich was mit Aussicht suchte und meinen Mittelpunkt der Insel fand

Wie die Winde heißen und warum Mallorca der Mittelpunkt der Welt ist

Warum die Gleichzeitigkeit zum Lebensgefühl gehört und wer was über wen sagt oder denkt

Die Mär von der Integration

Fettsäcke und geparkte Ehefrauen

Ausflug in den Menschenzoo

Sonne, Sand und Salz

Wie der Ex-Ministerpräsident im Knast landet und die Korruption immer schwieriger wird

Wer die bedeutendsten Mallorquiner der Geschichte waren und wie Deutsche zu Königen wurden

Die unübertrefflichen Vernetzungen des Ramon Llull

Die ungewöhnlichen Leistungen des grünen Erzherzogs

Die unaufhaltsame Karriere eines skrupellosen Unternehmers

Die ungeheuerlichen Taten deutscher Inselhelden

Wie die Deutschen und ihr berühmtester Mallorca-Dichter drangsaliert wurden und der Bürgerkrieg die Insel spaltete

Vom Licht und einem wortgewaltigen Kultautor

Vom Krieg und einem ungewöhnlichen Helden

Wie Jazz am Freitag und mein Kater mir guttun und wie meine Vermieterin sich mit allen anlegt

Von Miguel

Von Zizi

Von Rosa

Wie ein Literaturkreis entstand, ich seltene und seltsame Leute kennenlernte und was andere beobachtet haben

Noch mehr Typen und Charaktere

Zwei Blickwinkel auf Insulaner

Erlebnisse des Mago Bernar

Welche Orte besonders liebenswert sind und wo man besser nicht hinfährt

Der Osten: Von Felanitx bis Artà

Der Westen: Das Tal von Sóller

Der Norden: Von Pollença zur Albufera

Wie Wanderer und Radfahrer die Insel erleben und von der Kraft der Natur für die Sinne

Ein Einschub von George Sand

Über Pflanzen und Geier

Über Diego und die Klöster

Über die Radfahrer

Über Autofahren und Bürokratie

Warum humorlose Kinderbilder und kitschiges Glas und wo andere Sehenswürdigkeiten Eindruck machen

Über Nins und Tiere

Über Höhlen und Glas

Über Museen und Kunst

Wo Fromme und Krieger und Piraten Spuren hinterließen und ein alter Mann ergreifend singt

Über die Kathedrale

Über das Castillo Bellver

Über harte Zeiten

Über Mauren und Flamenco

Was es so alles zu essen gibt, von der Matanza und von Hierbas, Tapas, Süßigkeiten und Cojones

Von einem Fest, bei dem nicht gefeiert wird

Dafür muss man Eier haben

Comidas típicas

Was es auf Märkten und am Wegrand gibt und wo man was mal essen gehen kann

Ein Ausflug nach Sineu

Ein Blick in meine Küche

Ein paar Restaurants

Wie Geschichte und Geschichten ineinandergreifen und Justiz und Sex seltsame Wege gehen

Hier ist das Zuhause von Kolumbus

Hier steht das berühmte Klavier

Hier geht’s ordentlich zur Sache

Hier ist das legendäre Utopia

Literaturverzeichnis

Wie ich was mit Aussicht suchte und meinen Mittelpunkt der Insel fand

»Da die Quellen früherer Autoren sich wie immer widersprechen, muss ich Ungenauigkeiten korrigieren. Hier also mein versprochener Artikel. Meiner Rolle als Reisender gemäß, will ich vorneweg eindeutig erklären, dass mein Bericht unbestreitbar weit besser ist als alle vorherigen.«

Als ich das Haus am Mühlturm sah, wusste ich: Das isses. Und als mich auf der Dachterrasse die geradezuirrwitzige 360-Grad-Rundumsicht gefangen nahm, war’s vollends um mich geschehen.

Ich hatte den Maklern von Inca bis Santa Maria gesagt: Irgendwas zur Miete – Hauptsache, Fernblick. Hier nun standen drei Mühltürme auf einem Hügel am Ortsrand; am höchsten davon war ein Haus angebaut. Schon der Weg über den schrägen, krumm belegten Hof, vorbei an einem drei Meter hohen Kaktus an einem alten Brunnen, vorbei an einer ausgewachsenen Palme an der Treppe, einem uralten runden Schuppen am Felsen und einem mächtigen Feigenbaum, rührte mich an. Und dann mein Traum: Das große Wohnzimmerfenster wirkte wie ein Triptychon mit seinem Blick auf die Tramuntana – von den Bergen bei Valldemossa im Westen bis zur Halbinsel Formentor im Nordosten.

Von mir aus im Norden, in der Mitte des gerade zum Weltkulturerbe erklärten Gebirges, beeindruckten mich zwei gewaltige Felsen; sie sind wie Backenzähne geformt, ich taufte sie Goliath und Atlas. In der Walpurgisnacht, am 30. April zum Tanz in den Mai, spannen die Hexen ein Seil zwischen ihnen, auf dem sie herumlaufen und tanzen. Der linke Zahn trägt die legendäre Burg von Alaró, wo die größten Helden der Insel, Guillem Bassa und Guillem Cabrit, auf Bratspießen zu Tode geröstet wurden. Nachdem das Königreich Mallorca gegen Ende des 13. Jahrhunderts von Alfons II., dem Neffen vom Jaume II., in wenigen Tagen erobert worden war, hatten die beiden »Wilhelms« den Widerstand angeführt und sich noch zwei Jahre lang auf der Burg gehalten.

Auf dem riesigen, mit einer Brüstung umgebenen flachen Dach am Turm baute ich später einen hölzernen Unterstand mit asymmetrisch versetzten Wänden, um – vor Sonne und Regen und auch vor dem ständigen Wind geschützt – mein Mallorca gewissermaßen rundherum zu verinnerlichen. Es pfiff ständig, die Altvorderen hatten gewusst, warum hier gleich mehrere Mühlen standen; in den Kellern unter meinem Haus, teilweise direkt in den Fels gehauen, war eine weitere Mühle überbaut worden.

Der Blick nach Südwesten umfasste mein ockerfarbenes Dorf, Santa Eugènia, das mir schnell ans Herz wuchs. Da war nichts kaputt gebaut, es gab kein Hotel, keinerlei Touristenattraktion. In der Dorfmitte, im Bistro L’Escargot, würde ich fast jeden Freitagabend zum Plaudern mit den Dorfbewohnern und zur Jamsession einheimischer Musiker auftauchen.

Nach Osten schaute ich über endlose fruchtbare Äcker, über die Tiefebene der Inselmitte, Es Pla, im Nordosten von heller Mergelerde bedeckt, in der Inselmitte von eisenhaltiger Tonerde, die zur typischen Rotfärbung führt.

Der Blick fiel unterhalb meines Mühlenhügels auf ein seltsames Gebäude: Die zehn Türen in diesem länglichen Gebilde führten zu zehn nebeneinanderliegenden Zimmern. Es gab keinen Baum, keinen Strauch, jedoch einen größeren Pool. Später erzählte mir jemand, dass dies ein Bordell in einem Industriegebiet hatte werden sollen. Ob das stimmt? Von hier oben hätte ich direkten, unverbaubaren Einblick in das Geschehen gewonnen.

Das Grundstück gehörte natürlich einem Verwandten des Unternehmers. Das Haus war ohne jedes Drumherum auf die Wiese gebaut. Jedoch wäre hier nie ein Industriegebiet genehmigt worden, denn nicht nur liegt der Friedhof des Dorfes im Einzugsgebiet, sondern unmittelbar daneben lag der einzige jüdische Friedhof von ganz Mallorca. Der war, durch das schmiedeeiserne Tor betrachtet, sehr gepflegt, jedoch immer verrammelt; ich habe dort nie einen Menschen gesehen.

Dieser vereinsamte, etwas beknackt wie Pferdeställe aussehende Bau stand seit Jahren zum Verkauf. Vielleicht gibt es unter den Lesern einen Unternehmer, dem ich folgende Idee schenke: Jemand sollte ein »Bici-Hotel«, also so was wie ein Fahrrad-Motel, draus machen. Erotik-Schuppen gibt’s genug. Im Frühjahr und Herbst, wenn die Insel Tausende Velozipedisten anzieht, wäre der Bau sicherlich geeigneter, den zweirädrigen Liebling, die Bicicleta, mit aufs Zimmer zu nehmen.

Die Pla dehnt sich weiter nach Südosten aus; ich blickte in der Ferne auf den Berg von Randa. Die Sage berichtet, der ganze Berg sei hohl. Kein Wunder. Tatsächlich erstrecken sich auf dieser Insel aus Kalk – besser: darunter – kilometerweit einige der größten Höhlen Europas.

Auf dem Berg finden sich gleich drei der zahllosen mallorquinischen Klöster. Im »Cura« auf dem Gipfel schrieb der Philosoph und Theologe Ramon Llull – etwa zur gleichen Zeit, als die Guillems hingerichtet wurden – seine Ars Magna. Er war Universalgelehrter und im 13. Jahrhundert der erste bedeutende Lyriker der westlichen Literatur, als in Deutschland noch tiefstes Mittelalter herrschte. Von ihm wird noch die Rede sein.

Hier in der hübschen Kapelle war ich mal völlig alleine, kein Tourist weit und breit, und die Akustik verlockte mich. Mir fiel meine Schulzeit wieder ein. Denn mit siebzehn war ich einst im Kirchenchor gelandet, eigentlich wegen der Mädchen. Für die war ich wohl noch zu kurzbehost und tapsig, da lief frustrierenderweise nix, jedoch waren wir mit der Kantorei h-Moll-Messe-singend in österreichischen Kirchen unterwegs. Diese Melodie fiel mir hier nun wieder ein, nie habe ich das Glo-o-o-o-r-ii-aaa so inbrünstig geschmettert. In excel-si-iiis de-ee-ooo.

Wenn ich, wie meist, auf dem Balkon meiner Wohnung frühstückte, mit dem Blick von der Ebene im Osten über Randa bis fast zum Flughafen Son Sant Joan vor Palma, kreuzten ständig Flugzeuge das Panorama, im Hochsommer alle paar Minuten. Von meinem Haus aus hinter einem Hügel, der den Blick nach Palma verdeckte, luden die Flieger ihre millionenfache menschliche Fracht ab. Ihr fernes Brummen störte nicht sonderlich, nur manchmal bei widriger Wetterlage wurde es lauter.

Sie flogen buchstäblich entlang der alten Handelsstraße von Sineu, wo schon seit Ewigkeiten – etwa seit der Zeit von Llull und den tapferen Wilhelms – der älteste Wochenmarkt der Insel stattfindet. Auch weil dort mittwochs immer noch Hähne, Hunde und Esel angeboten werden, gehört er noch heute – nicht nur für Kinder – zu den großen Touristenattraktionen; endlos parken die Autobusse entlang der einzigen Eisenbahnlinie. Von Sineu führen sternförmig die Wege in alle Richtungen, nicht zuletzt auch nach Palma. Und falls jemand sich wundert, dass sie durch kein einziges Dorf führt – dies war von alters her die Straße des Königs.

Gerne fuhr ich nach Sineu zum Frühstücken und Menschengucken an der Plaza bei der Kirche, und ich stellte mir vor, wie seit über achthundert Jahren an dieser Stelle immer jemand saß, der sich wunderte über die Mannigfaltigkeit seiner Zeitgenossen. Sineu wurde mir lieb – darauf komme ich noch zurück.

Viel mehr als über das denkbare Fahrrad-Bordell staunte ich jedoch eines Nachmittags, als ich zu Hause zum Panoramafenster hinaussah; ich dachte, nun sei ich völlig durchgedreht. Unmittelbar an meinem Fenster war ein knallbunter Vogel vorbeigeflogen, greller als ein Papagei, wie es ihn im Kinderbuch, nicht aber in der Natur geben kann. Doch tatsächlich, es war ein ganzer Schwarm schrill angemalter Tauben, die an beiden Seiten meines Hauses ihre Runden drehten.

Ich habe sie oft beobachtet, dann ging ich mal nach unten, um nach des Rätsels Lösung zu fragen. Am Fuß meines Mühlbergs ließ ein Spanier sie zweimal die Woche frei; er führte sie mir vor, nahm sie in die Hände, spreizte ihre Flügel – ein unglaublicher Anblick wie aus buntem Plastik, leuchtend rot, auch grün und blau, meist in allen erdenklichen Farbmischungen, mit knalligem Bauch und gefleckten Schwingen. O Mann, jedes Mal, wenn sie um meine Mühle kreisten, war ich wieder aus dem Häuschen. Das ist total schräg und surreal, aber auch wundersam unwirklich und märchenhaft, wenn diese unglaublichen Vögel vor der Bergkulisse oder der endlosen Ebene ihre Runden drehen.

Es stellte sich heraus, dass dies unter Taubenhaltern in Spanien ein altes Hobby ist; drei von diesen Schwärmen gibt es auf Mallorca. Man denkt prompt an Tierquälerei, aber natürlich sind die Farben vollkommen unschädlich. Von Zeit zu Zeit treffen die Halter sich zum Wettkampf. Die bunten Vögel sind allesamt Männchen. Dann wird eine unscheinbare Taubendame losgelassen, zig scharfe Buntlinge stürzen sich hinterher – und wer zuerst zum Zug kommt, dessen Halter hat gewonnen.

Nicht ganz so meschugge, aber auch unvergesslich war der Blick vom Balkon, als sich vier bis fünf Meter hohe bunte Riesen, die Gegants, unterhalb von meiner Mühle auf der Plaza versammelten. Es dürften etwa fünfundzwanzig Pappmascheefiguren sein, die einmal im Jahr in einer stundenlangen Prozession durchs Dorf ziehen. Sie tragen Trachten und verkörpern zahlreiche Berufe und müssen aufpassen, nicht mit den Kronen der Bäume an dem kleinen Platz zu kollidieren. Erst fiel mir abschätzig ein: Kitsch. Aber nein, dies rührte mich an. Diese Inszenierung nun wirkte mal nicht so billig und daneben wie so manche künstlich erhaltene Tradition, es ist auch keine Show für Touris, sondern Höhepunkt eines uralten Volksfests der Einwohner.

Die Gegants kommen für die zahlreichen Feste aus vielen Dörfern zusammen. Zwei besonders prächtige Exemplare stehen links und rechts des Eingangs im Rathaus von Palma.

Ja, Mallorca ist ein Phänomen. Denn es gibt buchstäblich alles: eine südlich-laute Großstadt ebenso wie einsamste Natur; ein buntes internationales Gemisch aus den Sprachen und Nationen weltweit und bäuerliche Familienstrukturen, die davon anscheinend unberührt bleiben. Und was weitgehend unbekannt ist: Im Norden gibt es auch heftige Niederschläge, 1400 Millimeter pro Quadratmeter jährlich; das erreichen nur wenige Gebiete in Deutschland. Im Südosten dagegen regnet es kaum, in Campos sind es 350 Millimeter. Eine Bekannte meinte, es regne ihr da zu viel; sie zog von Binissalem, weil es ihr da zu feucht und nass war, nach Santanyí.

Von meinem abgelegenen Dorf fuhr ich zwanzig Minuten bis in die Tiefgarage des Corte Inglés, des größten Kaufhauses von Palma. Zwanzig Minuten brauchte ich auch nach Süden zu einer versteckten felsigen Bucht, wo ich, mit Klappsesselchen, Lektüre und einem Piccolo bewaffnet, zum Nacktbaden verschwand und über die ganze Breite der Bucht von Palma und die Berge dahinter blickte. Vor lauter Fern-Sehen vergaß ich oft die Lektüre.

In zwanzig Minuten von meiner Mühle aus war ich nördlich im eher hässlichen Inca, im Industriegebiet, um mir beim Factory-Outlet von Camper Schuhe, um die Ecke bei Tchibo Kaffee und in einem sozialen Gebrauchtshop alten Krempel zu kaufen, nach einem Spaziergang nebenan über den großen urspanischen Friedhof mit den Sarg-Schubladen in den Wänden und seinen so fremden Begräbnisritualen.

In einer knappen halben Stunde nach Südwesten war ich in Puerto Portals, wo sich die Szene der Schönen und Reichen produziert – ja, im Sterne-Restaurant Tristán sehen sie wirklich aus wie die Klischees in Bunte und Gala. In der Bar davor trank ich friedlich und staunend ein Pils, und da mich niemand beobachtete und ich nicht wusste, wohin damit, tut das Bierglas jetzt hier bei mir zu Hause seine Dienste. Dieser Jachthafen gehört zu den exklusivsten in Europa. Die Schiffchen kosten im Schnitt ein paar Millionen und die Dauerliegeplätze viele Hunderttausend Euro im Jahr und bis zu tausend Euro die Nacht. Völlig neidlos, einfach offen gestanden: Da kann ich nicht mehr folgen. Was ist das für ein Leben? Welchen Kriterien folgt es?

Übrigens gibt’s auf der Insel in den gut vierzig Häfen rund fünfzehntausend Liegeplätze – die natürlich nicht reichen; es werden weitere gebaut.

Weiter südwestlich bin ich bald in Andratx, im Kulturzentrum von Tina Horne, die tolle Arbeit leistet und immer pleite ist, weil sie auf anspruchsvoller multikultureller Kultur besteht, oder am Hafen, wo Deutsch in den Lokalen fast keine Fremdsprache ist. Quasi um die Ecke, unweit vom Ende der Insel in Sant Elm, am Fuß eines Berges auf seiner wunderbaren Finca, finde ich einen Freund aus Köln wieder, den ich seit vielen Jahrzehnten nicht gesehen hatte. Er ist Kunstkritiker, sein Lebensgefährte kümmert sich ständig um Gäste, Gebäude und Garten.

Und eine andere Freundin lebt, von meiner Mühle ebenso eine gute Dreiviertelstunde entfernt, diagonal am anderen Inselende im Nordosten auf ihrer frisch geerbten Finca, unweit des zauberhaften Städtchens Artà. Der kleine Laden von Freunden, die hier den Deutschen Bücher verkaufen wollten, musste zumachen. Es reichte nicht zum Leben, obwohl viele Deutsche hier wohnen und Touristenmassen unweit in Cala Millor und Cala Ratjada – gemeinsam mit Dieter Bohlen – Urlaub machen. Der hatte übrigens jahrelang versucht, bei der Schickeria im Südwesten den dicken Max zu markieren, so wird berichtet – aber sie waren nicht beeindruckt und haben ihn auflaufen lassen, deshalb flüchtete er hierher.

Wie die Winde heißen und warum Mallorca der Mittelpunkt der Welt ist

»Heute ist diese Reise nur etwas für an Körper und Geist starke Künstler. Eines Tages aber werden empfindsame Liebhaber wie schicke Frauen so selbstverständlich mühelos nach Palma fahren wie heute nach Genf.«

Der Mittelpunkt der Welt war ja bekanntlich einst in Delphi. Zeus hatte an den Weltenden zwei Adler ausgesandt – sie trafen sich am Stein der Weisen, dem ziemlich phallischen Omphalos. Dorthin reisten im alten Griechenland die Völker von allen Ländern rund ums Mittelmeer, also aus der zivilisierten westlichen Welt. Auf das Orakel mit seinen rätselhaften Weissagungen fielen bekanntlich nicht nur Ödipus und Krösus rein.

Heute treffen sich die Fluglinien, also die Völker, statt auf dem Peloponnes in Palma. Phallisch sind nur noch die Flieger. Und die Wirtschaftsnachrichten – oft ebenso rätselhaft wie die Pythia – liefern das Orakel unserer Zeit. Wenn die ökonomische Stimmung gehoben ist und es der westlichen Welt besser geht, zieht es die Massen nach Mallorca, aber auch, wenn in anderen Tourismusgebieten Katastrophen oder Kriege die Ferien ungemütlich machen könnten; dann ist dies Werbung für die Balearen. Millionenfach in dieser Reihenfolge: Deutsche, Festlandspanier, Engländer, Italiener, Amerikaner, neuerdings Osteuropäer, immer mehr Russen, auch Japaner und zunehmend Chinesen treffen sich hier.

Die Arbeiten auf den Feldern und im Haushalt werden – natürlich häufig illegal – von Marokkanern, aber auch Lateinamerikanern aus Peru, Ecuador, Bolivien erledigt, während die Touristen sich von schwarzafrikanischen Straßenhändlern und babybewaffneten Zigeunerinnen belästigt fühlen.

Im Privatleben weitgehend voneinander getrennt, auf den Straßen, beim Einkaufen und in Lokalen bunt gemischt, ist dies ein Multikulti-Potpourri auf kleinem Raum wie kaum irgendwo sonst. Etwa ein Viertel der Einwohner Mallorcas stammt aus anderen Gegenden der Welt. Und die Urlaubsinvasoren sollten an diesem neuen Welt-Mittelpunkt die beiden Inschriften aus Delphi beherzigen, die von den Neugriechen offensichtlich vergessen wurden: »Erkenne dich selbst« und »Alles in Maßen«.

Schon in der Geschichte kamen viele Reisende hierher übers Meer, offensichtlich fanden auch sie Mallorca ganz toll. Seit frühesten Zeiten war hier immer schwer was los: Die Ureinwohner wurden von den Karthagern verhauen – mit denen dann die berühmten mallorquinischen Steinschleuderer in den Punischen Kriegen gegen Rom zogen. Dann gewannen die Römer und ließen sich für fast sechshundert Jahre hier nieder, bis sie von den Vandalen Dresche bekamen. Deren Reich wurde von den Byzantinern allegemacht, die sich für zweihundert Jahre Mallorca unter den Nagel rissen. Die wurden dann von den Normannen überfallen, doch siedelten diese Wikinger kaum und hielten sich nur ein halbes Jahrhundert. Dann machten es sich die Araber hier über drei Jahrhunderte bequem, beziehungsweise: Sie waren sehr fleißig und bauten die noch heute zu bewundernden endlosen Trockenmauern sowie überall Terrassen für die Landwirtschaft. Schließlich wurden die Mauren von den Katalanen vertrieben.

Jaume I. war einundzwanzig, als er 1229 Mallorca eroberte. Auf 155 Schiffen landete er mit 15 000 Kriegern und 1500 Reitern samt Pferden in Santa Ponça. Nach dem Sieg wurde Mallorca aufgeteilt. Riesige Ländereien wurden von König Jaume an die Anführer des Heeres und die Mächtigen am Hof zur Belohnung verschenkt, die wiederum Land an ihre Mitstreiter als Lehen gaben. Durch die Soldaten, die sich nun niederließen, verbreitete sich Katalanisch als Inselsprache.

Viele der alten Familien haben noch heute das Sagen, und sie haben sich an den zuverlässig immer steigenden Grundstückspreisen gesundgestoßen. Geld ist Macht. Es heißt, dass achtzig mallorquinische Familienclans gewissermaßen die ganze Insel beherrschen; ohne sie geht nichts in Politik und Gesellschaft. Auch Neureiche stießen im 20. Jahrhundert dazu, wie der Schmuggler Juan March, Gründer einer mächtigen Bank, dessen Geschichte noch zu erzählen sein wird. Und von Mallorquinern aufgebaute, weltweit operierende Hotelkonzerne.

Apropos Hotels und Mittelpunkt: Das abgelegene Fünfsternehotel Formentor im Norden war häufig ein internationales Forum, für die Künste wie für die Politik. Dieses Luxusunternehmen war seit seiner Gründung 1929 bei wechselnden Eigentümern im Grunde immer pleite, bis es von einer Mega-Hotelkette übernommen wurde. Bei einem Aperitif mit Blick aufs Meer lässt sich hier trefflich nachsinnen über Macht und Ohnmacht.

Charly Chaplin und Audrey Hepburn waren hier zu Gast, John Wayne und Gary Cooper, aber auch Winston Churchill. Der Philosoph Graf Keyserling führte in den Dreißigern die »Woche der Weisheit« mit europäischen Geistesgrößen durch. Anfang der Sechziger bekamen bei den Poetischen Gesprächen im »Club de los Poetas« Beckett und Borges den Prix Formentor. Hier kämpfte Helmut Kohl beim EU-Gipfeltreffen für die Einheit Europas, hier diskutierte Otto Schily mit Arafat. Und Peter Ustinov war jahrein, jahraus Stammgast.

In jüngster Zeit wurden die legendären Poetengespräche wiederbelebt. Der erste Versuch war nicht so toll, weil dank des ewigen provinziellen Sprachenstreits Katalanisch als Konferenzsprache vorgeschrieben wurde. Dann erlaubten die Veranstalter auch das hochspanische Castellano, und das Treffen wurde zum internationalen Stelldichein der Schriftsteller aus dem gesamten spanischsprachigen Raum. 2010 war der internationale Ehrengast Hans Magnus Enzensberger. (Auch das ist »mein Mallorca«: Hier kamen wir auf die Idee – sehr passend für die Touristeninsel –, eine Neuausgabe von Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt in meinem neuen kleinen Verlag Vitolibro herauszugeben, eine an- und aufregende Blütenlese aus der Weltliteratur, die Enzensberger einst für die Andere Bibliothek veranstaltet hatte.)

Aber hier weht nicht nur der Geist; das Cap Formentor ist seit Urzeiten auch ein ganz anderer Mittelpunkt: Hier treffen die Winde des Mittelmeers aufeinander. Die vier großen heißen »Tramuntana«, »Ponent«, »Migjorn« und »Llevant«; sie streiten sich mit den vier kleineren um die Vorherrschaft: »Gregal«, »Mestral«, »Llebetx« und »Xaloc«. Heiß aus der Sahara, nass aus den Pyrenäen, kämpfen sie mit der gnadenlosen Sonne um die Aufmerksamkeit der Insulaner wie der Urlauber.

Warum die Gleichzeitigkeit zum Lebensgefühl gehört und wer was über wen sagt oder denkt

»Was mich betrifft, so trieb mich die Sehnsucht nach Ruhe. Jeder von uns kennt doch den egoistischen Traum, an einem schönen Morgen vor allen Geschäften, Bekannten und sogar vor Freunden wegzulaufen, um auf einer bezaubernden Insel ohne Sorgen und Zwänge, ja sogar ohne Nachrichten zu leben.«

Verblüffend ist die Gleichzeitigkeit und die Oberflächlichkeit von allem. Keine Ecke Europas ist so weltläufig – und gleichzeitig so provinziell. Dem radikalen bunten Leben an der puren Oberfläche entziehen sich die alten Familien, die ihre Traditionen pflegen. Die achthundert Jahre Geschichte sind für die Mallorquiner unterschwellig immer präsent. Für Zugereiste aller Nationen – auch für die Festlandspanier, die nach den Deutschen zahlenmäßig die zweitgrößte Gruppe der Touristen stellen – gelten die Einheimischen als verschlossen. Und ein Gesetz, das für die Anstellung in einem öffentlichen Amt die Beherrschung des Katalanischen verlangt, kommt dem zugereisten Fremden vorsintflutlich vor.

Mit der Reconquista, also der Rückeroberung Spaniens von den Arabern, wurde Catalán die Sprache der Bevölkerung, seit der kurzen Phase als Königreich die stolze Dialektabwandlung Mallorquín. Für Außenstehende wirkt der Streit um die Sprache gestrig und geradezu absurd; der Kampf gegen die Überfremdung durch Castellano, also die spanische Hochsprache, hat eindeutig lächerliche Züge. Keine Frage, die eingefleischten Wünsche ewiggestriger Nationalisten nach Unabhängigkeit sind obsolet. Jedoch spürt, gewissermaßen schmeckt man im Lebensgefühl der Insulaner diesen Heimat-Untergrund, der sich nicht in Worte fassen lässt, auch nicht für zugereiste Festlandspanier. Der Abstand der Einheimischen zu ihnen ist größer als zwischen Preußen und Bayern, Friesen und Österreichern. Und Katalanisch ist kein Dialekt, sondern eine eigenständige romanische Sprache, die von deutlich über zehn Millionen Menschen gesprochen wird. Zum Vergleich: Norwegisch wird von etwa fünf Millionen gesprochen, und selbst Griechisch von »nur« knapp zehn Millionen. Jedoch der Versuch der Nationalisten, Catalán zu einer der (bislang dreiundzwanzig) offiziellen Sprachen der EU erklären zu lassen, scheiterte.

In diesem Zusammenhang sei an die türkischen Sprachinseln in der Bundesrepublik erinnert, über die sich die deutschen Ureinwohner so gerne den Mund zerreißen. »Die leben schon so lange Jahre hier und können noch immer kein richtiges Deutsch.« Die deutschsprachigen Enklaven auf Mallorca – im Großraum von Calvià und in vielen Ecken der Insel – erzählen das Gleiche: Warum eine Sprache lernen – wenn ich sie (außer zum Einkaufen und auch da kaum) de facto nicht brauche?

Ich lernte vor langer Zeit in Barcelona einen argentinischen Lyriker kennen. Er traf sich wöchentlich mit Landsleuten, weil er sich unter den Spaniern fremd fühlte! Sie sprechen die gleiche Sprache, haben jedoch völlig andere kulturelle Wurzeln. Ebenso bleiben zum Beispiel die Ecuadorianer – eine der großen Gruppen ausländischer Arbeiter, wesentlich in der Landwirtschaft – auf Mallorca unter sich.