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Wladimir Perewersin

MATROSENRUHE

Meine Jahre in Putins Gefängnissen

Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann

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Die Originalausgabe erschien 2013 im Verlag Howard Roark, Moskau

Für die deutsche Ausgabe wurde der Text leicht überarbeitet.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, März 2019

ISBN 978-3-96289-032-2

Inhalt

Vorwort. Von Manfred Quiring

Das, was niemand liest. Von Olga Romanowa

Die Entlassung

Der Anfang des Weges

Die Verhaftung

Sei gegrüßt, Butyrka!

Gefängnisuniversitäten

Matrosenruhe

Ein Gefängnis im Gefängnis

Die Ermittlung wird fortgesetzt

Aktenstudium

Der Prozess beginnt

Die Verhandlung wird fortgesetzt

Sommerferien

Die Sitzung wird fortgesetzt

Das Neujahrsgeschenk

Die letzte Hoffnung

Der Transport

Herzlich willkommen in Melechowo

Erniedrigte und Beleidigte

Shopping

Gefängnismedizin

Familienbesuch

Zurück in die Zukunft

Die ruhmreiche dritte Abteilung

Die Nähwerkstatt

Alltag

Neujahr

Freie Presse

Kurs auf vorzeitige Entlassung

Pelzmützen

Tag der offenen Tür

Das ganze Leben ist ein Theater

Geburtstag

Das Erholungsheim

Flucht und Katzen

Die Rückkehr

Wie ich ein guter Jude wurde

Leb wohl, dritte Abteilung!

Die anständigen Menschen aus der ersten Abteilung

Galeerensklave

Produktionsfehler

Tote Seelen

Grauer Alltag

Völkerwanderung

Das erste Wunder

Normaler Vollzug

Die zweite Abteilung

Ich bin ein Randalierer

Eine Reise von Wladimir nach Moskau

Wolken ziehen auf

Harakiri

Der süße Duft von Vanille

Das Kabarett der pfiffigen Köpfe

Von Feinden umgeben

Die Spartakiade der Völker des Strafvollzugs

Das Leben geht weiter

Das zweite Wunder

Nachwort

Nachwort zur deutschen Ausgabe

Glossar

Abbildungen

Vorwort

Von Manfred Quiring

Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand, lautet eine gängige Redewendung. Sie verweist darauf, dass der Ausgang eines Gerichtsprozesses selbst in ausgewiesenen Rechtsstaaten unwägbar ist. Die Jurisprudenz ist eben keine exakte Wissenschaft, wenngleich ihr Gesetze und Verfahrensregeln ein enges Korsett anlegen. Darüber hinaus gilt in demokratisch verfassten Staaten die Unabhängigkeit der Justiz von den anderen Pfeilern der Machtausübung, von der Legislative, der Exekutive, mithin von »der Politik«, aber auch von der als »vierte Gewalt« angesehenen Medienwelt, als hohes Gut.

Im Rechtsstaat entscheiden bei Rechtskonflikten allein die Gerichte verbindlich darüber, was »Recht« ist. Richterinnen und Richter sind nur dem Gesetz unterworfen. Sie unterliegen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben keinerlei Weisungen. Ihre Unabhängigkeit wird auch insofern gesichert, als sie nicht so ohne Weiteres abberufen werden können, sondern praktisch nur wegen grober Straftaten oder Berufsunfähigkeit. Auch das kann nur ein Gericht entscheiden und keineswegs eine staatliche Behörde, bei der sich ein Richter möglicherweise missliebig gemacht hat.

Die Staatsanwaltschaft ist eine von den Gerichten unabhängige Behörde, deren Vertreter vom Staat ernannt werden. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten. Sie ist allerdings – zumindest in Deutschland und anderen europäischen Rechtsstaaten – gehalten, nicht nur den Beschuldigten belastende, sondern auch entlastende Umstände herauszufinden. Nach Abschluss der Ermittlungen entscheidet die Staatsanwaltschaft darüber, ob sie Anklage erhebt oder das Verfahren einstellt. In diesem Verfahren liegt das letzte Wort – schuldig oder unschuldig – dann beim Gericht.

Das Gleiche gelte auch für Russland, versichert Präsident Wladimir Putin unermüdlich aller Welt. Russland sei ein demokratisches Land wie alle anderen westlichen Länder. Ein Land, in dem die demokratischen Institutionen ihre Bestimmung erfüllten, ein Land, in dem Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und eine unabhängige Justiz ihre Wirkung entfalteten. Kenner der russischen Realität wissen, dass das nicht stimmt. Doch der Kreml ist sehr geschickt und erfolgreich darin, die Idee von Russland als demokratischem Rechtsstaat »zu verkaufen«, weiß der kritische Publizist und Schriftsteller Viktor Jerofejew. Und ironisch merkte er an, »in Europa gibt es eine enorme Anzahl von Putinisten, die meinen, ihre Regierungen diffamierten Putin«. Diese Putinisten sind nicht bereit, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Sie sind dagegen schnell bereit, die Verwerfungen des russischen Justizsystems, so sie sie denn bemerken, dem Geschichtsverlauf anzulasten und die heutige Generation in Russland zu Opfern eben dieser Geschichte zu machen.

Tatsächlich sind die Erfahrungen der Russländer mit einer unabhängigen Justiz überschaubar. Als die Zaren noch herrschten, war der »Gossudar« oberster Gerichtsherr, der in wichtigen, die Interessen des Staates betreffenden Fällen selbstherrlich entschied. Berufung war nur hinter den Kulissen unter Einsatz beträchtlicher Mittel möglich. In sowjetischer Zeit unterstand die Justiz der kommunistischen Partei, deren Interessen die Richter und die Staatsanwaltschaft zu verfolgen hatten – auch während der Zeit des Terrors in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Die russische Verfassung von 1993 bedeutete demgegenüber eine fundamentale Wende. Sie erklärte Russland zu einem Rechtsstaat und formulierte solche Prinzipien wie Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz. Nachdem die Russische Föderation im Jahr 1996 auch dem Europarat beigetreten ist und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) anerkannt hat, ist das Land an Artikel 6 der Menschenrechtskonvention gebunden, der das faire Verfahren zum Bürgerrecht erhebt.

In der realen russischen Welt sind diese Rechte und Prinzipien bisher weitgehend unverwirklicht geblieben. Stattdessen herrscht das »Telefonrecht«: Hohe staatliche Instanzen stellen ihre Wünsche nach dem Ausgang bestimmter Gerichtsverfahren »durch«. Und diese Wünsche finden Erfüllung. Dabei spielt die allgegenwärtige Korruption eine wichtige Rolle. Von besonderer Bedeutung ist das aus dem Gulag stammende Prinzip »schit’ po ponjatijam«, das »leben nach Ehrenregeln«. Dieser Begriff wird durch die deutsche Redewendung »eine Hand wäscht die andere« nur sehr ungenügend beschrieben, weil sie den Machtfaktor nicht erfasst. Die ungeschriebenen Regeln dieses Prinzips haben in Russland deshalb oft eine weit stärkere Durchsetzungskraft als die offiziell geltenden Gesetze. Große Teile des öffentlichen, des wirtschaftlichen und des politischen Lebens werden heute »po ponjatijam«, nach dem Ehrenkodex, geregelt. In Putins durchgestylter Machtvertikale bestimmt »die Macht«, was rechtens ist.

Das russische Justizwesen, so der Schriftsteller Alexander Nikonow, erwecke nach außen hin den Anschein eines normalen Rechtswesens. »Schaust du aus der Ferne, scheint es ein Gericht zu sein. Blickst du aus der Nähe, ist es die Attrappe einer Gerichtsmaschine, sie ist aus Pappmaché.« Die von der Verfassung postulierte Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz, existiert nicht. Entsprechend gering ist das Vertrauen der Bürger. Einer Umfrage des renommierten Moskauer Levada-Zentrums aus dem Jahr 2017 zufolge halten nur 26 Prozent der Befragten russische Gerichte für voll vertrauenswürdig. Insbesondere die Gerichtsverfahren gegen Menschenrechtsaktivisten und Kritiker des Putin-Systems dokumentieren einen zynischen Rechtsnihilismus, wie ihn der heutige Premier und zeitweilige russische Präsident Dmitri Medwedjew einst selbst beklagt hatte.

Als klassisches Beispiel für die Rechtsvorstellungen der Machthaber im Kreml gilt bis heute der Fall Chodorkowski. Michail Chodorkowski war einst als einer der Eigentümer des Jukos-Erdölkonzerns der reichste Mann Russlands. Als er sich mit dem russischen Präsidenten anlegte, verlor er den Konzern und seine Freiheit. Er büßte seine Unbotmäßigkeit mit zehn Jahren Lagerhaft.

Der Ex-Sekretär des KPdSU-Jugendverbandes Komsomol hatte bereits Ende der 1980er Jahre, vermutlich mit Geldern der Partei, die Menatep-Bank gegründet. Er wurde Vize-Energieminister und bahnte sich einen Weg in den Chefsessel von Jukos. Bei einer fragwürdigen Auktion erwarb er 1995 für nur 170 Millionen Dollar drei Viertel der Anteile des damals zweitgrößten Ölkonzerns des Landes. Nicht zuletzt dank westlicher Management-Methoden, durch Modernisierung und den glücklichen Anstieg der Rohöl-Preise blühte Jukos auf.

Die Szene, die 2003 zum endgültigen Bruch mit dem russischen Präsidenten führte, wurde sogar live im russischen Fernsehen übertragen. Bei einem Treffen des Kremlchefs mit führenden Unternehmern forderte Chodorkowski, Putin solle seine Präsidentenadministration an die Leine legen, die mit ihren ungerechtfertigten Forderungen die Unternehmen unter Druck setze. Der Konzernchef wollte damit die Welt der informellen Regeln und Absprachen verlassen, um in eine Welt zu gelangen, in der die Gesetze für alle gelten. Putin, wütend, konterte: Chodorkowski solle erst einmal seine Steuern ordentlich zahlen! Hintergrund des Wutausbruchs war, dass Chodorkowski über reichliche finanzielle Zuwendungen versuchte, Einfluss auf die Tätigkeit der Duma-Fraktionen zu gewinnen. Das taten andere Oligarchen auch, nur holten sie zuvor die Genehmigung der Kreml-Administration ein. Chodorkowski dagegen hatte die bis dahin geltende informelle Absprache – Profite ja, Einmischung in die Politik nein – aufgekündigt.

Die Justiz, die Administration verstanden den Wutausbruch des Präsidenten richtig. Nur wenige Monate nach dem Treffen im Kreml wurde zunächst Platon Lebedew, Chodorkowskis Geschäftspartner, und dann auch der Jukos-Chef selbst verhaftet. In zwei Prozessen 2004 und 2010 wurden beide wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und Geldwäsche zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Auch der Autor dieses Buches, Wladimir Perewersin, der zeitweilig in einem Jukos-Tochterunternehmen auf Zypern tätig war, geriet gewissermaßen als »Kollateralschaden« in die Mühlen der russischen Gerichtsbarkeit. Seine Beschreibung des Gerichtsalltags und der brutalen Haftbedingungen gerieten zu einem erschütternden Dokument über den russischen Unrechtsstaat.

Das Filetstück des Konzerns, das Unternehmen Juganskneftegas, ging mit einem Trick in die Hände des Putin-Staates über. Es gehört heute zum Konzern Rosneft, dem Imperium des Putin-Intimus Igor Setschin. Jukos selbst wurde 2006 für zahlungsunfähig erklärt und im November 2007 aus dem Handelsregister gestrichen.

Der profunde Kenner des russischen Rechtswesens Professor Otto Luchterhand erklärte nach dem zweiten Prozess 2010, das Urteil des Moskauer Chamowniki-Gerichts erfahre »zu Recht weltweit scharfe Kritik, Ablehnung und Verurteilung«. Es offenbare »eine erschreckende Fülle schwerer und schwerster Verletzungen tragender, von der Verfassung Russlands feierlich verkündeter Grundsätze des Strafrechts und des Rechtsstaates. Das zweite Strafurteil gegen Chodorkowski und Lebedew übertrifft das erste bei weitem an Widersprüchlichkeit, Willkür und Bösartigkeit. Es ist ein weiteres, bestürzendes Dokument von Rechtsnihilismus und auch von Zynismus der russischen Justiz, weil es den willkürlichen Umgang mit dem Gesetz und die böswillige Verdrehung des Rechts kaum noch verschleiert.«

Chodorkowski ist inzwischen, auch mit Unterstützung der deutschen Politik, wieder in Freiheit. Er lebt in London und tritt als scharfer Kritiker des russischen Präsidenten auf. Der Fall Jukos markiert indes keineswegs den Endpunkt in der Geschichte des Justiz- und Machtmissbrauchs der Russischen Föderation. Er ist lediglich ein herausragendes Beispiel für die bis heute in Russland grassierende rejderstwo. Der Begriff (abgeleitet vom englischen Wort to raid – überfallen, oder raider – Räuber) steht für die meist gewaltsame und/oder illegale Übernahme und Ausplünderung von Unternehmen. Dabei gehen organisierte Gangsterbanden und korrupte staatliche Strukturen, insbesondere die Sicherheitsorgane und die Justiz, höchst einträgliche Verbindungen ein. Der Jabloko-Politiker Grigori Jawlinski hatte während des jahrelangen Jukos-Prozesses darauf hingewiesen, dass derlei Vorgänge in der russischen Provinz zum Alltag gehörten. Noch 2015 räumte Präsident Wladimir Putin ein, dass es allein in dem einen Jahr 166 000 Fälle von rejderstwo. in Russland gegeben habe. Die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta nannte für den gleichen Zeitraum sogar die Zahl 700 000.

Auch wenn der Kreml ansonsten ein von westeuropäischen Putinisten dankbar aufgenommenes geschöntes Bild von den Zuständen im Lande malt, ist Russland heute von demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien weit entfernt. Und zwar von den Prinzipien, die sich die Russische Föderation in ihrer Verfassung von 1993 selbst verordnet hat.

Manfred Quiring ist Journalist und hat jahrelang als Korrespondent in Moskau gearbeitet, unter anderem für die Berliner Zeitung und die Welt.

Das, was niemand liest

Von Olga Romanowa

Ein Vorwort zu schreiben ist eine Ehre, Vorworte zu lesen ist dämlich. Man will schließlich ganz schnell mit dem Buch anfangen – und das ist auch richtig so. Ein Nachwort, ja, das kann man lesen, wenn man hinterher noch Fragen hat. Doch in diesem Fall gibt es nur eine Frage, die man stellen könnte, wenn man das Buch gelesen hat, und die werde ich nicht stellen, denn sie liegt auf der Hand. Über den Autor, Wladimir Perewersin, muss man freilich etwas sagen, obwohl da ja im Klappentext schon etwas steht. Wir haben uns kaum einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis kennengelernt. Da kam er zu einer Sitzung von »Rus Sidjaschaja« (»Russland hinter Gittern«), ein schöner und geschmackvoll gekleideter Typ. Mit Rosen. Eigentlich hatte ich keinen Sinn für irgendjemanden, mein Mann war gerade zum zweiten Mal verhaftet worden, aber der Typ blieb mir sehr im Gedächtnis, er hatte etwas Besonderes in seinen Augen, etwas Kluges, Witziges.

Uns so war er tatsächlich, der Wolodja Perewersin, nur noch besser. Wir freundeten uns sehr schnell an. Wer kommt zu den Kundgebungen mit einer Jukos-Fahne? Wolodja Perewersin. Wer schreibt Briefe an die vor Kummer halb wahnsinnigen Mütter, deren Söhne im Gefängnis umgekommen sind? Wer schleppt mich ans Ende der Welt, um sie zu trösten? Wolodja Perewersin. Wer erzählt so furchtbare Storys aus dem Gefängnis, dass einem das Blut in den Adern gefriert und die Haare zu Berge stehen? Dass man gleichzeitig weinen und lachen muss und glaubt, jeden Moment den Geist Anton Tschechows zu erblicken? Das ist Wolodja Perewersin. Wen kann man um drei Uhr nachts knapp telefonisch verständigen, dass die Miliz gerade irgendwo alle einkassiert hat und wir dringend etwas tun müssen? Das ist Wolodja Perewersin.

Ich versichere Ihnen, liebe Leser, ich habe in den Gefängnissen vieles gesehen und gehört, was mir kein normaler Mensch glauben würde. Eine Geschichte aber würde ich, bei all meiner Erfahrung, selber nicht glauben, wenn sie nicht andere Menschen miterlebt hätten, und wenn es nicht die Fotos in meinem Telefon gäbe. Wladimir und ich waren zu einem wichtigen Seminar über das Thema Freiheit nach Berlin geflogen. Es war ein gutes Seminar, sinnvoll und emotional berührend, und anschließend sollte es eine Demonstration vor der russischen Botschaft geben. Da musste Perewersin natürlich dabei sein. Nach der Demonstration fuhren wir in Begleitung einiger Berliner Freunde, alles Emigranten, die ihre Heimat zeitweilig hatten verlassen müssen, kreuz und quer durch die Stadt, der Tag war vollgepackt mit allen möglichen Aufgaben und Terminen.

Es war gegen Ende dieses Tages, in der U-Bahn. Eine junge Frau stand neben uns, eine Berliner Studentin, die die ganze Zeit dabei gewesen war. Plötzlich erzählte sie: »Im Sommer habe ich auf Demos immer nur dieses T-Shirt an, aber jetzt trage ich eine Jacke darüber.« Sie öffnete die Jacke und zeigte uns das T-Shirt: »Freiheit für die politischen Gefangenen!« stand darauf, dazu mehrere Namen. An erster Stelle: Wladimir Perewersin. Pause. Wolodja schaut sie an, sie schaut ihn an, und ganz, ganz langsam fangen sie an zu verstehen, langsam kommt ihnen die Erkenntnis. Wir alle erkennen, was geschieht, was geschehen ist, und was noch geschehen wird. Innerhalb weniger Sekunden läuft vor unseren Augen, vor unseren Herzen, vor unserem Hirn, eine lange und sehr wichtige Geschichte ab. Viele wichtige Geschichten gleichzeitig, die alle in einem Punkt zusammenlaufen.

Es gibt in Russland immer mehr politische Gefangene. Ich wünsche mir, solche Szenen wie die in der U-Bahn noch viel öfter zu erleben. Und ich wünsche mir sehr, dass unsere verehrten Leser dies ebenfalls erleben werden.

Aber über dieses Buch werde ich gar nichts sagen. Man kann darüber nichts sagen. Nur, dass es das Beste ist, was ich je über Gefängnisse gelesen habe. Das heißt über die Freiheit. Über den Willen zur Freiheit.

Olga Romanowa ist Journalistin und Leiterin der Gefangenenhilfsorganisation »Rus Sidjaschaja« – »Russland hinter Gittern«.

Я очень благодарен моему другу Андрею Дробинину. Благодаря этому замечательному человеку моя книга издана в Германии, а я живу и работаю в Берлине.

Meinen besonderen Dank möchte ich meinem Freund Andrej Drobinin aussprechen. Dank diesem wunderbaren Menschen konnte mein Buch in Deutschland veröffentlicht werden. Und dank ihm lebe und arbeite ich in Berlin.

Die Entlassung

In einem Schlafbezirk im Südwesten von Moskau. Ein Plattenbau der Baureihe P-44. Früher Morgen.

»Drrrrrr…« Ein schriller Klingelton unterbricht abrupt meinen Schlaf. Ich versuche zu begreifen, woher das Geräusch kommt. Das Handy ist ausgeschaltet, den Wecker habe ich nicht gestellt. Die letzten sieben Jahre bin ich täglich von Sirenengeheul und dem bellenden Schrei des Dienstlers aufgewacht: »Baracke aufstehen!« Zuerst weiß ich gar nicht, wo ich bin. Das Festnetztelefon klingelt, das ich praktisch nie benutze. Ich weiß nicht einmal die Nummer.

»Merken Sie denn nicht, dass das Wasser aus Ihrer Wohnung zu mir runterläuft?«, höre ich eine gereizte Frauenstimme. »Das gluckert doch bei Ihnen!« In Panik renne ich los und überprüfe die Heizkörper, die am Vortag gewechselt wurden. Auf dem Fußboden steht eine Pfütze, und aus einem Heizkörper rieselt ein dünnes Rinnsal heraus. Ich nehme eine Schüssel und einen Lappen und versuche, das Wasser, so gut es geht, aufzunehmen. Dann rufe ich den Klempner an. Er hat morgens die Heizung angestellt, und offensichtlich gibt es bei mir ein Leck.

Das Problem ist schnell gelöst. Die Klempner haben gestern vergessen, ein Ventil zu schließen. Wir gehen runter zu den Nachbarn, um den Schaden zu besichtigen. Es macht niemand auf. »Wenn sie nicht aufmacht, kann’s nicht so schlimm sein«, brummt der Klempner. Er verschwindet, und ich gehe zurück in meine Wohnung. Wieder klingelt das Telefon. Wieder die Nachbarin von unten. Sie schreit empört in den Apparat.

Ich versuche, sie zu besänftigen, und sage höflich: »Ich war eben mit dem Klempner unten bei Ihnen, Sie haben nicht aufgemacht.«

»Ich stand unter der Dusche«, gibt sie zurück.

»Ich kann jetzt vorbeikommen«, schlage ich vor.

»Wozu?«, fragt sie.

»Um den Schaden zu begutachten, der bei Ihnen entstanden ist«, erkläre ich geduldig.

»Nein, ich lasse Sie nicht rein. Ich habe sowieso Angst, mit Ihnen in einem Haus zu wohnen. Wer weiß schon, was Sie für einer sind«, verkündet sie.

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Sieben Jahre und zwei Monate war ich nicht zu Hause. Ich war »im Ausland«, jenseits der Grenze, in einer anderen Wirklichkeit, in einer Parallelwelt, die von dieser Welt durch Stacheldraht abgetrennt ist.

Ich bereue nichts. Ich bereue nicht, was ich getan habe, und nicht das, was ich nicht getan habe. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich das Gleiche wieder tun. Ich habe gehandelt, wie es meiner Lebenseinstellung entsprach und der Erziehung, die ich genossen habe. Ich muss mich nicht schämen, meinem Sohn in die Augen zu blicken, und ich müsste mich nicht schämen, meinem Vater in die Augen zu blicken, wenn er noch am Leben wäre. Er starb während des Prozesses, ohne mich noch einmal gesehen zu haben. Ich glaube, dass nichts spurlos an uns vorübergeht, dass wir für alles gradestehen müssen. Früher oder später muss man sich für seine Taten verantworten. Wenn man nicht selbst zur Verantwortung gezogen wird, dann werden es die Kinder und Enkel.

Wie soll man die sieben Jahre und zwei Monate, die mir genommen wurden, bewerten? Kann man das überhaupt? Mein Vater ist gestorben, mein Sohn ist ohne mich aufgewachsen. Mein Leben wurde zerstört, meine Gesundheit ist ramponiert, die Karriere ruiniert.

Doch gleichzeitig bin ich ein glücklicher Mensch. Ich habe sieben Jahre und zwei Monate dort verbracht, und ich hatte das Glück, dass ich wieder rausgekommen bin. Es gab Augenblicke, in denen ich, nicht ohne Grund, dachte, dass man mich vielleicht niemals freilassen würde.

Oft höre ich die Frage: »Wie wurden Sie zum Komplizen von Chodorkowski?« Ich antworte dann ironisch: »Ich hatte einfach Glück.«

Nach siebenjähriger Gefangenschaft bin ich wieder zu Hause.

Freiheit! Mehr als sieben Jahre lang musste ich all jene Freuden entbehren, die man im normalen Leben gar nicht mehr wahrnimmt. Jetzt erlebe ich sie wie neu. Eine Dusche oder ein Bad zu nehmen, das war all die Jahre ein ferner Traum. Heute freue ich mich über jede Kleinigkeit, ich freue mich, dass ich ganz normale Kleidung tragen kann, dass ich mich in mein Bett legen kann, wann immer ich will, und dass es richtige Bettwäsche gibt. An den Orten des Freiheitsentzugs sind normale Bettbezüge aus unerklärlichen Gründen strengstens verboten. Ich fahre U-Bahn, ich gehe ins Café und esse ein Eis, ein ganz normales Lebensmittelgeschäft versetzt mich in Begeisterung.

Zu meiner Verwunderung öffnete der Himmel nicht seine Schleusen, keine höhere Macht schleuderte Blitze auf meine Peiniger oder verdunkelte die Sonne am Firmament. Alles war wie immer – unter anderen Umständen hätte ich gesagt: trist und grau. Die Autos rasten gleichgültig dahin, so wie immer, die Menschen gingen eilig ihrer Wege, so wie immer, ohne mich zu beachten.

Das Herz wollte mir zerspringen, ich wollte weinen und lachen gleichzeitig. Ich konnte nicht begreifen, dass ich frei war. Bis zum letzten Moment hatte ich nicht daran geglaubt. Nach all dem, was ich während der Gefangenschaft erlebt hatte, war ich nur auf das Schlimmste vorbereitet. Und die Aufseher in der Kolonie haben sich die Gelegenheit, mich zum Abschluss wenigstens noch ein bisschen zu schikanieren, auch nicht entgehen lassen.

Normalerweise geht eine Entlassung folgendermaßen vor sich. Gegen zehn Uhr früh werden alle zu Entlassenden mit ihren Sachen in die Wachabteilung gerufen, dann bringt man sie zum Kontrollposten, wo ihre Personalien überprüft werden, und nachdem man sich davon überzeugt hat, dass sie die Richtigen sind, werden sie in die Freiheit entlassen. Zu diesem Termin erscheinen Verwandte und Freunde, um den ExSträfling abzuholen. Auf diesen Augenblick hat er viele Jahre gewartet. Es ist ein Augenblick voller Freude, Aufregung und Sehnsucht.

Bei mir ist alles ein wenig anders gewesen. Pünktlich um sechs Uhr morgens werde ich geweckt, vom Leiter der Abteilung persönlich, einem Hauptmann des Innendienstes. »Geh mit deinen Sachen in die Wachstube!«, sagt er. »Mach dich fertig für die Entlassung.« Mir ist das, ehrlich gesagt, nicht geheuer. Ich bitte einen meiner Mithäftlinge, mich zu begleiten. Dann begebe ich mich mit meinen Habseligkeiten, die Platz in einem einfachen Tragebeutel finden, in die Wachstube. Der diensthabende Offizier führt mich zum Kontrollpunkt, öffnet die schwere Tür, die die beiden Welten voneinander trennt, und ich stehe vor einem anderen Milizionär. »Name, Vorname? Geburtstag, Geburtsort? Wohnort? Tag der Eheschließung?«, prasseln die Fragen auf mich ein. »Drehen Sie den Kopf nach links, jetzt nach rechts.« Der Offizier prüft die Fotos. Nachdem er sich davon überzeugt hat, dass ich ich bin, und dass niemand anderer unter meinem Namen entlassen wird, händigt man mir die Entlassungsbescheinigung aus, meinen Pass, meine Sachen und das Geld, das noch auf meinem Gefängniskonto verblieben ist. Ich trete auf die Straße. Es ist noch dunkel. Die Zeit: 6.15 Uhr. Ich werde in Empfang genommen von einem Einsatzbeamten, dem stellvertretenden Leiter für Ermittlungsarbeit, und einem mir unbekannten Mann in Zivil. Höflich bitten sie mich, in ein wartendes Auto zu steigen. Ich gerate in Panik. Wo bringen sie mich hin? Soll ich noch einmal vor Gericht gestellt werden? Oder töten sie mich jetzt einfach und vergraben meine Leiche im Wald? Aber mir bleibt keine Wahl. Ich kann nicht weglaufen. Ich wüsste nicht einmal, wohin. Also steige ich in das Auto.

»Wo sollen wir Sie absetzen? Beim Bahnhof? Oder beim Busbahnhof?«, fragt der Einsatzbeamte.

Ich sage, beim Busbahnhof. Man gestattet mir zu telefonieren, damit ich meinen Verwandten Bescheid sagen kann.

Und so stehe ich dann auf dem Busbahnhof der Stadt Pokrow, angetan mit einer schauderhaften Wattejacke, auf deren Brust das Kürzel der Strafkolonie prangt, mit einer furchteinflößenden Pelzmütze auf dem Kopf, in Sträflingsschuhen und Sträflingshosen. In meiner rechten Hand der Tragebeutel. Um die Passanten nicht zu erschrecken, reiße ich das Schild mit dem Schriftzug von der Jacke ab, stecke meine Mütze weg und gehe in ein Straßencafé, das zu dieser frühen Stunde noch leer ist. Zum Glück habe ich Geld. Der Staat sorgt sich geradezu rührend um seine Häftlinge, er zahlt ihnen ein Entlassungsgeld von achthundert Rubel aus. Ich kaufe mir einen Kaffee, Gebäck und Eis. Sitze da und überlege, was ich tun soll. Ich beschließe, ein Taxi zu bestellen.

Zwanzig Minuten später trägt mich ein silberner Renault Mégane der Firma »Taxi Pokrow« meinen Angehörigen entgegen. Wir treffen uns bei Obuchowo, einem Ort an der Landstraße zwischen Wladimir und Moskau. Umarmungen, Freudentränen. Ich habe einfach nur geheult, ich schäme mich nicht das zuzugeben. Das sind die Menschen, die all die Jahre zu mir gehalten haben. Mein Freund Leonid Belenki, mein Sohn Denis und meine Frau Irina. Ich ziehe mich um. Die Häftlingskluft fackeln wir am Straßenrand ab. Wir trinken Sekt – der erste Sekt nach sieben Jahren und zwei Monaten. Hurra! Hurra! Ich bin frei! Und das ist kein Traum. Ein neues Leben beginnt.

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15. Oktober 2012. Ich sitze mit Wladimir Malachowski in einem kleinen Café an der Metrostation »Park Kultury«. Er wurde vor einer Woche entlassen. Das ist unser erstes Treffen in der Freiheit. Bis dahin haben wir uns nur im Gerichtssaal gesehen, wo wir uns auch kennengelernt haben.

Wir trinken Kaffee. Ich bin vollkommen aufgewühlt. Ich möchte am liebsten aufspringen und schreien: »Leute! Schaut uns an! Wir haben im Gefängnis gesessen, weil wir dreizehn Milliarden Dollar gestohlen und acht Milliarden Dollar gewaschen haben!«

»Was ist das für ein Quatsch?«, werden Sie sagen, und das zu Recht. Es gab natürlich keine Milliarden, wie es auch keinen Diebstahl gab. Aber es gab die Jahre, die wir in Gefängnissen und Lagern verbrachten. Die Jahre, die man uns gestohlen hat, und die uns niemand zurückgeben kann.

Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem mein Leben auf den Kopf gestellt wurde. Es war der 16. Dezember 2004. Der Tag meiner Verhaftung. Der Tag, der mein Leben in zwei Teile teilte. In ein Leben davor und ein Leben danach. Damals hätte ich nie geglaubt, dass mir so etwas zustoßen könnte. Heute kann ich nicht glauben, dass es hinter mir liegt. Gleichzeitig kann ich das Gefühl nicht loswerden, dass nicht ich, sondern jemand anderes all das erlebt hat, jemand, über den ich vielleicht einen Film gesehen oder ein Buch gelesen habe. Um dieses Buch soll es hier gehen.

Der Anfang des Weges

Ich bin in Moskau geboren. Meine Kindheit und Jugend verlebte ich am Stadtrand, im Bezirk Tschertanowo. Mein Leben unterschied sich in nichts von dem vieler meiner Altersgenossen. Ich besuchte eine normale Bezirksschule, ging in eine Sportschule mit dem Namen »Sambo-70« und träumte davon, Karriere als Leistungssportler zu machen. Nach dem Schulabschluss dachte ich kurze Zeit darüber nach, ein Sportstudium aufzunehmen, entschied mich dann aber doch für einen Berufsweg als Ökonom. Nach dem Studium arbeitete ich einige Zeit lang bei der Stadtverwaltung. Im Anschluss daran hatte ich eine Stelle beim staatlichen Sportkomitee der UdSSR, Goskomsport, im Amt für Außenwirtschaft.

Dann kam das Jahr 1991. Unsere Arbeit bestand in der Erfassung der Einnahmen und Ausgaben diverser Sportvereinigungen. Zum Beispiel: Unsere Eiskunstläufer haben die Weltmeisterschaft gewonnen. Die Siegerprämie kommt in den Gemeinschaftstopf und wird auf diejenigen Sportvereinigungen aufgeteilt, die nichts eingenommen haben. Ich saß in der Abteilung für Sammeldevisenplanung, wo sämtliche Finanzströme zusammenliefen. Die Vorsitzenden der Sportverbände und bedeutende Sportler waren häufige in unserer Abteilung zu Gast. Die Arbeit war angesehen und wurde nicht schlecht bezahlt. Aber mich plagte mein Gewissen. Ich fühlte mich wie ein Schmarotzer, da wir die aktiven Sportler als reine Einnahmequelle betrachteten.

Dann las ich in der Zeitung die Stellenanzeige einer Handelsbank, die einen Fachmann für Außenwirtschaft suchte. Ohne zu zögern bewarb ich mich. Es handelte sich um die »Handelsbank für wissenschaftlichtechnischen Fortschritt«, die später in »Menatep-Bank« umbenannt wurde. Meine Bankkarriere begann ich als Fachangestellter in der Abteilung für internationalen Zahlungsverkehr. Anders gesagt: Ich arbeitete als gewöhnlicher Bankkaufmann. Die Bank prosperierte stark, und mit meiner Karriere ging es rasch voran. Bald war ich stellvertretener Leiter der Abteilung für internationalen Zahlungsverkehr, dann Abteilungsleiter, und so ging es immer weiter.

1994 nahm ich eine Auszeit und ging auf Einladung des British Council für einen Studienaufenthalt an die Universität von Leeds in Großbritannien. Nach einem Jahr kehrte ich zurück nach Russland und zur Menatep-Bank, wo ich Leiter der Hauptdevisenstelle wurde. Ein Jahr später schickte mich die Bank nach Zypern, wo sie eine Niederlassung gegründet hatte. Dort blieb ich etwa ein Jahr. Dann kam das Jahr 1998, die Finanzkrise brach aus, und die Bank hörte auf zu existieren.

Ich fand bald wieder eine Stelle, und zwar bei Jukos, einem russischen Konzern für Erdölförderung und Petrochemie. Als Jukos eine Niederlassung auf Zypern eröffnete, ergab sich meine Bewerbung wie von selbst. Der Finanzdirektor der Gesellschaft, Michel Soublin, erklärte mir in aller Kürze meine Aufgabe, und dann stieg ich auch schon in den Flieger nach Zypern. Für Jukos war ich die ideale Besetzung, und ich stürzte mich sofort in die Arbeit. Ein halbes Jahr später besaß die Gesellschaft auf der Insel ein voll funktionierendes Büro mit entsprechendem Personal. Doch es ging nicht lange gut. Völlig überraschend verließ Michel Soublin Jukos. Seinen Posten übernahm ein Amerikaner, Bruce Misamore. Als ich bei ihm vorsprach und meine Ansprüche anmeldete, schaute er mich verwundert an und erklärte unumwunden, wenn es mir bei Jukos nicht gefalle, könne ich jederzeit gehen.

Die Jukos-Mitarbeiter, die später mit mir angeklagt werden sollten, kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, auch nicht Michail Chodorkowski (mein Aufgabenbereich war dafür viel zu unbedeutend), und Platon Lebedew arbeitete damals noch nicht bei Jukos, soweit ich mich erinnere. In meiner damaligen Situation habe ich keine Möglichkeit gesehen, als dem Rat des Amerikaners zu folgen: Ich kündigte – ohne meinen Resturlaub zu beanspruchen. Damals glaubte ich, ich könnte den Namen Jukos für immer aus meinem Gedächtnis löschen. Aber das Schicksal hatte offensichtlich anders entschieden.

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Dezember 2004. Platon Lebedew und Michail Chodorkowski sind bereits inhaftiert. Ich hielt ihre Verhaftung damals für einen Justizirrtum. Gleichzeitig war die Sache so weit weg, dass ich mir niemals hätte vorstellen können, dass es mich betreffen könnte.

Nachdem ich im Jahr 2002 bei Jukos gekündigt hatte, arbeitete ich als stellvertretender Vorstandsvorsitzender einer Bank. Mir ging es mehr als gut. Es gab keinerlei Vorzeichen eines nahenden Unheils. Ich frage mich oft, was ich gemacht hätte, wenn mir klar gewesen wäre, was auf mich zukommt. Wäre ich zu der Vernehmung gegangen? Ich hatte damals keinen Grund, irgendetwas zu befürchten, ich hatte nichts Ungesetzliches getan. Ich weiß es nicht. Die Geschicke derer, die nicht zur Vernehmung erschienen, verliefen jedenfalls sehr unterschiedlich, und nicht für alle gut.

Nach meiner Verhaftung wandte sich mein Verteidiger an Artjom Butowski, meinen Nachfolger auf Zypern, mit der Bitte, ihm bestimmte Dokumente über die Arbeit der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Der überlegte nicht lange und verlangte für die Herausgabe ein respektables Sümmchen in bar. Da ich ohnehin nicht viel Geld besaß, beschloss ich, nach Rücksprache mit meinem Anwalt, von jeglicher Zahlung Abstand zu nehmen. Dann musste ich eben ohne die Dokumente auskommen.

Artjom war ein sonderbarer Mensch. Als ich Zypern verließ, übergab ich ihm mein halbes Leben: nicht nur das Büro und die entsprechenden Akten und Unterlagen, sondern auch mein Auto, meine Wohnung und sogar mein Handy samt SIM-Karte. Als er einmal eine SMS bekam, die nicht für ihn bestimmt war (»Eine wunderschöne Blondine erwartet Sie in der Bar«), schwang sich Artjom unverzüglich auf sein geliebtes Motorrad und fuhr zum Rendezvous in diese Bar. Er hätte ohne Weiteres auch meinen Platz auf der Anklagebank einnehmen können. Den Untersuchungsführern der Staatsanwaltschaft war es ohnehin egal, wen sie hinter Gitter brachten.

Ich hatte immer noch ein paar Freunde und Bekannte, die bei Jukos arbeiteten und die ich ab und zu im Büro in der Dubininskaja-Straße in Moskau besuchte. Für gewöhnlich trafen wir uns in der Mitarbeiterkantine. Eines Tages saß ich dort mit einem Bekannten zusammen. Ich hatte eine Ausgabe der Tageszeitung Kommersant dabei und las einen Bericht über den angeblichen Erdöldiebstahl bei Jukos. Ein gewisser W. Malachowski sei verhaftet worden, hieß es. Verwundert sagte ich zu Boris: »Bei Jukos zu stehlen, wie soll das möglich sein? Da herrscht doch die totale Kontrolle. Alles ist absolut durchorganisiert und reglementiert. Endlose Briefings, interne Buchprüfungen, externe Buchprüfungen, ein eigener Sicherheitsdienst …«

»Ich hab keine Ahnung«, sagt Boris und zuckt mit den Schultern.

»Und wer ist dieser Malachowski?«, frage ich weiter.

»Weiß ich auch nicht«, antwortet Boris.

Später sollte sich herausstellen, dass dieser Malachowski angeblich mein »Komplize« war. Tatsächlich lernte ich ihn erst im Gerichtssaal kennen. Boris, der als Zeuge der Verteidigung aussagte, hat dies dem Gericht auch bestätigt. Aber selbst wenn Malachowski und ich uns gekannt hätten! Was hätte das bewiesen? Wir haben in demselben Unternehmen gearbeitet, waren normale Angestellte, die ihrer Arbeit nachgingen. Aber wir kannten uns nicht, sind uns nie begegnet. Diese Tatsache hinderte das Gericht nicht daran, uns wegen des Diebstahls von Erdöl schuldig zu sprechen und zu wahnwitzigen Haftstrafen zu verurteilen. Im Grunde befand das Gericht, dass man bei Jukos seit dem Bestehen der Firma nichts anderes gemacht hatte, als Öl zu stehlen, und dass die gesamte Geschäftstätigkeit der Gesellschaft gesetzwidrig gewesen sei.

Was soll man dazu sagen, wenn als Beweis für unsere »kriminelle Tätigkeit« in dem Gerichtsprozess mein Arbeitsbuch und die offizielle Finanz- und Steuerbuchhaltung der Gesellschaft herangezogen wird? Man hat mich einzig und allein wegen der Tatsache verurteilt, dass ich in der Firma Jukos gearbeitet habe. Es klingt absurd, aber es hätte jeden beliebigen Mitarbeiter der Gesellschaft statt meiner treffen können. Doch die Wahl fiel auf mich.

Die Verhaftung

November 2004. Mein Vater, in dessen Wohnung ich gemeldet bin, ruft mich an.

»Wolodja, du hast eine Vorladung von der Generalstaatsanwaltschaft bekommen«, sagt er. Mein Vater stirbt, während ich noch im Gefängnis sitze, er wird nicht einmal die Verkündung des Urteils erleben, das auf elf Jahre Freiheitsentzug im strengen Vollzug lautet.

Ich treffe mich mit meinem Vater, nehme die Vorladung in Empfang und begebe mich in die Generalstaatsanwaltschaft, naiv wie ich bin. Einen Anwalt nehme ich trotzdem mit. Die erste Vernehmung findet in einem düsteren Gebäude in der Technitscheski-Gasse statt. Sehr allgemeine Fragen. Auf Anraten meines Anwalts, den mir Jukos zur Verfügung gestellt hat, verweigere ich nach Artikel 51 der Verfassung die Aussage. Im Rückblick wird mir klar, dass das ein verhängnisvoller Fehler war. Damals jedoch verließ ich das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft und dachte mir noch immer nichts Böses. Das war gewiss naiv. Schließlich hatte die bloße Vorladung mich meinen Posten als stellvertretender Vorstandsvorsitzender bei meiner Bank gekostet. Die Aktionäre hatten mich höflich, aber bestimmt aufgefordert, meine Kündigung einzureichen. Das Gebäude der Staatsanwaltschaft betrat ich schon als Arbeitsloser. Aber ich war voller Pläne. Ich war im Grunde froh, dass ich mich von den Ketten des Angestelltendaseins befreit hatte und mich endlich auf eigene Projekte konzentrieren konnte.

Neujahr steht vor der Tür. Es herrscht die übliche Hektik vor den Feiertagen. Jeder ist mit seinen Einkäufen und den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt. Wir wollen mit der ganzen Familie Silvester in Prag feiern. Die Flugtickets sind gekauft und das Hotel ist bezahlt. Ich habe alle Hände voll zu tun.

Dann kommt der 16. Dezember 2004. Ich bin bei einem Geschäftsessen mit der Vorstandsvorsitzenden einer Bank im Restaurant »Arche Noah«. Die Vorstandsvorsitzende ist sehr nett, das Gespräch verläuft angenehm. Plötzlich klingelt mein Telefon.

Eine unbekannte Stimme sagt:»Wladimir Iwanowitsch?«

»Ja«, antworte ich.

»Untersuchungsführer Asadulin. Könnten Sie bitte in die Bolschaja-Pionerskaja-Straße 20 kommen?«

»Heute? Tut mir leid, heute kann ich nicht«, sage ich. »Morgen ginge es.«

Der Untersuchungsführer insistiert. »Nein, es muss heute sein, in zwanzig Minuten!«

Weder stockt mir das Herz, noch sagt mir eine innere Stimme: »Renn, Wolodja, renn!« Lebedew und Chordorkowski hat man schon verhaftet, auch den mir damals noch unbekannten Malachowski, über den ich im Kommersant gelesen habe. Aber da ich mir nicht der geringsten Schuld bewusst bin, sage ich: »Na gut, dann komme ich heute, sonst geben Sie ja keine Ruhe.«

Ich beendete das Essen und fuhr zu der angegebenen Adresse. Dort befand sich das »Departement für sicherheitsrelevante Objekte«, DRO, eine Abteilung des russischen Innenministeriums. Eine Art Staat im Staat. Eine operative Fahndungsabteilung. Eine Abhör- und Überwachungsstelle. Eine von vielen Geheimdienstunterabteilungen mit ihren Schein- und Tarn-Funktionen. Und natürlich können die Leute da nicht einfach nur herumsitzen, sie müssen auch irgendwas tun. Besser wäre es allerdings, sie würden nichts tun. Denn so kommt dabei nur heraus, dass sie uns, die wir sie mit unseren Steuergeldern bezahlen, ins Gefängnis sperren und uns obendrein auch noch ausplündern. In Russland steht alles auf dem Kopf. Man hat vergessen, wer eigentlich wofür und für wen da ist.

Ich fahre also zu diesem DRO, frage an der Pförtnerloge nach dem Untersuchungsführer. Man hat auf mich gewartet. Die Zeit: 14.15 Uhr. Man drückt mir eine Vorladung in die Hand: Um 15.00 Uhr bei der Generalstaatsanwaltschaft in der Technitscheski-Gasse 2. Sie bieten mir an, ein Fahrzeug der Miliz zu benutzen, eine »GAZelle« mit der Aufschrift GAI, also Verkehrspolizei.

Ich verstehe beim besten Willen nicht, was das alles soll und frage: »Wozu das ganze Theater? Warum haben Sie mir die Vorladung nicht einfach so gegeben?« Die Frage bleibt in der Luft hängen. Später komme ich dahinter, dass nach meiner ersten Vernehmung in der Generalstaatsanwaltschaft eine Personenüberwachung angeordnet worden war. Weil mich die Fahnder an diesem Tag jedoch verloren hatten, waren sie darauf verfallen, mich mit diesem »Trick« in die Falle zu locken. Und es hat geklappt. Es würde mich nicht wundern, wenn für diesen »Spezialeinsatz« jemand einen Orden bekommen hätte, plus Beförderung.

Dank dem Heldenmut und der Kühnheit der Mitarbeiter des DRO treffe ich pünktlich zur Vernehmung in der Technitscheski-Gasse ein. Anders gesagt, die Miliz hat mich schlicht und einfach gekidnappt. Man führt mich in das Gebäude der Staatsanwaltschaft, dann über die Treppe hinauf in den dritten Stock. Wir betreten den Vernehmungsraum, ich erblicke mir unbekannte Gesichter. Später erfahre ich die Namen: Karimow, Chatypow, Alyschew, Rusanowa, Ganijew. Ich verzichte auf den Beistand eines Rechtsanwalts. Man überreicht mir einen Durchsuchungsbefehl für meine Wohnung, und die ganze Meute macht sich auf den Weg dorthin.

Bei mir zu Hause treffen wir niemanden an. Zeugen werden herbeigeholt. Ich rufe meinen engen Freund Leonid an und bitte ihn, sofort herzukommen. Sie suchen überall, kehren das Unterste nach oben, reißen im Bad die Zimmerdecke auf, kriechen unter die Wanne, leeren jeden Schrank, durchwühlen unsere Kleidung. Was sie suchen, weiß ich nicht. Ich vermute, sie wissen es selber nicht. Mir ist jedenfalls nichts verloren gegangen.

Nach der Durchsuchung fahren wir zurück in die Generalstaatsanwaltschaft. Wieder eine Vernehmung, das heißt ein Gespräch ohne Rechtsanwalt, auf dessen Beistand ich verzichtet habe. Man händigt mir einen Haftbefehl aus. Der Untersuchungsführer, ein gewisser Chatypow, gestattet mir liebenswürdigerweise, meine Frau anzurufen und sie über meine Festnahme zu informieren. Es ist gegen zwölf Uhr nachts.

Ich presse hervor: »Ira, man hat mich verhaftet.«

»Sehr witzig«, sagt sie. Sie glaubt mir nicht.

»Doch, wirklich, man hat mich verhaftet«, wiederhole ich und merke, dass ich meinen eigenen Worten nicht glaube. Ich gebe den Hörer an den Untersuchungsführer weiter.

»Chatypow, Untersuchungsführer der Generalstaatsanwaltschaft für besonders wichtige Fälle«, stellt er sich vor.

Meine Frau glaubt es immer noch nicht. Ich höre ihre Stimme aus dem Apparat: »Ljonja, hör auf, mich auf den Arm zu nehmen.«

Sie hält den Untersuchungsführer für meinen Freund Leonid. Doch als sie den kalten Ton in seiner Stimme wahrnimmt, begreift sie, dass es ernst ist. Dieser erste Eindruck, dass alles nur ein böser Streich sei, ein schlechter Witz, hat mich lange nicht verlassen. Immer dachte ich, gleich geht die Tür auf, und alles ist vorbei und ich kehre in mein normales Leben zurück. Aber darauf musste ich viele Jahre warten.

Die erste Nacht kommt. Von der Generalstaatsanwaltschaft bringt man mich in das DRO in der Bolschaja-Pionerskaja-Straße. Mir wird ein interessantes Detail bewusst: Die Mitarbeiter dieses geheimnisvollen Departements haben sich mir mit erfundenen Namen vorgestellt. Ich soll mich entscheiden: Entweder bringt man mich ins Untersuchungsgefängnis oder ich bleibe im Gebäude des DRO und warte auf irgendeinen General, der mich nochmals vernehmen und über die Angemessenheit meiner Inhaftierung entscheiden soll. Ich klammere mich an den rettenden Strohhalm und entscheide mich für Letzteres.

Nach den Unterlagen zu urteilen, bin ich vom Augenblick meiner Verhaftung am 16. Dezember um 23.50 Uhr bis zum 17. Dezember um 15.00 Uhr, als man mich in die Untersuchungshaft »verbringt«, schlichtweg nicht vorhanden. Ich sitze im Gang, mache es mir in einem ziemlich ramponierten Sessel einigermaßen bequem und versuche, zu begreifen, was hier eigentlich gerade vor sich geht. Neben mir sitzen drei meiner Bewacher, junge Milizionäre. Da kommt aus einem der Vernehmungszimmer ein hochgewachsener, offensichtlich betrunkener Mann in Uniform, sieht mich und kommt ganz dicht an mich heran.

»Seit wann tragen unsere Häftlinge keine Handschellen?«, lallt er mit schwerer Zunge.

Ich stehe ruhig auf, schaue ihm in die Augen. Er ist gut fünfzehn Zentimeter größer als ich, etwa eins neunzig. Sein Alkoholatem weht mir ins Gesicht. Er packt den Kragen meiner Jacke und zerrt sie mir ruckartig über den Rücken, sodass meine Arme quasi gefesselt sind. ›Wenn er mich schlägt, haue ich ihm die Beine weg‹, denke ich und stelle mich ganz ruhig in eine günstigere Position, halb seitwärts, die Beine weiter auseinander. Er spürt meine Absicht und zögert. Einer der Wächter hat inzwischen den Braten gerochen und irgendeinen Obergenossen herbeigeholt. Gemeinsam schaffen sie diesen Abschaum fort. Am anderen Morgen wird sich einer der Mitarbeiter des Departements, der sich mir als Wassili vorstellt (während die Kollegen ihn seltsamerweise Alexander nennen), für den Vorfall entschuldigen.

Um weitere Vorkommnisse dieser Art zu vermeiden (wer weiß, wie viele besoffene Rowdys hier noch in den zahlreichen Zimmern herumsitzen?) bringt man mich ins Büro der Direktion. Hinter der Tür Nr. 3 befinden sich ein kleines Vorzimmer und zwei Büroräume für den Leiter des achten Präsidiums, Oberst Florinski, und seinen Stellvertreter, Oberstleutnant Selepuschtschenkow. Im Zimmer des Letzteren verbringe ich den Rest der Nacht. Auch meine Bewacher sitzen hier und lassen mich nicht aus den Augen. Im Laufe dieser Nacht erscheint noch ein weiterer Genosse in Uniform und interessiert sich für mein Leben. Er teilt mir mit, besagter General werde bald kommen und alles klären. Der General hat es sichtlich nicht eilig.

Irgendwann höre ich Lärm, geschäftig hin und her eilende Schritte, Türen werden geschlagen. Anscheinend ist der Genosse eingetroffen. Ein mittelgroßer Mann von ganz gewöhnlichem Aussehen betritt das Bürozimmer, begrüßt mich. Die Wächter stehen auf und gehen, wir bleiben allein. Der Ankömmling erweist sich als Leiter der Brigade, die für die operative Betreuung des Prozesses zuständig ist. Feierlich nennt er seinen Dienstgrad und zeigt mir seinen Ausweis. Er tut das auf eigentümliche Weise: Er gibt das Dokument nicht aus der Hand und verdeckt seinen Namen mit dem kleinen Finger. Auf dem Foto sehe ich einen Mann in der Uniform eines Generalmajors. Wieder wird es keine offizielle Vernehmung, sondern ein Gespräch. Er rät mir zu einem vollen Geständnis. Ich verstehe bloß nicht, was ich gestehen soll, und schaue ihn an wie einen Geisteskranken.

»Du weißt ja nicht, was wir schon alles über dich haben!«, sagt er und fischt ein Blatt Papier aus seiner Aktentasche.

Es handelt sich, wie sich herausstellt, um meinen Lebenslauf, den ich an verschiedene Arbeitsagenturen geschickt habe.

›Der Mann ist eindeutig verrückt‹, denke ich.

»Du interessierst uns gar nicht«, fährt der Typ unterdessen fort. »Sag einfach gegen Brudno, Lebedew und Chodorkowski aus, dann kannst du nach Hause gehen und in Ruhe und Frieden weiterleben. Wir brauchen bloß dein Geständnis.«

Ich verstehe wirklich nicht, was ich gestehen soll.

Der unbekannte General bleibt hartnäckig.

»Du kriegst zwölf Jahre, eine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung ist ausgeschlossen. Wenn du rauskommst, ist dein Sohn erwachsen und guckt dich nicht mit dem Arsch an, und deine Frau ist stiften gegangen.«

Ich bin wahnsinnig müde. Warum muss ich mir diesen Quatsch anhören? Was für zwölf Jahre, wofür denn? Was erzählt dieser Idiot da? Wann hört das endlich auf? Was wollen diese komischen Leute von mir?

Der General hieß Jurtscheko, und er war durchaus nicht verrückt, und er hat durchaus keinen Blödsinn geredet. Tatsächlich hat er sich als Hellseher erwiesen. Er wusste sehr genau, was er sagt. Zwei Jahre und acht Monate später, die ich ununterbrochen in Untersuchungsgefängnissen verbracht habe, wird man mich zu elf Jahren Haft in strengem Vollzug verurteilen. Vorzeitige Entlassung ausgeschlossen. Ich muss die Zeit bis zum Ende absitzen. Aber das liegt alles noch vor mir.

Das Gespräch dauert mehrere Stunden. Man redet auf mich ein, droht mir, versucht mich zu überzeugen. Ich habe nichts zu gestehen, ich verfüge über kein Geheimwissen, ich kann ihnen nichts Interessantes erzählen.

Wir reden aneinander vorbei, wir finden einfach keine gemeinsame Sprache, und wir sind beide müde. Endlich ist das »freundschaftliche« Gespräch beendet. Der General rauscht unverrichteter Dinge ab, und mich bringt man in die Arrestzelle in der nahe gelegenen Schtschipok-Straße, die sich hinter einem Tor mit der Aufschrift Feuerwache – Ministerium für Katastrophenschutz verbirgt. Ich werde durchsucht, man nimmt mir Gürtel, Schnürsenkel, Uhr, Geld und Papiere ab und führt mich in eine düstere, zwei mal drei Meter große Zelle.