Ilkka Remes

Höllensturz

Thriller

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

 

 

Inhaltsübersicht

ERSTER TEIL

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ZWEITER TEIL

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DRITTER TEIL

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EPILOG

NACHWORT

ERSTER TEIL

1

Vom windstillen Himmel schwebten die Schneeflocken auf den blutdurchtränkten Schlamm hinab. Karri hielt das Messer unsicher umklammert und setzte es am Rand der aufgeschnittenen Speiseröhre des Elchkalbs an. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, aber er ließ sich nichts anmerken. Das Blut, das auf die Erde rann, sah in der zunehmenden Dämmerung fast schwarz aus.

»Du musst die Klinge am Brustbein entlangführen«, sagte Launo mit heiserer Stimme und zog nervös an seiner Zigarette. »Schnell.«

Das Gesicht des Fünfzigjährigen war vor Anstrengung dunkelrot, und seine Alkoholfahne roch man meterweit.

Er hatte den Hals von der Spitze des Brustbeins bis zur Kehle bereits aufgeschnitten, die großen Blutgefäße, die vom Herzen ausgingen, durchtrennt und dabei das Blut in eine Flasche gefüllt, um später daraus Pfannkuchen zu backen.

Nun zeigte er Karri, wie man die Haut aufschnitt: »Du musst den Dickdarm abtrennen. Aber pass auf, dass du das Bratfleisch nicht mit Scheiße versaust.«

Intuitiv sprachen sie leise. Der Darm in Karris Händen fühlte sich an wie warme Luftballons. Die Rolle des Lehrjungen gefiel ihm nicht, er war es gewohnt, selbst Anweisungen zu geben, nicht, sie zu befolgen. Die verkehrte Konstellation spiegelte sich auch in ihrer Ausrüstung wider: Karri trug wasserfeste Lederstiefel von Parkano, einen GoreTex-Anzug, der nicht raschelte, und eine Jagdmütze von Halti; Launo gewöhnliche Nokia-Gummistiefel, Lodenhosen, eine Jägerjacke und eine verschossene, orangefarbene Wollmütze. Kopfbedeckungen in leuchtenden Farben gehörten zur Hasenjagd, und auf der befanden sie sich offiziell. Die orangefarbenen Elchwesten hatten sie zu Hause gelassen.

Karri erschrak, als sich am Rande der Lichtung eine dunkle Gestalt näherte, aber es war nur Tomi in seinem Tarnanzug aus festem, grünem Stoff. Er hatte eine Grube ausgehoben, in der sie nun die inneren Organe und Gedärme verscharrten. Das Herz schob Launo in eine Plastiktüte.

»Tempo«, drängelte Tomi, als Launo einen Knoten in das dicke orangefarbene Nylonseil machte, das um den Hals des Kalbs geschlungen war.

Daran zogen sie den toten Körper durch das Preiselbeergestrüpp, das von einer dünnen Schneeschicht überzogen war.

»Wir lassen es hier liegen und holen das Auto«, flüsterte Tomi, als sie den Forstweg erreichten. Er war ein großgewachsener Mann und strotzte nach dem erfolgreichen Abschuss nur so vor Aggression.

»Auf keinen Fall«, schnaubte Launo, der einen Kopf kleiner war. »Was denkst du dir! Mit dem Wagen kommt mir keiner bis hierher.«

»Hört auf mit dem Gequatsche! Weiter!«, befahl Karri.

Launo räusperte sich geräuschvoll und spuckte aus. Sein fast kugelförmiger Kopf und das ungepflegte Bartbüschel am Kinn ließen ihn aussehen wie ein betrunkener Kobold. Karri fürchtete plötzlich, der kleine Mann könnte vor Anstrengung einen Herzinfarkt bekommen. Ihm fiel auf, dass Tomi zwar vor sich hin fluchte, aber darauf verzichtete, weiter mit Launo zu streiten. Normalerweise kümmerte sich Tomi nicht um die Meinung anderer, aber was die Wilderei betraf, war Launo Kohonen ein alter Fuchs, dessen Ratschläge man besser befolgte. Denn auf Wildern stand eine empfindliche Strafe. Karri gab sich Mühe, nicht an die strafrechtlichen Folgen zu denken.

Nachdem sie den Tierkörper hundert Meter vom Forstweg weggeschafft hatten, war es bereits so dunkel, dass man ohne den schneeweißen Schleier über dem Gelände nichts mehr gesehen hätte. Im Wald war es still – fast so, als brächten die langsam herabschwebenden Flocken auch den geringsten Ton zum Schweigen.

Tomi ging den Wagen holen, und Launo zündete sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette an. Im Licht des Feuerzeugs bemerkte Karri, dass Launos vorherige Röte einer unnatürlichen Blässe gewichen war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Karri leise.

»Wieso?« Launo zog gierig an seiner Zigarette. »Ich hab bloß einen kleinen Kater.«

Launos heisere, atemlose Stimme klang in Karris Ohren nicht sonderlich überzeugend.

Tomis alter Landcruiser näherte sich ohne Licht. Die Männer luden das tote Tier in den mit Plastikfolie ausgelegten Kofferraum und fuhren los.

Der Schnee fiel nun dichter, die Scheibenwischer mussten dicke Flocken von der Windschutzscheibe schaufeln. Karri sah Tomi an, dass der die Herausforderung genoss, die ihm die schlechten Straßenverhältnisse boten. Tomi fuhr schnell und sicher, er hatte das Fahrzeug fest unter Kontrolle – so wie er immer alles unter Kontrolle haben wollte.

Tomi sah Karri durch den Spiegel an und tippte sich an die Wange.

»Was ist?«, wollte Karri wissen.

»Putz dir mal das Gesicht ab!«

Karri wischte sich über die Wange. Dort war etwas Klebriges. Er zog ein Papiertaschentuch heraus, spuckte hinein und rieb sich das Blut ab.

Sie kamen aus dem Wald heraus und bogen auf die unbefestigte Straße ab, die zwischen brachliegenden Feldern zum Akka-Moor führte. Nach einer kurzen Strecke bogen sie erneut ab, diesmal auf einen schmalen Feldweg, an dessen Ende eine verfallene Scheune hinter einem Wäldchen versteckt war. Seit Jahr und Tag wurde darin Heu aufbewahrt, aber als Schlachtbank war sie ebenfalls gut geeignet.

Die Männer zerrten den Tierkörper zum Enthäuten auf das Holzgerüst, das sie auch bei der offiziellen Elchjagd mit der ganzen Jagdgemeinschaft benutzten. Aufmerksam verfolgte Karri, wie Launo mit sicherer Hand die Einschnitte über den Hufen setzte und das Tier enthäutete. Die Glatze, die Launos runden Kopf zierte, glänzte im Licht der zwei Maglite-Lampen, die auf dem Boden lagen. Nachdem die Haut abgezogen war, trennte Launo den Kopf vom Rumpf und schnitt die Lendenfilets von Darmbein und Roastbeef herunter.

»Verdammt …«, stieß er heiser aus und spuckte auf den Boden. Seine braunen Zahnstummel hoben sich krass vom kreidebleichen Gesicht ab.

»Hast du Schmerzen in der Brust?«, fragte Karri besorgt.

Launo hielt ihm mit seinen nikotingelben Fingern das Filet vor die Nase und flüsterte mit glänzenden Augen: »Wenn man das kurz in die gusseiserne Pfanne legt und einen Schuss Madeira dazugibt, dann hat auch der feine Herr aus dem Süden keinen Grund, sich zu beschweren. Verdammt. Und ein bisschen Rosmarin drüber.«

Karri fühlte sich unangenehm berührt. Meinte Launo ihn? Trotzdem musste er grinsen. Wie konnte ein langzeitarbeitsloser Alkoholiker so ein gnadenloser kulinarischer Snob sein?

Fein säuberlich schichtete Launo die Vorderkeulen, das Brustfleisch, die Rückenfilets, die Hinterkeulen und die Haxen aufeinander. Das noch warme, rote Fleisch schimmerte verheißungsvoll. Aber Karri war nicht wegen des Fleisches hier, und erst recht nicht wegen des Geldes. Er wollte Erfahrungen sammeln, er suchte nach der Herausforderung. Nach etwas, das den ständigen Adrenalinausstoß kompensierte, an den er sich an der Spitze seiner Firma gewöhnt hatte.

Plötzlich setzte sich Launo auf den Boden und lehnte sich an die Wand. Aus seinem Gesicht war noch die letzte Farbe gewichen.

»Was ist los?«, fragte Karri sofort.

»Schon gut.« Launo schloss kurz die Augen, dann öffnete er sie wieder und stand schwerfällig auf. »Ich geh ein bisschen Luft schnappen.«

Karri hielt die Scheunentür auf, und Launo trat an ihm vorbei ins Freie. Der Zustand und das Verhalten des Mannes beunruhigten Karri.

Fast auf der Stelle flog die Tür erneut auf.

Launo stand mit glasigem Blick und heftig atmend davor. »Kommt her!«, befahl er mit weißen Lippen.

Karri warf einen Blick auf Tomi, dessen Augen sich verengten. Waren sie überrascht worden?

Launo ging vor Karri zu dem Holzstapel, der an der Scheunenwand aufgeschichtet war. Große, schwere Schneeflocken segelten vom dunklen Himmel in den Lichtkegel der Taschenlampe. Auf dem Stapel lagen ein Meter lange, schon halb vermoderte Birkenscheite. Auf den untersten wuchsen Pilze. Der Stapel reichte bis zur Ecke der Scheune. Und dort deutete Launo mit zitterndem Finger hin.

Hinter den Holzscheiten blitzte ein Schuh auf.

Karri kniff die Augen zusammen. Launo spuckte zwanghaft aus.

Tomi zerrte ein Stück Holz zur Seite.

Unter den Birkenscheiten lag die Leiche. Man hatte der Frau in den Kopf geschossen, und es sah aus, als wäre sie erst wenige Stunden zuvor hier versteckt worden. Tomi musste an einem Baum Halt suchen.

Karri schloss die Augen. Es drehte ihm den Magen um.

Er kannte die Frau. Sie hieß Erja Yli-Honkila.

2

Von unten strahlte der Sand Wärme aus und von oben der Himmel, obwohl die Sonne schon fast bis zum Horizont gesunken war.

Saara hatte einen trockenen Mund, aber sie wollten nicht stehen bleiben, um etwas zu trinken, darin waren sie sich einig: der vor ihr gehende Luuk, Keith, der auf Malta geborene, bewaffnete Söldner, der sich wie viele seiner Kollegen seine Brötchen als Sicherheitsmann im Irak verdiente und hinter ihnen herging, und Saara selbst.

Sie beschleunigte ihren Schritt, ungeachtet des drückenden Rucksacks und der scheuernden rechten Sandale. Sie meinte, den Transportzylinder aus Aluminium, den sie im Rucksack trug, deutlich zu spüren – nicht so sehr sein Gewicht, sondern seine harten Konturen.

Der Himmel war wolkenlos, das Blau wurde von Sekunde zu Sekunde tiefer, und Venus oder Mars blitzten darin auf. Hinter den Hügeln und Schluchten färbte sich der Horizont beim Untergehen der Sonne purpurn. Die feindselige Gegend wirkte nun beinahe schön.

Die ersten schweren Bombardements des Irak-Krieges hatten sich genau auf diese Region an der jordanischen Grenze konzentriert. Die Vereinigten Staaten, Jordanien und Israel hatten nämlich befürchtet, der Irak hätte Lenkwaffen und ferngesteuerte Flugzeuge in den Höhlen und Schluchten versteckt, mit denen chemische oder biologische Waffen nach Jordanien und Israel hätten transportiert werden können.

Saara mochte die Sandalen nicht, die Karri ihr im Sommer gekauft hatte. Es hatten die besten sein müssen, die man für Geld bekommen konnte. Sie wäre lieber bei ihren alten geblieben, aber sie wollte Karri nicht enttäuschen. Doch jetzt scheuerte der Riemen am rechten Schuh.

Luuk van Dijk, ein aufrechter, blonder Mann aus den Niederlanden, sah auf die Uhr und blieb stehen.

»Noch nicht«, sagte Keith, der die Absicht des Holländers erriet. »Erst nach der Grenze.«

Luuk reagierte nicht, sondern zog sein Thuraya-Satellitentelefon hervor und tippte eine Nummer ein.

Saara blieb unmittelbar neben Luuk stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Keith hielt sich abseits. Die Stimmung war gespannt.

»David?«, sagte Luuk ins Telefon. »Hier ist van Dijk. Ich habe versprochen anzurufen. Gibt es bei der Altersbestimmung von Probe JD44 schon Resultate?«

Saara merkte, wie sie die Fäuste ballte und die Fingernägel in die Handflächen drückte.

Unablässig fixierte sie Luuk. Der hielt das Satellitentelefon fest ans Ohr gedrückt, während er die Antwort abwartete.

»Wie sicher ist das Ergebnis?«, fragte er.

Saara las das Resultat an Luuks Miene ab.

Es war positiv. Die Ungewissheit hatte eine Ende.

Eine Mischung aus Trauer, Erleichterung und Freude erfasste Saara.

»Das muss unbedingt vertraulich bleiben«, ermahnte Luuk mit bebender Stimme. »Wir sind noch auf der irakischen Seite, erreichen aber noch heute Abend Amman. Von dort geht es morgen früh weiter.«

Luuk beendete das Gespräch. Alle schwiegen, sogar Keith. Der wusste von der ganzen Sache nichts, spürte aber, wie elektrisiert Luuk und Saara waren.

»Gehen wir«, sagte Luuk, bemüht um einen möglichst unbefangenen Tonfall.

Saara ging aufgewühlt weiter, dabei hielt sie krampfhaft die Riemen ihres Rucksacks umklammert. Der jordanische Fahrer würde am Dorfrand in seinem alten Mercedes auf sie warten. Und vom Dorf waren es nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze.

Eine Sternschnuppe leuchtete kurz am Firmament auf, sie erinnerte Saara an einen hastig abgeschossenen Pfeil. Gedankenverloren sah sie ihr nach, während sie die Tragegurte des schweren Rucksacks richtete.

»Träum nicht«, trieb Keith sie an.

Saara ging wieder schneller und versuchte an das Dorf und das Auto zu denken, das sie bald nach Jordanien bringen würde. Sie sah Luuk an, vermochte in dessen versteinertem Gesicht aber nichts mehr zu lesen. Nach dem Telefongespräch war die Stimmung noch angespannter als zuvor.

Am Wegrand zeichnete sich die Silhouette eines Fahrzeugs ab. Unmittelbar dahinter stieg das steinige Gelände jäh an, und über allem wölbte sich endlos der dunkelblaue Himmel. Die Scheinwerfer des Wagens waren eingeschaltet, und sofort beschleunigte das Trio intuitiv seine Schritte.

»Setzt euch nach hinten«, befahl Keith mit der Autorität des Sicherheitsmannes.

Wortlos befolgten Saara und Luuk die Anweisung. Keith selbst setzte sich auf den Beifahrersitz.

»Salaam«, grüßte der Fahrer.

»Salaam aleikum«, erwiderte Saara, während sie den Rucksack vom schweißnassen Rücken nahm. Sie setzte sich hinter den Fahrer und zog die lose in den Angeln hängende Tür zu. Den Rucksack hielt sie auf dem Schoß. Als sie im Dunkeln nach der Trinkflasche tastete, nutzte sie die Gelegenheit, um über den Aluminiumzylinder zu streichen, als wollte sie sich versichern, dass er sich nicht in Luft aufgelöst hatte.

Das Wasser ließ Saara an eine Oase denken – oder ans Paradies. Knurrend sprang der Motor des Wagens an.

Im selben Moment fiel ein Schuss.

Keith zuckte zusammen, und seinem Mund entfuhr ein Schmerzensschrei. Saara umklammerte ihren Rucksack und duckte sich. Dabei kam ihr etwas Wasser in die falsche Kehle. Ihr Husten wurde von einem zweiten Schuss übertönt. Keith war getroffen worden, aber er feuerte zurück.

Draußen hörte man arabische Rufe.

»Luuk …«, rief Saara, aber da wurde bereits die Tür aufgerissen. Starke Hände ergriffen sie und zerrten sie aus dem Wagen wie eine Puppe, obwohl sie sich mit aller Kraft zu wehren versuchte. Einen kurzen Moment lang sah sie den Fahrer blutüberströmt über dem Lenkrad hängen.

Ihr Schrei wurde von der Kapuze erstickt, die man ihr über den Kopf stülpte. Das Letzte, was Saara sah, war ein Mann, der sich ein Tuch um den Kopf geschlungen hatte. In den Schlitzen sah man seine Augen funkeln.

3

Die Frau in den schwarzen Kleidern hob weinend die Hände.

»Vergebung für alle Sünden«, rief der Prediger mit bebender Stimme vor der Gemeinde und deutete auf die Frau. »Vergebung für alle Sünden …«

Alle, die zum Sündenbekenntnis gekommen waren, hoben die Hände und standen auf. Einige trampelten mit den Füßen auf den lackierten Holzfußboden, andere weinten und schluchzten lautstark.

»Vergebung für alle Sünden im Namen und im Blute Jesu«, fuhr der Prediger fort, worauf er der Reihe nach mit der Hand auf jeden zeigte, der seine Sünden bekannte. Dann fügte er mit einer Stimme, die aus der Tiefe zu kommen schien, hinzu: »Auch ich bin versucht und gepeinigt worden. Darf auch ich hoffen, Vergebung für alle Sünden und Fehler meines Lebens zu erhalten?«

»Vergebung für alle Sünden«, murmelten die Zuhörer im Chor und wiesen dabei mit den Händen auf den Prediger. »Vergebung für alle Sünden im Namen und im Erlöserblute Jesu!«

Schließlich erscholl im Raum ein kraftvolles Lied, in das alle einstimmten.

»Herr, schau auf unser Elend und habe Mitleid mit unserm Unglück groß. Denk auch an mich, der ich hier leide ohne Trost …«

Von den zwanzig Personen war die Luft in der Bauernstube stickig geworden, aber schon bald nach dem Lied duftete es nach Kaffee und frischem Hefegebäck. Labkäse und Moltebeerenkonfitüre wurden serviert, die Löffel klimperten in den Tassen, und man plauderte. Im Licht der Hofbeleuchtung sah man vor dem Fenster die Schneeflocken fallen.

»Das hat mich aber sehr gefreut, die Saara nach langer Zeit mal wieder zu sehen«, sagte eine schlanke grauhaarige Frau zu Saara Vuorios Mutter. »Erja klagt immer, dass sie sich so selten sähen.«

»Ich sage ja immer zu Saara, sie soll doch mal zur Ruhe kommen und in ihrem Leben ein bisschen langsamer machen«, antwortete die etwas rundlichere Frau, die ihren Kaffee auf der Untertasse abkühlen ließ. Sie war schwarz gekleidet und trug ein besticktes Tuch über den Schultern. »Sie müsste langsam mal sesshaft werden. Und Kinder kriegen.«

Sie merkte, dass sie damit einen wunden Punkt getroffen hatte, denn Marjatta Yli-Honkilas Nichte Erja war noch nicht einmal verheiratet.

»Ach, ich denke noch so oft an die Schulzeit, als Saara und Erja bei uns am Küchentisch saßen und eifrig ihre Hausaufgaben machten«, sagte Marjatta beinahe verträumt.

Plötzlich kam Unruhe auf bei den Gemeindemitgliedern, die am Fenster saßen. Einige sahen neugierig in den Hof hinaus, wo sich der Lichtkegel eines Autos in den Tanz der Schneeflocken bohrte.

»Was ist denn los?«, fragte jemand, als das weißblaue Polizeifahrzeug neben den anderen Autos im Hof parkte.

»Polizei.«

Die Unterhaltung endete abrupt, man hörte nur noch das Rasseln der Standuhr.

Saaras Mutter konnte sich nicht beherrschen, sondern flüsterte der neben ihr sitzenden Marjatta ins Ohr: »Was, um Himmels willen, sucht die Staatsgewalt denn unter den Kindern Gottes?«

Sonst wagte niemand etwas zu sagen. Ein ernster Polizist betrat die Stube, grüßte und bat Marjatta Yli-Honkila, mit ihm in den Flur zu kommen. Marjatta stellte die Kaffeetasse so hastig und ungeschickt auf der Bank ab, dass es schepperte. Ansonsten herrschte Stille im Raum.

»Raimo, könntest du mit mir kommen?«, sagte Marjatta mit bebender Stimme zum Hausherrn. Der musste sie am Arm stützen, als sie den Raum verließen.

Die schweigende Gemeinde hielt den Blick unverwandt auf die weiß gestrichene Tür geheftet.

Kurz darauf ging sie auf. Der Hausherr kam herein, stand einen Augenblick reglos da, wandte sich dann an die Anwesenden und sagte: »Gott hat heute Abend eines seiner Kinder zu sich gerufen …« Seine Stimme war kurz davor zu brechen, aber dann wurde sie auf einmal wieder kräftiger. »Singen wir Lied Nummer 136, anlässlich des gewaltsamen Dahinscheidens von Erja Yli-Honkila …«

Aus dem Gemeindevolk erscholl ein einzelner, schriller Schrei: »Herr Jesus, steh uns bei!«

Dem Schrei folgte entsetztes Schluchzen und immer heftiger werdendes Gerede, das erst versiegte, als der Prediger das Lied anstimmte. Der Gesang begann zaghaft, wurde aber allmählich stärker, bis er schließlich heftig und schneller als üblich erklang:

»Dein Friedenswort ist meine Rast, o mein Jesus. Dort finde ich Glückseligkeit im Sehnen nach deiner Gnade …«

4

Karri Vuorio blickte auf die Suunto-Multifunktionsuhr an seinem Handgelenk und bemerkte, dass seine Hände zitterten. Es ging auf neun Uhr abends zu, und sein Blutzuckerspiegel fiel rapide ab. Seit dem belegten Brot zum Kaffee aus der Thermoskanne am Nachmittag hatte er nichts mehr gegessen.

Erja Yli-Honkila war eine Freundin von Saara aus Kindertagen gewesen. Saara hatte sich mit ihr und zwei anderen alten Freundinnen am Freitagabend vor ihrer Abreise nach Amman getroffen.

Nach dem Fund der Leiche hatte Karri vorgeschlagen, der Polizei die Wahrheit über die Wilderei zu sagen, aber Tomi und Launo hatten das hitzig zurückgewiesen. Vor allem Tomi war außer sich gewesen. Der Schock durch den Fund der Leiche hatte sich bei ihm in beängstigendem Zorn entladen.

Tomi hatte das Messer in das aufgehängte Elchkalb gerammt wie in einen vor ihm stehenden Menschen. »Genau so …«, hatte er gezischt, das Messer herausgezogen und mit einer abrupten Bewegung erneut hineingestoßen, »… ergeht es demjenigen …«, dritter Messerhieb, »… der seine Schnauze …«, vierter Hieb, »… nicht halten kann.«

Auf einmal war Launo in schallendes Gelächter ausgebrochen. Nach dem ersten Schrecken hatte er das Ganze merkwürdig kühl hingenommen. Karri war von Tomis Aggressivität bestürzt gewesen. Dieser hatte selbst bald begriffen, wie seltsam sein Verhalten wirken musste, und versucht, es mit einer Art von Humor zu überspielen, die aber eher das Gegenteil bewirkte. Tomi und Launo hatten Erja noch weniger gekannt als Karri.

Nachdem Tomi sich etwas beruhigt hatte, übernahm er gleich wieder das Kommando. Gemeinsam hatten sie die Überreste des Kalbs und die Tüten mit dem Fleisch zum Auto getragen und anschließend an der Schlachtbank in der alten Scheune ihre Spuren beseitigt. Aber natürlich würde die Polizei trotzdem merken, dass dort ein totes Tier zerlegt worden war. Tomi war nach Koskenperä gefahren, dort hatten sie die Reste des Tieres vergraben und das Fleisch versteckt, um es später zu holen. Anschließend waren sie zur Scheune zurückgekehrt.

Im Auto hatten sich Tomi und Launo eine Geschichte über Hasenjagd und eine Kaffeepause vor der Scheune ausgedacht. Karri war damit einverstanden: Wie unschuldig wirkte das bisschen illegale Jagd, verglichen mit dem schweren Verbrechen, das seine Schatten darüberwarf. Außerdem hatte er selbst auch keine Lust, wegen Wilderei angezeigt zu werden. Was ihn betraf, war es das letzte Mal gewesen. Er würde sich andere Beschäftigungen suchen, um sein Leben spannender zu gestalten. Dennoch quälte ihn die Frage, ob ein Diplom-Ingenieur, der seine Firma verkauft hatte, tatsächlich mit aller Gewalt nach einem neuen Lebensinhalt suchen musste.

Tomi hatte die Polizei angerufen und war sogleich aufgefordert worden, nichts anzufassen. Ein Polizist hatte die Waffen an sich genommen und die drei Männer aufs Revier gebracht. Dort waren sie »routinemäßig« auf Schmauchspuren untersucht worden. Dann hatten sie ihre Geschichte von der Hasenjagd und der Kaffeepause erzählt.

Die Polizei hatte Verständnis für ihre Erschütterung gezeigt, und Karri begriff, dass bestimmte Routinemaßnahmen bei ihnen durchgeführt werden mussten, auch wenn sie nicht des Mordes verdächtigt wurden. Dennoch hatte er sich auf dem Polizeirevier unwohl gefühlt.

Jetzt stand Karri unweit von Pudasjärvi auf einem dunklen Waldweg und sog die kühle, feuchte Luft ein. Der Schnee lag mittlerweile fünf Zentimeter hoch. Tomi übergab einer großen, blonden Frau einen schwarzen Sack mit Elchfleisch.

Tuija Karam riss den Sack förmlich an sich und warf ihn in den Kofferraum ihres Kombis. Karri wäre gern nach Hause gefahren, aber Tomi und Launo hatten das Fleisch unverzüglich loswerden wollen. Karri wäre sogar bereit gewesen, es einfach im Wald liegen zu lassen.

»Und wenn die Polizei die Scheune genau untersucht?«, fragte Tuija leise. Sie schlug die Heckklappe des Audi zu und drehte sich um. Ein fordernder Blick lag in ihren Augen. Die ungleichmäßig geschnittenen, blonden Haare berührten ihre breiten Schultern.

»Na klar untersucht die Polizei die Scheune gründlich«, entgegnete Tomi ebenso leise und selbstsicher. »Dann finden sie heraus, dass dort ein Tier zerlegt worden ist. Aber da werden schließlich auch immer wieder welche mit Genehmigung zerhackt.«

»Die Polizei glaubt bestimmt nicht, dass der Mörder in der Scheune kampiert hat«, sagte Launo.

Karri und Tomi sahen sich überrascht an: Launo sprach zu Tuija. Normalerweise behandelten sich die beiden gegenseitig wie Luft. Einmal hatte Tomi versucht herauszubekommen, was sie entzweit hatte, aber Launo war der Frage ausgewichen.

»Und wer könnte der Mörder gewesen sein?«, fragte Tuija kalt.

Karri fühlte sich unwohl. Wie Launo und Tomi schien auch Tuija den Mord an Erja Yli-Honkila seltsam kühl hinzunehmen. Was waren das eigentlich für Menschen? Oder hielten sie nur ihre Gefühle bedeckt, wie es in diesem Landstrich üblich war?

Wobei Tomis erste Erschütterung allerdings sehr heftig ausgefallen war, das war Karri trotz seines eigenen Schocks aufgefallen. Das sollte einer verstehen.

»Ich kann mir schon vorstellen, warum jemand so eine wie die umbringen wollte«, flüsterte Tuija, »aber ich verstehe nicht, wer dazu tatsächlich fähig gewesen sein sollte.«

Karri schauderte. »Warum hätte jemand Erja etwas antun sollen? Hast du sie denn überhaupt gekannt?«

»Gut genug. Wenn auch nicht so gut wie deine Saara.«

Freundlich, aber energisch winkte Tuija ihrem Mann, der etwas abseits stand. Darauf setzte sich der gebürtige Libanese Rafiq Karam gehorsam auf den Beifahrersitz, wobei die schwere Goldkette an seinem Handgelenk klimperte. Der Mann mit dem dunklen Schnurrbart und den dunklen Augen war fünf Jahre jünger als seine Frau, einen Kopf kleiner als sie und immer adrett und modisch gekleidet. Er besaß ein Restaurant in der Ortsmitte, am Marktplatz. Dort bereitete er auch Wildgerichte zu, vor allem für Touristen.

Tuija setzte sich ans Steuer. »Müssen wir etwas dafür bezahlen?«, fragte sie bei offener Tür und mit einer Kopfbewegung zum Kofferraum.

Tomi warf einen Blick auf Launo und Karri und sagte, ohne deren Kommentare abzuwarten: »Nein. Diesmal nicht.«

Tuija zog die Tür zu, startete den Motor und fuhr in Richtung Pudasjärvi davon. Die Reifenspuren des Audi blieben im Schnee zurück wie eine Tätowierung.

»Bringt mich zu meinem Wagen«, sagte Karri ungeduldig.

»Nur keine Hektik. Alles zu seiner Zeit«, sagte Tomi unangenehm ruhig. Karri merkte, wie Launos Mundwinkel sich zu einem schwachen Grinsen verzogen. Die beiden wurden Karri von Minute zu Minute unsympathischer, und er bereute bereits, der Polizei nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Aber dann wären die Waffen an den Staat gefallen, sie hätten Bußgelder aufgebrummt bekommen und einen Eintrag ins Strafregister kassiert. Und daran war auch Karri nicht sonderlich gelegen.

Die Männer stiegen in den Geländewagen. Karri musste an Tuijas unverhohlene Abneigung gegenüber Erja denken. Was er wusste, war lediglich, dass Tuija nie in religiösen Kreisen verkehrte.

»Wirst du deiner Frau das mit Yli-Honkila erzählen?«, fragte Tomi, als er den Motor anließ.

»Natürlich. Sie sind … sie waren … befreundet. Vor allem früher.«

»Aber von dem Elchkalb wirst du deiner Frau kein Wort sagen.« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage von Launo, der in seinen Taschen nach Zigaretten suchte.

Im schwachen Lichtschein sah Karri dessen abweisenden Gesichtsausdruck, und die Härte darin ärgerte ihn. Es war, als sähe er Tomis Unfreundlichkeit und Kälte in potenzierter Form vor sich. Als würde Tomi die Fäden ziehen und Launo tanzen lassen wie eine Marionette.

»Ich weiß selbst, was ich Saara erzähle und was nicht.«

»Hoffentlich weißt du es«, sagte Tomi. »Die Frömmler können die Polizei nämlich nicht anlügen.«

»Saara gehört nicht zu den Laestadianern. Sie ist Theologin, spezialisiert auf Exegese, also auf die Auslegung der Bibel …«

»Die kann man auslegen, wie man will«, warf Launo zwischen zwei Zügen an seiner Zigarette ein. »Hör zu, Tomi, wenn jemand weiß, wie man lügt, dann die Laestadianer. Es ist nämlich so, dass die Kinder Gottes hier nur zu ihrem Gott die Wahrheit sagen. Ansonsten verbreiten sie die tollsten Gerüchte, sogar übereinander. Und was uns Kinder der Welt betrifft – über uns reden sie, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.«

In Launos Stimme lag Bitterkeit, beinahe Hass. Karri wollte keinen Streit anfangen. Er wusste, dass Launo seit Jahren Reibereien mit frommen Mitgliedern der Laestadianer-Bewegung hatte. Ebenso Tuija.

»Die Polizei will uns noch einmal gründlich vernehmen«, sagte Tomi und beschleunigte in den sanften Kurven der unbefestigten Straße. »Einzeln. Wir bleiben Wort für Wort bei dem, was wir ihnen von Anfang an gesagt haben. Kapiert?«

Karri fing Tomis harten Blick im Rückspiegel auf. Tomi wollte seine Umgebung immer vollkommen unter Kontrolle haben, und seine Worte waren speziell an Karri gerichtet.

»Was gibt es daran nicht zu kapieren«, sagte Karri. »Aber gegenüber einem Mord wiegt Wilderei nicht viel.«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es ist zu deinem eigenen Vorteil, wenn du kapierst, wo es langgeht.«

Tomis drohender Unterton gefiel Karri überhaupt nicht.

»So eine Bluttat ist für uns alle ein Schock«, sagte er ruhig. »Aber es gibt keinen Grund, seine Gefühle an den anderen auszulassen.«

»Gefühle? Was redest du da für einen Scheiß?«

Launo schob Karri die Schnapsflasche zu, die er zwischen den Sitzen gefunden hatte. »Jetzt mal ganz ruhig. Es gibt keinen Grund zur Panik. Hier, nimm ein paar Ohrentropfen.«

Karri schüttelte den Kopf. Das tat er bei solchen Gelegenheiten meistens, daher sorgte seine Ablehnung nicht für Verwunderung. Launo nahm einen ordentlichen Schluck.

Tomi sah ihn darauf verächtlich an. »Sachte, sachte – nicht dass du deswegen den Mund weiter aufreißt, als gut ist.«

»Bei wem soll ich schon den Mund aufmachen?«, fragte Launo trocken.

Tomi antwortete nicht. Launo lebte wie ein Eremit, er redete im Ort mit fast niemandem.

Der Wagen näherte sich der Ortschaft, deren Lichter im feuchtkalten Abenddunkel schimmerten. Tomi senkte die Geschwindigkeit vorschriftsgemäß. Die Straße war glatt. Beiderseits der Straße verliefen breite Rad- und Fußwege, und dahinter leuchteten Neonreklamen an kastenförmigen Geschäftsgebäuden: GENOSSENSCHAFTSBANK, HAUSHALTSWAREN, ALKO, S-MARKT, PIZZA-SERVICE, STAR-BURGER. Neben dem Verwaltungsgebäude befand sich das Polizeirevier, vor dem zwei neue Polizeifahrzeuge aufgetaucht waren – und ein Leichenwagen.

»Kühlen Kopf bewahren, Jungs, egal, was kommt«, flüsterte Launo wichtigtuerisch.

Vor einigen Stunden war Karri noch zufrieden gewesen, das Vertrauen der beiden Männer verdient zu haben. Jetzt graute es ihm vor seiner Schauspielerei. Warum musste er so tun, als käme er mit waschechten Bauerntrampeln zurecht? Stammte das Bedürfnis dazu noch aus der Kindheit? Sehnte er sich einfach danach, akzeptiert zu werden – egal von wem?

Sie fuhren am Hallenflohmarkt des Arbeitslosenvereins vorbei, an der Kirche und am Friedhof. Das Gotteshaus war um diese Zeit dunkel, aber vor dem großen, alten Holzhaus hundert Meter weiter stand ein Dutzend Autos. Alle Fenster der Friedensgemeinde, wo sich die Laestadianer versammelten, waren hell erleuchtet. Karri versuchte zu erkennen, ob das Auto seiner Schwiegermutter dort stand. Wahrscheinlich.

Er hatte den ganzen Abend das Handy ausgeschaltet gehabt, aus mehreren Gründen. Einer bestand darin, dass er das Klagen und Lamentieren von Saaras Mutter über Erjas Tod nicht hören wollte.

Sein neuer, dunkelgrüner Landrover stand vor dem Laden für Autozubehör, der in einem alten Viehstall aus Backstein untergebracht war. Tomi ließ Karri aussteigen und fuhr dann aus der Ortschaft hinaus, zu dem abgelegenen Haus, in dem Launo wohnte.

Karri stand neben seinem Wagen im Schnee und zitterte vor Kälte. Plötzlich fuhr ein Polizeiauto in hohem Tempo an ihm vorbei, mit Blaulicht, aber ohne Sirene. Es folgte ein zweiter Streifenwagen und dahinter ein Ford-Zivilwagen.

Was war jetzt los?

Karri begann, den Schnee von der Windschutzscheibe zu wischen. Ein weiteres Auto fuhr auf der Straße vorbei, aber langsamer. Der Leichenwagen.

5

Der Reifen drehte durch und wirbelte Sand auf. Daraufhin trat der Iraker mit dem Tuch um den Kopf noch heftiger aufs Gaspedal und kurbelte am Lenkrad des alten Lieferwagens. In der Dunkelheit änderten die Scheinwerfer die Richtung, und das Auto setzte sich in Bewegung.

Hinter ihm, fast unmittelbar an der Stoßstange, hing ein Mercedes-Kombi. Am Rand der Wüstenpiste erschrak ein Schakal und verschwand in der Finsternis. Die Autos wichen geschickt dem Überrest eines ausgebrannten Lkw aus und setzten die Fahrt in Richtung des Felsengebildes in der Ferne fort.

Die Reifen rumpelten in den Schlaglöchern, und die altersschwachen Stoßdämpfer wimmerten. Im Kofferraum des Kombis lag der maltesische Sicherheitsmann. Um dessen Arm war als Druckverband ein schmutziges Tuch geschlungen worden, das einer der Iraker nun noch fester zog. Die Kugel, die dem Sicherheitsmann die Schlagader am Handgelenk aufgerissen hatte, war seitlich im Brustkorb stecken geblieben, der mit einem anderen Stofffetzen verbunden war. Der zweite Entführte hatte eine Schusswunde an der Schulter.

Der Iraker rief dem Fahrer etwas zu. Der reagierte nicht, sondern sprach aufgeregt ins Funkgerät, während er das Auto in rasender Geschwindigkeit über die Sandpiste lenkte.

Im Laderaum des vorausfahrenden Lieferwagens lagen mit gefesselten Händen und mit schwarzen Hauben über dem Kopf ein Mann und eine Frau. Ihre Körper wurden im Takt der heftigen Lenkbewegungen hin und her geworfen. Man hatte ihnen eine Nylonschnur durch den Mund gezogen und am Hinterkopf verknotet, um sie am Sprechen zu hindern.

Saara war schweißgebadet. Das Auto fuhr in ein Schlagloch, und ihr Kopf prallte auf den Wagenboden. Sie fühlte sich wie ein Tier auf dem Weg zum Schlachthaus, versuchte aber ihr Entsetzen hinunterzuschlucken und zu verhindern, dass sie hysterisch wurde.

Sämtliche Schreckensszenarien waren wahr geworden. Saara hatte immer schon Angst davor gehabt, irgendwann zum Thema der Fernsehnachrichten zu werden: als sprechender Kopf, der um Gnade bettelte, aber schließlich doch vom Rumpf abgetrennt würde. Sie hatte immer versucht sich einzureden, dieses Schicksal könne nur andere ereilen. Menschen, die sie nicht kannte.

Aber jetzt 

Ich werde euch geben, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keine Hand je berührt und kein Menschenherz ahnen kann 

Saara spürte eine feste Kraft in sich wachsen. Aufgrund der Angst und der unruhigen Fahrt hatte sie sich auf die Wolldecke übergeben, die im Wagen ausgebreitet war. Jetzt brachte sie der scharfe Geruch erneut zum Erbrechen, was wegen der Nylonschnur zusätzlich schmerzhaft war. Sie hatte Angst zu ersticken. Ihr Gesicht lag in dem Blut, das aus Luuks Schulter sickerte.

Als der Brechreiz nachließ, versuchte Saara den galligen Speichel, den sie noch im Mund hatte, zu schlucken, aber das war nicht möglich, weil die Schnur auf die Zunge drückte.

Hört diese Fahrt denn nie auf, dachte sie, obwohl sie noch nicht wusste, welcher Alptraum nach der Ankunft beginnen würde.

Bei allem Entsetzen fragte sich Saara aber auch, wo ihr Rucksack mit dem Aluminiumbehälter hingeraten war.

Warum gerade jetzt?, fragte sie sich.

 

Der Landrover wirbelte Schnee auf. Karri hielt das Lenkrad umklammert und senkte leicht die Geschwindigkeit, denn die Fernstraße, die nach Norden führte, war spiegelglatt. Er hatte das Handy noch immer nicht eingeschaltet, sondern war in Gedanken versunken. Die Erschütterung ließ nicht nach, im Gegenteil, sie wurde immer heftiger.

Warum hatte jemand einen Menschen wie Erja Yli-Honkila umgebracht? Einen rationalen Grund dafür konnte es nicht geben. Oder doch? Worauf hatte Tuija angespielt? Allerdings hasste diese Frau alle Laestadianer.

Mit Tomi und Launo hatte er nicht ernsthaft reden können. Seine Achtung vor den beiden Männern war vollkommen verschwunden. Sie waren unzivilisiert und gefühlsarm. Oder waren sie nur nicht fähig, die Situation verbal zu verarbeiten? Stellte er sich ungerechtfertigt über sie? Brauchte es nicht gerade eine gewisse Nervenstärke, Vitalität, Zähigkeit und Cleverness, um in diesen Wäldern am Ende der Welt, unter dem Druck der Naturgewalten überhaupt existieren zu können? Es war die gleiche Festigkeit, die er an Saara so schätzte.

Karri selbst stammte aus Sotkamo, das etwas weiter südlich lag. Seine Eltern waren ganz aus dem Süden Finnlands dort hingezogen, weil sein Vater eine Stelle als Arzt bekommen hatte.

Nun schaltete Karri sein Handy ein. Alle waren es gewohnt gewesen, dass er immer erreichbar war. Jetzt war das nicht mehr nötig. Es gab keine Kunden mehr, die in anderen Zeitzonen lebten und ihn zu allen Tages- und Nachtzeiten erreichen wollten.

Das Display teilte ihm mit, dass er eine Nachricht auf der Mailbox hatte. Die konnte noch nicht von Saara stammen, das wusste er.

Tatsächlich war die Nachricht von ihrer Mutter. Sie bat ihn, so schnell wie möglich zurückzurufen. Ihre Stimme war betont ruhig. Unheimlich ruhig.

Karri seufzte tief. Die Straße führte durch ein abgelegenes Dorf. Nur in den Fenstern eines Hauses brannte Licht. Der größte Teil der Dorfbewohner war schon vor langer Zeit nach Südfinnland oder Schweden gezogen. Zuerst waren die Frauen gegangen, worauf nur ein paar Junggesellen im Dorf zurückgeblieben waren, die auf Kosten ihrer alten Mütter in den Hinterzimmern der kleinen Holzhäuser lebten. Manche lebten allein von Arbeitslosenunterstützung, manche verdienten sich durch Beerenpflücken und Jagen etwas hinzu. Und alle gingen natürlich angeln, um den Speisezettel zu bereichern.

Karri betrachtete die alten Häuschen, deren roter Anstrich bereits verblasste. Saara hatte erzählt, dass es noch in den sechziger Jahren rund um diese Häuser von Kindern gewimmelt habe. Die Männer hatten ihre Familien durch Viehzucht ernährt und im Winter als Holzfäller gearbeitet. Alle hatten gerade genug zu essen gehabt, aber dennoch war Sonntags die Dankesbotschaft der Zionslieder und Choräle erschollen.

Nach einigen Kilometern Fahrt durch den Wald bog Karri in eine Nebenstraße ab. Hier hatte es weniger geschneit. Nach weiteren fünf Kilometern zweigte ein Waldweg ab. Ein Fremder hätte kaum eine Fahrspur erkannt, aber Karri fuhr zügig und routiniert immer weiter in den Wald hinein.

Bei der Fahrt den steilen Koppelo-Hügel hinauf hielt er das Lenkrad besonders fest umklammert. Er hatte absichtlich eine Stelle auf dem Fahrweg in fast unpassierbarem Zustand belassen, sozusagen als Burggraben. Der Wagen neigte sich an dieser Stelle so jäh zur Seite, dass Saara Tage gebraucht hatte, bis sie sich traute, diese Strecke selbst zu fahren, obwohl sie es gewohnt war, sich im Gelände zu bewegen.

Karri wusste, dass er Saara von Erjas Tod erzählen musste. Aber er wusste nicht, wie er das über sich bringen sollte. Die beiden Frauen hatten sich seit ihrer Kindheit gekannt. Trotzdem: Hatte es damit wirklich Eile? Saara war am Samstagmorgen völlig aufgewühlt zu ihrer Reise aufgebrochen, sodass er sie jetzt nicht zusätzlich belasten wollte. Andererseits würde Saara ihm später Vorwürfe machen, weshalb er das Ganze schlicht und einfach hinter sich bringen musste. Und zwar bald.

Nach dem Hügel führte der Weg durch einen lichten Kiefernwald mit trockenem Boden und vielen Flechten. Hier war der Schnee zum größten Teil schon wieder geschmolzen. Zum Glück, dachte Karri. Mit dem Schnee würden auch die Spuren des Wilderns verschwinden.

Er bereute bereits, auch nur den Gedanken gehabt zu haben, der Polizei etwas von der Wilderei zu sagen. Tomi hatte Recht – das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Es war sinnlos, sich unnötig eine blutige Nase zu holen.

Außerdem hatte Karri Verständnis für Tomi. Der war vor wenigen Jahren ebenfalls aus dem Süden in die Gegend gekommen, hatte mutig in ein Safari-Unternehmen investiert und auch gute Verträge mit ausländischen Reiseanbietern ausgehandelt. Für die Firma wäre es keine gute Reklame, wenn ihr Chef wegen Wilderei angezeigt würde. Das könnte unter Umständen sogar das ganze Unternehmen zu Fall bringen.

Trotz Löchern und Wurzeln erhöhte Karri die Geschwindigkeit. Anfangs waren sie selbstverständlich davon ausgegangen, dass eine ordentliche Zufahrt angelegt würde. Aber nachdem der Traktor im Sommer zig Fuhren Baumaterial herangeschafft hatte, war dadurch bereits eine Fahrspur entstanden. Im Winter würden sie ohnehin mit dem Motorschlitten fahren, was für einen Nutzen hätten sie dann von einer ordentlichen Zufahrt? Die hätte nur das Gefühl, inmitten der Wildnis zu leben, wieder zunichte gemacht.

Im Scheinwerferkegel tauchte das letzte Geländehindernis auf, ein schmaler Streifen Land zwischen den beiden Seen, so schmal, dass man ihn innerhalb von wenigen Stunden unter Wasser setzten konnte, wenn man wollte und ordentlich mit der Schaufel loslegte. Es hatte Karri schon immer gereizt, an einem abgeschiedenen, nahezu unzugänglichen Ort zu leben.

Die letzten wenigen hundert Meter folgte die Fahrspur dem Seeufer und führte dann den Hang hinauf, wo aus den grauen Balken der ehemaligen Scheune eine Garage für den Wagen errichtet worden war. Durch den Bewegungsmelder ging die gedämpfte Außenbeleuchtung an. Müde stieg Karri aus dem Wagen. Während er auf das Haus zuging, sprangen nach und nach rechts und links des Pfades die Lichter an. Sie waren in ausgehöhlten Kiefernpfosten von einem halben Meter Höhe eingelassen.

Im Schein der Lichter sah man das große Haus, das sie auf den Namen Riekonpesä – Schneehuhnnest – getauft hatten. Es war eine Villa und zugleich ein Ökohaus, das Anleihen des traditionellen finnischen, romantischen Blockhauses mit der klaren Linienführung moderner Architektur verband. Und es stand an einer Stelle oberhalb des Sees, von der man ungehindert in alle Richtungen blicken konnte. Ein Bekannter von Saara, ein Architekt aus Oulu, hatte es entworfen. Wo er mit seinen Visionen über das Ziel hinausgeschossen war, hatten Karri und Saara um Vereinfachung gebeten. So hätte zum Beispiel ein Wintergarten zu viel Energie verbraucht. Am Seeufer hatten sie sich aber zusätzlich ein Saunagebäude errichten lassen, mit Rasendach und einem Panoramafenster, das eine ganze Wand einnahm.

Plötzlich blieb Karri stehen.

Ihm war, als hätte sich im Wald etwas bewegt. Intuitiv spannte er die Muskeln an.

Die Stille war vollkommen. Vielleicht war es ein Tier gewesen. Karri ging weiter. Jemand anders hätte die Stille womöglich als bedrohlich empfunden, aber für Karri war sie gleichbedeutend mit Sicherheit. Dieselbe Sicherheit hatte die Stille auch dem Elchkalb heute verheißen, als es am Waldrand stand. Sie hatten es erwischt, ohne es vorher treiben zu müssen, ohne dass sich in der Muskulatur des Tieres durch das Rennen Milchsäure gebildet hatte. Dann hätten sie Launo zufolge nämlich dunkles und geschmackloses »Stressfleisch« bekommen, auch »Teerfleisch« genannt, das nicht einmal durch Abhängen mürbe und durch keine Zubereitungsart wieder weich geworden wäre.

Sie waren gerade einen Forstweg entlanggefahren, als sie das Kalb sahen. Elche hatten keine Angst vor Autos, weshalb Tomi gewartet hatte, bis Launo und Karri ausgestiegen waren. Dann war er langsam weitergefahren. Launo hatte Karri ermuntert zu schießen, aber wegen der Entfernung und der Dämmerung hatte Karri das Launo überlassen. Es war schwer zu glauben, aber der Alkoholiker hatte aus mehr als hundert Metern Entfernung mit einem Schuss das Herz des Tieres getroffen. Und das mit einem altertümlichen Baikal-Stutzen, der, was die Genauigkeit betraf, einer wesentlich miserableren Kategorie angehörte als Karris Lincoln mit Aluminiumrahmen. Diese Kombinationswaffe aus Flinte und Gewehr war für die Wilderei perfekt: Die Flinte eignete sich zur Hasenjagd, aber mit dem Gewehr konnte man auch einen Elch erlegen.

Wieder kam Karri die tote Erja in den Sinn. Mit schnellen Schritten ging er die letzten Meter zum Haus.

Vor der Tür erstarrte er auf der Stelle und schaute auf die Steinfliesen.

Dort lag kein Schnee.

Der Pfad war von einer dünnen Schneeschicht überzogen, aber die Fliesen nicht. Das fiel Karri auf, denn er hatte sich bereits darauf eingestellt, den Schnee mit dem Besen, der an der Wand lehnte, wegzufegen.

Vielleicht hatten Wand und Vordach verhindert, dass Schnee vor die Haustür geweht worden war?