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Hugo von Kupffer

REPORTERSTREIFZÜGE

DIE ERSTEN MODERNEN REPORTAGEN AUS BERLIN

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Fabian Mauch

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Inhalt

Vorwort

Zahl’n – Zahl’n – Zahl’n!

Von zarter Hand!

Im Schwurgerichtssaale zu Moabit

Herr Krautz

Der Scharfrichter in seiner Werkstatt

Des Mörders letzte Stunde

Im Untersuchungsgefängnis

Soldaten-Ede

Berlin und die Sonnenfinsternis

Eine Berliner Halbferien-Kolonie

Zur Litteratur der Berliner Straßenschilder

Der Hüter der Morgue

Der Damentag und die Pohlmänner

Vormittags bei Vater Renz

Hinter den Coulissen

Drei Stunden Zuchthaus

Unter den »wilden Männern«

Im Dienste des »Census«

Im Reiche der Desinfection

Eine Nacht bei der Fleischschau

Herr Wickersheimer

Unten durch!

»Hotel Barnim«

Auf dem Schlachthofe

Berliner Wasser

Anmerkungen

Nachwort

Editorische Bemerkung

Quellennachweise

Vorwort

zur Buchausgabe

(1889)

Nur wenige Worte der Einführung – fast möchte ich sagen, der Entschuldigung – will ich diesem Werkchen, dem Ergebnisse so mancher ernsten und lustigen journalistischen Erforschungsfahrt, vorausschicken. Die Entschuldigung sei nur angesichts der Ansprüche der Kritik an den Begriff»l i t t e r a r i s c h e rW e r t«ausgesprochen. Muß eines jeden Schriftwerkes Tugend inD i e s e mvornehmlich bestehen, so konnten die nachfolgenden anspruchslosen Seiten füglich ungeschrieben bleiben. Wenn ich zu ihrer Empfehlung als Autor überhaupt etwas sagen darf, ohne dem nachsichtigen Leser gegenüber die Grenzen der Bescheidenheit zu überschreiten, so nehme ich für die Resultate meiner journalistischen Streifzüge allenfalls einen kulturhistorischen Wert in Anspruch. Diesen leite ich von dem Umstande her, daß die nachfolgenden Bilder nicht am bequemen Schreibtische des phantasiereichen Feuilletonisten gemalt, sondern mit beträchtlicher Nichtachtung gegen die »ästhetischen« Gesetze der Feuilletonproduktion, nach der Natur gezeichnet sind. Sie sollen sich von den zahllosen »Bildern aus dem Berliner Leben« ebenso unterscheiden, wie ein mit wahrer oder eingebildeter Künstlerschaft ausgeführtes Ölbild von einer unretouchierten Momentphotographie.

Zu diesem Behufe wählte ich den Wege i g e n e rA n s c h a u u n gundp e r s ö n l i c h e rU n t e r r e d u n g.Bei den »Streifzügen«, von denen ich auf den nachfolgenden Blättern erzähle, schwebte mir der echte amerikanische»R e p o r t e r«vor, welcher hier nur dem Namen nach existiert und bei unseren fast noch embryonischen, stark beengten, zum Teil noch zopfigen Preßverhältnissen, auf deutschem Boden jetzt auch noch nicht gedeihen kann. Wie der amerikanische Reporter – da ihm als gesellschaftlich wohl angesehenem Menschen Thür und Thor allenthalben offen stehen – auf Grund persönlicher Unterredungen, sogenannter»I n t e r v i e w s«sich in seinen Schilderungen einer oft gradezu frappierenden Realistik befleißigt, wie er mit dieser Realistik Dinge und Menschen schildert, und zwari n t e r e s s a n tschildert, welche bei oberflächlicher Betrachtung kaum interessant genug erscheinen, so habe ich nach den gleichen Grundsätzen es versucht, meine Themata zu wählen und sie zu bearbeiten.

Es sind somit die nachfolgenden Schilderungen zum Teil aus Gebieten geschöpft, welche dem großen Publikum fernstehen, andernteils erzählen sie aus ganz nahestehenden Gebieten Details, nach welchen der Großstädter oft in traulichem Selbstgespräche sich fragt, ohne eine Antwort darauf zu finden. Es ist eine unzweifelhafte Thatsache, daß so mancher Berliner gern wissen möchte, auf welcher Basis geschäftlicher Hoffnungen und Einrichtungen die Wiener Cafés in der Reichshauptstadt gleich Pilzen aus der Erde emporschießen, welche Gedanken und Empfindungen den Mann bewegen, der in der düsteren Morgue seines traurigen Amtes waltet, wie der Mann der äußersten, blutigen Gerechtigkeit, der Scharfrichter, lebt und denkt und sich bewegt! – –

Diese und ähnliche Dinge habe ich versucht in diesem Büchlein zu erörtern, nachdem ich selbst allen diesen Verhältnissen mit dem forschenden Auge und dem fragenden Munde des Reporters gegenübergetreten bin. Ist es mir gelungen, hiermit neue Streiflichter auf die erörterten Erscheinungen zu werfen und dabei auf kurze Zeit des Lesers Interesse zu fesseln, so ist die Mission dieser Blätter erfüllt.

Berlin, im Februar 1889.

Der Verfasser.

Zahl’n – Zahl’n – Zahl’n!

Unzähligemale unterbrach mich dieser Ruf während der beschwerlichen Aufgabe, den Zahlkellner eines der in Berlin jetzt zu so hoher Blüte gelangtenW i e n e rN a c h t-C a f é szu »interviewen«.

»Nacht-Café« sage ich absichtlich und verstehe darunter diejenigen Lokale, in denen sich das Berliner Nachtleben in seiner ganzen Eigenart konzentriert. Am Tage sehen diese Cafés verhältnismäßig öde aus, und bis in die frühen Vormittagsstunden hinein riecht es in manchen von ihnen noch nach den feuchten Schrubbern, die – lange nach Sonnenaufgang – späte, übernächtige Gäste verscheucht haben. Mit Ausnahme von drei oder vier Cafés, zu denen man etwa das Café Bauer, das Café im Hotel Alexanderplatz, Café Kaiserhof u. a. rechnen kann, sind diese Nacht-Cafés Sammelpunkt einer merkwürdig gemischten Gesellschaft: Offiziere in Zivil, Zeitungswüteriche, fesche »junge Leute« mit vollen Taschen und bierdunstgefüllten Köpfen, die »Schwarze« trinken, neugierige Fremde, stark angeduselte Nachtbummler, Bauernfänger, Zuhälter und Dirnen verschiedener Klassen in entzückenden Kostümen oder in verblichenen Stoffkleidern – je nach dem Range des Lokales, Anstand und Sittenlosigkeit, Reichtum und Elend, Vornehmheit und Brutalität in buntem Durcheinander. Gemeinschaftliche Merkmale sind: Marmortische, Sammetsofas, höfliche Kellner und Zahlkellner mit beneidenswert hübschen Schnurrbärten.

»Zahl’n, zahl’n! – Bitt’ schön zahl’n, Herr! – Eine Melange Herr, danke. – Danke seeehr, Herr.«

»Das gefällt Ihnen wohl so«, erlaubte ich mir, den stattlichen Zahlkellner zu fragen, nachdem ich ihn wieder einmal in meine Nähe gelockt hatte.

»Ich danke, – o ja, das Geschäft ist nicht schlecht.«

»Was sagt man in Ihren Kreisen zu den Klagen des Berliner Publikums über das Institut der Wiener Zahlkellner? Es ist doch eigentlich ein unangenehmes Gefühl für den Gast, jemand für die Dienste eines andern mit einem Trinkgeld zu belohnen!«

»Das Publikum kommt ganz gut dabei weg. Wir Zahlkellner geben jedem Kellner eine bestimmte Abgabe täglich. Gewöhnlich 1 Mark. Die Leute haben außerdem ihr festes Gehalt vom Wirt. Somit ist das Publikum keineswegs in der Abhängigkeit vom bedienenden Kellner, wie in einem Berliner Restaurant. Die Kellner erwarten nichts von dem Gast und sind gegen jeden gleich höflich und zuvorkommend. Bei uns kann es Ihnen nicht passieren, daß der Kellner dem bestellenden Gast zuruft:H i e ri s tn i c h tm e i nR e v i e r!und ihm die Rückseite seines Fracks zeigt. – – Schani, Paletot!« Letzteres mit einem bezeichnenden Blick auf einen sich zum Aufbruche rüstenden Herrn und einen in der Nähe stehenden Kellner.

Ich konnte dem Mann nicht unrecht geben. Höflichkeit, ja eine gewisse Gentlemen-Galanterie, die sich in recht charakteristischer Weise selbst den schnippischen Demimonde-Damen gegenüber zeigt, ist eine hervorragende Tugend des Wiener-Café-Kellners, die ihn von seinem Berliner Kollegen vorteilhaft unterscheidet.

In einem Café, das innerhalb seines etwa anderthalbjährigen Bestehens sich in geradezu bewundernswerter Weise von den bekannten unsaubern Elementen beiderlei Geschlechts freigehalten hat, sagte man mir auf Befragen, daß dies keineswegs leicht sei, und daß die Inhaber ganz unglaubliche Energie und Aufmerksamkeit anwenden müssen, um das durchzusetzen. Es erfordert Opfer und ist nicht selten eine Existenzfrage für die Lokale.

»Kommen diese Mädchen denn immer allein, und können sie etwas ›draufgehen‹ lassen?«

»Bisher durften die Damen der Halbwelt die Wiener Cafés nur in Herrenbegleitung besuchen. Das führte zu einer übermäßigen Anfüllung unserer Lokale mit ›Bärenführern‹ und Zuhältern, deren Anblick das anständige Publikum weit mehr geniert, als der dieser Damen. Diese Leute führten gegen ein kleines Geldgeschenk die Mädchen ins Café und ließen sich von letzteren ihre Zeche bezahlen. Neuerdings gestattet die Polizei den Prostituierten den Eintritt ohne Männerbegleitung, und diese Bärenführer sind dadurch ›kalt gestellt‹. Draufgehn lassen? Je nun, schauen’s. Die Damen warten eben, bis sich ein Herr zu ihnen setzt, der muß bluten. Dann trinken sie kein Bier, sondern Eispunsch, Limonade und dgl. Natürlich muß der Herr auch das bezahlen, was die Dame vorher verzehrt hat. O, die verstehn’s! Ich will Ihnen sagen, lieber Herr, daß es hier einige Cafés niederen Ranges giebt, wo die Dame auch wohl hier und da dem Herrn etwas mehr angiebt, als sie getrunken hat, ehe er sich an ihren Tisch setzte. Damit macht sie sich den Zahlkellner gewogen, von wegen Pumpen! – Na, Sie verstehn schon!?«

»Verstehe! Schwamm drüber. Kommen Sie denn beim Borgen nicht schlecht weg?«

»Selten. Wir kennen fast jede dieser Damen, teils nach ihrem wirklichen, teils nach ihrem Spitznamen. Fast jeden Abend können Sie dieselben Gesichter sehen. Viele der Mädchen setzen sich auch fast immer auf denselben Platz. Sie wissen recht wohl, daß sie gewissermaßen in ihrer Existenz von dem Besuche dieser Lokale abhängen. Darum kommen sie auch stets wieder und zahlen, was wir ihnen geborgt haben – mit Zinsen! Wir borgen’s ihnen aber auch gern ohne Zinsen. Es sind meistens gutmütige und oft bedauernswerte Mädchen. Sehen Sie dort drüben das bildhübsche Gesicht mit den braunen Augen. Das ist die sogenannte ›Bayrische Mary‹. Vor etwa drei Jahren kam sie hierher. Sie ist die vierte Tochter einer bayrischen Försterfamilie. Drei Schwestern hintereinander sind in Berlin gefallen. Nacheinander ließen sie ihre Schwestern nachkommen. Die Kleine da war kaum 18 Jahre alt, als sie hierher kam. Im Kattunkleidchen hab’ ich sie hier sitzen sehen. Jetzt – Samt, Seide, Schminke, na, man kennt das ja. Und die ist stolz, mein Herr, stolz wie eine Königin!«

Großer Gott! – – Vier Schwestern einer Familie diesem unersättlichen Moloch der Großstadt geopfert! –

»Haben Sie nicht viel Unannehmlichkeiten, Lärm, Zank und gar Schlägereien infolge dieser weiblichen Gäste?«

»Früher mehr, als noch die zweifelhaften Männer mehr mit ihnen hier verkehrten, jetzt verhältnismäßig selten. In besseren Lokalen, wie z. B. bei uns, wird strenge Zucht gehalten. Sehen Sie den Herrn dort am Ecktisch?«

Der Bezeichnete war ein robuster Herr in mittleren Jahren mit rotblondem Schnurrbart, der mit anscheinender Gleichgiltigkeit ein illustriertes Blatt studierte.

»Das ist ein Kriminal-Beamter. Er läßt sich oft genug hier sehen und kennt diese feschen Mädel alle ganz genau und ihren Anhang auch. Überdies passen wir scharf auf. In Cafés gewöhnlicherer Sorte können Sie hören, wie die Damen sich untereinander laut unterhalten. In den meisten dürfen sie dies nicht. Hier darf keine den Platz wechseln und sich etwa an einen andern Tisch setzen. Wenn eine zuwiderhandelt, wird ihr das Lokal verboten. Darauf lassen sie es nicht gern ankommen. Ja, ja, es ist eine schlimme G’schicht, Herr, mit diesen Sachen, aber was können wir daran ändern. Sollen die Mädchen immer auf der Straße liegen?«

Er hatte recht. In der Physiognomie der Großstadt wird unter den hier bestehenden Verhältnissen dieser Zug ein unverlöschlicher bleiben.

Ein jedes Ding hat seine zwei Seiten. Die Anwendbarkeit dieses Spruches auch auf diese Verhältnisse wurde mir durch eine Antwort klar, welche mir von einem Besitzer eines hiesigen Wiener Cafés zu teil wurde. Nicht ohne Überwindung einer gewissen Ängstlichkeit ließ ich etwas von Demoralisation und dergl. in Verbindung mit diesen Cafés fallen.

»Oho! Im Gegenteil. Selbst das niedrigststehende dieser Lokale hat zum mindesten den Vorzug, manchen Teil von dem jedem ins Gesicht springenden Straßenabschaum zwischen vier Pfähle zu bringen. Auch hat die ganze Organisation dieser Cafés – in diesem Falle nun wiederum der besseren – einen etwas strammen Zug in das Berliner Restaurationswesen gebracht. Nach dieser Richtung haben sie also nur günstig gewirkt. Und die Berliner haben sich auch rasch daran gewöhnt. Unsere Lokale sind ihnen unentbehrlich geworden. Wo sollten denn bei der strengen Handhabung der Polizeistunde die Leute in der Nacht hin? Sehen Sie doch her!« – –

Ja, ich sah. Volle Tische, unzählige »Melangen«, Punsche, Schokoladentassen und andere Herrlichkeiten. Ein bunter Wirrwarr von Menschenstimmen, hin- und herflatternde Zeitungsblätter, »Zahl’n, Kellner! – Bitt’ schön, zahl’n Herr!« – – ein unablässiges Echospiel zwischen Gast und Kellner, mit einem Wort ein Chaos von »Geschäft« mit sehr vielen klingenden »Silberblicken«.

Es war mir trotz mehrfacher Anfragen an verschiedenen Orten nicht möglich, sicher festzustellen, was – um vulgär zu reden – für den Wirt bei der Sache »herauskommt«. In diesem Punkte herrschte allgemeine Verschwiegenheit. Man mochte wohl die Steuerschraube fürchten. Aber so viel steht fest, ein gutes Geschäft ist’s. Mit 100 Prozent wird gearbeitet, ein Berliner sehr feines Café mittlerer Größe hat ca. 200 Mark tägliche Spesen, ein Zahlkellner hat, wenn’s einigermaßen gut geht, 200–300 Mark tägliche Losung – – nun, aus solchen Zahlenangaben kann man sich schon eine Idee von dem Verdienst machen, den die Herren haben können.

»Aber eine Idee kann ich mir beim besten Willen nicht machen, darüber nämlich, wie jener unglückliche Zahlkellner, um den sich die Gäste beständig reißen, sich vor Schaden hüten kann. Während er hin- und herspringt, können ihm meines Erachtens ein Dutzend Gäste ausreißen.«

»Übungssache, lieber Herr, und – allerlei Kniffe. Bitte rufen Sie mal den Zahlkellner.« – Ich that’s: »Zahl’n.« »Bitt’ schön, zahl’n, Herr«, rief das Echo – und prompt wurde der kleine Zuckerteller meines Kaffee-Service umgestülpt.

»Sehen Sie, das ist ein solches Freimaurer-Zeichen. Jetzt weiß der Zahlkellner genau, daß Sie bezahlt haben. Trinken Sie Punsch, bleibt ein Glas stehen, sobald Sie ein zweites bestellen. Trinken Sie Bier, bleiben die Untersetzer als Erkennungszeichen stehen. Natürlich kommt es dabei doch zuweilen vor, daß ein Zahlkellner beschwindelt wird. Aber fast ausschließlich nur in den Cafés, wo unsaubere Elemente männlichen Geschlechts verkehren. Ob mir aus meiner Praxis solche Fälle bekannt sind? Oh gewiß. Ich entsinne mich aus meiner Zahlkellner-Karriere, daß solch’ ein saubrer Kunde mir nicht weniger als sieben Bieruntersetzer unter’s Sofa bugsiert hatte, nachdem er zehn Glas Bier getrunken. Zwei wollte er laut Ausweis der Untersetzer nur getrunken haben. Das ist übrigens eine ganz gewöhnliche Praxis derartiger Zechpreller. Aber der Zahlkellner ist ihnen doch meistens über. Die alte Gewohnheit schärft die Augen, und das Wiener Blut muß halt eben das Talent gleich so mit sich bringen.«

»Haben Sie lauter Wiener Kellner? Eignen sich überhaupt nur solche dazu?« fragte ich einen der Besitzer eines großen »soliden« Cafés, welches zu den wenigen gehört, die sich das Haus haben rein halten können und selbst in später Nachtstunde ein anständiges und feines Stammpublikum aufzuweisen vermögen.

Als Antwort wies der Wirt auf einen jungen dienstbaren Geist, der in seinem ganzen Benehmen, in seinem ganzen Äußern bis zum steifen, schneeweißen Stehkragen und dem tadellosen Frack ein Bild des feschesten Wiener Kellnertums repräsentierte.

»Scheint ein tüchtiger Mensch zu sein?« Der Frack sauste mit unnachahmlicher Gewandtheit an mir vorüber.

»Sehr tüchtig und – ein Berliner. Es ist der Versuch in unsern Kreisen sehr oft gemacht worden, Berliner Kellner für die Bedienung in feinen Wiener Cafés heranzubilden. In den allermeisten Fällen ist derselbe aber mißlungen. Es läßt sich – abgesehen von den gemischten Elementen, die sich hier ins Kellnertum hineindrängen – gar nichts gegen die Solidität und den guten Willen des echten Berliner Kellners sagen. Aber die Wiener Schule ist doch eine strengere: sie giebt mehr ›Schick‹, mehr Gewandtheit und Höflichkeit. Es ist in meiner Erfahrung das erste Mal, daß ein Berliner Kellner in meinem Café derart anschlägt, wie dieser.’sliegt halt nicht drin!«

Es ist mir aufgefallen, daß man unter diesen Wiener Kellnern selten grämliche Gesichter sieht, obwohl sie doch auf die Hoffnung, je Trinkgelder von den Gästen zu bekommen, fast durchweg verzichten müssen. Dies veranlaßte mich zu der Erkundigung über die Lohnverhältnisse.

Der genannte Kellner wurde vom Wirt herangerufen. Auf die Frage: »Was haben Sie monatlich?« erwiderte der wienerisierte Berliner prompt: 96M a r k!

Die Erklärung wurde mir alsbald [gegeben]. »Sehen Sie, wir zahlen unsern Kellnern oder vielmehr ›Zuträgern‹, wie das hier heißt, monatlich 36 Mark Gehalt und 30 Mark Kostgeld, hierzu bekommt er vom Zahlkellner täglich eine Mark – macht zusammen 96 Mark. Rechnen Sie nun hinzu, daß doch ab und zu vielleicht für eine besondere Gefälligkeit ein Trinkgeld abfällt, daß die Leute bei uns Kaffee, Thee und Bier bekommen, so werden Sie einsehen, daß es bei etwa zehnstündiger Arbeit doch kein unlohnender Sklavendienst ist und daß die Kellner nicht genötigt sind, an den Gästen ihren Unwillen über etwaige Geschäftsflauheit auszulassen.«

»Und wie stehts nun mit dem Zahlkellner?« »Diese Herren haben die löbliche Angewohnheit, über kurz oder lang selbst Geschäfte zu eröffnen. Daraus ist doch wohl zu schließen, daß das ›Zahl’n, zahl’n‹ für sie ein segensreicher Zauberspruch ist.«

»Allerdings. Ein sparsamer Zahlkellner in einem flott gehenden Geschäft kann schon sein Schäfchen ins Trockene bringen. Gehalt bekommt er nicht. Seinen drei Zuträgern hat er, wie gesagt, nur je eine Mark zu zahlen, und da in den besseren Cafés ziemlich hohe Trinkgelder gegeben werden, so darf man den durchschnittlichen Netto-Tagesverdienst eines Zahlkellners auf 15 Mark schätzen!«

Ich verließ in der denkbar spätesten Nachtstunde das Lokal mit quälenden Zweifeln, ob es nicht praktischer wäre, wenn ich – – – meinen Sohn Zahlkellner studieren ließe. Die Nachtgestalten der Straße huschten um das Café umher. Neue Gäste lösten die alten ab. Die Ströme des Mokka flossen weiter und halfen den Bierdunst aus bleischweren Köpfen übernächtig aussehender Menschenkinder verscheuchen.

Von zarter Hand!

Es ist schon eine ganze Reihe von Jahren her, da blühte in der Kommandantenstraße ein jetzt noch existierendes Kellerlokal für »Wein und echte Biere«, dessen Inneres recht geschickt dem Verdeck, resp. den Kajütten eines Schiffes nachgebildet war. Ein durch die Mitte des ersten Kneipzimmers gehender Mast mit Andeutung von Raaen, ein gedrucktes Schiffsreglement und ein gemalter Steuermann, mit dem man laut Plakat »während der Fahrt« nicht sprechen durfte, vervollständigten gleich beim Eintritt die Illusion.

Aber so recht hinein in das Schiffsleben »An Bord der Gazelle« (so hieß dies merkwürdige Institut) wurde man erst versetzt, wenn einen die schmucken Bier-Nymphen mit dem unauslöschlichen Durst umschwirrten. Diese trugen nämlich – Matrosenkleidung genau nach bekanntem Theatermuster, welches den Seeleuten mit unbarmherziger Strenge unmögliche »Pumphosen«, unmögliche Jacken und unmögliche Strohhüte vorschreibt.

Ich habe keinerlei Veranlassung, das ausgelassene Treiben, welches an »Bord der Gazelle« herrschte, hier zu schildern. Zur Beruhigung aller Ehefrauen, welche nachträglich vielleicht in Erfahrung gebracht haben, daß ihre schlechteren Hälften dieses Bierfahrzeug besucht, will ich nur versichern, daß das Schlimmste, was den Gästen dort passieren konnte, darin bestand, daß diese mehr oder minder anmutigen Matrosen staunenswerte Vorliebe für alle Getränke, die über dem alkoholischen Niveau gewöhnlichen Flaschenbiers stehen, zum Schaden des Geldbeutels der Besucher, aber unter Entwickelung von »Jeist und Jrazie« geltend zu machen verstanden.

Diese Dinge in dieser Form gehören in Berlin längst zu den gewesenen. Die Hand der Sicherheitsbehörde fuhr der »Gazelle« in die Takelage und störte auch die Zirkel aller anderen Bierstuben, welche als Hauptmagnet sich kostümierter Kellnerinnen bedienten. Die Verschärfung der Polizeistunde that hiernach das Ihrige, die Zunahme des allgemeinen großen Welt-»Dalles« dezimierte die Schar der Weingäste, die viel gutes Geld für wenig schlechten Wein (den die Kellnerinnen tranken) zu geben bereit waren, und ein großer Teil der Lokale, in denen von zarter Hand bedient wurde, schlummerte ein oder fristete mit den verräucherten Portieren und den verblaßten Plüschmöbeln ein klägliches Dasein.

Jetzt hat sich auf diesem Gebiete in Berlin unendlich viel verändert. Seitdem die strenge Anmeldungs-Kontrolle im Kellnerinnenwesen eingeführt ist und gar das polizeiliche Machtwort alle diejenigen Elemente aus der Armee derer »von der zarten Hand« entfernt hat, welche noch unter einer anderen, unangenehmeren Kontrolle stehen oder standen, da beginnt sich das Berliner Kellnerinnentum in seiner durchaus eigenartigen Form arg zu verändern, ja selbst bedeutende Spuren des »Allewerdens« zu zeigen.

Es wird hohe Zeit, daß man es fixiert. Diese Aufgabe zu erfüllen war langwieriger und schwieriger, als es den Anschein hat, sie repräsentiert auch ein stattliches Resultat genossenen Bieres in widersprechendster Qualität.

Man hat zuweilen in den Blättern »Kellnerinnen-Romane« gelesen und dürfte infolgedessen geneigt sein, unter den Bier-Heben der Residenz allerlei Romantik zu suchen.

Ich habe unendlich wenig Romantik unter ihnen gefunden. Meine in zahllosen Fällen gestellte Frage: »Wie sind Sie Kellnerin geworden?« erzielte in den allermeisten Fällen das nämliche Resultat: Zwistigkeiten mit den Eltern, Mangel an Verdienst in der Verkäuferinnenbranche. Selten einmal bemerkte ich, daß die gewaltsam »Interviewte« den Kopf auf die Latzschürze niedersenkte und seufzend einige Andeutungen über betrogene Liebe und dergl. machte.

Als thatsächlich habe ich allerdings Fälle festgestellt, in denen Kellnerinnen, bei denen sich in echt menschlicher Weise der Leichtsinn mit großer Gutmütigkeit paart, Studenten, denen sie ihre Liebe zugewandt, vollständig erhalten und ihnen pekuniär durch sämtliche Examina geholfen haben. Das Ende vom Liede ist natürlich meistens gewesen, daß der Herr »Ausstudierte« die Grete, Irma, Mary oder Elly – sitzen ließ. Darin liegt allerdings ein Stück von Liebesromantik. – Übrigens hat die Berliner Kellnerin auch wenig Zeit und Gelegenheit zur Pflege sentimentaler Gefühle, mit Ausnahme der Fälle, wo sie sich in diesen oder jenen »Stammgast« verliebt und diesen zu ihrem sogenannten »soliden Verhältnis« erhebt.

Die Kellnerin unterscheidet sich hier von ihren sächsischen und bayrischen Kolleginnen vollständig dadurch, daß sie viel weniger Dienerin, Schenkmädchen, als – Gesellschaftsdame sein muß. Zum wildfremden Gaste setzt sie sich ganz in Ehren hin und eröffnet je nach der Art des Lokales, des Gastes oder auch ihrer eigenen Individualität entweder ein Kreuzfeuer von Koketterie und giebt sofort untrügliche Zeichen quälenden Durstes, oder sie sagt »Na, schmeckts?« und spricht vom Wetter.

Wir sind angesichts dieser Verschiedenheit des Dialogs bei der Klassenteilung der Kellnerinnen angelangt, welche durchaus der Klassenteilung der mit »zarten Händen« behafteten Restaurations-Lokale entspricht.

Es ist viel gegen die Kellnerinnen-Bedienung geeifert worden, ehrlich und unehrlich, von prüden Heuchlern, die den Schein wahren wollen oder müssen, von ehrlichen Beobachtern der einschlägigen Verhältnisse und von hereingefallenen Gimpeln, die sich in irgend einer »Animierkneipe« haben rupfen lassen. Die Vorwürfe sind zumeist sehr berechtigt, soweit die letztgenannten Lokale, für welche ich den in jenen Kreisen üblichen technischen Kraftausdruck gebraucht habe, in Betracht kommen. Eine Kneipe, in der »animiert« werden muß, ist ein Tempel für »Wein und echte Biere«, welcher sich durch eine große oder geringe Eleganz, eine Art von Boudoir-Charakter, auszeichnet, und in dem meist nur Flaschenbiere verschänkt werden, die bald Kitzinger, bald Erlanger, bald den dunklen Namen »Export« tragen, in denen aber auch jeder als ein »Schlamassel« angesehen wird, der sich nicht zum Weintrinken »animieren« läßt. Das Animieren hat die Kellnerin zu besorgen. Selbstverständlich liegt schon etwas »Animierendes« in der Toilette, die mehr salonmäßig als schankmäßig ist. –

Es sind manche imponierend hübsche, ja schöne Gestalten unter diesen Mädchen, manche, die mit verführerischem Liebreiz dem Gimpel zu imponieren verstehen – manche aber auch tragen im Gesicht den Stempel durchwachter Nächte, den Einfluß des Tabakrauchs und des Alkoholgenusses. Sie »klappern mit den Augen«, sie drängen und schmeicheln, und bitten und flehen, bis das Opfer entweder in Verzweiflung das Lokal verläßt, oder der niederschmetternden Verachtung sämtlicher Kellnerinnen anheimfällt, oder endlich sich herbeiläßt, den »Durst« der Hebe zu befriedigen, welche mit eiserner Konsequenz gewöhnliche Biere verschmäht und es unter Glühwein, Eiergrog und dergl. niemals thut.

Das vornehmste Strebeziel ist natürlich, Wein oder gar Sekt an den Mann zu bringen. Ein Wirt gestand mir ein, daß in diesem Punkte die Interessen der Kellnerin mit denen ihres Prinzipals solidarisch seien.

Zunächst wird sie überhaupt nur unter der Bedingung engagiert, daß sie nach allen Regeln der Kunst zu »animieren« versteht, bezw. entlassen, wenn sie diese Fähigkeit nicht besitzt. Dann aber erhält in den meisten Lokalen dieser Art die Kellnerin für jede verkaufte Flasche Wein 50 Pfennige und für Sekt gar 1 Mark. –

Man kann sich denken, daß eine talentierte Hebe alle Schleusen ihrer Beredsamkeit und Liebenswürdigkeit springen läßt. Geradezu frappiert hat mich hierbei das Talent dieser Mädchen, auf die Eigenarten ihrer Gäste einzugehen. Ich habe beobachtet, wie sie mit wunderbarem Takt auf den Ton einzugehen verstehen, welchen die verschiedenen Gäste anschlagen. Mit den Rüden verstehen sie Zoten zu reißen, den Ernsten gegenüber spielen sie mit dem Geschicke einer Komödiantin die Sentimentale – nur um ihr Ziel zu erreichen. Ist einmal ein Gimpel mit recht wohlgefülltem Portemonnaie ins Garn gegangen, so lassen die sämtlichen »Mamsells« des Lokals die andern biertrinkenden Proletarier sitzen und helfen am Tische des schließlich in eine Art von Spendierwut hinein Animierten die Gläser leeren …

Ich erinnere mich, daß einmal auf Grund statistischer Aufstellungen berichtet wurde, ein auffällig großes Kontingent zu den Magenkranken in den Berliner Krankenhäusern stellten die Kellnerinnen. Das kann für den, welcher das Treiben in diesen »Animierkneipen« nur einmal gesehen, nicht verwunderlich sein.

So verschieden nun, wie die »Bayrisch-Bierstuben«, in denen solides Faßbier zu 15 Pfennig von »zarter Hand« kredenzt wird, von den oben geschilderten Lokalen sind, so verschieden sind auch die in diesen Lokalen bedienenden »Mamsells« von ihren fashionablen und etwas zweifelhafteren Kolleginnen. Ich habe mit einigem Staunen konstatiert, daß verschiedene Mädchen in diesen einfachen Bierstuben auf die Frage: »Waren Sie schon einmal in einem Weinlokal?« in einen förmlichen Paroxismus von sittlicher Entrüstung ausgebrochen sind.

Die Kellnerin der Bayrisch-Bierstube zeichnet sich weniger durch elegante Toilette, als durch eine Massenentfaltung von weißer Schürzenfront aus. Sie ist vielleicht keine Tugendheldin, kann zuweilen Bier trinken, wie ein akademischer Fuchsmajor, ist auch niemals abgeneigt, die Spendierlust eines Gastes durch besondere Zuthunlichkeit zu unterstützen, aber sie ist durchaus dezenter als ihre »echte« Kollegin und darf – in der Regel sehen die Schankwirte streng darauf – keine gewaltsamen Animierungs-Experimente machen.

Auch habe ich hier nicht feststellen können, daß die Provisionszahlung für verkauften Wein Mode ist. Aber gerade diese Art von Bier-Heben ist die interessanteste. Man braucht nicht berufsmäßiger Psychologe zu sein, um mit höchstem, freilich wohl von Wehmut durchsetztem Interesse diese von Leichtsinn, Gutherzigkeit, Frivolität, Naivität, Halbbildung und gesunder Vernunft, Weltklugheit und Thorheit zusammengesetzten Geschöpfe zu beobachten.

Ernste harte Arbeit haben wohl nur wenige unter ihnen kennen gelernt. Sie sind es in ihrem Berufe gewöhnt, sofort fahnenflüchtig zu werden, wenn ihnen nur einmal ein Butterbrot vorgesetzt wird, das nicht den von ihnen beliebten Belag hat. Heute hier, morgen da. Es giebt Lokale, in denen jede Woche fast andere Gesichter erscheinen und das Anmeldebuch, in welches nach Polizeivorschrift sämtliche Personalien der Kellnerinnen eingetragen werden müssen, mit erstaunlicher Geschwindigkeit sich füllt.

Hier und da kommt es wohl vor, daß ein grober Ton des Wirtes oder eines Gastes den Augen des Mädchens Thränen entlockt, nur plötzlich, wo ihnen Bilder aus vergangenen besseren Zeiten aufsteigen – – im allgemeinen aber besitzen sie eine Virtuosität, sich ins Unabwendbare zu fügen, die einer besseren Sache würdig ist.

»Was ich verdiene?« rief lachend eine sehr korpulente Hebe auf meine neugierige Frage, während sie in ihren Blechmarken wühlte, welche am Büffet als Bezahlung (»zum Markieren« nennt man es) dienen. »Wenn nicht zu viele ›Sechser-Gäste‹ kommen, d. h. solche, die nie mehr als einen Sechser Trinkgeld geben, so sind’s an 3 bis 5 Mark den Tag. Aber man kann an manchen Stellen auch 10, 20, ja auch 50 Mark pro Tag verdienen. Das sind natürlich nur seltene Fälle, wenn man einen Weingast hat, dem es auf 10 Mark Trinkgeld nicht ankommt. Die werden aber jetzt selten. Manche Kolleginnen verdienen noch nicht soviel, daß sie sich Kleider und Schuhwerk kaufen können!« Gehalt geben die Wirte nie, nur das Essen. Die Jagd nach Trinkgeldern bleibt somit wohl begreiflich.

Fast gar nicht im Publikum bekannt und doch für das Berliner Kellnerinnenwesen ganz außerordentlich charakteristisch ist die Art und Weise, wie die Wirte durch Agenten mit »zarter Bedienung« versehen werden.

Ich habe verschiedene dieser Kellnerinnen-Agenturen besucht, und – man entschuldige den starken Ausdruck – ich wurde hier und da an eine Art von Pferdemarkt erinnert. Mein wohlbeleibter Cicerone – ein Berliner Bierwirt – untersuchte mit scherzhaftem Eifer bei der einen der harrenden Damen – die Zähne, als wolle er ihr Alter feststellen. In kleinen, mehr oder minder komfortabeln Zimmern sitzen da die Damen und harren der Arbeitgeber. Es bedarf wohl kaum der Versicherung, daß da nicht die Stille einer Kirche herrscht. Hier ist die Börse, wo die Erfahrungen, welche in den verschiedenen Dienststellen gemacht sind, ausgetauscht werden.

Da schnattern zwei »Echte« über die Qualität der Stammgäste bei diesem und jenem Wirt, dort erzählt eine aufgedonnerte Dicke einer schüchternen Novize, wie man die Gäste behandelt. Hier jammert eine über das schlechte Essen, das es bei X, über die kleinen Trinkgelder, die es bei Y gegeben hat. Sie kennen sich fast alle untereinander, sie wissen genau, wo die »Studenten-Mary«, die »lange Kläre«, die »böhmische Hedwig« und wie sie alle heißen, sich befinden, genau kennen sie auch ihre Qualitäten untereinander, sie wissen genau, daß die eine zu diesem Wirt, die andere zu jenem nicht paßt.

Welch’ unendliche Ironie, aber auch welch’ treffende Charakteristik liegt doch in dem Plakat, das die Wand einer dieser Agenturen ziert:

Damen, welche den Schleier nicht abnehmen,
erhalten kein Engagement!

Ja, die Vorspiegelung falscher Thatsachen ist nicht gestattet! Die Wirte, welche dort ihre Ware aussuchen, wollen nicht durch den Schimmer getäuscht werden, den ein rosiger Schleier auf ein altes, welkes Gesicht zu werfen vermag. Der Wirt muß etwas Fesches, Frisches, Junges mit heimbringen.

Und dort ist eine Thüre, hinter welcher man verdächtiges Rascheln und Flüstern hört. Ein scharfer Beobachter wird bemerken, daß sich in derselben ein Guckloch befindet. Von jenem Zimmer aus vermag der einer Kellnerin bedürftige Wirt durch Vermittelung des Guckloches seine Wahl zu treffen. Ein leidlich hübsches Gesicht fällt ihm auf, – die Trägerin wird hereingerufen. Der Agent weiß ganz genau, sowohl welchen Charakter die betreffende Schankwirtschaft hat, als auch weß Geistes Kind die Hebe ist. Darnach schlägt er sie vor, oder rät von ihrer Wahl ab. Ja, er weiß sogar ziemlich sicher, wie hoch sich der Verdienst bemißt, welchen die Kellnerinnen in dem Lokal erzielen können. Demnach erhebt er von der Engagierten eine Vermittelungsgebühr, welche zwischen 3 und 10 Mark variiert. Eine Mark zahlt die »Mamsell« an, den Rest des Geldes holt sich der Agent ratenweise von der Kellnerin, wobei er die Gelegenheit benutzt, auch einmal ein paar Glas Bier in dem Lokal »springen zu lassen«, dessen Kundschaft er sich erfreut. Die Hebe zieht immer ein recht saures Gesicht, wenn der Agent sich zeigt und sie »abladen« muß. – –

Auf Rosen sind sie nicht gebettet, die Berliner Kellnerinnen, und die Sonne des Lebens lacht ihnen nicht. Aber – sie sind doch etwas besser als ihr Ruf.

Ich habe bemerkt, daß manche Gäste weit schlimmer sind, als die Mädchen. Sie halten es für eine Art Sport, einer Jeden mit Redensarten zu begegnen, für welche der Ausdruck »Unflätigkeit« noch wie ein Lob klingt. Wer könnte in solcher Atmosphäre ein unbeflecktes Gemüt sich erhalten?

Ob wohl die nächtlichen Gestalten, welche zu später Stunde mit den papiernen »Anstandsrollen« in der Hand nach ihren einsamen Wohnungen huschen, hier und da verfolgt von den privilegierten Nachtbummlern, ermüdet, abgehetzt voll von Bierdunst und Erinnerung an wüstes Toben oder zotige Reden, ob sie wohl dann die Last ihres Standes empfinden? Sehr Viele jedenfalls nicht. Aber in Mancher erwacht doch die gute Natur, die im Begriffe Weib sich verkörpert. Wer wirft den ersten Stein auf sie? Es soll auch vorgekommen sein, daß solch’ eine Kellnerin ins Wasser gegangen ist. Der Polizeibericht sagt einfach: »Vermutlich Liebesgram!« Vielleicht war es auch Ekel am Leben! Aber was thut’s? Beim Agenten sitzen noch mehr. – – – –

Im Schwurgerichtssaale zu Moabit*

Dieser Artikel entstand am vierten Verhandlungstage gegen den des Mordes am Kaufmann Kreiß angeschuldigten Hermann Günzel. Wohin konnte man an diesem Tage als guter Berliner Einwohner seine Gedanken am besten richten, als in die Halle der Justiz, in die sich ein beträchtlicher Teil der Fünf-Viertelmillionen Berliner seit dem 20. Mai hineingeträumt, hineingedacht, hineingeredet hatte. Der Name Günzel schwebt in der Luft. Ganz Berlin hat sich zu einer Art von Geschworenenbank konstituiert. Gott sei Dank, daß die zwölf verantwortungsvollen Männer, die jetzt in Moabit über Leben und Tod entscheiden sollen, nichts von dem Tohuwabohu von Meinungen zu hören bekommen, welches überall da ausgetauscht wird, wo zwei oder drei Menschen zusammenkommen. Ja er liegt in der Luft, der Name des Mannes, der seit vier Tagen erbittert kämpft gegen die Hammerschläge der staatsanwaltschaftlichen Beweise. Als ich dem Droschkenkutscher am Morgen zurief, er solle mich nach dem Justizpalaste fahren, sagte er, verständnisinnig mit dem Kopfe nickend: »Zu Jünzeln!« – – Ja, zu Jünzeln!

Der Weg dahin führt bekanntlich durch die schönsten, stillsten, fashionabelsten Straßen der Residenz. Aber wenn man in die Nähe des Justizpalastes kommt, da sieht man über-all die ernste Regsamkeit des Alltagslebens. Es ist ein kraftvoll schlagender Puls des großstädtischen Körpers, der stolze Palast der Themis, der von außen so freundlich prunkt, aber drinnen so viel Not und Angst, so viel Schuld und Sünde, gesühnte und ungesühnte birgt. Ein und aus, ein und aus strömt dort das lebendige Blut und drinnen geht es zu wie in einem Bienenkorbe.

Was könnte man doch geistvoll »plaudern« über das Treiben in den Gängen und Sälen aller Stockwerke, bis da hinauf, wo die freie Passage häufig durch Gitterthüren unterbrochen wird, wo die schweren Sünder verhört werden, oder gar dort, wo die Übertreter des Gesetzes des richterlichen Spruches warten!

Doch treu meinem Vorsatze, in diesen »Reporterstreifzügen« nüchterne Objektivität aufrecht zu erhalten, und eingedenk meiner Aufgabe, nur schlicht zu schildern, nicht mit schönen Farbentönen zu malen, erinnere ich daran, wie sich doch Moabit charakteristisch verändert hat, seit es der »justizielle« Stadtteil der Metropole geworden. Überall sieht man die Spuren der blinden und gerechten Göttin. Wir wollen gar nicht von den Menschen sprechen, die da wohnen – angezogen von der Nähe des mit ihrem Berufe irgendwie zusammenhängenden Kriminalpalastes. Aber diese merkwürdige Fülle von schmucken Wein- und Bierstuben: sie ist auch eine Art von Wegweisern.

Natürlich: Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Kläger und Beklagte, Zeugen und Zuhörer brauchen Orte, wo sie sich stärken und erfrischen können. Auch dem »Kriminalstudenten« ist nicht allzufern seine Destille gebaut. Dabei Namen, wie »Zum Friedensrichter«, »Gerichtslaube« und ähnliches mehr, sie deuten alle auf den Justizcharakter dieses Stadtteils hin. Aber man sieht dort doch mehr ernste, betrübte und sorgenvolle Gesichter, als fröhliche.

Die Szenen aus den mit dem Geäder des Vergnügens durchwachsenen Geschäftsstadtteilen Berlins sieht man dort wenig oder gar nicht. Es ist ein reges, aber kein lustiges Treiben. Über diese Thatsache konnte mich die mit klingendem Spiel an dem Gebäude vorbeiziehende Artillerieabteilung nicht hinwegtäuschen. Zwischen den lustigen Tönen der Trompeten hindurch vermeinte ich die ernsten Zwiegespräche zwischen Richter und Beklagten zu hören, die da droben geführt wurden.

Dabei ist der große Berliner Schwurgerichtssaal kein unfreundlicher Ort. Wenn die Sonne sich ihren Weg durch die bunten Bogenfenster bahnt oder wenn die großen Kronen und Kandelaber erstrahlen, dann beleuchten sie nicht schmucklose, kahle Wände, sondern stilvolles Schnitzwerk, logenartige Galerien, pompejanischrote Tapeten, Samtportieren und – last not least – ein Kolossalbild des unvergeßlichen Kaisers Wilhelm I. in freundlichem Goldrahmen. Auch sinnige Sprüche beleben die Monotonie. Aber freilich – sie führen uns ganz und voll in den Ernst der Dinge ein, die dort verhandelt werden. Der Würde der Richter gilt das Wort über dem grünen Tische: »Jeder Richter sitzt an Kaisers Statt.«

Dem schweren Amt der Geschworenen ist der Spruch geweiht: »Urteil bindet und löset.« Der Satz steht grade über dem Raum, den man fälschlich Anklageb a n knennt, der Einzäunung, in welcher viele Stühle für viele Angeklagte stehen.

Dort sitzt auch Günzel mit dem bleichen Gesicht und den scharf hervortretenden Backenknochen, den intelligenten Augen, welche unverwandt jeden Zeugen fixieren, ob er nun zu seinen Gunsten oder Ungunsten aussagt. Er ist der Zielpunkt von zahllosen Augenpaaren, Brillen- und Operngläsern.

Dieses letztgenannte Instrument paßt sehr gut hierher, denn bis zu einem gewissen Grade macht die ganze Sache den Eindruck eines Theaters, soweit der dichtgedrängte Zuschauerraum in Betracht kommt. Die Schaulust treibt dieselben Blüten wie immer: Kampf um die Plätze, Neid gegen die Bevorzugten, die im Zeugenraume sitzen, halblaut ausgedrückte Empörung über allzubreite Schultern oder störende Körperlänge und – der durch die gezwungene Ausdauer bedingte Appetit. Wie säuberlich die Damen da ihre Apfelsinen schälen, wie sie einander mit Wasser aushelfen, wie sie die Luft mit dem Dufte von Pfeffermünzplätzchen anfüllen, wie die Herren verstohlen Butterstullen verzehren und mit vollen Backen kauend salomonische Urteile über die Schuld oder Nichtschuld des bleichen Menschen in dem unheimlichen Verschlage fällen.

Auf Momente, namentlich wenn sich der Gerichtshof zu einer Beschlußfassung zurückzieht, kann man in dem Gekicher, dem Scherzen, dem Witzereißen, das da durch die Luft schwirrt, schier vergessen, daß es sich um ein Schauspiel handelt, dessen letzter Akt vielleicht draußen in Plötzensee auf einem roten, grausigen Gerüste spielt. Dabei entgeht nichts dem Blicke dieser vieläugigen Korona.

Man konstatiert mit Interesse, daß Günzel, der zumeist unbeweglich dasitzt, und höchstens hier und da den Kopf hinter die Barriere steckt, um an seinem Salmiakfläschchen zu riechen, stets sich erhebt und verbeugt, wenn nach einer Pause sein Verteidiger eintritt, daß er einmal auch bei gleicher Gelegenheit vor dem Staatsanwalte sich verneigt und daß dieser, sein grimmer Ankläger, ihm mit einem leichten fast freundlichen Lächeln erwidert.

Es wird genau kontrolliert, wie Günzel unter dem Kreuzfeuer neugieriger Blicke seine Bouillon trinkt und sein Butterbrod ißt, wie der Ausdruck in seinem Gesichte wechselt, wie ein bleicherer Schatten über dasselbe hinhuscht, als der Zeuge S. den Hammer, den er seit kurzer Zeit vor Ostern vermißt, aufs Papier zeichnet, die Geschworenen diese Zeichnung eifrig kopieren und die Sachverständigen Geheimräte Wolff und Long einmütig erklären, der tötliche Schlag mag wohl mit der Kante eines solchen Hammers ausgeführt worden sein.

Ist es der Gedanke an die Schuld, der den unter dem Schatten der furchtbaren Anklage Stehenden erfaßt?! – Wer vermag es zu sagen? Freilich wohl drückt sich oft genug Angst in diesen an sich so starren Zügen aus. Wie er mit frecher Stirn behauptet, einen Schuldschein von dem Zeugen M. besessen zu haben, von diesem eigenhändig unterschrieben, wie sich herausstellt, daß der Schein gefälscht war, daß Lüge und wieder Lüge die Basis des ganzen »Geschäftes« war, und wie nun die Stimme des mit ruhiger Schärfe vorgehenden Präsidenten immer energischer wird, Schlag auf Schlag die Fragen auf den Angeschuldigten einhageln, da kommt auch sein gewandtes, zungenfertiges Sprechen ins Stocken und das Organ sinkt fast bis zum zitternden Flüsterton herab. Auch die Zuhörerschaft, die fashionabelsten Schauspieler und Schauspielerinnen, die Feuilletonisten, die Theaterdirektoren und – Theateragenten, die uniformierten Offiziere, die sich oben über die Brüstung der Logen beugen, die eleganten Lebemänner der guten und besten Gesellschaft, die neugierigen jungen Mädchen, die dort wie in einer Art Selekta »Menschenkenntnis« und »Gruseln« lernen und in den Zwischenpausen in Romanen lesen, sie alle werden in solchen Momenten ernster und ängstlicher, selbst die emsig schreibenden, im Schweiße ihres Angesichts arbeitenden Berichterstatter der Tagespresse blicken einen Moment auf und fixieren neugierig den Beklagten.

Wird jetzt eine Wendung der Dinge erfolgen, wird der Mann dort im Verschlage unter der Wucht der Anklage zusammenbrechen und gestehen, oder wird sich das Gefühl der Unschuld in Tönen der äußerlichen Verzweiflung Bahn brechen?

Und diese Szenen allgemeiner Spannung wiederholen sich, wie der Kriminalkommissar mit der üblichen energischen Überzeugungstreue dem Angeklagten ins Gesicht schleudert, das Blut an seinen Kleidern könne nicht von einer Kopfwunde herstammen, und dabei zeigt, wie sich der Mörder über sein Opfer gebeugt haben muß, sie wiederholen sich bei allen starren, frappierenden Widersprüchen der Zeugen gegenüber dem stereotypen Leugnen des Beklagten.

Dieser Widerstreit gegen alle Aussagen der Zeugen zieht sich unablässig durch die Verhandlung, so daß zuweilen selbst den Präsidenten seine stoische Ruhe verläßt, und ein halb fragender, halb sinnender Blick den Beschuldigten trifft.

Wie schwer erscheint da das Amt der zwölf Laienrichter, die, dem Beklagten gerade gegenüber sitzend, mit unablässiger Geduld jede Phase der Verhandlung verfolgen, sich Notizen machen, Fragen und Anträge stellen und mit gespannten Mienen in den Augen des Angeschuldigten zu lesen suchen.