Kleis, Constanze Sonntag!

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Motto

»Wenn es keine Sonntage gäbe,
wofür würden wir dann leben?«

Margaretha Ferguson

Vorwort – Einer wie keiner

Die wenigsten Menschen können sich an Montage erinnern oder an Donnerstage, nur weil sie Montage oder Donnerstage waren. Aber alle wissen noch, wie die Sonntage aussahen. Dass man endlich einmal ausschlafen konnte, den Gottesdienst besuchte, Vater den Presseclub schaute und später ein großes Essen auf dem Tisch stand. Wie man als Kind fein gemacht wurde für den Sonntagsspaziergang, also in Klamotten gesteckt, die einem jegliche Aktivität außer Geradeauslaufen übel nahmen – und dass es nachmittags wenigstens Bonanza gab. Sonntag, das war und ist, als hätten wir alle dieselbe Kindheit verbracht und als teilten wir viel mehr als bloß denselben Planeten, nämlich auch dieselben Erlebnisse und Erinnerungen. Obwohl wir an keinem anderen Tag so frei sind, folgen wir in erstaunlicher Eintracht einer über Generationen einstudierten Sonntagschoreografie. Sie ist gemacht aus all den Ritualen, Traditionen und Kulturleistungen, die sich aus der mehr als tausendjährigen Geschichte dieses besonderen Tages als wertvoll, schön, nützlich, beglückend und bereichernd herausgewaschen haben wie das Gold aus dem Flussbett des Klondike. Die Sonntagszeitung, der Sonntagsbraten, der Tatort, der Sonntagsausflug und der Sonntagsstaat gehören dazu. Nicht zu vergessen all die Zeit für die Familie, das Frühstück im Bett, der Fußball und das Strandbad. Alles »Sonntagskinder«, denen man nicht umsonst nachsagt, unter einem Glücksstern geboren zu sein.

Der freie Sonntag genießt nicht nur hohes Ansehen, sondern auch einen besonderen Schutz. 1919 wurde er als Tag, an dem fast alle Räder stillstehen sollten, in die Weimarer Verfassung aufgenommen. Dreißig Jahre später erhielt er auch in der frischgebackenen BRD als einziger Tag den Rang eines Grundrechts. Und einen Auftrag: der »seelischen Erhebung« zu dienen. Wenigstens ein Mal pro Woche sollen wir also zu etwas kommen, zu dem wir sonst kaum noch Zugang finden: zu uns selbst und unseren Bedürfnissen. Diese Hausaufgabe ist eigentlich herrlich einfach zu erledigen: aussteigen aus dem Hamsterrad, einmal nicht zur Verfügung stehen. Herausfinden, wer wir noch sein könnten außer Buchhalter, Pilot, Verkäuferin, Kanzlerin. Das summiert sich in nur sieben Jahren auf ein ganzes freies Jahr. Und zwar im Kollektiv. Denn der Witz am Sonntag ist ja, dass – fast – alle freihaben und damit Planungssicherheit für Gemeinsamkeiten. Ohne den Sonntag kein Familien- und Vereinsleben, keine Beziehungspflege, keine Bundesliga und auch nicht die geringste Chance, sich einmal in aller Ruhe frei nach Pablo Picasso den Staub der Woche aus dem Gemüt zu klopfen. Am Sonntag ist alles möglich. Auch dass man ausgerechnet diesen so grundguten und großherzigen Tag am liebsten auf Alltagsformat stutzen würde. Die Geschichte des zähen Kampfs um den freien Sonntag ist so alt ist wie der Sonntag selbst. Immer schon wurde mit Argwohn betrachtet, dass der Sonntagsmensch einmal nicht zur Verfügung steht. Nicht für die Verwertbarkeit, nicht dem Konsum. Bei aller bleiernen und auch aggressiven Spießigkeit, die dem Tag nachhängt, weiß man ja am Sonntag nie. Er ist dank der zahlreichen Rituale zwar einerseits berechenbar, aber auch gleichzeitig unkalkulierbar, gemütlich und anarchisch, großartig und kleingeistig. Kein anderer Tag bietet uns so viele Möglichkeiten, glücklich zu sein, aber auch so viele Gelegenheiten zur Traurigkeit. Auch die braucht man bisweilen. Ebenso wie die Langeweile und den Sonntagsblues. Was immer wir in uns finden, wenn wir einmal das Alltagsgetöse auf Zimmerlautstärke stellen.

Ja, der Sonntag gehört dringend verteidigt und ein für alle Mal unter Artenschutz gestellt. Und das gelingt am besten, wenn man ihn besser kennenlernt und versteht, was genau mit diesem Tag verschwinden würde, sollten wir darauf verzichten müssen. Vielleicht sogar der ganze Planet. Vermessen? Nicht wenn man weiß, dass der Sonntag die heute vielleicht letzten Rettungsringe »Nachhaltigkeit«, »Verantwortung« und »Verbindlichkeit« schon bevorratete, als man noch glaubte, ganz ohne auskommen zu können. Deshalb dieses Buch. Es wird die Bekanntschaft und damit hoffentlich auch die Beziehung zu diesem außerordentlichen Tag vertiefen und ihn als ein Phänomen würdigen, dem wir unendlich viel mehr verdanken als bloß ein paar freie Stunden für die Gartenarbeit und die Lindenstraße. Es wird sich mit den Werkseinstellungen dieses besonderen Tags beschäftigen, mit all den Zusatzfeatures, mit denen ihn die letzten Jahrhunderte ausgestattet haben. Aber auch mit seinen nächsten Verwandten, dem Samstag und dem Montag. Am Ende werden Sie hoffentlich derselben Ansicht sein wie ich: dass wir nicht weniger, sondern unbedingt mehr Sonntag in unserem Leben brauchen und mehr von dem, wofür er steht. Die Frage sollte deshalb nicht lauten: Können wir uns den Sonntag noch leisten?, sondern vielmehr: Können wir uns leisten, ihn aufzugeben? Ich glaube: Nicht einmal ein winziges bisschen. Es ist ja nicht so, dass es nicht versucht wurde. Und auch wenn es gerade mal wieder nicht sehr populär ist, aus der Geschichte zu lernen, wird hier auch ausreichend Anschauungsmaterial dafür geliefert, wie es nachweislich schon einige Male ganz und gar nicht gut ging, wenn man glaubte, ohne Sonntage auskommen zu können. Nachdem ich den Sonntag nun vermutlich besser kenne als er sich selbst, bin ich ganz sicher, dass die einzig wirklich wichtige Sonntagsfrage die ist, die in der niederländischen Novelle Zondag en maandag von Margaretha Ferguson gestellt wird: »Wenn es keine Sonntage gäbe, wofür würden wir dann leben?« Ich hoffe, Sie werden auf den folgenden Seiten keine einzige plausible Antwort darauf finden.

1 Ein Geschenk des Himmels

»Du sollst den Tag des Herrn heiligen.«

Altes Testament, 2. Mose 20

 

Es ist das dritte Gebot. Gleich nach »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir« und »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen«. Und noch vor »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren«. Als Kind habe ich mich immer gefragt, ob Moses wohl lange mit Gott diskutiert hat, damals auf dem Berg Sinai. Etwa über die Reihenfolge. Warum ihm zum Beispiel »Du sollst nicht töten« nicht so wichtig war wie »Du sollst den Tag des Herrn heiligen«. Ich fragte mich, wieso man überhaupt den Feiertag noch eigens erwähnen musste, während mir »Du sollst nicht ehebrechen« durchaus einleuchtete. Das konnte man offenbar – wie regelmäßig in den bunten Blättern zu lesen war, die meine Großmutter so mochte – gar nicht oft genug wiederholen. Der Sonntag dagegen schien mir so wenig verhandelbar wie der tägliche Sonnenaufgang. Eine Selbstverständlichkeit. Ganz anders als »Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen«. Im öden Kindergottesdienst hatte ich ausreichend Gelegenheit, mir über so etwas Gedanken zu machen. Auch darüber, ob es nicht einen besseren Platz als die Kirche gäbe, einen lang ersehnten schulfreien Tag zu verbringen. Einerseits. Andererseits schien es nur fair, Gott für all das zu danken, was er geschaffen hat: die Landschaften, die Elemente, die Kreaturen, auch Tag und Nacht, die Menschen sowieso, und natürlich den Sonntag. Diese Wurzel aller Kultur, wenn man mal annimmt, dass es Muße, Zeit und Gelegenheit sind, denen wir sämtliche kulturellen Errungenschaften verdanken. Aber nein, das dachte ich damals nicht wirklich. Ich war neun oder zehn Jahre alt und nahm einfach an, was die meisten mir bekannten Menschen heute noch annehmen: dass es sich beim Sonntag um diesen legendären siebten Tag handelt, an dem Gott mit allem fertig war. Dass wir eben tun, was unsere Vorfahren seit Jahrtausenden tun: die großartige Idee der wöchentlichen Pausentaste feiern, von deren Ursprüngen es im ersten Buch Mose heißt: »So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte.«

Der Tag des Herrn

Wie die Zahnfee oder die Behauptung, man lerne das Gerundium nicht nur für die Schule, sondern es könnte irgendwie auch fürs Leben nützlich sein, entpuppten sich später allerdings so ziemlich all meine Sonntagsannahmen als bloße Gerüchte. Erstens: Der Sonntag war keinesfalls schon immer da. Zweitens: Nicht die Kirche hat ihn erfunden. Drittens: Der erste in der Bibel erwähnte Sonntag war ein Samstag. Im biblischen Buch Exodus heißt es nämlich noch: »Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.« Das hebräische Wort »schabat« bedeutet »aufhören«, und zwar mit allem. Der »regelmäßige Streik gegen alle Arbeitszwänge«, wie der berühmte Alttestamentler Hans Walter Wolff formulierte, wurde im jüdischen Glauben als eine heilsame Unterbrechung des Alltäglichen, der Anstrengungen und der Gewohnheiten betrachtet und gleichzeitig als Erinnerung, dass Arbeit nicht alles sein sollte. Gott zu gedenken und ihm zu danken war die einzig zulässige Aktivität an diesem Tag. Für die frühen Christen hätte dieser heilige Samstag durchaus auch eine Option sein können, zumal er ja längst eingeführt war und man ihn einfach hätte mitbenutzen können: ein Feiertag für beide Religionen. Aber es war nun mal angeblich ein Sonntag gewesen, an dem das leere Grab des »Herrn« Jesu entdeckt worden war und er auferstanden sein soll. »Herrentag« wurde der Sonntag deshalb auch genannt, eine Bezeichnung, die in den romanischen Sprachen überlebt hat. Im französischen »dimanche«, italienischen »domenica«, im spanischen und portugiesischen »domingo« und im rumänischen »duminica«. Außerdem, so verargumentierten die Christen den Produktvorteil des Sonntags gegenüber dem Samstag, feierte man mit diesem ersten Tag der Woche auch den ersten Tag der Schöpfung, an dem der Herr Himmel und Erde gemacht hatte und es Licht wurde. So, wie Justin der Märtyrer im 2. Jahrhundert schrieb: »Am Sonntage aber halten wir alle gemeinsam die Zusammenkunft, weil er der erste Tag ist, an welchem Gott durch Umwandlung der Finsternis und des Urstoffes die Welt schuf.«

Die ersten Christen, eigentlich Juden, die sich zum Glauben an Christus bekannten, begingen nun zuerst den Sabbat und feierten nach Sonnenuntergang – dem offiziellen Beginn des Sonntags – die Eucharistie. Bald wurde das Ritual ganz auf Sonntagmorgen verlegt. Unter konspirativen Bedingungen traf man sich dafür vor seinem Tagwerk in privaten Haushalten. Man sah es nicht als wesentlich an, sich einen ganzen Tag frei und »heilig« zu halten, und keinen Widerspruch darin, dem Herrn zu huldigen, zu dienen und trotzdem seinen Geschäften nachzugehen. Arbeit wurde ohnehin als eine göttliche Pflicht verstanden. Außerdem blieb es eine sehr lange Weile durchaus opportun, keine so öffentliche Sache aus dem neuen Glauben zu machen. Schon im 1. und 2. Jahrhundert waren Christen nicht gut behandelt worden. Aber im 3. Jahrhundert nahm die Verfolgung im gesamten Römischen Reich schließlich so brutal-blutrünstige Formen an, wie man sie aus dem Filmklassiker Quo vadis kennt. Römische Bürger, die sich zum Christentum bekannten, wurden enthauptet, in einigen Fällen gekreuzigt oder in der Arena von wilden Tieren zerrissen. Die Abschreckung war so hochkarätig wie nutzlos. Der christliche Glaube breitete sich immer weiter aus und mit ihm das Sonntagsritual. Die Umstände mögen bisweilen sehr provisorisch gewesen sein, doch das Regelwerk war es nicht. Nicht mal ein Schrebergartenverein setzt heutzutage so viele Gebote fest, wie sie die Christen schon früh für sich formulierten. Begleitet von heftigen Diskussionen darüber, wer wann welches Gebet zu sprechen habe, wie die Lobpreisung erfolgt, wie die Lesung und die Predigt. Oder welche Substanzen und Dinge bei einer Taufe Verwendung finden sollten. Auf eine Leitlinie einigte man sich wohl ziemlich rasch und vermutlich leidlich einstimmig: dass der Tag des Herrn ein Tag der Freude sei, ein Festtag, an dem man keinesfalls fasten, sondern aus dem Vollen schöpfen wollte, einer, der mitten im Leben stattfinden sollte.

Was die Anziehungskraft des christlichen Glaubens und damit auch die Atmosphäre am »Tag des Herrn« sonst noch ausgemacht haben könnte, wird in einer frühen apologetischen Schrift, die vermutlich aus der Zeit um 160 n. Chr. stammt, beschrieben. Ein unbekannter Mann schildert hier einem anderen namens Diognet das für ihn Bemerkenswerte an den Christen: »Sie lieben alle Menschen, und doch werden sie von allen verfolgt. Man kennt sie nicht, und doch verurteilt man sie. Sie werden getötet, aber wieder lebendig gemacht. Sie sind arm, machen aber viele reich. Sie leiden Mangel an allem und haben Überfluss in allem. Sie werden geschmäht und in der Schmähung verherrlicht. Sie werden gelästert, aber gerechtfertigt. Sie werden beschimpft, doch sie segnen. Sie werden verachtet, doch sie erweisen Ehre …« Ob es die verlockende Aussicht war, »wieder lebendig gemacht« zu werden? Jedenfalls gelang es dem Christentum in kürzester Zeit, eine Fanbase aufzubauen, für die selbst Megastars wie Beyoncé heute sämtliche sozialen Medien mobilisieren müsste. Und das trotz dieses Beipackzettels, auf dem im Prinzip stand: »Man wird dich hassen, dich verfolgen, dich und deine Familie mit Folter und Tod bedrohen, und selbstverständlich wirst du in dieser Gesellschaft kein Bein mehr auf den Boden bekommen.«

Nach der Devise »Was sich nicht verbieten lässt, muss man eben großmütig erlauben« veröffentlichte Kaiser Galerius, obwohl selbst lange einer der schlimmsten Christenverfolger, im Jahr 311 das »Toleranzedikt von Nikomedia«. Es macht das Christentum zur »religio licita«, zur erlaubten Religion. Christen waren nun Zusammenkünfte erlaubt, soweit sie die öffentliche Ordnung nicht störten. Vermutlich hatte der Kaiser Sorge, die Sache mit dem Jenseits, dem Paradies und der Hölle könnte doch nicht so abwegig sein. Er soll unter einer »pestartigen« Krankheit gelitten haben und verfügte das Edikt auf dem Sterbebett. Ob Gott mit sich handeln ließ, wird er bald erfahren haben. Die Chancen dürften nicht sonderlich hoch gewesen sein, so ganz ohne die wichtigste Zutat für echte Buße: Schuldbewusstsein. Das Einzige, das Galerius bedauerte, war, dass die Hetzjagd auf die Christen nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte. Er starb nur fünf Tage, nachdem er den Erlass diktiert hatte. Zwei Jahre später, im Jahr 313, wurden durch die Mailänder Vereinbarung die Christen erstmals gewissermaßen gesetzlich anerkannt. Die Kirche erhielt nun unter anderem auch staatliche Gelder. Darüber hinaus genoss der Bischof jetzt einige staatlich wirksame Prozessrechte. Innerhalb weniger Jahrzehnte erlebte der christliche Glaube einen ungeahnten Aufschwung, bis er und das Judentum am Ende einzige offizielle Staatsreligionen waren.

Diese Karriere wäre am Sonntag vermutlich ziemlich spurlos vorbeigegangen, hätte nicht Kaiser Konstantin am 7. März 321 ein Edikt erlassen, das den Sonntag für das gesamte Römische Reich zum Ruhetag erklärt. Für alle »Richter und die Menschen in den Städten«. Auch sollten »alle Werkstätten geschlossen bleiben«. Lediglich der Landbevölkerung wurde offiziell zugestanden, weiter ihrer Arbeit nachzugehen, »denn häufig ist für das Aussäen von Getreide oder das Pflanzen von Weinstöcken ein anderer Tag nicht geeignet. Und wenn man für solche Verrichtungen nicht den richtigen Zeitpunkt einhält, geht der vom Himmel geschenkte Überfluss verloren.« Davon, dass der Tag frei war, damit man die Messe besuchen konnte, ist zwar nirgendwo die Rede, und manche Stimmen behaupten, Konstantin habe mit dem freien Sonntag vor allem seinen Gott, den der unbesiegten Sonne, »Sol Invictus« ehren wollen. Doch wie ein Helmut Kohl einmal sagte: Wichtig ist, was hinten rauskommt. Und das war die Idee eines Ruhetags, um den Herrn zu heiligen oder einfach mal freizuhaben. Die offizielle Pausenregelung galt ja für alle und mit ihr die Freiheit, wenigstens an einem Tag pro Woche allein über seine Zeit verfügen zu dürfen.

Ein großer Tyrann

So schön die Vorstellung war, einen ganzen Tag die Hände in den Schoß zu legen, die meisten konnten sich solchen Luxus nicht leisten. Meistens reichte die arbeitsfreie Zeit höchstens für den Besuch des Gottesdiensts, bevor man wieder auf das Feld ging, in den Viehstall, in die Werkstatt. Mehr als ein Jahrtausend später legte auch die Reformation wenig wert auf einen ganzen Ruhetag. Für sie war es erklärtermaßen ohnehin nachrangig, ob am Sonntag gearbeitet wird. Hauptsache, man besuchte den Gottesdienst, feierte das Sakrament, hörte die Predigt, die zum ersten Mal nicht in Latein, sondern in Volkssprache vorgetragen wurde. »Alles, was darüber hinausging, war suspekt, insbesondere alles, was geeignet war, die Vorstellung zu wecken, der Sonntag gehöre zu den ›guten Werken‹, durch die der Gläubige sich das Heil sichern könne, und sei es das ›Werk‹ des Nichtstuns.« Obwohl ein Gegner des strikten Nichtstuns aus religiösen Gründen, plädierte Martin Luther dennoch für den Ruhetag als hoch verdiente und willkommene Verschnaufpause für all diejenigen, die sonst hätten ununterbrochen arbeiten müssen. Und als Ausgleich für all die kirchlichen Feiertage der Katholiken, die man während der Reformation abgeschafft hatte. Eine weitere Etappe in der über Jahrhunderte währenden Diskussion darüber, wie viel Sabbat im Sonntag stecken sollte. Wie umfänglich man die Gläubigen am ersten Tag der Woche zu Tatenlosigkeit verdonnert.

Besonders heftig wurde sie im puritanischen England geführt. Mit dem Ergebnis, dass dort immer mehr und immer strengere Vorschriften erlassen wurden, was am Sonntag zu vermeiden sei: Praktisch jede Form von Amüsement. Sogar Spaziergänge und Bootsfahrten. Bald hieß es, wie Theodor Fontane festhielt, »die großen Tyrannen sind ausgestorben; nur in England lebt noch einer – der Sonntag«. Der berüchtigte »englische Sonntag« verbreitete sich wie Grippe bis in die britischen Kolonien. Wer nun in Neuengland am Sonntag beim Arbeiten erwischt wurde, etwa beim Pflügen oder Wäscheaufhängen, konnte zu Bußgeldern verurteilt werden. So kam man am Sonntag zwar zu sehr viel freier Zeit, allerdings nicht für Mußestunden, sondern für die Gottesdienste. Mancher hätte vermutlich sehr viel lieber gepflügt, die Scheune neu gestrichen oder sogar die Latrinen gereinigt, als an diesen Veranstaltungen von Länge (und Unterhaltungswert) einer Wagneroper teilzunehmen. Immerhin gab es eine Mittagspause, und für den Fall, dass jemand einnickte, ging der »Tithingman« durch die Reihen und schubste die erschöpften Gläubigen wieder wach. Mit einem langen Stock, um auch die in der Mitte zu erwischen. Für die Kinder, die selbstverständlich dabei waren, führte man Anfang des 19. Jahrhunderts Sonntagsschulen ein. Sie sollten der religiösen Erziehung dienen, aber es wurde genauso an der Alphabetisierung gearbeitet. Schließlich musste man lesen können, um die Bibel zu studieren. Auch wenn kirchliche Schriften oft die einzige Lektüre blieben, leisteten die Sonntagsschulen wichtige Beiträge zur Horizonterweiterung. Ähnliche Einrichtungen gab es in England und bald auch in Deutschland. Bildung, Erbauung und Sonntag bildeten nun eine stabile Assoziationskette.

Mit der Industrialisierung wurde allerdings auch für das bisschen Abstand zum Alltag die Zeit zu knapp. Die Produktivität hatte Vorrang vor allem, auch vor dem Sonntag. Die Maschinen gaben den Takt an. Sie verbilligten die Arbeitskraft und verteuerten die Pausen, für die man sie hätte abschalten müssen. Die Woche wurde nun durchgearbeitet. Nicht selten vierzehn, sechzehn Stunden am Tag, in der Textilindustrie sogar bis zu achtzehn Stunden. Sonntags flanierte lediglich der Mittelstand entspannt durch das Feiertagsprogramm: durch Gottesdienst, Sonntagsbraten, Sonntagsspaziergang und Kaffeeklatsch. Für Menschen, die nichts weiter besaßen als ihre Arbeitskraft, ging es hingegen auch am Wochenende ums nackte Überleben in bitterster Armut, mangelernährt und unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Unerbittlich lehnte Reichskanzler Otto von Bismarck, evangelisch und konservativ, die Forderung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften nach einem freien Sonntag mit der Begründung ab, die deutsche Wirtschaft könne sich eine Verkürzung der Arbeitszeit ebenso wenig erlauben wie die Festlegung von Mindestlöhnen. Und überhaupt wüssten die Arbeiter ja ohnehin nichts Sinnvolles mit so viel freier Zeit anzufangen. Anders als Bismarck, der sich nicht nur in seiner Freizeit einen soliden Ruf als Schwerenöter, Säufer und Spieler erwarb. Immerhin führte er 1883 die Krankenversicherung für Arbeiter ein, 1884 das Unfallversicherungsgesetz, und schließlich erließ der Deutsche Reichstag 1889 auch das Gesetz über die Alters- und Invalidenversicherung. Nach Bismarcks Entlassung 1890 regulierte Kaiser Wilhelm II. weitere Arbeitsschutzmaßnahmen: Beschränkung der Kinderarbeit, eine maximale Arbeitszeit von elf Stunden pro Tag und eine allgemeine Sonntagsruhe. Die wurde nach dem Ersten Weltkrieg schließlich amtlich: In Artikel 139 der Weimarer Verfassung von 1919 wird der Sonntag erstmals zu einem Grundrecht erklärt und festgeschrieben: »Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.«

Der seelischen Erhebung

Mit demselben Wortlaut legte man dreißig Jahre später den Sonntag in Artikel 140 des Grundgesetzes der jungen Bundesrepublik Deutschland auf einen bestimmten Gebrauch fest, allerdings nicht zwingend auf einen religiösen. In direkter Nachbarschaft wird nämlich auch bestimmt: »Es besteht keine Staatskirche.« Und es gibt Ausnahmen, die das Arbeitszeitgesetz regelt. Sie gelten für Arbeitnehmer in folgenden Situationen, Diensten und Örtlichkeiten:

  1. in Not- und Rettungsdiensten sowie bei der Feuerwehr,
  2. zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie der Funktionsfähigkeit von Gerichten und Behörden und für Zwecke der Verteidigung,
  3. in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen,
  4. in Gaststätten und anderen Einrichtungen zur Bewirtung und Beherbergung sowie im Haushalt,
  5. bei Musikaufführungen, Theatervorstellungen, Filmvorführungen, Schaustellungen, Darbietungen und anderen ähnlichen Veranstaltungen,
  6. bei nichtgewerblichen Aktionen und Veranstaltungen der Kirchen, Religionsgesellschaften, Verbände, Vereine, Parteien und anderer ähnlicher Vereinigungen,
  7. beim Sport und in Freizeit-, Erholungs- und Vergnügungseinrichtungen, beim Fremdenverkehr sowie in Museen und wissenschaftlichen Präsenzbibliotheken,
  8. beim Rundfunk, bei der Tages- und Sportpresse, bei Nachrichtenagenturen sowie bei den der Tagesaktualität dienenden Tätigkeiten für andere Presseerzeugnisse einschließlich des Austragens, bei der Herstellung von Satz, Filmen und Druckformen für tagesaktuelle Nachrichten und Bilder, bei tagesaktuellen Aufnahmen auf Ton- und Bildträger sowie beim Transport und Kommissionieren von Presseerzeugnissen, deren Ersterscheinungstag am Montag oder am Tag nach einem Feiertag liegt,
  9. bei Messen, Ausstellungen und Märkten im Sinne des Titels IV der Gewerbeordnung sowie bei Volksfesten,
  10. in Verkehrsbetrieben sowie beim Transport und Kommissionieren von leicht verderblichen Waren im Sinne des § 30 Abs. 3 Nr. 2 der Straßenverkehrsordnung,
  11. in den Energie- und Wasserversorgungsbetrieben sowie in Abfall- und Abwasserentsorgungsbetrieben,
  12. in der Landwirtschaft und in der Tierhaltung sowie in Einrichtungen zur Behandlung und Pflege von Tieren,
  13. im Bewachungsgewerbe und bei der Bewachung von Betriebsanlagen,
  14. bei der Reinigung und Instandhaltung von Betriebseinrichtungen, soweit hierdurch der regelmäßige Fortgang des eigenen oder eines fremden Betriebs bedingt ist, bei der Vorbereitung der Wiederaufnahme des vollen werktägigen Betriebs sowie bei der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von Datennetzen und Rechnersystemen,
  15. zur Verhütung des Verderbens von Naturerzeugnissen oder Rohstoffen oder des Misslingens von Arbeitsergebnissen sowie bei kontinuierlich durchzuführenden Forschungsarbeiten,
  16. zur Vermeidung einer Zerstörung oder erheblichen Beschädigung der Produktionseinrichtungen.

In all diesen Fällen muss die »seelische Erhebung« an einem anderen Tag stattfinden. Obwohl auch Menschen, die gesetzlich garantiert freihaben, meist mit anderen Dingen beschäftigt sind. Der hehre Anspruch an den Sonntag scheint jedenfalls nichts oder wenig mit der allgemeinen Feiertagspraxis gemein zu haben. Nichts mit dem Gebrüll der Fankurven in den Fußballstadien, nichts mit überladenen Brunchbüfetts, nichts mit den Grillrauchschwaden über den öffentlichen Grünanlagen im Sommer oder den japanischen TV-Zeichentrickserien, vor denen Vorschulkinder schon am frühen Morgen mit glasigen Augen hocken, damit ihre Eltern an eine Extrastunde Schlaf kommen. Ob die Formel 1 »seelische Erhebung« bietet, darüber kann man außerdem streiten. Sicher aber nicht darüber, worin die eigentliche Bedeutung des Sonntags liegt: überhaupt erst die Möglichkeit zur »seelischen Erhebung« zu haben. Weil alles da ist, was man dazu benötigen könnte: Freiheit, Muße, Zeit, Gelegenheit, Frühstück im Bett, die Sonntagszeitung und der Tatort.

2 Der Medienstar

Boerne: »Entweder es regnet in Münster
oder es läuten die Glocken.«
Thiel: »Und wenn die Glocken läuten
und es regnet, ist Sonntag.«

Tatort, Folge 582,
nach einem westfälischen Sprichwort

Der Tatort

Sollten Außerirdische jemals vorhaben, Deutschland zu kapern, müsste man ihnen wärmstens den Sonntag empfehlen. Besonders der Abend wäre der perfekte Zeitpunkt. Denn zwischen 20:15 und 21:45 Uhr schauen die Deutschen nicht raus, sondern Tatort.

Das ist so seit dem 29. November 1970, als die erste Folge der erfolgreichsten und langlebigsten Krimiserie des deutschsprachigen Raums in der ARD lief. Sie hieß Taxi nach Leipzig. Der Fall: Auf einem Interzonenparkplatz der DDR wird ein toter Junge in Westkleidung gefunden. Bald wird über die innerdeutsche Grenze hinaus von West nach Ost ermittelt. Erfolgreich natürlich, ebenso wie dieser fulminante Tatort-Start. Die Serie wurde so beliebt, dass bis heute mehr als tausend Folgen gedreht wurden. Für die Medienwissenschaftler Julika Griem und Sebastian Scholz ist Tatort-Schauen »nationale Kontemplation«, und sicher ist es längst irgendwo in der deutschen DNA abgelegt. Vermutlich gleich neben der Mülltrennung und der Currywurst. Wenn man in Deutschland »Sonntag« denkt, dann denkt man auch Tatort. Obwohl das Format eine deutsch-österreichisch-schweizerische Gemeinschaftsproduktion von ARD, ORF und SF/DRS ist.

Weshalb die Deutschen dem Tatort trotz wachsender Konkurrenz als heiß geliebtem Sonntagsritual so unverdrossen in Treue verbunden sind, erklärt sich dabei – bis auf wenige Ausnahmen – weniger durch die Brillanz der Drehbücher oder der Inszenierungen, sondern vielmehr durch die geradezu geniale Mischung aus Vertrautem und Überraschendem. Wobei Ersteres – wir befinden uns in Deutschland, der Homebase des Sicherheitsdenkens – stets klug ein wenig höher dosiert wurde. So war der Tatort lange vor dem Erfolg der Regionalkrimis von Anfang an immer auch Heimatkunde, ein Abbild der föderalistischen Ordnung des Landes. Jeder Sender im Verbund der ARD, das heißt so ziemlich jedes Bundesland, lieferte seine eigenen Ermittler, seine eigenen Tatorte, sein unverwechselbares Lokalkolorit, sogar bisweilen inklusive der verschiedenen Dialekte. Der Norddeutsche Rundfunk etwa zeigte 1982 die Folge Watt Recht is, mutt Recht bliewen, in der niederdeutsches Platt gesprochen und die für hochdeutsche Zuhörer mit Untertiteln versehen wurde. Zudem begleiten manche Kommissare die Zuschauer schon länger durchs Leben als die meisten Ehepartner. So etwa die Ermittler des SWR, Lena Odenthal und Mario Kopper, mit achtundzwanzig Jahren Tatort-Dienst in Ludwigshafen das langlebigste Duo, bis auch sie 2017 die Scheidung ereilte. Wie im richtigen Leben eben. Bekanntes liefern immer auch die Fälle. Alles, was Deutschland bewegte und bewegt, kam und kommt im Tatort vor: Wiedervereinigung, Terrorismus, Organhandel, Abtreibung, Globalisierung, Rassismus, Drogen, Umwelt- und Medizinskandale, Kinderschändung, Verwahrlosung, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskriminalität, die Probleme mit der Altenpflege ebenso wie die mit der Partnersuche. Anders als im wirklichen Leben löst der Tatort vielleicht nicht die gesellschaftlichen Widersprüche, aber immerhin den Mordfall, und man geht nach diesem »kollektiven Läuterungsprozess«, wie Wolfram Eilenberger ihn nennt, wenigstens am Sonntag einmal beruhigt ins Bett.

Und zwar ein wenig klüger. Jedenfalls was die so wichtige Herzensbildung anbelangt. Der TatortTatortTatortTatort