Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Ausnahmen hierzu finden Sie in unserem Personen-/ Ortsregister.

BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

2019

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia Buch GmbH, Bozen

Umschlag: Nele Schütz Design, München

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: CPI Moravia Books s.r.o.

ISBN 978-88-6839-385-4

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Für Antonia, Franziska,
Elisabeth und Magdalena

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel
  2. Kapitel
  3. Kapitel
  4. Kapitel
  5. Kapitel
  6. Kapitel
  7. Kapitel
  8. Kapitel
  9. Kapitel
  10. Kapitel
  11. Kapitel
  12. Kapitel
  13. Kapitel
  14. Kapitel
  15. Kapitel
  16. Kapitel
  17. Kapitel
  18. Kapitel
  19. Kapitel
  20. Kapitel
  21. Kapitel
  22. Kapitel
  23. Kapitel
  24. Kapitel
  25. Kapitel
  26. Kapitel
  27. Kapitel
  28. Kapitel

Prolog

Sie brauchte das Licht der Stirnlampe nicht. Der helle Schein des Vollmondes wurde vom Schnee reflektiert und so lag die atemberaubende Landschaft silbrig glänzend vor ihr. Unberührt und rein, als wäre sie der erste und einzige Mensch hier oben. Tief unter ihr konnte sie die Umrisse der Hütte am Lettazogl1 erkennen. Obwohl sie während des steilen Aufstiegs schwitzte, brannte jeder Atemzug eiskalt in ihren Lungen. Geschmeidig zog sie ihre Tourenskier durch den weichen Neuschnee. Es war nur das leise Klacken der Bindungen gegen die Skier und das Einstechen der Stöcke in den Schnee zu hören. Hier war sie in ihrem Element, eins mit der Natur um sich. Auch wenn die letzten Wochen sie vor große Fragen, Anfeindungen und Entscheidungen gestellt hatten, fühlte sie sich nun mit sich im Reinen. Die Anspannung, die sie noch unten im Tal fest im Griff gehabt hatte, fiel mit jedem Schritt mehr von ihr ab. Sie konzentrierte sich nur auf ihren Atem. Ein kurzer Blick auf ihre Pulsuhr bestätigte ihr, dass ihre Herzfrequenz im perfekten Bereich lag. Als sie die Richtung änderte, blies ihr der Wind auf einmal scharf ins Gesicht. Sie zog die Kapuze noch enger zu, sodass diese fast ihr ganzes Gesicht bedeckte und nur die Augen freiließ.

Einige hundert Meter später blieb sie stehen und lauschte. Stille.

Im hektischen Alltagsleben gab es das höchst selten: absolute Stille. Kein Rascheln, kein Rauschen, jegliches Geräusch wurde von der dicken Schneeschicht geschluckt. Dann vernahm sie das, worauf sie gewartet hatte. Dieses schaurig schöne Heulen eines Wolfes. Es durchschnitt die Nachtruhe und legte sich über die Hänge wie ein sehnsuchtsvolles Lied. Sie wartete, bis sich ihr Atem beruhigt hatte, und ging dann vorsichtig weiter. Das Tier musste links oberhalb Richtung Hörnle sein. Immer wieder blieb sie stehen und lauschte dem wehmütigen Klagen des Wolfes.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob sie hinter sich etwas hörte. Sie drehte sich um. Nichts. Den Hang hinauf führten nur die Spuren ihrer Skier. Oder doch? Bewegte sich bei den kleinen Lärchen, ein gutes Stück tiefer, ein Schatten? Waren die Wölfe dort unten? Hatte sie sich getäuscht? Sie schob sich die Kapuze vom Kopf, um besser hören zu können. Aber es war wieder vollkommen still. Trotzdem konnte sie sich des unguten Gefühls, dass dort unten etwas lauerte, nicht erwehren. Sie setzte die Kapuze wieder auf und ging schneller.

Sollte sie jemanden anrufen? Nur zur Sicherheit, damit jemand wusste, wo sie war? Ach was. Sie war schon unzählige Male nachts allein hier oben gewesen. Warum sollte ihr ausgerechnet heute etwas zustoßen? Sie ließ sich schon von der Furcht der Leute im Dorf anstecken. Hier oben war sie vollkommen sicher, versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr Herz schneller schlug und sie sich immer wieder ängstlich umwandte.


1 Alle kursiven Begriffe werden im Glossar am Ende des Buches erklärt.

1.

Nach einer nervenaufreibenden Fahrt von Berlin nach Südtirol konnte Amalia endlich in Vintl von der viel befahrenen Pustertaler Straße abbiegen. Mit jedem Kilometer wurde der Verkehr weniger und Amalia sog den Anblick der in der blassen Wintersonne glitzernden Landschaft in sich auf. Jede Kurve war ihr vertraut wie die Linien auf ihrer Hand. Je weiter sie ins tief verschneite Pfundrer Tal hineinfuhr, desto größer wurde die Vorfreude. Sie konnte es kaum erwarten, wieder zurück zu sein.

Obwohl sie ihren Heimatort vor vielen Jahren – erst zum Studium und später für ihren Beruf – verlassen hatte, hatte für sie in all diesen Jahren der erste Blick auf das kleine Bergdorf am Ende des engen V-Tales nie etwas von seinem Zauber verloren: Mächtige Dreitausender der Zillertaler Alpen im Hintergrund, weiße Hänge, auf denen einsame Berghöfe jedem Wetter trotzten, und davor der Kirchbichl, auf dem die kleine Dorfkirche St. Martin thronte und der jeden Besucher huldvoll begrüßte. Die Häuser von Pfunders schienen sich unter der tiefen Schneedecke noch enger aneinanderzuschmiegen.

Hier würde sie nun ihr neues Leben beginnen. Nachdem ihre geliebte Großmutter Zille letzten Sommer verstorben war, hatte Amalia sich entschieden, von Berlin zurück hierher zu ziehen. Diese Entscheidung war ihr nicht leichtgefallen, da sie sich in Berlin inzwischen sehr erfolgreich als Modefotografin etabliert hatte. Der Entschluss, ihre aussichtsreiche Karriere gegen einen Neuanfang als freie Fotografin in der Provinz einzutauschen, hatte ihr so manch schlaflose Nacht bereitet und Unverständnis bei ihren Berliner Bekannten hervorgerufen.

Doch das Heimweh und die Sehnsucht nach dem einfacheren Leben hier in den Bergen mit ihren alten Freunden hatten überwogen. Außerdem … es gab hier den attraktiven Felix, mit dem sie im Sommer eine vielversprechende Liebesbeziehung begonnen hatte. Also hatte sie nun endgültig ihre Zelte in Berlin abgebrochen und sich mit einer legendären Abschiedsparty von ihrem bunt zusammengewürfelten Berliner Freundeskreis verabschiedet.

Im kleinen Vorgarten des schmalen, im Südtiroler Stil gebauten Hauses türmte sich der Schnee fast in Höhe des Gartenzaunes. Über die Außentreppe ging sie in den ersten Stock, sperrte die Tür auf, trat ein und staunte nicht schlecht. Omas Haus war fast nicht wiederzuerkennen. Die Männer der Berliner Umzugsfirma hatten ganze Arbeit geleistet. Da sie noch einige Aufträge für Fotoshootings hatte abwickeln müssen, hatten sich Freunde vor Ort um den Umbau gekümmert. Unten war eine geräumige Dreizimmerwohnung entstanden, die Amalia vermietete, und oben war ihr eigenes neues Reich.

Mit großen Augen blickte sie sich in der Wohnung um. Aus dem ehemaligen Atelier ihrer Oma war ein großer Wohnraum mit Küchenzeile geworden, aus der Dunkelkammer ihr Büro und aus ihrem alten Kinderzimmer ein elegantes Schlafzimmer. Ihre Berliner Möbel machten sich hier großartig. Die hölzernen Dachbalken, die freigelegt worden waren, gaben dem hohen Raum Wärme und bildeten einen schönen Kontrast zu ihrer hellen Ledercouch. Ihr Blick fiel auf die Küchenzeile, wo in verschiedenen Gläsern Gewürze, Müsli und Nudeln zu sehen waren.

Auf dem kleinen Esstisch standen ein Adventskranz und ein Teller mit Weihnachtsplätzchen. Hier mussten Hilda und Evi Hand angelegt haben. Evi war seit Kindertagen ihre beste Freundin und Hilda war die engste Vertraute ihrer Großmutter gewesen. Nachdem die letzten Monate für Hilda und ihren Mann nicht leicht gewesen waren, hatten sie sich entschieden, über Weihnachten zu verreisen, und sie befanden sich momentan auf einer vierwöchigen Kreuzfahrt in der Karibik.

Hilda musste noch bis kurz vor der Abreise in Amalias Wohnung gewerkelt haben. Keinesfalls durfte sie vergessen, sie nach der Rückkehr zum Essen einzuladen. Sie lächelte glücklich. Es fühlte sich an wie heimkommen. Alle hatten sie geholfen, ihr bei ihrer Ankunft ein behagliches Zuhause zu bieten. Eigentlich hatte sie schon an Weihnachten hier sein wollen, aber in letzter Sekunde war ein Auftrag dazwischengekommen, sodass sie es erst nach den Feiertagen geschafft hatte.

Amalia trat an die große Fensterfront, durch die die kraftlose Wintersonne das ehemalige Atelier mit klarem Licht durchflutete. Mit Schnee angezuckert lagen die Pfundrer Berge vor ihr. Sie konnte hinauf zum Gampiel und hinüber bis zum Hegedex sehen, dessen markante Flanke strahlend weiß glitzerte. Doch ihr Blick verweilte nur kurz auf dem beeindruckenden Panorama, denn er wanderte bald wie magisch angezogen zum Nachbarhaus. Dort wohnte, so lange sie denken konnte, Felix, ihr Jugendfreund und Kamerad, doch seit letztem Sommer so viel mehr. In der schwierigen Zeit nach dem Tod ihrer geliebten Großmutter hatte er ihr beigestanden. Der Verlust war für Amalia hart gewesen, denn die rüstige alte Frau hatte sie aufgezogen, nachdem ihre Eltern verunglückt waren. Seit sie drei Jahre alt war, war ihre Oma deswegen für sie die wichtigste Bezugsperson auf der Welt gewesen. In den Nachwehen der dramatischen Ereignisse rund um den Tod der Großmutter hatte zwischen ihr und Felix eine leidenschaftliche Beziehung begonnen, die sich leider ziemlich abgekühlt hatte, seit sie nach Berlin zurückgekehrt war.

Mit gerunzelter Stirn dachte Amalia an ihre letzte Begegnung zurück. Sie hatte Felix hoch und heilig versprochen, innerhalb von zwei Wochen endgültig nach Pfunders zurückzukehren, hatte dann aber den Umzug wieder und wieder verschoben. Felix hatte ihr vorgeworfen, ihn hinzuhalten und unzuverlässig zu sein. Sie hatte ihn ihrerseits beschuldigt, engstirnig zu sein und sie einzuengen. Nach einigen zornigen Telefonaten herrschte seit vier Wochen völlige Funkstille zwischen ihnen.

Das ist das Erste, was ich in Ordnung bringe, schwor sie sich. Ihr war klar, dass sie sich nicht korrekt verhalten hatte, doch ihr war der Abschied von Berlin viel schwerer gefallen als gedacht. So hatte sie sich immer wieder hinreißen lassen, einen „allerletzten“ Auftrag als Fotografin anzunehmen, um den Umzug verschieben zu können.

Wenn ich meine Berliner Wohnung nicht zum Jahresende gekündigt hätte, wäre ich wahrscheinlich immer noch nicht in Pfunders, dachte sie reumütig. Felix gegenüber hatte sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, ein ziemlich schlechtes Gewissen. Er war es gewesen, der sich in ihren langen Abwesenheiten darum gekümmert hatte, dass der Umbau voranging. Sogar seinen eigenen Hausbau hatte er hintangestellt, und sie hatte ihn zum Dank von Termin zu Termin vertröstet, bis er die Geduld verloren hatte.

Den Rest des Nachmittags verbrachte Amalia damit, ihren feuerroten Mini, der bis unter das Dach mit ihren letzten Habseligkeiten aus Berlin vollgeladen war, auszuräumen und Kisten, Taschen und Koffer ins Haus zu schleppen.

Draußen war es bereits dunkel, als das größte Chaos beseitigt war und alles seinen Platz gefunden hatte. Lediglich in ihrem Büro stapelten sich noch Umzugskartons bis zur Decke, obwohl sie in Berlin schon kräftig aussortiert hatte. Diese enthielten alles, was sie für ihre Arbeit benötigte, und waren zusammen mit den Möbeln angeliefert worden.

Sie sah auf die Uhr. Nach sieben. Mit Heißhunger machte sie sich über die Plätzchen her und ging anschließend in ihr frisch renoviertes Bad. Kritisch blickte sie in den Spiegel. Evi hatte ihr per WhatsApp mitgeteilt, dass heute Abend eine eilig einberufene Bürgerversammlung stattfand, die die Rückkehr der Wölfe ins Pfundrer Tal zum Thema hatte. Das war die Gelegenheit, Felix unverfänglich zu treffen und sich endlich auszusprechen. Dafür wollte sie bestmöglich aussehen.

Sie rümpfte die Nase über das Bild, das der Spiegel ihr zeigte. Ihre großen grünen Augen blickten ihr ziemlich müde entgegen, ihr Gesicht wirkte wegen der vielen Weihnachtsfeiern und adventlichen Leckereien runder als noch im Sommer und ihr ausgeleierter Lieblingspullover hing an ihr wie ein alter Sack. Nur mit ihren Haaren war sie zufrieden. Dank einem letzten Friseurbesuch in der Großstadt, den sie sich gestern gegönnt hatte, fielen sie in seidig glänzenden dunkelbraunen Locken auf ihren Rücken und umrahmten ihr Gesicht vorteilhaft. Schnell stellte sie sich unter die Dusche und schlüpfte danach in einen dunkelblauen Wollpullover und saubere Jeans. Noch ein bisschen Wimperntusche und Lippenstift. So viel Zeit musste sein. Nachdem sie den ganzen Tag im Auto und im Haus verbracht hatte, beschloss sie, die hundert Meter zur Feuerwehrhalle, wo die Versammlung stattfand, zu Fuß zu gehen.

„Hallo, sind Sie Frau Engl?“, hörte Amalia hinter sich eine dunkle Frauenstimme rufen.

Überrascht drehte sie sich um. Vor ihr stand eine braunhaarige, kleine, sehr schlanke Frau mit einem burschikosen Kurzhaarschnitt und strahlend blauen Augen in einem schmalen Gesicht. Ihre zu einer feinen Linie gezupften dunklen Augenbrauen bildeten einen aparten Kontrast zu ihrer hellen Haut.

„Ja, das bin ich“, sagte Amalia und schaute die Fremde abwartend an.

„Ich sah Sie aus dem Haus kommen und nahm an, dass Sie die Eigentümerin sein müssen. Mein Name ist Dr. Bettina Sommer und ich bin seit Anfang September Ihre Mieterin.“

Amalia lächelte freundlich. Hilda hatte es in ihrer Abwesenheit übernommen, einen Mieter für die Wohnung im Erdgeschoss zu suchen. Amalia wusste über ihre Mieterin nur, dass sie aus München kam, fünf Jahre älter als sie selbst, also 36, war und eine feste Anstellung an der Fakultät für Biologie an der Ludwig-Maximilians-Universität hatte. Frau Sommer hatte einen befristeten Mietvertrag für ein halbes Jahr unterschrieben, um ein Forschungsprojekt über Wölfe in Südtirol zu leiten. Da alles Vertragliche per E-Mail oder Post geregelt worden war, hatten sie sich nie persönlich kennengelernt.

Amalia streckte ihre Hand aus. „Das ist nett, dass wir uns so schnell kennenlernen. Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl.“

Die Biologin drückte kurz, aber fest ihre Hand. „Ich finde es sehr schön hier, die Abgeschiedenheit und die Unmittelbarkeit der Natur gefallen mir.“

Amalia nickte zustimmend und deutete talwärts. „Vielleicht können wir in den nächsten Tagen einen Kaffee miteinander trinken, um uns kennenzulernen, nur jetzt muss ich los. Heute ist eine Bürgerversammlung und ich bin schon spät dran.“

„Dann begleite ich Sie, dahin bin ich auch unterwegs. Keine Sorge, ohne mich fangen die nicht an“, sagte Frau Sommer selbstbewusst.

Amalia lachte ein wenig verkrampft, weil sie nicht sicher war, ob die Biologin das tatsächlich ernst meinte. Sie musste sich bemühen, mit ihr Schritt zu halten. Für eine so kleine Person legt die ein ganz schönes Tempo hin, dachte Amalia. Neben der hageren Frau, die einen Kopf kleiner war und eine eng geschnittene hellgrüne Sportfunktionsjacke trug, kam sie sich in ihrer dicken Daunenjacke und mit ihren Weihnachtskilos vor wie ein Elefant.

Sie plauderten über das Wetter und ihr fiel auf, dass Frau Sommer, obwohl sie aus München kam, reinstes Hochdeutsch sprach.

Als sie die hell erleuchtete Feuerwehrhalle erreichten, gingen sie um das Haus herum zum Eingang des Saals. Die Biologin nickte ihr kurz zu und ging zielstrebig zu einer Gruppe Männer, die zusammen vor der Tür standen.

Amalia holte tief Luft und betrat den angenehm beheizten Raum.

„Amalia, hier!“

Amalia blickte suchend umher, bis sie eine wild winkende Evi entdeckte.

„Komm rüber! Hier sind noch Plätze frei.“

Sie bahnte sich den Weg durch die gut besetzten Stuhlreihen und wurde immer wieder von Bekannten und Freunden aufgehalten, die sie herzlich begrüßten.

Endlich kam sie bei Evi an, die aufsprang und sie überschwänglich in die Arme nahm. „Du bist wieder da. Und diesmal für immer. Ich freu mich so.“

Amalia erwiderte die Umarmung liebevoll. Wie sehr hatte sie diesen quirligen Blondschopf in Berlin vermisst. Evi war seit dem Kindergarten ihre beste Freundin und selbst ihre unterschiedlichen Lebenswege hatten der Tiefe ihrer Freundschaft nie etwas anhaben können. Während sie in der Großstadt Karriere gemacht hatte, hatte Evi jung geheiratet, lebte mit ihrem Mann und drei Kindern auf einem Berghof und verließ Pfunders nur selten. Die zierliche Frau stemmte ihre mit Arbeit und Familie randvoll gefüllten Tage mit Optimismus und Lebensfreude.

„Gut schaust du aus“, sagte Amalia und meinte es auch so.

Evi trug ihr glattes Haar schulterlang. Unter frechen Ponyfransen funkelten ihre blauen Augen fröhlich hervor. Obwohl sie kein Make-up trug, wirkte ihre Haut in ihrem fein geschnittenen Gesicht strahlend und frisch.

Hinter Evi machte sich Michl, Evis Mann, bemerkbar. „Hoila, Amalia. Schön, dass du wieder da bist.“

Amalia begrüßte ihn herzlich und betrachtete ihn eingehender. Sie hatten ihn in der Schulzeit wegen seiner wild abstehenden roten Haare immer „Pumuckl“ genannt. Auch später hatte er aufgrund seiner Größe, der dicken Brille und eines kleinen Bauchs etwas Koboldhaftes für Amalia gehabt. Brille und Bauch waren nun verschwunden, die Haare hatten einen feschen, modischen Schnitt und er wirkte schlank und fit und dadurch größer.

„Ja, bin ich denn die Einzige, die an Weihnachten zunimmt? Was hast du denn gemacht?“, staunte sie.

„Zwölf Kilo sind runter“, sagte Michl und der Stolz in seiner Stimme war unverkennbar.

Evi stöhnte theatralisch. „Ja, aber den Orden verdienen wir beide. Low-Carb-Diät. Ich musste jeden Abend zweimal kochen und anschließend saß ich allein da, weil er ins Fitnessstudio wollte. Frühe Midlife-Crisis“, fügte sie so laut flüsternd hinzu, dass ihr Mann sie hören musste.

Amalia lächelte in sich hinein. Ihr gefiel es, wie Michl und Evi miteinander umgingen. Es wurde oft gescherzt und diskutiert. Beide konnten sie sowohl austeilen als auch einstecken, doch unter dem Spott und den Neckereien konnte man aufrichtige Zuneigung und tiefe Vertrautheit erkennen. In schweren Zeiten hatten die beiden fest zusammengehalten. Nie würde sie vergessen, wie Michl nächtelang mit seiner Frau im Krankenhaus am Bett von Simon gewacht hatte, als dieser mit einem halben Jahr eine Lungenentzündung hatte. Erst im Morgengrauen hatte er die Klinik verlassen, um nach Hause zum Melken zu fahren.

„Respekt, Michl“, sagte Amalia mit echter Bewunderung. „Wie hast du denn …?“

„Ja, bist du jetzt auch endlich da?“, wurde sie unterbrochen.

Neben ihr ließ sich eine ältere, ziemlich korpulente Frau, die ihre dünnen grauen Haare zu einer Flechtfrisur hochgesteckt hatte, unter lautem Schnaufen in den Stuhl fallen.

Griaß di, Nanne“, sagte Amalia und gab ihr die Hand. „Ich bin heute angekommen.“

„Zeit ist es worden. Wir warten schon seit Wochen …“, grummelte Nanne und schälte sich umständlich aus ihrem Lodenmantel.

Amalia schluckte.

Anna Steinhauser, oder die „Stoana Nanne“, wie sie im Dorf genannt wurde, war Felix’ Mutter und gleichzeitig Amalias Nachbarin. Nanne war eine etwas grobschlächtige Frau, die ihr Herz auf der Zunge trug. Sie war um die sechzig, wirkte aber durch ihre etwas behäbige Art und ihren konservativen Kleidungsstil älter. Dass sie so unwirsch auf Amalia reagierte, konnte nur bedeuten, dass Felix etwas gesagt hatte. Oh Gott, das muss ich unbedingt in Ordnung bringen, dachte sie bang.

Sie blickte sich erneut im Saal um. War Felix mit seiner Mutter gekommen? Sie konnte ihn nirgends entdecken. „Weißt’ Nanne, ich musste wegen der Arbeit …“

„Ach, Arbeit. Es gibt Wichtigeres im Leben als die Arbeit. Wirst schon noch sehen, was du davon hast“, fügte Nanne ominös hinzu.

„Pscht! Es geht los“, zischte Evi von der anderen Seite, sodass Amalia nicht mehr dazu kam, nach Felix zu fragen.

Der Bürgermeister begann die Leute im Saal zu begrüßen und die Teilnehmer der Podiumsdiskussion über die Wölfe vorzustellen.

Es waren die üblichen Personen zu diesem Thema: zwei Jäger, mehrere Bauern, ein Hotelier, zwei Gemeinderäte und, zu Amalias Überraschung, ihre neue Mieterin Bettina Sommer sowie eine ihr unbekannte junge Frau.

„Es freut uns, zwei Damen in unserer Runde begrüßen zu dürfen, die wissenschaftliche Fundierung in unsere Diskussion bringen werden. Zum einen Frau Dr. Sommer, die einen Lehrstuhl für Zoologie an der Technischen Universität München hat. Durch ihre Forschungen am „Wolf Science Center“ in Wien, das sich die Erforschung von geistigen und kooperativen Potenzialen von Wölfen und Hunden zur Aufgabe gemacht hat, gilt sie als eine Expertin für Wölfe in Mitteleuropa und setzt sich seit Jahren für ein konfliktarmes Zusammenleben von Wolf und Mensch ein. Außerdem darf ich Ihnen Celina Uhlig vorstellen, die Biodiversität, Evolution und Ökologie an der Freien Universität Berlin studiert und gerade ihre Masterarbeit für das Leibniz Institute for Zoo and Wildlife Research schreibt, in der es um Verhaltensforschung bei Wölfen geht.“

Oschpile Muggn – waren das viele Fremdwörter in einem Satz! Das müssen ja bsundos studierta Weibo sein“, brummelte Nanne mit unverkennbarer Ironie.

Amalia konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Nanne war schwer zu beeindrucken. Mit Interesse folgte Amalia der sich jetzt entfaltenden lebhaften Diskussion. Vieles war vorhersehbar. Die Bauern hatten Angst um ihre Schafe und Ziegen, die Jäger sorgten sich um das Wild, die Gemeinderäte sahen Gefahren für Spaziergänger und Wanderer, und der Hotelier Acherer befürchtete, Gäste zu verlieren.

Die beiden Wissenschaftlerinnen hielten tapfer dagegen. Celina Uhlig legte Wert darauf, öfters zu erwähnen, dass von den Wölfen im Allgemeinen keine Gefahr für den Menschen ausgehe. Der Mensch passe nicht in das Beuteschema des Wolfes. So seien in Europa in den letzten fünfzig Jahren nur vier Personen durch Wölfe getötet worden.

Frau Dr. Sommer führte aus, dass sich der Wildbestand in der Lausitz, die in Deutschland den größten Bestand an Wölfen aufwies, nicht signifikant verändert habe. Außerdem wies sie darauf hin, dass nach einer Phase der Eingewöhnung – wenn der Mensch nicht durch Jagd eingreife – sich die Anzahl der Wölfe selbst reguliere. Damit gingen auch automatisch die Angriffe auf Nutztiere stark zurück. Beide Wissenschaftlerinnen betonten immer wieder, dass der Wolf im Ökosystem eine wichtige Rolle übernehme, da er hauptsächlich kranke und schwache Tiere jage. So wäre wieder ein natürlicher Feind für Rehe und Hirsche vorhanden, was dazu führe, dass diese weniger Verbissschäden an Bäumen anrichten würden. Die Rückkehr des Wolfes bedeute außerdem, dass die Natur sich trotz der vielen Eingriffe der Menschen regeneriere, was als überaus positiv zu bewerten sei.

Es war interessant, wie verschieden die beiden Frauen, die auf der gleichen Seite argumentierten, die Diskussion bestritten. Frau Dr. Sommer war sehr sachlich, unterbrach ihr Gegenüber, wenn es zu langatmig wurde, untermauerte ihre Meinung mit Fakten, verbat sich jede Vertraulichkeit und legte auf eine korrekte Anrede wert. Den Jäger Rastbichler brachte sie jedes Mal, wenn er sie mit „Frau Sommer“ ansprach, aus dem Konzept, weil sie darauf drängte, er solle sie doch bitte „Frau Dr. Sommer“ nennen. Der arme Mann wurde nach der dritten Ermahnung knallrot und verlor gänzlich den Faden.

Sehr geschickt, dachte Amalia.

Ganz anders Celina Uhlig. Die bildhübsche blonde Frau strahlte eine unglaubliche Lebendigkeit und Leidenschaft für ihre Sache aus. Sie brachte ihre Meinung mit viel Charme und Leichtigkeit vor. Sogar der erbitterte Wolfsgegner Johannes Huber, der ein Schaf verloren hatte, war nicht gegen ihre Ausstrahlung gefeit. Der kleine drahtige Mann Ende fünfzig, der im Dorf nur der Huiba Hons genannt wurde, gab ihr anfangs barsch und hart Kontra. Er sprach im Pfundrer Dialekt und scherte sich wenig darum, dass Celina ihn oft nicht verstand, außerdem fiel er ihr immer wieder ins Wort. Doch sie ging mit Humor und sehr gewinnend auf seine Argumente ein, bis er irgendwann murmelte: „Ma, wenn du des so sogsch, klingt des gor et aso loppat.“

„Das ist ein Teufelsweib“, zischte Nanne neben Amalia. „Schau nur, wie die dasitzt. Die Jeans so eng, als wären sie aufgemalt und obenrum ist auch nicht viel der Fantasie überlassen.“

Amalia musste zugeben, dass die hübsche Studentin ihre Reize nicht verbarg, fand aber, dass die durchtrainierte, schlanke junge Frau das schwarze, mit Strass verzierte Top durchaus tragen konnte. Sie hatte weit auseinanderliegende strahlend blaue Augen, die ihre Diskussionsgegner voller Übermut anblitzten, und ein Lachen, dem alles Gekünstelte fehlte. Dadurch, dass sie kaum geschminkt war, ihr Haar in leichten Wellen auf die Schultern fallen ließ und sie mit ausladender Gestik redete, wirkte die junge Frau in Amalias Augen nicht billig, sondern jugendlich und natürlich.

„Hast gesehen, wie die des grad mit dem Huiba Hons gemacht hat?“ Nannes Kinn bebte vor rechtschaffenem Zorn. „Gestern hat der im Gasthaus noch große Töne gespuckt, dass er den zwei Deitschn heute auf der Versammlung richtig die Meinung sagen wird. Und jetzt? Schau ihn dir nur an, den alten Deppen. Sogar seinen alten Hut mit den Löchern hat er aufgesetzt. Den setzt er normalerweise immer nur auf, wenn er nach Bozen fährt, um für irgendeinen Beitrag vom Land anzusuchen. Da gibt er sich immer als armer einfältiger Bauer und in Wirklichkeit ist allein sein Maschinenpark fast eine Million wert und seine Buchführung und Verwaltung sind auf dem allerneuesten Stand. Seine Stallstiefel hat er auch an. Ich könnt wetten, dass er vor der Versammlung noch eine extra Runde durch den Schafstall gedreht hat, damit er richtig stallilan tuit. Weil gestern hat er noch gesagt, dass er die feinen Damen aus der Stadt erst einmal eine richtige Nase Landluft schnuppern lässt, weil sie sich ja immer so naturnah geben. Und was passiert? Da braucht diese Celina nur einmal mit den Wimpern klimpern und er frisst ihr aus der Hand wie eins von seinen Schafen.“

„Aber da ist er ja leider nicht der Einzige. Die macht alle Männer im Dorf verrückt“, giftete Nanne weiter. „Egal ob alt oder jung, alle steigen sie ihr nach. Sodom und Gomorrha in Pfunders, sag ich dir. Sogar Männer, von denen ich gedacht habe, dass sie wissen, wo sie hingehören, laufen ihr nach wie unser Herkules einer läufigen Hündin.“ Diese Worte begleitete Nanne mit einem so wilden Augenrollen in Richtung Evi, dass diese sich besorgt nach Nannes Befinden erkundigte.

In diesem Augenblick ging die Tür noch einmal auf und Amalia sah Felix hereinhuschen. Möglichst unauffällig setzte er sich auf den ersten freien Stuhl am Rand der zweiten Reihe. Gut sah er aus, der Felix. Für einen Moment hatte sie sein markantes, auch im Winter vom vielen Skifahren gebräuntes Gesicht gut erkennen können. Wie üblich trug er eine ausgewaschene Jeans und eine graue Softshelljacke mit dem Aufdruck der Baufirma, für die er als Bautechniker arbeitete.

Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Viel zu lange war es her, dass sie ihn gesehen oder seine Stimme gehört hatte. Deutlich wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Am liebsten wäre sie sofort aufgestanden, zu ihm hingelaufen, hätte ihn stürmisch umarmt, leidenschaftlich geküsst und wäre durch sein wie immer strubbeliges blondes Haar gefahren. Hätte alles wieder in Ordnung gebracht, was die letzten Monate so schiefgelaufen war. Das ging natürlich nicht. Sie war ja kein Teenager mehr. Außerdem schwante ihr bereits, dass die Missklänge, die durch ihr Zaudern entstanden waren, sich nicht so leicht aus der Welt schaffen ließen. Nochmals schaute sie hinüber und versuchte einen Blick von ihm zu erhaschen. Vergeblich. Konzentriert blickte Felix nach vorne und folgte dem Geschehen. Er schien sie nicht bemerkt zu haben. Vielleicht konnte sie ihn am Ende der Veranstaltung abpassen. Sie mussten sich unbedingt so schnell als möglich aussprechen.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, weil die Diskussion vorne wieder turbulenter aufflammte. Die junge Studentin Celina Uhlig und der Hotelier Walter Acherer lieferten sich einen heftigen Schlagabtausch. Es überraschte Amalia, wie emotional der sonst so beherrschte Geschäftsmann wurde, als er von einer Touristin berichtete, die auf einer Wanderung einen Wolf gesichtet hatte.

„Sie sprechen hier leichtfertig von meiner Existenz, junges Fräulein“, stauchte er die Studentin zusammen. „Wenn sich die Gäste nicht mehr sicher fühlen, kommen sie nicht mehr. So einfach ist das. Wenn Sie mir dann erzählen wollen, dass der Wolf ein soziales, intelligentes Wesen ist, kommt mir das nicht nur weltfremd, sondern gemeingefährlich vor.“

„Herr Acherer, ich wollte Sie gar nicht verärgern“, antwortete Celina Uhlig mit einem entwaffnenden Lächeln. „Es ist nur bewiesen, dass Wölfe in der Regel keine Menschen angreifen. Wenn Ihnen tatsächlich ein Wolf begegnet, ist es nur wichtig, dass Sie Ruhe bewahren und nicht wegrennen. Das könnte den Jagdinstinkt des Wolfes wecken. Aber wenn Sie sich – genau wie bei einem Hund, den Sie nicht kennen – langsam entfernen, wird Ihnen mit Sicherheit nichts passieren.“

„Mit Sicherheit nichts passieren“, wiederholte Acherer höhnisch. „Wer sind Sie denn, dass Sie so etwas garantieren wollen? Wenn dann doch etwas passiert und eine Person verletzt oder getötet wird, heißt es: das war ein ‚Problemwolf‘ … normalerweise sind die Viecher ganz harmlos. Der Schaden ist dennoch angerichtet. Die Gäste bleiben weg und ich kann zusperren.“

„Es ist sehr bezeichnend, dass Sie sich in ihrem Beispiel mehr um das Ausbleiben der Gäste sorgen als darum, dass eine Person verletzt oder gar getötet würde“, schoss die Studentin zurück.

„Ich sehe das Gesamtbild: die Konsequenz für unser Feriengebiet. Auch möchte ich als Jäger und Familienvater, dass wir uns frei in unseren Wäldern bewegen können, ohne die Sorge, von einem Rudel Wölfe angegriffen zu werden.“

„Hierzu gibt es allerdings Studien, die ganz klar belegen, dass …“, mischte sich nun Frau Dr. Sommer wieder ein und Amalias Gedanken schweiften ab. Sollte sie Felix zu sich nach Hause einladen, oder wäre es vernünftiger, sich erst einmal an einem „neutralen Ort“ auf einen Kaffee zu treffen? Oder sollte sie ihn einfach küssen, dass ihm Hören und Sehen verging, und das Reden auf später verschieben? Hoffentlich endete die Diskussion bald.

Es kam ihr unendlich lang vor, bis der Bürgermeister höflich, aber bestimmt sagte: „Ich denke, der heutige Abend war sehr interessant und wir haben viele Denkanstöße bekommen. Wir werden die Entwicklung sehr genau beobachten. Es gibt noch einige Fragen aus dem Publikum, die ich unsere Experten zu beantworten bitte.“

Nachdem nach einer schier endlosen Zeit auch die letzte Frage beantwortet war, sprang Amalia gleich auf. Sie wollte unbedingt Felix erwischen, aber Evi hielt sie zurück.

„Wo willst du denn so eilig hin? Ich habe morgen die Kinder bei meiner Schwägerin. Hast du Lust, mit mir auf eine kleine Skitour zu gehen? Du hast doch am Telefon gesagt, dass du so begeistert davon bist, dass dieses Jahr ordentlich Schnee in Pfunders liegt.“

„Ja, gern. Das ist eine bärige Idee. Holst du mich ab?“

„Ja, ich bin so um halb zehn bei dir. Früher geht nicht, weil Dagmar einen Friseurtermin hat.“

„Klasse, das passt.“ Amalia freute sich, dass Evi einen der kostbaren Tage mit ihr verbringen wollte, an denen Michls Schwester Dagmar Zeit hatte, die Kinder zu nehmen. Trotzdem hatte sie es jetzt eilig. Sie winkte der verdutzten Evi und Michl kurz zu und bahnte sich unter Einsatz ihrer Ellenbogen einen Weg nach vorne. Kurz sah sie die graue Jacke von Felix nahe dem Podium, bis ein großer Mann ihr die Sicht versperrte.

Sie wollte sich an ihm vorbeidrängen, als er sie am Arm packte und freudig ausrief: „Ja, Frau Engl, wie schön, dass Sie wieder zurück in Pfunders sind. Genau die Frau, die wir bei dem Debakel mit den Wölfen brauchen.“

Es war Walter Acherer, der in Pfunders das einzige Hotel besaß. Sie hatte im Sommer für ihn als Fotografin für seinen Hotelprospekt gearbeitet, und er war so zufrieden mit ihrer Arbeit gewesen, dass er ihr angeboten hatte, sie dem Hotel- und Gaststättenverband zu empfehlen. Sie hoffte, mit seiner Hilfe einen lokalen Kundenstamm aufzubauen. Daher unterdrückte sie ihre Ungeduld und lächelte ihn freundlich an.

„Hallo, Herr Acherer. Wie schön, Sie wiederzusehen. Ja, ich bin heute aus Berlin angekommen. Doch wie ich bezüglich der Pfundrer Wölfe helfen könnte, weiß ich beim besten Willen nicht.“

„Wir wollen der Berichterstattung, dass es bei uns in den Pfundrer Bergen gefährlich ist, entgegenwirken und planen eine Werbeoffensive für unser Tal: offline und online. Es sind sogar Berichte und Werbeschaltungen in bekannten Reisezeitschriften angedacht. Sie wissen ja selbst: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Und ihre Bilder sagen noch ein paar Worte mehr.“

Amalia konnte nicht anders, als sich durch das Kompliment des Hoteliers geschmeichelt zu fühlen. Das war typisch Acherer. Der große, gut aussehende Endvierziger mit auffällig blauen Augen, dessen blondes Haar an den Schläfen grau wurde, hatte einen weichen Mund, aber sein markantes Kinn bewahrte ihn davor, feminin zu wirken. Mit seiner überaus charmanten Art gab er seinem Gegenüber das Gefühl, geschätzt zu werden. Jedoch verbarg sich hinter der Fassade der Lässigkeit knallhartes Durchsetzungsvermögen, und wie sich Amalia gut erinnerte, ließ er, wenn es um die Arbeit ging, ein Nein nicht gelten.

Sie versuchte unauffällig über Acherers Schulter einen Blick auf Felix zu erhaschen. Ja! Da drüben war er. Er stand, mit zwei anderen Männern in eine Unterhaltung vertieft, nahe dem Ausgang. In diesem Augenblick sah Felix herüber und ihre Blicke trafen sich. Amalia hatte das Gefühl, in seinen Augen zu versinken. Für einen flüchtigen Moment kam es ihr vor, als seien nur er und sie im Raum. Sie meinte in seinen Augen ebenfalls Wiedersehensfreude aufblitzen zu sehen, aber dann wurde sein Blick kalt, er nickte ihr kurz zu und wandte sich dann wieder an seine Gesprächspartner.

„Ja, selbstverständlich arbeite ich bei diesem Projekt gerne mit. Wir können ja die nächsten Tage telefonieren und einen Termin vereinbaren“, sagte Amalia, in der Hoffnung, das Gespräch mit dem Hotelier schnell beenden zu können.

„Ja, so machen wir es. Ich melde mich bei Ihnen. Noch einen schönen Abend.“

Als Walter Acherer ihr aus dem Weg trat, sah sie, dass Felix verschwunden war. Zu schade. Immerhin wusste er jetzt, dass sie zurück in Pfunders war. Vielleicht würde er sich ja bei ihr melden, sonst würde sie morgen bei ihm vorbeischauen.

Als sie heimkam, machte sie sich noch eine Tasse Tee. An Schlaf war momentan nicht zu denken. Sie stellte sich ans Fenster und bewunderte die weiße Bergkulisse, die im Vollmondlicht sanft glänzend vor ihr lag. Es war wunderschön hier. Plötzlich hörte sie ein altvertrautes Geräusch. Das Gartentor quietschte. Gebannt schaute sie hinunter. Ein Mann betrat den Garten. War es …? Tatsächlich, es war Felix. Er hatte sie anscheinend doch vermisst. Nun würde alles gut werden. Ihr Herz begann vor Vorfreude schneller zu schlagen.

Felix’ Augen richteten sich auf ihr Fenster im ersten Stock. Was war das? Statt ihr zuzulächeln oder zu winken, sah er sie kurz ernst und durchdringend an, dann senkte er den Blick und ging weiter.

Amalia huschte instinktiv zur Seite und versteckte sich hinter dem Vorhang, als hätte Felix sie bei etwas Verbotenem erwischt. Amalia ärgerte sich über sich selbst. Sollte sie ihm die Türe gleich aufmachen oder sollte sie warten, bis er an der Tür läutete? Sie würde sich bei ihm entschuldigen und alles erklären.

Aber was war das? Statt zur Außentreppe zu gehen, die zu ihr heraufführte, blieb er vor der Haustür unten stehen. Sie hörte, wie unten ein Mann und eine Frau miteinander sprachen, leise lachten, und dann war es still. Das gab es doch nicht! Felix war zu Frau Dr. Sommer, die unter ihr wohnte, gegangen. Nach der ersten Verblüffung stellte sich Enttäuschung und Wut bei ihr ein. Der traute sich was. Warum besuchte Felix zu nachtschlafender Zeit die Frau Doktor unter ihr? Und das, obwohl er genau wusste, dass sie wieder da war. War es das, was Nanne vorher mit ihrer Andeutung gemeint hatte? Waren die beiden ein Paar?

2.

Nach einer unruhigen Nacht, in der sie sich immer wieder die Frage stellte, ob es richtig gewesen war, Berlin zu verlassen und nach Pfunders zurückzukommen, stand Amalia auf. Sie war so müde, dass sie das Gefühl hatte, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Ihr Blick fiel nach draußen. Dicke Flocken fielen unablässig vom Himmel. Einen kurzen Moment spürte sie die freudige Erregung, die sie als Kind immer erfasst hatte, sobald es richtig schneite. Ihre Freunde und sie hatten es kaum erwarten können, bis der Schnee so hoch lag, dass sie endlich Ski und Schlitten fahren konnten. Doch diese unbeschwerten Zeiten meiner Kindheit sind vorbei, dachte sie traurig.

Sie quetschte sich zu den gefühlt hundert Umzugskartons in ihr Büro. Sollte sie sie tatsächlich auspacken? Oder vielleicht gleich wieder nach Berlin zurückgehen? Denn es gab keinen Zweifel mehr: Felix hatte die Nacht im Erdgeschoß bei der Biologin verbracht. Er hatte die Wohnung nicht mehr verlassen, zumindest nicht bis zum Morgengrauen. So lange hatte sie nämlich wach gelegen und auf das Quietschen des Gartentores gewartet. Dass Felix bereits eine neue Freundin hatte, damit hätte sie niemals gerechnet. Ein Kind von Traurigkeit war er nie gewesen, was die Damenwelt betraf. Doch dass er sich so schnell tröstete, verletzte sie sehr. Wie er, ohne ein Wort zu sagen, vor ihren Augen zu einer anderen Frau ging, als hätte sie nicht einmal eine Erklärung verdient, hatte ihren Stolz empfindlich getroffen. Sie war sich seiner zu sicher gewesen.

Auch wenn sie es nur ungern zugab, der Hauptgrund für ihre Rückkehr war natürlich Felix gewesen. Für eine Beziehung mit ihm war sie bereit gewesen, ihre Karriere in Berlin aufzugeben und von Südtirol aus zu arbeiten, trotz des Risikos, viele ihrer Stammkunden zu verlieren. Was hatte sie sich denn gedacht? Dass er alles stehen und liegen lassen würde, um mit ihr wieder zusammen zu sein?

Was sie zusätzlich bekümmerte, war, dass ihr niemand etwas gesagt hatte. Wieso hatte Evi nicht in Berlin angerufen oder sie zumindest gestern vorgewarnt?

Unglücklich zog sie die erste Pappschachtel vom Stapel, der bis knapp unter die Decke reichte. Gott, war der Karton schwer. Ausgerechnet die Steuerunterlagen der letzten Jahre befanden sich ganz oben. Sie versuchte ihn zu fassen, konnte ihn aber nicht halten, sodass der Karton mit Wucht auf ihren Fuß knallte. „Madoia“, fluchte Amalia, und Tränen des Schmerzes traten ihr in die Augen. Als dieser nachließ, schob sie das Ding wütend in den Flur. Sie öffnete ihn und begann, alles in die dafür vorgesehenen Regale zu verstauen.

Aufgeben war noch nie ihre Sache gewesen. Damals in Berlin nicht und hier auch nicht. Hier würde sie es auch schaffen. Mit oder ohne Felix. Wobei hier das letzte Wort noch nicht gesprochen war. Unbeirrt leerte sie Karton nach Karton.

Als sie gerade eine kleine Pause einlegen wollte, klingelte ihr Handy. Das Display zeigte den Namen „Maurice“ an und ein Foto ihres Berliner Freundes erschien. Schrille Anzüge und verrückte Brillen waren sein Markenzeichen. Maurice war wie sie Fotograf, arbeitete aber mittlerweile hauptsächlich als Stylist. In Berlin war er seit Langem einer der gefragtesten Leute in der Modebranche. Er spürte die neuesten Trends immer wie selbstverständlich auf, wusste immer genau, welchem Model welches Kleid am besten stand und an welchem Ort die besten Lichtverhältnisse herrschten.

Amalia überlegte kurz, ob sie rangehen sollte. So extrovertiert ihr Freund auch war, im Umgang mit Menschen besaß er sehr feine Antennen. Er wusste immer schon nach wenigen Sätzen, wie es ihr tatsächlich ging. Außerdem war er von Anfang an skeptisch gewesen, ob sie in der „Pampa“, wie er – der Stadtmensch – Südtirol immer nannte, glücklich werden konnte.

„Beruflich ein Desaster, Täubchen“, hatte er stets gesagt. „Und wer weiß, ob du mit Felix das große Los gezogen hast. Glaube mir, die wenigsten Männer halten, was sie versprechen. Wenn etwas schiefgeht, meine Tür steht dir immer offen, Schätzchen“, hatte er ihr mit auf den Weg gegeben.

Sie wischte mit ihrem Finger über das Display.

„Guten Morgen, Maurice.“

„Hallo, Darling, ich wollte mich mal melden. Bist du gut angekommen?“, flötete er in seiner gewohnt hohen Tonlage.

„Ja, die Fahrt war gut. Hilda und Evi haben hier ganze Arbeit geleistet. Die Wohnung ist toll geworden. Es steht schon fast alles an seinem Platz. Richtig gemütlich. Sogar selbst gebackene Plätzchen stehen auf dem Tisch“, berichtete Amalia, wobei ihr Blick auf den fast leeren Teller fiel.

Eine kurze Pause entstand.

„Was ist dann passiert, dass du so bedrückt klingst?“

Amalia schwieg. Sie wollte Maurice auf keinen Fall erzählen, dass Felix bereits eine Neue hatte.

„Ich kenne dich, Amalia. Du hast Felix mit keinem Wort erwähnt, Süße. Was ist passiert?“, hakte er auch schon nach.

Es hatte keinen Sinn, Maurice etwas zu verschweigen. Auf einmal platzte alles aus ihr heraus. Sie schilderte ihm, wie sie gestern erfahren hatte, dass Felix offensichtlich nicht mehr an ihr interessiert war und sogar schon eine neue Freundin hatte. Ausführlich legte sie ihm ihre Zweifel dar, ob der Umzug nach Pfunders richtig gewesen war und ob sie hier im Dorf wieder zurechtkommen würde, nachdem sie so lange in Berlin gelebt hatte. Mit Felix zusammen wäre alles einfach gewesen, aber so …?

Als sie nach einer Stunde das Gespräch beendete, fühlte sie sich wirklich besser. Maurice hatte sie zuerst verständnisvoll getröstet und ihr dann verbal einen Tritt in den Hintern gegeben: „Selbstmitleid hilft jetzt auch nichts. Du wolltest nach Südtirol, du bist in Südtirol. Jetzt musst du erst mal dein Bestes geben. Zeige ihnen, was für eine großartige Fotografin du bist. Bei der ersten Schwierigkeit aufzugeben und mit gesenktem Haupt zu verschwinden, würde dich später immer reuen. Jetzt beiß dich erst mal durch und in einigen Monaten kannst du eine rationale Entscheidung treffen, was für dich beruflich und privat der bestmögliche nächste Schritt ist.“

Ratschläge in Sachen Liebe konnte Maurice ihr allerdings keine geben. Seine Beziehungen hielten in der Regel keine vier Wochen. Immer war es die ganz große Liebe und immer endete es dann kurze Zeit später mit nicht enden wollenden Weinkrämpfen, mit Unmengen von Taschentüchern und kitschigen Liebesfilmen. Umso überraschter war Amalia, als Maurice ihr erzählte, dass er mit Arne, seiner neuesten Liebschaft, auf die Silvesterparty am Brandenburger Tor gehen würde. Das war Rekord. Vier Monate.

Maurice hatte ihr Arne stolz auf seiner Christmas-Party vorgestellt. Arne war groß, schlank, dunkelblond und genauso alt wie Maurice. Ein Novum. Auch sonst war er das genaue Gegenteil von Maurice’ sonstigen Eroberungen, meist Nachwuchsmodels um die zwanzig. Arne war ein zurückhaltender Informatiker und Professor an der Uni. Während Amalia sich mit ihm unterhalten hatte, war er sich immer wieder nervös durch seine Haare gefahren, die wirr und ungekämmt vom Kopf abstanden. Sein Sakko war schlicht gewesen und statt einem Hemd hatte er darunter ein AC/DC-T-Shirt getragen.

Niemals hätte Amalia gedacht, dass die Beziehung zwischen dem ruhigen Professor und dem extrovertierten Künstler andauern würde. Doch anscheinend hatte sie sich getäuscht. Maurice kam ihr geerdeter vor, nicht so überdreht wie sonst, und sie hatte das Gefühl, dass ihrem Freund die Beziehung richtig guttat.

Amalia schob sich gerade das letzte Plätzchen in den Mund, als es an der Tür klingelte. Bevor sie diese erreichte, ertönte der schrille Ton ihrer neuen Haustürglocke erneut. „Komm ja schon“, rief sie und öffnete.

Vor ihr stand ihre Freundin Evi in kompletter Skimontur.

„Oh mein Gott, ist es schon so spät?“, entfuhr es Amalia entsetzt.

„Du hast nicht etwa unsere Skitour vergessen?“, fragte Evi und schüttelte dabei grinsend den Kopf.

„Gib mir fünf Minuten. Ich bin sofort fertig.“

Hektisch lief Amalia ins Schlafzimmer und schnappte sich ihre Tourenhose, Fleecejacke und Funktionsjacke.

„Handschuhe und Scherpe nicht vergessen“, rief Evi ihr mütterlich vom Flur aus zu.

Amalia kramte hektisch in einer Schublade danach.

„Fertig“, sagte Amalia atemlos und band sich ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. „… die Tourenskier stehen hinter dem Haus“, fügte sie noch an.

„Das ging jetzt wirklich schnell. Michl hat deine Skier schon auf das Auto gepackt. Wir können los.“

„Ist Michl auch dabei?“, fragte Amalia und hoffte, dass man ihr ihre Enttäuschung nicht anhören konnte. Eigentlich hatte sie gedacht, dass nur Evi und sie gingen. Schließlich war das seit zwei Jahren ihre erste gemeinsame Tour. Gerne hätte sie ihre Freundin nach Felix und dessen neuer Eroberung gefragt. Ob Evi davon gewusst hatte? Dann hätte sie ihr doch etwas gesagt, oder? Aber mit Michl im Schlepptau konnte Amalia das Thema schlecht anschneiden.

„Ich habe Michl gefragt, ob er mitkommt, weil es oberhalb der Forststraße, wo die offenen Hänge anfangen, ziemlich gefährlich ist. Es ist zwar ein Nordhang, aber sie haben erst heute Morgen die Lawinenwarnstufe noch einmal angehoben. Michl kennt sich einfach besser aus. Ich hoffe, das geht für dich in Ordnung“, erklärte Evi.

„Sowieso“, antwortete Amalia. Ihre Eltern waren, als sie drei Jahre alt gewesen war, in einer Lawine ums Leben gekommen. Während andere Kinder immer von den gesicherten Pisten in Waldwege abgebogen waren, um dort im Tiefschnee zu fahren, hatte sie ängstlich auf der Piste gewartet. Ihre Oma hatte ihr deshalb zum vierzehnten Geburtstag die Teilnahme an einem Lawinenkurs geschenkt und seitdem hatte sie keine Furcht mehr gehabt. Respekt ja, aber keine Angst. Daher sah sie ein, dass an einem solchen Tag mit viel Neuschnee Vorsicht geboten war und Evis Mann, der regelmäßig Touren ging, die Gefahren wesentlich besser einschätzen konnte als sie und Evi, die nur noch ein paarmal im Jahr unterwegs waren.

Sie parkten ihr Auto auf dem kleinen Parkplatz oberhalb vom Samer. Gerade hatten sie die Felle auf die Skier aufgezogen und die Steighilfe eingestellt, als ein Auto neben ihnen hielt. Mit Schrecken erkannte sie Felix mit dieser Doktorin. Amalia hielt die Luft an. Die werden doch nicht ausgerechnet die gleiche Tour gehen wollen wie wir, dachte sie aufgebracht. Sie beobachtete gebannt, wie Bettina Sommer ausstieg, ihnen kurz zunickte und sofort zu einem tief eingeschneiten Auto lief, das am Rand des Parkplatzes stand.

Amalie überkreuzte die Arme vor der Brust und starrte Felix zornig an, der noch im Auto saß. Zu ihrer absoluten Verärgerung schenkte er ihr aber keinerlei Beachtung, sondern beobachtete Frau Dr. Sommer.

Diese wischte mit der Hand über das Kennzeichen. „Das ist ihr Auto“, sagte sie und warf Felix, der nun ebenfalls ausstieg, einen besorgten Blick zu. „Da ist etwas passiert. Ich bin mir ganz sicher. Das ist einfach nicht ihre Art.“

„Wie? Was ist passiert?“, fragte Michl sofort interessiert nach.

„Meine Assistentin Celina ist gestern Abend nach der Versammlung zu den Wölfen aufgebrochen und bis jetzt nicht zurückgekehrt. Ich bin ganz unruhig. Sie wollte mir gleich heute Morgen ihre Notizen mit ihren Beobachtungen vorbeibringen. Seit Stunden versuche ich sie auf ihrem Handy zu erreichen, bekomme aber immer nur die Mailbox. Bei den Carabinieri habe ich auch schon angerufen, doch die unternehmen erst nach 24 Stunden etwas. Das Auto ist jedoch der Beweis. Sie muss hier irgendwo sein.“

Felix zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Notrufnummer. Er nannte seinen Namen und schilderte dem Mann der Leitstelle kurz den Sachverhalt.

„Sie schlagen Alarm. In zwanzig Minuten sind sie da. Sie bringen Hunde mit“, sprach er in die Runde.

„Während die unterwegs sind, können wir schon mal losgehen und schauen, ob wir sie finden. Es zählt jede Minute“, schlug Michl beunruhigt vor.

„Ich denke, wir sollten hier auf die Bergrettung warten“, widersprach Felix.

„Da geht nur kostbare Zeit verloren“, gab Michl zu bedenken und blickte wild entschlossen von einem zum anderen. „Stellt euch vor, wir stehen hier dumm rum, während Celina oben …“ Michl brach ab und schwieg.

Evi legte ihm beruhigend den Arm auf die Schulter.

„Wir können ja inzwischen wirklich vorausgehen, aber einer muss hierbleiben, um auf die Bergrettung zu warten“, gab Felix nach.

Evi meldete sich sofort freiwillig. „Ich bleibe hier.“

Amalia wusste, dass ihre Freundin nichts so sehr fürchtete, als irgendwann einmal an einen Unfallort zu kommen, an dem sie Ersthelfer sein musste. Sie hatte, obwohl sie zusammen mit drei älteren Brüdern aufgewachsen war und drei Kinder hatte, die oft mit Blessuren nach Hause kamen, große Schwierigkeiten damit, Blut zu sehen, und kämpfte bei Blutabnahmen beim Arzt regelmäßig damit, nicht ohnmächtig zu werden.

Amalia, Frau Dr. Sommer, Michl und Felix brachen zusammen auf. Schritt für Schritt gingen sie mit ihren Skiern die Forststraße hinauf, die durch einen Wald führte. Da es seit einigen Stunden schneite, waren keinerlei Spuren zu erkennen, die Aufschluss gegeben hätten, ob Celina hier entlanggegangen war. Obwohl es taghell war, wirkte die Gegend durch die hohen Bäume düster. Immer wieder fiel Schnee von den hohen Baumwipfeln herunter. Michl führte die Gruppe an. Nach einigen hundert Metern blieben sie stehen.