Adolph Freiherr von Knigge

Über den Umgang mit Menschen

Impressum

ISBN 978-3-940621-23-8

Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1878 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags.

Digitalisierung: Vergangenheitsverlag. Bearbeitung: Dr. Alexander Schug

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Einleitendes Essay: Knigge – das Original und ein großes Missverständnis

Jeder kennt den Namen Knigge – kaum einer weiß jedoch, was sich genau dahinter verbirgt. Mit 'dem Knigge' verbindet sich im allgemeinen eine Gattungsbezeichnung für alle mögliche Benimm-, Etikette-, Ratgeber- und Lebenshilfe-Literatur. Vom Sex-Knigge bis zum Web-2.0-Knigge gibt es heute alle möglichen und unmöglichen Ratgeber auf dem Büchermarkt. Diese Literatur lebt von dem Bedürfnis vieler Menschen, sich „richtig“ zu benehmen und möglichst nicht durch „falsches“ Verhalten aufzufallen. Meist werden in solcher Ratgeberliteratur Tipps gegeben, wie man isst, wie man Konversation betreibt usw. Die moderne Knigge-Literatur spielt mit den Ängsten vieler Menschen, aus der Rolle zu fallen und sich „daneben zu benehmen“.

Der originale Knigge, 1752 auf dem Gut Bredenbeck bei Hannover geboren, stand erhaben über solchen Kleinigkeiten und wollte etwas ganz anderes als bloß formal gut erzogene Menschen. Das ursprüngliche Werk – sozusagen die Mutter aller Benimmbücher – heißt "Ueber den Umgang mit Menschen", sein Autor in der ersten Auflage von 1788 noch Adolph Freiherr von Knigge. Bis zu seinem Tod im Jahr 1796 hat er fünf Auflagen erlebt und im Zuge der Französischen Revolution das 'von' vor seinem Namen gestrichen. „Über den Umgang mit Menschen“ besteht aus drei Teilen, die ihrerseits in 26 Kapitel unterteilt sind, die jeweils mit einer gesonderten Einleitung beginnen. Die drei Kapitel des ersten Teils können als Einführung betrachtet werden. Es handelt sich um „Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen“, „Über den Umgang mit sich selbst“ sowie „Über den Umgang mit Leuten von verschiedenen Gemütsarten, Temperamenten und Stimmungen des Geistes und Herzens“. Die zwölf Kapitel des zweiten Teils erweitern den Horizont unter anderem auf „Eltern, Kinder und Blutsverwandte“, „Eheleute“, „Verliebte“, „Hauswirte, Nachbarn“, „das Verhältnis zwischen Wirt und Gast“ oder auch „das Verhältnis zwischen Wohltätern und denen, welche Wohltaten empfangen“. Abgeschlossen wird das Werk mit Anmerkungen „über die Art, mit Tieren umzugehn“ sowie „über das Verhältnis zwischen Schriftsteller und Leser“. Das Buch wurde bis heute millionenfach gelesen und gilt als einer der großen Sachbuchklassiker der Literaturgeschichte. „Über den Umgang mit Menschen“ war schon zu Knigges Lebenszeit ein Erfolg. Als Knigge 1796 starb, wurde dessen Buch wiederholt von Herausgebern umgeschrieben und in neuer Gestalt publiziert. Im Laufe der Zeit wurde es so immer mehr zu einer Anstandsfibel. Der moderne Knigge war geboren – und damit zahlreiche Missverständnisse.

Was passiert ist? Gucken wir genauer hin: Knigge war ein Autor der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts und war zu seiner Zeit einer der meist gelesenen Aufklärungs- und Unterhaltungsschriftsteller. Neben "Ueber den Umgang mit Menschen" hat er Romane, Gedichte, Satiren geschrieben, komponiert und musiziert, Theaterstücke verfasst, war als Regisseur wie Schauspieler aktiv, und hat zahlreiche Übersetzungen und Rezensionen zu Papier gebracht.

In der Einleitung zu "Ueber den Umgang mit Menschen" gab Knigge ausdrücklich an, dass er kein "Complimentir-Buch" schreiben wollte. Vielmehr wandte er sich gerade gegen jegliches steife, konventionelle, bloß äußere Regelwerk der Etikette. So riet er zwar, "dass man bey Tische den abgeleckten Löffel, womit man gegessen, nicht wieder vor sich hinlegen" und einen benutzten Zahnstocher nicht weiterreichen soll; "dass, wenn man mit jemand in Einem Bette schlafen muss – (Zitat Knigge: "Ich kenne nichts eckelhafteres und unanständigers, als zu Zwey unter derselben Decke zu liegen") -, man dem anderen möglichst wenig Ungemächlichkeit verursachen dürfe. Aber all das verstand sich für Knigge von selbst und war eine Frage der guten Kinderstube.

Knigge wollte seinen Lesern "Bruchstücke, vielleicht nicht zu verwerfende Materialien, Stoff zu weiterm Nachdenken" liefern. Er riet nicht zu ehernen Verhaltensnormen aus einem festen Moralsystem, sondern beschrieb "Resultate aus den Erfahrungen", gesammelt "unter Menschen aller Arten und Stände". Grundlage der angewandten Menschenkenntnis, die auch als Anleitung zur Selbsthilfe zu verstehen ist, waren vor allem die Erfahrungen, die der Autor in den 1770er Jahren an deutschen Fürstenhöfen sowie in den 1780er Jahren als Cheforganisator des Illuminatenordens gemacht hatte. Knigge präsentierte Probleme und Lösungen für den "Umgange mit Menschen aller Gattung" angesichts der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Denn Deutschland existierte damals nicht, war in zahlreiche Kleinstaaten zerfallen, unterschiedliche Staatsverfassungen, Nationalcharaktere und Stände, in "eine so große Mannigfaltigkeit des Conversationstons, der Erziehungsart, der Religions- und andrer Meinungen" zersplittert.

Angesichts dieser Ausgangslage war Knigges Umgangsbuch als eine pragmatische Anleitung auch unter widrigen Bedingungen gedacht. Unter diesen Bedingungen verstand er auch, dass sich die damaligen feudalen Gesellschaften in einem dramatischen Auflösungsprozess befanden. Das Großereignis der Zeit war die französische Revolution 1789, die nur ein Jahr nach der Erstpublikation von Knigges Hauptwerk alle Regeln des Umgangs zwischen den Menschen, dem Oben und Unten, Aristokraten und einfachen Leuten über den Haufen warf – und langsam aber sicher in den Jahren zuvor heraufgezogen war. Wo sich Gesellschaften derart verändern, ist es nicht verwunderlich, dass man sich neue Gedanken über das Miteinander macht. Im Grunde ist Knigges Buch deshalb eine frühe soziologische Beschreibung der sozialen Regelwerke in einer Zeit des Umbruchs und der sozialen Desintegration.

Dabei ging es Knigge nicht nur um politische Ereignisse, sondern um ein grundlegenderes Phänomen, das Antrieb der Aufklärung des 18. Jahrhunderts war: Die Entdeckung des eigenen Ichs. Wo Menschen nicht mehr ganz so feste Statuszuschreibungen als Handwerker, Bauer, Aristokrat erleben, sind sie zunehmend auf sich selbst geworfen zu entscheiden, wer sie sind und welchen Platz sie in der Gesellschaft haben. Ganz praktisch betrachtet wirft diese Entwicklung auch die Frage auf, wie die Menschen dann noch miteinander kommunizieren.

Aber – und das stand für Knigge fest – der Mensch braucht trotz aller gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen Konventionen für sein Verhalten. Und so entwarf er ein Gebäude von praktischen Höflichkeits- und Anstandsregeln: für die Freundschaft, für die Beziehung zwischen den Geschlechtern, zwischen Angehörigen verschiedener Stände und Generationen. Knigges Lehren propagierten Vernunft – das große Schlagwort seiner Zeit. Erstaunlich modern war seine fast psychologische Perspektive auf das Leben mit sich selbst: „Sei dir selber ein angenehmer Gesellschafter. Mache dir keine Langeweile, das heißt: Sei nie ganz müßig. Lerne dich selbst nicht zu sehr auswendig, sondern sammle aus Büchern und Menschen neue Ideen. Der langweiligste Gesellschafter für sich selber ist man ohne Zweifel dann, wenn man mit seinem Herzen, mit seinem Gewissen in nachteiliger Abrechnung steht.“

Knigge war ein moderner Denker seiner Zeit, ein Revolutionär in Gedanken, der die großen Umwälzungen auf der Ebene persönlichen Verhaltens untersuchte und beispielsweise riet:

Der einzelne habe sich zwar mit den noch geltenden höfischen "Übereinstimmungs-Gesetzen im Umgange" bekannt zu machen, ohne jedoch seine "innere Würde" und die "Eigenthümlichkeit des Characters" zu verleugnen. Von Würde und eigenem Charakter eines jeden Menschen zu sprechen, war für damalige Verhältnisse neu, vielleicht revolutionär. Auf jeden Fall war eine solche Perspektive auf die Menschen ein Angriff auf die feudalen Herrschaftsverhältnisse, in denen Individualität keine Rolle spielte, zumindest nicht für die Untergebenen der Feudalherren.

Knigges Empfehlungen zur "Kunst des Umgangs mit Menschen" lassen sich insgesamt beschreiben als eine Synthese aus aristokratisch-höfischen und bürgerlichen Lebensauffassungen und Umgangsformen, die zwar heftige polemisch-antifeudalistische Tendenzen enthält, aber ein modernes bürgerliches Selbstbewusstsein vorstellt. Knigge als eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vertritt als Repräsentant der deutschen Aufklärung dabei auch deren Dialektik: Das Programm der 'relativen Aufklärung' meint bei Knigge weniger Auflehnung im Großen als Resignation im Kleinen: "Die beste Aufklärung des Verstandes ist die, welche uns lehrt, mit unsrer Lage zufrieden und in unsern Verhältnissen brauchbar, nützlich und zweckmäßig tätig zu sein."

Wer so argumentiert, war kein wirklicher Umstürzler der Verhältnisse, vielmehr wird in seiner Argumentation deutlich, dass er ausgleichend und moderierend tätig sein wollte. So argumentierte er in seinem Hauptwerk im Kapitel "Ueber den Umgang mit den Großen der Erde, Fürsten, Vornehmen und Reichen", dass man auf damaliger verfassungsrechtlicher Grundlage bleiben müsse. Er weist seine Leser darauf hin, dass jene, "was sie sind und was sie haben, nur durch Übereinkunft des Volks sind und haben; dass man ihnen diese Vorrechte wieder nehmen kann, wenn sie Missbrauch davon machen; [...] endlich, dass in diesen Zeiten der Aufklärung bald kein Mensch mehr daran glauben wird, dass ein Einziger [...] ein angeerbtes Recht haben könne, hundert tausend weisern und bessern Menschen das Fell über die Ohren zu ziehn".

Knigges „Ueber den Umgang mit Menschen“ ist ein Zeitdokument, das vor allem auch als historische Quelle gelesen werden sollte. Gehen Sie mit Knigge also auf eine Zeit- und Entdeckungsreise ins 18. Jahrhundert, in der die „normalen“ Menschen anfangen, sich selbst als Akteure zu verstehen, die in den vorgefundenen und sich ändernden Verhältnissen sich orientieren, sprich neu „benehmen“ müssen.


Alexander Schug


Vorrede zu dieser dritten Auflage

Die gütige, nachsichtsvolle Aufnahme, deren das Publikum in und außer Deutschland dies Buch würdigt, übertrifft sehr meine Erwartung. Der schnelle Absatz der ersten beiden Auflagen; die vorteilhaften Urteile einsichtsvoller Kunstrichter; die Auszüge, welche der Herr Prediger Fest und andre daraus gemacht haben, und endlich die Übersetzungen desselben – das alles fordert mich auf, keine Mühe zu sparen, nach und nach das Fehlerhafte darin auszumerzen, und durch nötige Zusätze sowie durch Verbesserung der Schreibart meinem Werke mehr Vollkommenheit zu verschaffen.

Aufmerksame Leser werden finden, welche große Veränderungen, sowohl was die Anordnung, als was den Inhalt selbst betrifft, ich bei dieser dritten Auflage, wenn man sie gegen die ersten beiden hält, vorgenommen habe. Ich bin dabei neben meiner eigenen Überzeugung der Zurechtweisung würdiger Männer gefolgt. Unter diese zähle ich, wie billig, mit Dankbarkeit auch den Herrn Rezensenten im siebendundachtzigsten Bande der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, dessen milde, aber verständige und ernsthafte Winke ich größtenteils zu meinem Vorteile genützt habe.

Über unweisen, nicht reiflich durchgedachten Tadel hingegen habe ich mich hinausgesetzt. Ohne der verachtenswerten Beschuldigung des salzburgischen Herrn Kritikers Erwähnung zu tun, will ich nur des Vorwurfs der den deutschen Schriftstellern so eignen, zu großen Vollständigkeit gedenken, womit der undeutsche Herr Rezensent in der Allgemeinen Literatur-Zeitung mich beehrt. Ich werde mich bestreben, dieses Vorwurfs in vollem Maß würdig zu werden. Hat mein Buch einigen Wert, so bestimmt gewiss eben diese möglichste Vollständigkeit einen großen Teil desselben, und jedermann wird zum Wohltäter an mir werden, der mir jetzt anzeigt, über welche Verhältnisse und Lagen im menschlichen Leben ich noch Bemerkungen und Vorschriften zu liefern versäumt habe.

Man hat gegen den Titel dieses Werks die Erinnerung gemacht: dass er nur Regeln des Umgangs ankündigte, da hingegen das Buch selbst fast über alle Teile der Sittenlehre sich ausdehnte. Billige Richter haben indessen eingesehen, wie schwer dies zu vermeiden war. Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen. Sollte man an meinem Buche das tadeln dürfen, dass es mehr leistet, als der Titel verspricht, so könnte man dem Übel auf einmal abhelfen, wenn man diesem Werke etwa die Überschrift gäbe: »Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit andern Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen.« Allein dieser Titel kommt mir ebenso geschwätzig als prahlerisch vor. Man verzeihe mir's also, dass ich es damit beim alten gelassen habe!

Andre haben hier Vorschriften für junge Leute vermisst, die als Studenten, Offiziere usf. in die Welt treten. – Vorschriften, wie diese sich gegen andre junge Leute gleichen Standes zu betragen hätten. Der Herr Rezensent in den Würzburger gelehrten Anzeigen hat dagegen sehr vernünftig angemerkt, dass, wenn ich so hätte in das Detail gehn wollen, ich vielleicht in zehn Bänden meinen Gegenstand nicht würde erschöpft haben, und dass ich mich sehr vielfach hätte wiederholen müssen. Ich füge noch hinzu, dass unter jungen Leuten, die noch keinen festen Charakter haben, die Mannigfaltigkeit der Sonderbarkeiten, welche sie in ihrer Art sich zu betragen zeigen, zwar unendlich groß, aber auch zugleich so unwichtig scheint, dass ein Jüngling, dem es ernst ist, sich für die Welt zu bilden, auf diese weiter keine Rücksicht zu nehmen braucht, wenn er sich, im Umgange mit Menschen von gleichem Alter, so vorsichtig, ordentlich und redlich beträgt, als die Vorschriften dazu in diesem Buche, sowohl im allgemeinen, als nach den verschiedenen Stimmungen und Verhältnissen unter allen Gattungen von Menschen, angegeben werden.

Hannover, im Januar 1790.


Vorrede zu den ersten beiden Auflagen

Der Gegenstand dieses Buchs kommt mir groß und wichtig vor, und irre ich nicht, so ist der Gedanke, in einem eignen Werke Vorschriften für den Umgang mit allen Klassen von Menschen zu geben, noch neu. Eben dieser Umstand aber und dass mir in Deutschland, soviel ich weiß, niemand vorgearbeitet hat, muss einen Teil der Unvollkommenheiten meiner Arbeit entschuldigen. Es ist ein weites Feld vollständig und gründlich zu bearbeiten, vielleicht für einen Menschen und gewiss für meine Kräfte zu groß. Kann aber das in magnis voluisse aliquid Verdienst geben, so darf ich einigen Anspruch auf den Dank des Publikums machen, um so mehr, wenn etwa meine Arbeit bei einem größern Menschenkenner und feinern Philosophen einst die Lust erwecken sollte, etwas Vollkommneres hierüber zu liefern.

Vielleicht wird man mir Weitschweifigkeit vorwerfen und mich beschuldigen, ich hätte Räsonnements eingemischt, die nicht eigentlich zu den Regeln über den Umgang mit Menschen gehören; allein es ist hier schwer, die wahre Grenzlinie zu finden. Wenn ich zum Beispiel lehren will, wie vertraute Freunde im Umgange miteinander sich betragen sollen, so scheint es mir sehr passend, erst etwas über die Wahl eines Freundes und über die Grenzen freundschaftlicher Vertraulichkeit zu sagen, und wenn ich über das Betragen im geselligen Leben in manchen Klassen von Menschen rede und zeige, wie man ihrer Schwächen schonen soll, so stehen philosophische Bemerkungen über diese Schwächen selbst und über deren Quellen nicht am unrechten Ort.

Übrigens habe ich dies Buch nicht flüchtig hingeschrieben, wie wohl andre meiner Schriften, sondern lange an den Materialien dazu gesammelt. – Es enthält Resultate aus meinem ziemlich unruhigen Leben unter Menschen mancher Art. Bei dem veränderlichen und leichtfertigen Geschmacke des deutschen Publikums und der übertriebenen Nachsicht, mit welcher dasselbe unbedeutende Romane, leere Journale, platte Schauspiele und nichtswürdige Anekdotensammlungen aufnimmt, möchte es zwar kaum einer Entschuldigung bedürfen, wenn man diesen größern Teil des Publikums nicht so sehr respektierte, dass man streng gewissenhaft in Wahl und Ausfeilung der Produkte wäre, welche man in die gelehrte Welt schickt. Schriftstellerei ist in jetzigen Zeiten nicht viel mehr als Gespräch mit der Lesewelt; in freundschaftlichen Unterredungen wiegt man aber nicht jedes Wort ab. Der müßige Haufen will ohne Unterlass etwas Neues hören; ernsthafte, wichtige Werke werden von den Buchhändlern nicht halb so gern in Verlag genommen und vom Publikum nicht halb so eifrig gelesen als jene Modeware; wenn man sich nun herablässt, die Wahrheiten, die man zu sagen hat, wenigstens in ein solches Gewand zu hüllen, wie es der große Haufen gern sieht, so läuft wohl freilich je zuweilen ein unnützes Wort mit unter, und das ist vielleicht auch mein Fall gewesen. Doch will ich offenherzig genug sein, noch etwas zur Entschuldigung meiner bisherigen Vielschreiberei anzuführen.

Niemand kann lebhafter als ich selbst fühlen, welcher Ausfeilung meine zuerst herausgegebenen Schriften noch bedurft hätten, um irgendeinen Grad von Vollkommenheit zu erreichen. Indessen wurden sie und werden noch immer häufiger gelesen und öfter aufgelegt, als sie es verdienen. Der Verleger bat um mehr Ware von der Art, machte mir vorteilhafte Bedingungen, und ich wies den Erwerb nicht von mir. Ich schäme mich dieses Geständnisses nicht: Wer nur irgend weiß, auf welche Weise mein Vermögen eine lange Reihe von Jahren hindurch, sehr ohne meine Schuld, ist verwaltet worden, der wird mir das gern verzeihen, und wer mit meiner häuslichen Lebensart bekannt ist, muss mir das Zeugnis geben, dass ich das Gewonnene auf keine unedle Art verwendet habe.

Nicht immer habe ich mich vor meinen Schriften genannt; zuweilen hat man mich als Verfasser von Büchern angegeben, die ich nicht einmal gelesen hatte. Das hat mich bis jetzt wenig bekümmert; anders aber handelt der Mann, der in fremden Provinzen lebt, ohne an den Staat geknüpft zu sein, dem es desfalls weniger ängstlich um seinen bürgerlichen und gelehrten Ruf zu tun ist, und anders der, welcher in seinem Vaterlande wohnt, und dem die Achtung, auch des Geringsten unter seinen Mitbürgern, nicht gleichgültig sein darf. Nach achtzehnjähriger Abwesenheit befinde ich mich nun wieder in dem letztern Falle. Ich würde fürchten, man möchte das Unkraut, das ich hergäbe, dem vaterländischen Boden zur Last legen, auf welchem es gewachsen wäre, wenn ich fortführe, so schnell zu arbeiten; ich würde fürchten, mein liebes Vaterland zu beschimpfen, in welchem gottlob der Haufen elender Scribler noch nicht so groß ist als in den mehrsten andern Provinzen Deutschlands. Was ich also hier liefre und etwa ferner liefern werde (wenn ich je noch außer diesem Werke etwas schreiben sollte), muss wenigstens keine lose Ware sein, und nicht leicht werde ich wieder etwas drucken lassen, ohne meinen Namen davorzusetzen.

Es hat nicht Unzufriedenheit mit meinem Herrn Verleger in Frankfurt am Main, sondern andre Rücksichten haben mich bewogen, dies Buch einer hiesigen Buchhandlung in Verlag zu geben; vielmehr muss ich dem Herrn Andreä das Zeugnis geben, dass er sich jederzeit sehr billig, redlich und freundschaftlich gegen mich betragen hat.

Einige meiner Schriften sind in Wien und Leipzig nachgedruckt worden; sollte einer von der berüchtigten Zunft etwa auch auf dies Büchelchen eine korsarische Unternehmung von der Art wagen wollen, so dient demselben zur Nachricht, dass alle Vorkehrungen getroffen sind, den Schaden eines solchen Diebstahls auf den Räuber selbst fallen zu machen.

Hannover im Jänner 1788.

Erster Teil

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Einleitung

1.

Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen Leben Schritte tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen.

Wir sehen die feinsten theoretischen Menschenkenner das Opfer des gröbsten Betrugs werden.

Wir sehen die erfahrensten, geschicktesten Männer bei alltäglichen Vorfällen unzweckmäßige Mittel wählen, sehen, dass es ihnen misslingt, auf andre zu wirken, dass sie, mit allem Übergewichte der Vernunft, dennoch oft von fremden Torheiten, Grillen und von dem Eigensinne der Schwächeren abhängen, dass sie von schiefen Köpfen, die nicht wert sind, ihre Schuhriemen aufzulösen, sich müssen regieren und misshandeln lassen, dass hingegen Schwächlinge und Unmündige an Geist Dinge durchsetzen, die der Weise kaum zu wünschen wagen darf.

Wir sehen manchen Redlichen fast allgemein verkannt.

Wir sehen die witzigsten, hellsten Köpfe in Gesellschaften, wo aller Augen auf sie gerichtet waren und jedermann begierig auf jedes Wort lauerte, das aus ihrem Munde kommen würde, eine nicht vorteilhafte Rolle spielen, sehen, wie sie verstummen oder lauter gemeine Dinge sagen, indes ein andrer äußerst leerer Mensch seine dreiundzwanzig Begriffe, die er hie und da aufgeschnappt hat, so durcheinander zu werfen und aufzustutzen versteht, dass er Aufmerksamkeit erregt und selbst bei Männern von Kenntnissen für etwas gilt.

Wir sehen, dass die glänzendsten Schönheiten nicht allenthalben gefallen, indes Personen, mit weniger äußern Annehmlichkeiten ausgerüstet, allgemein interessieren. –

Alle diese Bemerkungen scheinen uns zu sagen, dass die gelehrtesten Männer, wenn nicht zuweilen die untüchtigsten zu allen Weltgeschäften, doch wenigstens unglücklich genug sind, durch den Mangel einer gewissen Gewandtheit zurückgesetzt zu bleiben, und dass die Geistreichsten, von der Natur mit allen innern und äußern Vorzügen beschenkt, oft am wenigsten zu gefallen, zu glänzen verstehen.

Ich rede aber hier nicht von der freiwilligen Verzichtleistung des Weisen auf die Bewunderung des vornehmen und geringen Pöbels. Dass der Mann von bessrer Art da in sich selbst verschlossen schweigt, wo er nicht verstanden wird; dass der Witzige, Geistvolle in einem Zirkel schaler Köpfe sich nicht so weit herablässt, den Spaßmacher zu spielen; dass der Mann von einer gewissen Würde im Charakter zu viel Stolz hat, sein ganzes Wesen nach jeder ihm unbedeutenden Gesellschaft umzuformen, die Stimmung anzunehmen, wozu die jungen Laffen seiner Vaterstadt den Ton mit von Reisen gebracht haben, oder den grade die Laune einer herrschenden Kokette zum Konversations-, Kammer- und Chorton erhebt; dass es den Jüngling besser kleidet, bescheiden, schüchtern und still, als, nach Art der mehrsten unsrer heutigen jungen Leute, vorlaut, selbstgenügsam und plauderhaft zu sein; dass der edle Mann, je klüger er ist, um desto bescheidener, um desto misstrauischer gegen seine eigenen Kenntnisse, um desto weniger zudringlich sein wird; oder dass, je mehr innerer, wahrer Verdienste sich jemand bewusst ist, er um desto weniger Kunst anwenden wird, seine vorteilhaften Seiten hervorzukehren, so wie die wahrhafte Schönheit alle kleinen anlockenden, unwürdigen Buhlkünste, wodurch man sich bemerkbar zu machen sucht, verachtet, – das alles ist wohl sehr natürlich! – Davon rede ich also nicht.

Auch nicht von der beleidigten Eitelkeit eines Mannes voll Forderungen, der unaufhörlich eingeräuchert, geschmeichelt und vorgezogen zu werden verlangt und, wo das nicht geschieht, eine traurige Figur macht; nicht von dem gekränkten Hochmute eines abgeschmackten Pedanten, der das Maul hängen lässt, wenn er das Unglück hat, nicht aller Orten für ein großes Licht der Erden bekannt und als ein solches behandelt zu sein, wenn nicht jeder mit seinem Lämpchen herzuläuft, um es an diesem großen Lichte der Aufklärung anzuzünden. Wenn ein steifer Professor, der gewöhnt ist, von seinem bestaubten Dreifuße herunter, sein Kompendium in der Hand, einem Haufen gaffender, unbärtiger Musensöhne stundenlang hohe Weisheit vorzupredigen und dann zu sehn, wie sogar seine platten, in jedem halben Jahre wiederholten Späße sorgfältig nachgeschrieben werden; wie jeder Student so ehrerbietig den Hut vor ihm abzieht, und mancher, der nachher seinem Vaterlande Gesetze gibt, ihm des Sonntags im Staatskleide die Aufwartung macht; wenn ein solcher einmal die Residenz oder irgendeine andre Stadt besucht, und das Unglück nun will, dass man ihn dort kaum dem Namen nach kennt, dass er in einer feinen Gesellschaft von zwanzig Personen gänzlich übersehn oder von irgendeinem Fremden für den Kammerdiener im Hause gehalten und Er genannt wird, er dann ergrimmt und ein verdrossenes Gesicht zeigt; oder wenn ein Stubengelehrter, der ganz fremd in der Welt, ohne Erziehung und ohne Menschenkenntnis ist, sich einmal aus dem Haufen seiner Bücher hervorarbeitet, und er dann äußerst verlegen mit seiner Figur, buntscheckig und altväterisch gekleidet, in seinem vor dreißig Jahren nach der neuesten Mode verfertigten Bräutigamsrocke dasitzt und an nichts von allem, was gesprochen wird, Anteil nehmen, keinen Faden finden kann, um mit anzuknüpfen, so gehört das alles nicht hierher.

Ebenso wenig rede ich von dem groben Zyniker, der nach seinem Hottentottensysteme alle Regeln verachtet, welche Konvenienz und gegenseitige Gefälligkeit den Menschen im bürgerlichen Leben vorgeschrieben haben, noch von dem Kraftgenie, das sich über Sitte, Anstand und Vernunft hinauszusetzen einen besondern Freibrief zu haben glaubt.

Und wenn ich sage, dass oft auch die weisesten und klügsten Menschen in aller Welt, im Umgange und in Erlangung äußerer Achtung, bürgerlicher und andrer Vorteile ihres Zwecks verfehlen, ihr Glück nicht machen, so bringe ich hier weder in Anschlag, dass ein widriges Geschick zuweilen den Besten verfolgt, noch dass eine unglückliche leidenschaftliche oder ungesellige Gemütsart bei manchem die vorzüglichsten, edelsten Eigenschaften verdunkelt.

Nein! meine Bemerkung trifft Personen, die wahrlich allen guten Willen und treue Rechtschaffenheit mit mannigfaltigen, recht vorzüglichen Eigenschaften und dem eifrigen Bestreben, in der Welt fortzukommen, eigenes und fremdes Glück zu bauen, verbinden, und die dennoch mit diesem allen verkannt, übersehn werden, zu gar nichts gelangen. Woher kommt das? Was ist es, das diesen fehlt und andre haben, die, bei dem Mangel wahrer Vorzüge, alle Stufen menschlicher, irdischer Glückseligkeit ersteigen? – Was die Franzosen den esprit de conduite nennen, das fehlt jenen: die Kunst des Umgangs mit Menschen– eine Kunst, die oft der schwache Kopf, ohne darauf zu studieren, viel besser erlauert als der verständige, weise, witzreiche; die Kunst, sich bemerkbar, geltend, geachtet zu machen, ohne beneidet zu werden; sich nach den Temperamenten, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu sein; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigentümlichkeit des Charakters zu verlieren, noch sich zu niedriger Schmeichelei herabzulassen. Der, welchen nicht die Natur schon mit dieser glücklichen Anlage hat geboren werden lassen, erwerbe sich Studium der Menschen, eine gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt über heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüts; und er wird sich jene Kunst zu eigen machen; doch hüte man sich, dieselbe zu verwechseln mit der schändlichen, niedrigen Gefälligkeit des verworfenen Sklaven, der sich von jedem missbrauchen lässt, sich jedem preisgibt; um eine Mahlzeit zu gewinnen, dem Schurken huldigt, und um eine Bedienung zu erhalten, zum Unrechte schweigt, zum Betruge die Hände bietet und die Dummheit vergöttert!

Indem ich aber von jenem Esprit de conduite rede, der uns leiten muss, bei unserm Umgange mit Menschen aller Gattung, so will ich nicht etwa ein Komplimentierbuch schreiben, sondern einige Resultate aus den Erfahrungen ziehn, die ich gesammelt habe, während einer nicht kurzen Reihe von Jahren, in welchen ich mich unter Menschen aller Arten und Stände umhertreiben lassen und oft in der Stille beobachtet habe. – Kein vollständiges System, aber Bruchstücke, vielleicht nicht zu verwerfende Materialien, Stoff zu weiterm Nachdenken.

2.

In keinem Lande in Europa ist es vielleicht so schwer, im Umgange mit Menschen aus allen Klassen, Gegenden und Ständen allgemeinen Beifall einzuernten, in jedem dieser Zirkel wie zu Hause zu sein, ohne Zwang, ohne Falschheit, ohne sich verdächtig zu machen und ohne selbst dabei zu leiden, auf den Fürsten wie auf den Edelmann und Bürger, auf den Kaufmann wie auf den Geistlichen nach Gefallen zu wirken, als in unserm deutschen Vaterlande; denn nirgends vielleicht herrscht zu gleicher Zeit eine so große Mannigfaltigkeit des Konversationstons, der Erziehungsart, der Religions- und andrer Meinungen, eine so große Verschiedenheit der Gegenstände, welche die Aufmerksamkeit der einzelnen Volksklassen in den einzelnen Provinzen beschäftigen. Dies rührt her von der Mannigfaltigkeit des Interesses der deutschen Staaten gegeneinander und gegen auswärtige, von dem Unterschiede der Verbindungen mit diesem oder jenem auswärtigen Volke und von dem sehr merklichen Abstande der Klassen in Deutschland voneinander, zwischen denen verjährtes Vorurteil, Erziehung und zum Teil auch Staatsverfassung eine viel bestimmtere Grenzlinie gezogen haben als in andern Ländern. Wo hat mehr als in Deutschland die Idee von sechzehn Ahnen des Adels wesentlichen moralischen und politischen Einfluss auf Denkungsart und Bildung? Wo greift weniger allgemein als bei uns die Kaufmannschaft in die übrigen Klassen ein? (Soll ich die Reichsstädte ausnehmen?) Wo macht mehr als hier das Korps der Hofleute eine ganz eigene Gattung aus, in welche hinein, so wie zu der Person der mehrsten Fürsten, nur Leute von gewisser Geburt und gewissem Range sich hinzudrängen können? Wo durchkreuzen sich mehr Arten von Interesse? – Und das alles wird nicht durch gewisse, dem ganzen Volke merkbare allgemeine Nationalbedürfnisse, Volksangelegenheiten, Vaterlandsnutzen konzentriert, wie in England, wo Aufrechterhaltung der Konstitution, Freiheit und Glück der Nation, Flor des Vaterlandes, der Punkt ist, in welchem sich das Streben, Dichten und Trachten so mancher originellen Charaktere vereinigt, noch wie in fast allen übrigen europäischen Ländern, die entweder unter einem einzigen Oberhaupte stehen oder durch ein einziges, allen Gliedern wichtiges Interesse beherrscht werden, wie die Schweiz, oder in welchen eine allein herrschende Religion oder ein tyrannisches Klima, über Denkungsart, Ton und Stimmung allgemein überwiegende Gewalt hat.

Dass im ganzen unsre deutsche Verfassung, so zusammengesetzt sie auch ist, sehr große, wesentliche Vorzüge gewährt, das leidet keinen Zweifel; allein es ist nicht weniger gewiss, dass dieselbe den mächtigsten Einfluss auf die Verschiedenheit der Stimmung in den einzelnen Provinzen und Staaten und unter den mancherlei voneinander abgesonderten Ständen hat. Eben daher kommt es, dass unsre Schauspieler, Schauspieldichter und Romanschreiber ein viel schwereres Studium haben, wenn sie alle diese Nuancen kennen, bearbeiten und dennoch einen Anstrich von originellem Nationalcharakter wollen durchschimmern lassen; viel schwerer als in Frankreich, wo die Sitten der verschiedenen Stände und einzelnen Provinzen nicht so sehr gegeneinander abstechen. Eben daher kommt es, dass man über wenige unsrer literarischen Produkte ein allgemein einstimmig beifälliges Volksurteil hört, dass überhaupt so wenig unsrer Werke als Nationalmonumente auf die Nachwelt übergehn, und eben daher endlich kommt es, dass es so schwer ist, mit Menschen aus allen Ständen und Gegenden in Deutschland umzugehn und bei allen gleichwohl gelitten zu sein, auf alle gleich vorteilhaft zu wirken.

Der treuherzige, naive, zuweilen ein wenig bäuerische, materielle Bayer ist äußerst verlegen, wenn er auf alle verbindlichen, artigen Dinge antworten soll, die ihm der feine Sachse in einem Atem entgegenschickt; dem schwerfälligen Westfälinger ist alles hebräisch, was ihm der Österreicher in seiner ihm gänzlich fremden Mundart vorpoltert; die zuvorkommende Höflichkeit und Geschmeidigkeit des durch französische Nachbarschaft polierten Rheinländers würde man in manchen Städten von Niedersachsen für Zudringlichkeit, für Niederträchtigkeit halten! Man glaubt da, ein Mann, der so äußerst untertänig und nachgiebig ist, müsse gefährliche und niedrige Absichten haben oder müsse falsch oder sehr arm und hilfsbedürftig sein, und oft ist dort ein wenig zu weit getriebene äußere Höflichkeit hinlänglich, den Mann, der sich am Rheine dadurch allgemeine Liebe erwerben würde, an der Leine verächtlich zu machen. Dagegen wird aber auch der nicht kältere, nur weniger leichtsinnige, weniger zuversichtliche, nicht so im Gedränge von Fremden, noch auf Reisen an Leib und Seele abgeschliffene, geglättete, sondern ernsthaftere Niedersachse, der bei der ersten Bekanntschaft nicht sehr zuvorkommend, sondern wohl gar ein wenig verlegen ist, an einem Hofe im Reiche vielleicht für einen schüchternen Menschen ohne Lebensart, ohne Welt angesehn werden.

Sich nun also nach Ort, Zeit und Umständen umzuformen und von verjährten Gewohnheiten sich loszumachen, das erfordert Studium und Kunst.

In Gegenden, aus welchen weder Unzufriedenheit mit dem Vaterlande, noch Müßiggang, noch Verderbnis der Sitten, noch unbestimmte, rastlose Tätigkeit, noch Anekdotenjagd, noch vorwitzige Neugier die Menschen scharenweise emigrieren macht und jeden Pinsel zum Reisen und Wandern treibt, sind die Einwohner mit dem, was es daheim gibt, so herzlich wohl zufrieden, dass sie nichts Größeres kennen, nichts Größeres kennen mögen, als was sie in ihrem Vaterlande von Jugend auf betrachtet, schon als Knaben bewundert oder von ihren Verwandten und Freunden haben stiften, bauen, anlegen gesehn. Ihnen sind die kleinen jährlichen oder andern Feste immer neu, immer gleich glänzend und merkwürdig. – Glückliche Unwissenheit! nicht zu vertauschen mit dem Ekel, welcher den Mann anwandelt, der in seinem Leben so gar viel allerorten erlebt, erfahren, gesehn, bauen und zerstören gesehn hat und zuletzt an nichts mehr Freude finden, nichts mehr bewundern kann, alles mit Tadel und Langerweile anblickt! Ich reiste vor einigen Jahren im rauesten Wetter in notwendigen Geschäften vierzig Meilen weit von +++ nach +++. Es fügte sich, dass in letztrer Stadt am Tage meiner Ankunft ein General mit den dabei allerorten mehr oder weniger üblichen Feierlichkeiten sollte begraben werden. Die ganze Stadt, die dergleichen selten gesehn, war vom frühen Morgen an in Bewegung; alles sprach von dem Begräbnisse des Generals. Ein Offizier von meiner alten Bekanntschaft begegnete mir im Gasthofe: »Ei! wo kommen Sie her?« rief er; ich sagte es ihm. Der gute Mann vergaß in dem Augenblicke, dass +++ vierzig Meilen weit läge und dass eine solche Feierlichkeit mir wohl schwerlich in so schlechtem Wetter eine so weite Reise wert sein könnte: »Oh!« sagte er, »Sie kommen gewiss, um unsern General begraben zu sehn; ja! es wird sich schön ausnehmen.« – Nun! zu so etwas kann ich kaum lächeln; möchten alle Menschen das am schönsten finden, was sie haben! Doch gestehe ich auch, dass dies oft zu Intoleranz führt; dass die Anhänglichkeit an einheimische Sitten zuweilen ungerecht, ungeschliffen gegen Menschen macht, die sich durch kleine Verschiedenheiten, wäre es auch nur in Anstand, Kleidung, Ton, Mundart oder Gebärden, unschuldigerweise auszeichnen.

In Reichsstädten ist diese Anhänglichkeit an väterliche Sitten, Kleidertrachten u. dgl. sehr auffallend und hat nicht selten Einfluss auf Regierungsverfassung, Religionsverträglichkeit und andre wichtige Dinge. So legen z. B. alle calvinistischen Kaufleute in +++ ihre Gärten nach holländischem Geschmacke an; nun hörte ich einstens einen solchen von einem andern Negotianten dieses Bekenntnisses, der aber in seinem Garten einige der reformierten Gemeinde auffallende Veränderungen vorgenommen hatte, sagen: Der Mann habe in seinem Garten allerlei lutherische Streiche gemacht. – Dass ich mich nicht von meinem Zwecke entferne! Ich meine, die Verschiedenheit der Sitten und der Stimmung in den deutschen Staaten macht es sehr schwer, außer seiner vaterländischen Gegend, in fremden Provinzen, in Gesellschaften zu gefallen, Freundschaften zu stiften, Geschmack am Umgang zu finden, andre für sich einzunehmen und auf andre zu wirken.

Aber diese Schwierigkeiten werden in Deutschland noch größer unter Personen von verschiedenen Ständen und Erziehungen. Wer wird nicht schon mehrmals in seinem Leben die Erfahrung gemacht haben, in welche Verlegenheit man kommen kann, und wie groß die Langeweile ist, die uns befällt oder die wir andern verursachen, wenn wir in eine Gesellschaft geraten, deren Ton uns gänzlich fremd ist, wo alle auch noch so warmen Gespräche an unserm Herzen vorbeigleiten, wo die Form der ganzen Unterhaltung, alle Gebräuche und äußern Manieren der Anwesenden weit außer unserm Systeme liegen, nicht zu unsern Gewohnheiten passen, wo die Minuten uns Tage scheinen, wo Zwang und Verwünschung unsrer peinlichen Lage auf unsrer Stirne gemalt stehen.

Man sehe nur einen ehrlichen Landedelmann aus treuer Lehnspflicht einmal nach langen Jahren wieder an dem Hofe seines Landesherrn erscheinen! Er hat sich schon frühmorgens aufs beste ausgeschmückt und sich die sonst gewöhnte liebe Pfeife Tabak versagt, um nicht nach Rauch zu riechen. Auf den Gassen der Stadt war es noch öde und still, als er schon in seinem Wirtshause umherwandelte und alles in Bewegung setzte, um ihm beizustehn bei dem beschwerlichen Geschäfte, sich hofmäßig auszuschmücken. Jetzt ist er endlich fertig; sein gekräuseltes und gepudertes Haar, das außerdem selten ohne Nachtmütze auftritt, hat er der freien Luft preisgegeben, und leidet er nun höllische Kopfschmerzen; die seidenen Strümpfe ersetzen bei weitem nicht, was die heute zurückgelegten Stiefel ihm sonst gewähren; ihn friert gewaltig an den ihm nackend scheinenden Beinen. Der besetzte Rock ist in den Schultern nicht so bequem als sein treuer, alter, warmer Überrock; der Degen gerät jeden Augenblick zwischen die Beine; er weiß nicht, was er mit dem kleinen Hütchen in der Hand anfangen soll; das Stehn wird ihm unerträglich sauer. – In dieser grausamen Verfassung erscheint er im Vorzimmer. Um ihn her wimmelt ein Haufen Hofschranzen herum, die, obgleich sie wahrlich sämtlich vielleicht nicht so viel wert als dieser ehrliche, nützliche Mann und im Grunde ihrer Herzen nicht weniger als er von Langerweile geplagt sind, dennoch mit Naserümpfen und Verachtung hier, wo sie in ihrem Elemente zu sein scheinen, ihn ansehen. Er fühlt jeden Spott, übersieht sie und muss sich dennoch von ihnen demütigen lassen. Sie nähern sich ihm, tun mit zerstreuter, wichtiger Miene einige Fragen an ihn, Fragen, an denen das Herz keinen Anteil nimmt und worauf sie auch die Antworten nicht abwarten. Er glaubt einen unter ihnen zu entdecken, der ihm teilnehmender scheint als die übrigen; mit diesem fängt er ein Gespräch von Dingen an, die ihm, vielleicht auch dem Vaterlande, wichtig sind: von seiner häuslichen Lage, von dem Wohlstande der Provinz, in welcher er lebt; er redet mit Wärme; Redlichkeit atmet alles, was er sagt – aber bald sieht er, wie sehr er sich in seiner Hoffnung getäuscht hat; das Männchen hört ihm mit halbem Ohre zu, erwidert irgendein paar unbedeutende Silben zur Antwort und lässt dann den braven Hausvater da stehn. Nun nähert er sich einem Zirkel von Leuten, die mit Interesse und Lebhaftigkeit zu reden scheinen; an diesem Gespräche wünscht er teilzunehmen; aber alles, was er hört, Gegenstand, Sprache, Ausdruck, Wendung, alles ist ihm fremd. In halb deutschen, halb französischen Worten wird hier eine Sache abgehandelt, auf welche er nie seine Aufmerksamkeit geschärft, von welcher er nie geglaubt hat, dass es möglich wäre, deutsche Männer könnten sich damit beschäftigen. Seine Verlegenheit, seine Ungeduld steigt mit jedem Augenblicke, bis er endlich das verwünschte Schloss weit hinter sich sieht.

Und nun, den Fall umgekehrt, lasse man einen sonst edlen Hofmann einmal hinaus auf das Land in die Gesellschaft biedrer Beamter und Provinzial-Edelleute geraten! Hier herrschen ungezwungene Fröhlichkeit, Offenherzigkeit, Freiheit; man redet von dem, was am nächsten den Landmann interessiert; man wiegt die Worte nicht ab; der Scherz ist naiv, gewürzt, aber nicht zugespitzt, nicht gekünstelt. Unser Hofmann versucht es, sich in diese Manier hineinzuarbeiten; er mischt sich in die Gespräche; aber der Ausdruck der Offenheit und Treuherzigkeit fehlt; was bei jenen naiv war, wird bei ihm beleidigend. Er fühlt dies und will die Leute in seinen Ton stimmen; in der Stadt gilt er für einen angenehmen Gesellschafter; er spannt alle Segel auf, um auch hier zu glänzen; allein die kleinen Anekdoten, die feinen Züge, worauf er anspielt, sind hier gänzlich unbekannt, gehen verloren. Man findet ihn medisant, empfindet ihn als Lästerer, Verleumder, da in der Stadt niemand ihn einer Verleumdung beschuldigt; seine Komplimente, die er wahrlich gut meint, hält man für Falschheit; die Süßigkeiten, die er den Frauenzimmern sagt und die nur höflich und verbindlich sein sollen, betrachtet man als Spott. – So groß ist die Verschiedenheit des Tons unter zweierlei Klassen von Menschen! –

Ein Professor, der in der literarischen Welt eine nicht gemeine Rolle spielt, meint in seiner gelehrten Einfalt, die Universität, auf welcher er lebt, sei der Mittelpunkt aller Wichtigkeit, und das Fach, in welchem er sich Kenntnisse erworben, die einzige dem Menschen nützliche, wahrer Anstrengung allein werte Wissenschaft. Er nennt jeden, der sich darauf nicht gelegt hat, verächtlicherweise einen Belletristen; einer Dame, die bei ihrer Durchreise den berühmten Mann kennenzulernen wünscht und ihn desfalls besucht, schenkt er seine neue, in lateinischer Sprache geschriebene Dissertation, wovon sie nicht ein Wort versteht; er unterhält die Gesellschaft, welche sich darauf gefreut hatte, ihn recht zu genießen, bei der Abendtafel mit Zergliederung des neuen akademischen Kreditedikts, oder, wenn der Wein dem guten Manne jovialische Laune gibt, mit Erzählung lustiger Schwänke aus seinen Studentenjahren.

Einst speisete ich mit dem Benediktiner-Prälaten aus I+++ bei Hofe in H+++; man hatte dem dicken hochwürdigen Herrn den Ehrenplatz neben Ihrer Hoheit der Fürstin gegeben; vor ihm lag ein großer Ragoutlöffel zum Vorlegen; er glaubte aber, dieser größere Löffel sei, ihm zur besondern Ehre, zu seinem Gebrauche dahingelegt, und um zu zeigen, dass er wohl wisse, was die Höflichkeit erfordert, bat er die Prinzessin ehrerbietig, sie möchte doch statt seiner sich des Löffels bedienen, der freilich viel zu groß war, um in ihr kleines Mäulchen zu passen.

In welcher Verlegenheit ist zuweilen ein Mann, der nicht viel Journale und neurere Modeschriften liest, wenn er in eine Gesellschaft von schöngeisterischen Herrn und Damen gerät!

Gleichsam wie verraten und verkauft scheint ein sogenannter Profaner, wenn er sich unter einem Haufen Mitglieder einer geheimen Verbindung befindet.

Freilich kann nichts ungesitteter, den wahren Begriffen einer feinen Lebensart mehr entgegen sein, als wenn eine Anzahl Menschen, die sich auf diese Art untereinander verstehen, einem Fremden, der gutmütig unter sie tritt, um an den Freuden der Geselligkeit teilzunehmen, durch ununterbrochene Lenkung des Gesprächs auf Gegenstände, wovon dieser gar nichts versteht, jeden Genuss der Unterredung rauben. Auf diese Art habe ich zuweilen in meiner ersten Jugend in Familienzirkeln, wo die Unterhaltung beständig mit Anspielungen auf mir gänzlich unbekannte Anekdoten durchflochten und durch gewisse mir fremde Redensarten und Bonmots, womit ich gar keinen Begriff verbinden konnte, gewürzt war, tötende Langeweile gehabt. Man sollte wohl mehr Rücksicht nehmen; allein selten sind ganze Gesellschaften so billig, sich nach einzelnen zu richten; auch lässt sich das nicht immer mit Recht fordern; folglich ist es wichtig für jeden, der in der Welt mit Menschen leben will, die Kunst zu studieren, sich nach Sitten, Ton und Stimmung andrer zu fügen.

3.

Über diese Kunst will ich etwas sagen. – Aber habe ich denn auch wohl Beruf, ein Buch über den esprit de conduite zu schreiben, ich, der ich in meinem Leben vielleicht sehr wenig von diesem Geiste gezeigt habe? Ziemt es mir, Menschenkenntnis auszukramen, da ich so oft ein Opfer der unvorsichtigsten, einem Neulinge kaum zu verzeihenden Hingebung gewesen bin? Wird man die Kunst des Umgangs von einem Manne lernen wollen, der beinahe von allem menschlichen Umgange abgesondert lebt? – Lasset doch sehn, meine Freunde! was sich darauf antworten lässt! Habe ich widrige Erfahrungen gemacht, die mich von meiner eigenen Ungeschicklichkeit überzeugt haben – desto besser! Wer kann so gut vor der Gefahr warnen, als der, welcher darin gesteckt hat? Haben Temperament und Weichlichkeit (oder darf ich es nicht Fühlbarkeit eines so gern sich anschließenden Herzens nennen?), haben Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft, nach Gelegenheit, andern zu dienen und sympathische Empfindungen zu erregen, mich oft unvorsichtig handeln gemacht, oft die kalkulierende Vernunft weit zurückgelassen; so war es wahrlich nicht Blödsinnigkeit, Kurzsichtigkeit, Unbekanntschaft mit Menschen, was mich irreleitete, sondern Bedürfnis, zu lieben und geliebt zu werden, Verlangen, tätig zu sein, zum Guten zu wirken. Übrigens werden vielleicht wenig Menschen in einem so kurzen Zeitraume in so manche sonderbare Verhältnisse und Verbindungen mit andern Menschen aller Art geraten, als ich seit ungefähr zwanzig Jahren; und da hat man denn schon Gelegenheit, wenn man nicht ganz von der Natur und Erziehung verwahrlost ist, Bemerkungen zu machen, und vor Gefahren zu warnen, die man selbst nicht hat vermeiden können. Dass ich aber jetzt einsam und abgezogen lebe, geschieht weder aus Menschenhass noch Blödigkeit; ich habe sehr wichtige Gründe dazu; allein diese hier weitläufig zu entwickeln, das hieße zu viel von mir selbst reden, da ich ohnehin noch, zum Schlusse dieser Einleitung, etwas über meine eigenen Erfahrungen werde sagen müssen, bevor ich zum Zwecke komme. – Also nur noch dieses:

4.