image

image

Für Lieselotte

Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © efenzi/iStockphoto

ISBN 978-3-7117-2088-7

eISBN 978-3-7117-5402-8

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Bastienne Voss, geboren in Berlin, absolvierte eine Schauspielausbildung und studierte Gesang in Dresden. Bevor sie langjähriges Mitglied des Berliner Kabarettensembles DISTEL wurde, spielte sie in verschiedenen Fernsehserien und am Theater. 2007 erschien ihr erster Roman »Drei Irre unterm Flachdach« (Hoffmann und Campe), 2010 »Mann für Mann« (Piper). 2015 gab sie das Buch »Glaubt mir kein Wort« (Bebra) mit nachgelassenen Satiren ihres 2013 verstorbenen Lebensgefährten, des Kabarettautors Peter Ensikat, heraus. Bastienne Voss lebt mit ihrer Tochter in Berlin.

Bastienne Voss

GRÜNAUGE
SIEHT DICH

Roman

Picus Verlag Wien

Seht ihr den Mond dort stehen?

Er ist nur halb zu sehen,

Und ist doch rund und schön!

So sind wohl manche Sachen,

Die wir getrost verlachen,

Weil unsre Augen sie nicht sehn.

MATTHIAS CLAUDIUS

Inhalt

1. TEIL

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

2. TEIL

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

EPILOG

1. TEIL

I

Es war der Sommer der Französischen Revolution und endloser Gespräche über Baby Kaminsky. In der Schule, wo Iris und Anja nebeneinander in der letzten Bank saßen, erklärte ihnen Zimmermann (Deutsch und Geschichte) den unaufhaltsamen Fortschritt der menschlichen Gesellschaft. Er sagte: »Wer die Französische Revolution versteht, versteht die Weltgeschichte.« Es war sein Lieblingssatz. Iris wusste nicht, ob er recht hatte, aber die bunten und wilden Bilder des großen Ungehorsams beschäftigten ihre Fantasie. Die Trikolore vor einem Himmel voller schwarzem Qualm und Köpfe, die auf Piken steckten. Leute in Lumpen überrannten die Soldaten und stürmten die Bastille. Der Kongress setzte den König ab, und Marie Antoinette wurde auf einem Karren zum Schafott gefahren.

Anja fand, dass das alles langweilig war, weil viel zu lange her, aber nur vier Jahre war es her, dass Iris Landowski und Baby Kaminsky im Ferienlager als festes Paar gegolten hatten. Sie war damals zwölf und Baby vierzehn gewesen, und als sie wieder in Berlin waren, da war die Sache irgendwie stecken geblieben, und jetzt hatte Anja ein Auge auf Baby geworfen, und Baby anscheinend ein Auge auf Anja. Eigentlich interessierte sie das nicht, denn Baby gefiel ihr gar nicht mehr so, dass Anja aber Baby gefiel, besser als sie, das gefiel ihr überhaupt nicht, und manchmal klopfte deshalb ihr Herz. Das Gefühl, das sie bisher nicht gekannt hatte, hieß vermutlich Eifersucht.

Lange hatte Iris geglaubt, dass ihr Vater in ein ganz normales Büro ging, wie andere Leute auch, denn er ging mit einer Aktentasche los und kam, wie andere Leute auch, am späten Nachmittag nach Hause. Manchmal aber nahm er eine Sporttasche mit, und manchmal blieb er länger weg, und bis vor zwei Jahren hatte sich dann Frau Schmidt, die alte Nachbarin, um sie gekümmert. Inzwischen wusste sie, was ihr Vater machte, und inzwischen musste sich Frau Schmidt nicht mehr kümmern, wenn sie alleine war.

Es war noch gar nicht so lange her, dass sie es genau wusste. Ein Jahr vielleicht. Sie wusste es, seit ihr Vater sie mal in sein Büro mitgenommen hatte, und weil sie dort Leuten in Uniform begegnet war. Ihr Vater trug keine Uniform. Ihr Vater ging ganz normal aus dem Haus. Und dann nahm er sie mit und sie sah die Uniformen, und sie fragte ihn, was die Uniformen mit dem Außenhandel zu tun hatten und fragte sich noch heute, ob er damals wirklich gedacht hatte, sie würde sich nicht wundern.

Abends dann hatten sie auf dem Sofa gesessen, und er hatte ihr erklärt, was genau er eigentlich machte. Manchmal sagte er den Leuten, dass er beim Außenhandel arbeitete und manchmal nannte er seinen eigentlichen Beruf: Sportlehrer. Und in seltenen Fällen sagte er, was er wirklich machte, so hatte er es ihr erklärt. Je nach Fall, Sachlage, Anliegen, Persönlichkeit.

Studierter Sportlehrer, später Umschulung zum Außenhandelskaufmann. Damit war sie groß geworden. Das war ihr Vater gewesen, und nun war er etwas anderes. Und am Schluss hatte er gesagt, dass sie mit niemandem darüber reden solle.

Und seitdem verstand sie mehr als die meisten. Man musste ein Land schützen, vor allem wenn es klein und verwundbar war. Selbst Länder, die nicht klein und verwundbar waren, schützten sich. Amerika schützte sich, und wie sich Amerika schützte. Amerika, die unverwundbare Weltmacht. Kuckuck. Sie fand das mit dem Schützen logisch, absolut logisch, und sie war dafür. Im Nachtschrank ihres Vaters lag seine Dienstwaffe. Auch das wusste sie, seit ihr Vater mit ihr gesprochen hatte. Und sie war stolz darauf, dass ihr Vater eine Waffe haben durfte, auch wenn sie nicht geladen war, solange sie im Nachtschrank lag. Manchmal, wenn sie alleine war, ging sie ins Schlafzimmer und holte die Waffe aus dem kleinen Schrank. Nicht mal Anja wusste, dass ihr Vater eine Waffe hatte. Die Waffe lag schwer in ihrer Hand, und Iris trat damit vor den großen Spiegel im Flur. Sie zielte auf sich selbst, als sich die Wohnungstür geräuschlos öffnete und James Bond eintrat, mit diesem Bondlächeln. Aber Bond trug einen grünen Anorak mit Bund und Reißverschluss und schlenkerte mit seiner braunen Aktentasche. Die Tür schloss sich geräuschlos, und James Bond alias Leo Landowski war wieder verschwunden. Iris zielte noch immer auf sich selbst und ahmte einen Schuss nach. Ein Spiel. Den Spiegel hatte sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen, damals, vor zehn Jahren, als sie und ihr Vater verlassen worden waren.

Es war Sommer, und seit ein, zwei Jahren verbanden sich mit dem Sommer die Hoffnungen. Sie trugen die Röcke sehr kurz, dazu knappe Oberteile mit Spaghettiträgern, und auf der Ablage im Bad stand eine Flasche mit rotem Nagellack. Sie waren in der Zehnten und kamen in die Elfte, und seit ein, zwei Jahren begannen sie zu hoffen, wenn der Sommer anfing.

Anja hatte lange Beine, aber Iris Beine waren länger. Anja hatte größere Brüste, wenn auch keine großen, eben nur größere, dafür hatte Iris das schönere Gesicht. Anja hatte Pausbacken und ein zu stark ausgeprägtes Kinn, aber Iris sah, und das war ein wirkliches Problem, viel zu jung aus. Vielleicht war das ein Nachteil, in den Augen Baby Kaminskys.

Leo Landowski brachte selten etwas mit von seinen Reisen, aber einmal hatte er was Besonderes gekauft. Es war ein Bumerang, »Handmade in Australia«, der von seinem ersten Flug über ein Feld in Stahnsdorf, wo Anjas Tante Heidi einen Schrebergarten hatte, nicht zurückkehrte. Sie hatten den halben Acker abgesucht und ihn nicht wiederfinden können. Er war ein Einzelstück für Linkshänder gewesen, das ihr Vater auf einem Wuppertaler Trödelmarkt entdeckt hatte. »For left hand« stand unter »Handmade in Australia«. Sie hatten gelost, und Anja hatte den ersten Wurf gehabt. Aber sie war Rechtshänderin, und deshalb hatte der Bumerang weder gewusst, wohin er fliegen sollte, noch dass es seine Bestimmung war, zurückzukommen. Stattdessen hielt ein Motorrad mit zwei Uniformierten und ein Wachtmeister Namens Pollermann fragte nach ihren Ausweisen. Anjas Eltern schwiegen bedeutsam, als sie von der Geschichte erfuhren.

Da war die Schule, das kleine Café, die Freundin, die Jungs, und hier, hier war ihr Zuhause. Die Wohnung war groß und hell, vier Zimmer mit Parkett und einer Flügeltür, Balkon. Iris wusste, dass die meisten nicht so wohnten wie sie, aber von der Fassade des Hauses gegenüber waren im Laufe der Jahre ziemlich viele Kacheln abgefallen, und niemand bemühte sich, sie wieder dranzumachen, alles war hier also auch nicht perfekt.

An den Tag musste sie immer wieder denken, als ihre Mutter vor dem Kleiderschrank im Schlafzimmer stand und Sachen in einen Koffer packte. Sie hatte kein Wort gesagt und einfach nur zugesehen, aber als ihrer Mutter ein Sockenknäuel aus der Hand gefallen und unter den Schrank gerollt war, da war sie hinterhergekrochen und hatte es wieder hervorgezerrt und in den Koffer getan, obwohl sie nichts lieber wollte, als dass ihre Mutter bei ihnen blieb. Später hatte ihre Mutter sie auf den Arm genommen und gedrückt und gesagt, dass sie bald wieder zusammen sein würden, aber das Versprechen war nicht eingelöst worden. Sie war bei ihrem Vater geblieben und sah ihre Mutter manchmal an den Wochenenden, das war bis heute so, und inzwischen war es in Ordnung.

Wenn Iris Vater dienstlich unterwegs war, machten die Mädchen Fotos vor dem Spiegel im Flur. Anja hatte die Kamera ihrer Eltern mitgebracht, eine Praktica, und sie übten alle möglichen Posen. »Beug dich mal vor«, sagte Anja, und Iris beugte sich vor und sah jetzt ihr Gesicht deutlicher im Spiegel, sah die leichten Schatten unter den Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, die immer da waren, und die ihr auch nicht halfen, älter auszusehen. Sie tranken »Stierblut«, einen ziemlich schweren Wein aus Ungarn, und der Mond sah ihnen zu und schien kalt und weiß auf ihre Haut und die Gläser und den Wein und den Aschenbecher, eine halb mit Wasser gefüllte Kaffeetasse. Gegen den Geruch. In der Diele standen Kerzen, eine ganze Batterie, weil das Deckenlicht zu hell war, und so glänzte das Parkett wie flüssiger Honig. Würde man leider nicht sehen auf den Bildern, denn der Film war nur schwarz-weiß. Gab selten Honig zu kaufen. Warum eigentlich? Gab doch genug Bienen. In der Kaffeetasse jede Menge Kippen. Aber später Durchzug, und Papa kam sowieso erst übermorgen zurück.

Eines Abends sagte Anja: »Wir können uns ja mal ausziehen beim Fotografieren.«

Sie knöpfte ihre Bluse auf, und Iris zog sich den Pullover über den Kopf. Dann kletterten sie aus ihren eng sitzenden Jeans. Anja hatte wirklich die größeren Brüste und trug ein weißes Höschen mit einer roten Schleife. Iris Höschen war von verwaschenem Rosa und bedruckt. Mit einem Schmetterling und dem Wort DIENSTAG.

Iris stellte sich vor, was passieren würde, wenn ihr Vater jetzt nach Hause käme. Überraschend, früher als geplant, und genau das war nicht vorstellbar. Ihr Vater, ein Beschützer des Staates, kam nach Hause und fand in seinem honiggoldenen Flur zwei nackte Mädchen vor, die einander auch noch fotografierten. Das durfte nicht sein. Durfte niemals passieren. Doch nun waren sie nackt und machten jede von der anderen sechs Bilder. Jeweils drei von vorne und drei von hinten, und dann fand Iris, dass sie sich vielleicht besser wieder anziehen sollten.

Zum Entwickeln konnte man den Film nirgendwo hinbringen, also klappte Anja die Kamera auf, und aus dem Schwarz-Weiß-Film wurde ein Film, der nur noch schwarz war.

»Jetzt ist nichts mehr drauf«, sagte Iris, und Anja sagte: »Wir können es ja wieder machen.«

Später saßen sie in der Küche, rauchten und tranken den »Stierblut« aus und sahen dem Mond dabei zu, wie er sein Gesicht verlor und nur noch eine Wachsscheibe war, wie er langsam in die rechte untere Hälfte des Küchenfensters wanderte, wie er aufhörte sie zu beobachten und ihnen sein weißes Licht entzog. Dann ging Anja nach Hause.

Manchmal bekam Iris Geld von ihrer Mutter, und vor allem nähte ihre Mutter schöne Sachen, die sie in einem kleinen Laden im Prenzlauer Berg verkaufte oder ihr schenkte.

Elke Landowski war gelernte Schneiderin und hatte später eine Abteilung in einem Kaufhaus für Jugendmode geleitet. Aber die Mode, die es zu kaufen gab und die man im Fernsehen sah und in den Modezeitschriften, hatte ihr nie gefallen. Vor allem die Jeans nicht, die die jungen Mädchen trugen. »Das sind Froscharschhosen«, sagte sie. »Da kommt es nicht drauf an, wie die geschnitten sind, weil man den Arsch vom Frosch für gewöhnlich nicht sieht.« Vor allem aber wollte sie zu keinem Kollektiv mehr gehören. Bald nachdem Elke Landowski zu Hause ausgezogen war, war sie nicht mehr Abteilungsleiterin im Kaufhaus, sondern machte einen kleinen Laden auf. Und seitdem schneiderte sie Jeans nach Maß. Sie sagte: »Junge Mädchen haben Sehnsucht nach schönen Hosen.« Die Stoffe dafür kaufte sie auf Märkten. In Warschau oder Budapest. Sie war zweimal im Jahr unterwegs. Einmal fuhr sie nach Warschau, einmal nach Budapest. In Budapest gab es die besten Stoffe. Einmal hatte sie auf der Straße eine Frau in einem Bananenrock gesehen. Ein knöchellanger Rock mit schrägen Nähten, die die Form von Bananen hatten. Ein Bananenrock eben. Sie hatte die Frau angesprochen und erfahren, dass sie den Rock von einer Tournee mitgebracht hatte. Aus Japan. Die Frau war eine Tänzerin in einem Ballettensemble gewesen.

Seitdem nähte Iris Mutter auch Bananenröcke. Japanische Bananenröcke und Jeans, die nicht wie Froscharschhosen aussahen. Die Stoffe für die Bananenröcke kaufte sie in einem Kurzwarenladen in Berlin. Sie waren grau oder dunkelblau oder von einem dunklen Graublau, sahen billig aus und waren eine Art Jeansstoffimitat, und trotzdem verkauften sich die Röcke glänzend. »Ich bin stolze Besitzerin eines Jeanshosen- und Bananenrockladens«, sagte Elke Landowski und war glücklich.

Und Iris war stolz auf ihre Mutter. Die Levi’s, die ihr Vater aus dem Westen mitgebracht hatte, hatte sie sofort zu ihr gebracht, wegen des Schnitts, damit sie ihn nachmachen konnte, und seitdem gingen die Jeans noch besser weg. Besser als die Bananenröcke.

In der Schule trug Iris die Jeans ihrer Mutter, die Levi’s zog sie nur in der Freizeit an.

»Nicht in der Schule. Das macht keinen guten Eindruck«, hatte ihr Vater gesagt, als er ihr die Hose feierlich überreichte. Die Antifroscharschhosen saßen gut, und die Levi’s saß perfekt. Aber kein Wort dazu. Denn sie ging davon aus, dass ihre Mutter das selbst sah, und wollte sie nicht verletzen.

Im Fenster des Ladens hing ein Schild: »Jeans. Bananenröcke. Oberteile. Änderungen aller Art«. Der Laden hieß »Schneewittchen und Co«. Viele Mädchen aus der Schule kauften Jeans bei Elke Landowski.

Iris Mutter hatte sie abgesetzt, auf dem glänzenden Parkett im Flur vor dem schönen Spiegel, und dann war sie gegangen. Damit du sehen kannst, wie schön du wächst. Iris zerkratzte damals mit der Küchenschere das Parkett im Flur, genau an der Stelle, wo sie mit einem Versprechen abgesetzt worden war. Die Stelle war geblieben, weil es nirgendwo dieses Parkett gab, und schon seit Langem lag darüber ein Teppich.

Iris sah zwar wie vierzehn aus, aber sie sah einem Model ähnlich, einer Ella-Victoria aus dem großen, unverwundbaren Amerika. Nur hieß sie Iris Landowski und lebte in der DDR, und da wurde man nicht so leicht Fotomodell. Aber sie träumte davon, manchmal, und ihre Mutter fand das gut. Eigentlich war es nur der Schatten eines Traums, denn die Möglichkeit schien ihr so weit weg wie eben Amerika.

»Das ist kein richtiger Beruf«, sagte ihr Vater.

Was war denn ein richtiger Beruf?

»Du bist doch alt genug, du musst doch wissen, was du mal werden willst.« Wie ihr der Satz zum Hals raushing. Wie wurde man Fotomodell? Sie wusste es nicht.

Mit zwölf hatte sie ihre erste Regel bekommen. Im Ferienlager, auf der Toilette. Und nachdem sie sich erst wahnsinnig erschrocken hatte, war ihr eingefallen, dass es das war, was Anja seit einem halben Jahr hatte, und da hatte sie sich wiederum wahnsinnig gefreut. Das war ja ziemlich früh, andere bekamen das erst mit dreizehn, vierzehn. Und weil sie insgesamt nicht so weit gewesen war wie die meisten, rein körperlich gesehen, war sie davon ausgegangen, dass es bei ihr erst mit fünfzehn losgehen würde, also wenn sie praktisch schon anfing, alt zu werden.

Fast so früh wie bei Anja, und da war ihr das Ferienlager gar nicht mehr wie Ferienlager vorgekommen. Mehr wie Urlaub. Urlaub mit Baby Kaminsky, der eigentlich Moritz hieß, der schon vierzehn war und unfassbar süß, und den alle Baby Kaminsky nannten, weil er ein Gesicht hatte, glatt wie ein Babyarsch.

Alle Mädchen hatten Baby Kaminsky gewollt, schon wegen des Namens und wegen des schönen glatten Babyarschgesichts, aber keine hatte ihn bekommen, weil Baby Kaminsky küssen wollte und weil sich keine traute, ihn zu küssen. Und weil Iris wegen der ersten Regel ihres Lebens über Nacht abgehoben war, war sie die Erste gewesen, die sich getraut hatte, Baby Kaminsky zu küssen. Mit allem Drum und Dran, mit allem, was zu einem guten Kuss dazugehörte. Und so waren Baby Kaminsky und Iris Landowski ein Paar geworden, praktisch vierundzwanzig Stunden nach der ersten Regel, und waren die Sensation des Ferienlagers. Und Anja hatte gesagt: »Ab jetzt kannst du Kinder kriegen«, denn Anja hatte Baby Kaminsky inzwischen auch geküsst und behauptete, er sei ein Junge, der nicht aufpasse. Und Baby Kaminsky behauptete das Gegenteil, nämlich dass er Anja nicht geküsst habe und dass er einer sei, der sehr wohl aufpasse. Zum Beweis dafür holte er eine kleine Schachtel aus seiner Jackentasche, und Iris fragte sich, wozu er die Schachtel eigentlich brauchte, denn bis jetzt hatte er nichts anderes von ihr gewollt als immer nur Küsse.

Iris hatte Baby Kaminsky noch eine Weile lang besucht und war regelmäßig in die Paul-Robeson 41 im Prenzlauer Berg gefahren, um ihn zu küssen und dabei an die kleine Schachtel zu denken, bis Baby Kaminsky plötzlich doch Pickel und vor allem tausend andere Sachen im Kopf hatte. Nein, dass Baby Kaminsky ein Auge auf Anja warf, gefiel Iris wirklich überhaupt nicht, auch wenn ihr Baby Kaminsky gar nicht mehr so gut gefiel.

Das Knautschen, die neue Schlaftechnik, funktionierte nicht. Auf den Bauch legen, das Gesicht in die Hände, die Wangenhaut hochschieben bis zu den Augenbrauen, so liegen bleiben, die ganze Nacht. Aber Iris drehte sich um im Schlaf und lag morgens meistens auf dem Rücken. Zwei, drei kleine Falten vielleicht, manchmal, aber die waren schon weg, bevor sie das Haus verließ.

Die Brieffreundschaft mit Igor aus Wladiwostok, der einen schiefen Pony, eine Kartoffelnase und die üblichen Segelohren hatte (warum es so war, dass den meisten Russen die Ohren abstanden, jedenfalls denen, die Briefe schrieben, wusste niemand so genau), nahm Iris nicht ernst. Sie hatte die Bekanntschaft längst beenden wollen, schrieb ihm aber aus reiner Gewohnheit immer noch. Zuletzt hatte er ihr mitgeteilt, dass in seinem Haus der Fahrstuhl kaputtgegangen war, worauf sie ihm geantwortet hatte, dass von der Wand des Hauses bei ihr gegenüber die Kacheln abfielen. Für den Satz hatte sie ewig gebraucht, und wahrscheinlich war er trotzdem falsch.

Seit sie dreizehn, vierzehn war, nahm ihr Vater sie, wenn er innerhalb des Landes zu tun hatte, manchmal mit auf seine dienstlichen Reisen. Iris liebte diese kleinen Ausflüge an Orte, die sie noch nicht kannte. Er traf dort Leute, und sie hatte ein paar Stunden Zeit und erkundete die Gegend. Abends gingen sie essen und sie fühlte sich neben ihm wie eine Frau, erst recht, seit er mit ihr über alles gesprochen hatte. Sie genoss die Stunden mit sich, und sie genoss die Stunden mit ihm, und es kam ihr vor, als ob sie, alleine durch ihre Mitwisserschaft, das Land ebenso schützte wie er. Was sie miteinander teilten, war groß und bedeutend.

Zimmermann (Deutsch und Geschichte) hatte ihnen erzählt, dass die Guillotine von einem Deutschen erfunden worden war. Der hatte Schmidt geheißen und Klaviere gebaut. Sie merkte sich nicht viel. Nur das Nötigste, für Klassenarbeiten, aber dass ein deutscher Klavierbauer die Guillotine erfunden hatte, das würde sie nicht vergessen.

Iris hatte Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen konnte. Sie hatte sich vorgenommen, in den entscheidenden, den tiefergehenden Fragen weiterzukommen, obwohl sie meistens nicht wusste, welche Fragen die entscheidenden waren. Klare Momente bezüglich entscheidender Fragen kamen und gingen wie Sternschnuppen, und vielleicht war das normal in dem Alter, und außerdem war Sommer, und der Sommer war voller Hoffnungen.

II

Es war nichts von dem zu merken, was gerade im Land passierte. Die Leute gingen zur Arbeit, saßen in Cafés und Kneipen und standen nach irgendwas Schlange. Es war alles wie immer, und trotzdem war etwas anders.

Leo Landowski wusste nicht, ob es Einbildung war, aber die Straßen und Plätze schienen stiller als sonst, beinahe verlassen. Ein bisschen unbehaglich. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob nicht im Verborgenen Dinge passierten, die sich auf mysteriöse Weise seiner Kenntnis entzogen. Er fragte sich das nicht zum ersten Mal, und nicht zum ersten Mal wusste er darauf keine Antwort oder wollte er keine wissen. Manches ließ man besser im Vagen. Landowski kickte einen Stein von der Gehwegplatte ins Gebüsch. Weg war er. Im Vagen.

Die Morgensonne mild, der Platz menschenleer. Man konnte es auch so sehen. Von der Leere ging etwas Friedliches aus. Am Himmel kreuzten sich Kondensstreifen, noch klar in den Konturen. Ganz frisch.

Was doch um die Welt geflogen wurde. Um die Welt. Sie hatten das zu lange ignoriert, dass die Leute um die Welt fliegen wollten. Vielleicht war es das, nur das. Aber sie ließen die Leute nicht um die Welt fliegen. Warum nicht? Der Frage war mit einem Satz nicht beizukommen. Auch nicht mit zwei Sätzen, weil das alles nicht so einfach war, wie manch einer gerne glaubte. Die Dinge waren zu komplex, als dass es einfache Lösungen gab, und nicht selten steckte der Teufel in genau dem Detail, das für die wenigsten sichtbar war. Wer mehr wusste, der sah auch mehr, so war das nun mal, und leider konnte man nicht alle alles wissen lassen. Das galt überall, selbst im eigenen Haus. Ich weiß etwas, was du nicht weißt, war das nicht die Regel? Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt anders war.

Schon lösten sich die Streifen auf, und gleich war der Himmel wieder ohne Muster, die sommerblaue Unschuld selbst, und sah aus, als ob gar nicht um die Welt geflogen würde.

Zwei Spatzen stritten um einen Brotkrümel. Leo Landowski blieb stehen und sah ihnen zu. Einziges Geräusch im Augenblick ihr aufgeregter Dialog. Der dicke verlor gegen den fast verhungerten. Vielleicht, dachte er, ist es ein Gesetz, dass der Schwächere gewinnt, wenn es ums nackte Überleben geht.

Vielleicht ging es ums nackte Überleben. Der Gedanke schien ihm überspitzt, beinahe absurd, andererseits aber war es in Anbetracht der Lage – das wurde ihm eben deutlich – der einzig richtige, der einzig zulässige Gedanke.

Sie waren weit weg von den wirklichen Themen. Sie waren gar nicht mehr dabei oder waren nie – aber so weit wollte er nun doch nicht gehen – dabei gewesen. Sie hockten seit Jahren mit der ganzen schönen Theorie im Gepäck unter einer Glocke und hauten einander Begriffe um die Ohren. Triebkraft, Wachstum, Fortschritt, und jeden Tag ein unbeschwertes »Guten Morgen, Genosse Oberst«.

Ungeachtet jeder politischen Wetterlage: Sie versammelten sich zu Versammlungen und planten die Planung und planten fünf Jahre im Voraus und hatten sich, ohne es zu merken, zehn Jahre zurückgeplant, weil sie, anstatt zu handeln, immer nur planten.

Und natürlich war das alles nicht neu, war aber, und er musste zugeben auch von ihm, niemals bis zu einer daraus folgenden Konsequenz zu Ende gedacht worden. Sie sahen eben nicht die Details, wider besseres Wissen. Sie taten so, als ob immer die Sonne schiene, aber so war es nicht, sie schien nicht immer.

Der Himmel wurde dunkel und es fielen ein paar Tropfen. Daumennagelgroße Tropfen. Jemand saß da oben, an einem Dimmschalter, und dimmte den Himmel auf dunkel. Jemand, der seine Gedanken erriet.

Landowski legte einen Schritt zu. Nichts begriffen, immer nur schön durchideologisiert. Er konnte sich nicht erinnern, je mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen zu sein. Musste er aber wohl. Kannte er eigentlich seinen Intelligenzquotienten? Kannte er nicht.

Und jetzt war kein Deckel mehr drauf. Sie saßen nicht mehr unter einer Glocke. Glasnost und Perestroika. Jetzt kam da Luft ran, und das ganze schöne Glockenspiel war vorbei. Obgleich die Sache mit Glasnost und Perestroika auch nicht klar war. Vorschläge, nur Vorschläge, kühne Ideen, gut und schön, aber weit und breit keine Lösungen. Was genau hieß das eigentlich, Glasnost und Perestroika? Er wusste es gar nicht ganz sicher, und das war auch wieder so eine Sache.

Die daumennagelgroßen Tropfen klatschten ihm in den Nacken, doch Landowski musste seinen linken Fuß auf der Betoneinfassung einer Blumenrabatte abstellen und sich bücken, um seinen Schnürsenkel zuzubinden. Er bückte sich also, und da sah er es. Er sah es deutlich und konnte es nicht fassen. Da guckte ihn aus der Rabatte heraus etwa dreitausendmal Karl Marx an. Er lief seit elf Jahren an dieser Rabatte vorbei, und nie vorher war es ihm aufgefallen: Die Stiefmütterchen, sie alle sahen aus wie Karl Marx.

Seit eben, seit jemand parallel zu seinen Überlegungen den Himmel gedimmt hatte, war er abergläubisch, und nun hoffte er und kam sich durchaus töricht vor, dass diese Entdeckung irgendetwas zu bedeuten hatte. Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht, und mach dann noch ’nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht. Er sang das leise vor sich hin.

Fazit des Morgens: Dreitausendmal Karl Marx in Form von Stiefmütterchen und eine späte, aber vielleicht gerade noch rechtzeitige Erkenntnis.

Landowski sah auf die Uhr, es war acht. Der Paternoster hatte Hochbetrieb und brachte die verschiedenen Dienstgrade in ihre Etagen und zu ihren Panzerschränken. Als er das Haus betrat, verließen Knie und Schuhe von Oberst Gorski gerade das Erdgeschoss. Der Paternoster entsprach übrigens nicht den Sicherheitsanforderungen. Es gab immer wieder Unfälle. Erst neulich hatte eine Sekretärin der Abteilung sechzehn den Einstieg verpasst, war mit dem Fuß zwischen zwei Kabinen stecken geblieben und hochgezogen worden, sodass sie schließlich mit dem Kopf nach unten von der Decke gehangen hatte. Man sagte, es sei ein beschämender Anblick gewesen. Die Feuerwehr hatte die Frau aus dem Paternoster herausfräsen müssen. Und vor Jahren – das hatte er sogar mit angesehen – war ein alter Spanienkämpfer im letzten Moment aus der Kabine gesprungen und so ungünstig gelandet, dass er sich den Knöchel gebrochen hatte. Ausgerechnet eine sozialistische Sicherheitsbehörde verfügte über ein derart unsicheres Transportmittel, und es trug noch dazu den Namen »Vaterunser«.

Der Termin beim Chef war in einer halben Stunde, also konnte er in Ruhe einen Fahrplan für den Tag machen, ein Ritual, auf das Landowski ungern verzichtete, denn klare Strukturen bedeuteten ihm etwas. Stattdessen aber nahm er einen Stift und schlug die Diplomarbeit eines gewissen Kieslich auf, eines Studenten der juristischen Hochschule, eines Anwärters auf den Dienst im Ministerium, für den er eine Art Mentorenschaft übernommen hatte. Eine Arbeit, die er gerne machte, obwohl es oft Grund zum Ärger gab. Er las: Wahrheitswidrige, destruktive Aussagepositionen Vernommener beruhen oft auf entsprechenden relativ stabilen Aussagekonzeptionen; ihre Überwindung setzt in der Regel eine gezielte Einflussnahme auf die diesen zugrundeliegenden Regulationskomponenten, insbesondere die Orientierungs- und Motivationsprozesse, voraus.

Warum lernten die nicht, in einigermaßen verständlichem Deutsch zu schreiben?

Die Wirksamkeit dieser Beeinflussung hängt wesentlich davon ab, ob durch den Untersuchungsführer in der Vernehmung die entscheidenden Regulationskomponenten der Aussagetätigkeit des Vernommenen erkannt und angesprochen werden.

Kieslich war ein schwerer Fall. Er strich die Passage durch und schrieb an den Rand: Versuchen Sie so zu formulieren, dass es auch Ihr Nachbar versteht!

Landowski sah auf das Bild des Staatsratsvorsitzenden und ihm fiel wieder ein, dass er die Bahnhofsuhr über die Tür und den Vorsitzenden an die Wand hinter sich hängen wollte. So sah ihn jeder, der hereinkam, und er selbst sah ihn nicht den ganzen Tag. Es handelte sich um einen blaustichigen Fotodruck. Er nahm sich die Aktion täglich vor, und täglich vergaß er sie. In Wahrheit aber hielt ihn der Umstand ab, dass er dafür von irgendwoher eine Leiter besorgen musste. Morgen, dachte er, morgen.

III

Henry Weber saß im Vorgarten seines Reihenhauses, das in einem Ort bei Stuttgart stand, und pellte sein Frühstücksei. Er köpfte es nicht mehr, seit jemand gesagt hatte, wer ein Ei köpfe, habe einen schlechten Charakter. Obwohl Weber für solche Sprüche nichts übrig hatte, pellte er seitdem sein Ei.

Er sah sich den Rasen an, der einfach nicht grün werden wollte, obwohl er wirklich alles machte – nachsäen, düngen, ausbessern.

In seiner neuen Armanijacke war ein Riss, an irgendetwas musste er hängen geblieben sein. Er fragte sich, ob Angelika das wieder hinbekommen würde.

Wenn man das Ei nicht köpfte, dann blieb an einer Stelle immer zu viel Schale dran, sodass man weiter und weiter pellte, bis das Ei fast ganz gepellt war. Ein weich gekochtes Ei aß man aber mit dem Löffel, und jedes Mal gab es eine fürchterliche Kleckerei. Ein bisher ungelöstes Problem. Wäre schön, dachte er, wenn es ein mathematisches Modell gäbe, mit dem man die Form der Bruchstelle in Abhängigkeit von der Härte der Schale beschreiben könnte.

Henry Weber ging den Dingen gerne auf den Grund. Das hatte er schon als Kind getan und hatte seinen einzigen Teddybären getötet. Mit dem Küchenmesser. Ein Schnitt vom Hals bis zu den Beinen und alles raus, was im Bauch war. Große Enttäuschung. Daraufhin hatte er auch Arme, Beine und Hinterkopf aufgeschlitzt, in der Hoffnung, da doch noch anderes zu finden als nur so eine Art altes Stroh. Zu der immer größeren Enttäuschung war als Höhepunkt die Hand seiner Mutter als Abdruck auf der Wange gekommen, und später hatte er gehört, wie sie zu seinem Vater sagte: »Ich glaube, mit unserem Jungen stimmt was nicht.« Er allerdings hatte sich für völlig normal gehalten. Er hatte gedacht, dass alle Kinder ihre Teddys aufschlitzten, um nachzusehen, was drin war. Er war damals in die erste Klasse gegangen und wie sich herausstellte, hatte kein Kind außer ihm bisher seinen Stoffbären auf so bestialische Weise umgebracht. Bei den anderen kam Liebe vor Neugier, und da hatte er überlegt, ob mit ihm vielleicht wirklich irgendwas nicht stimmte.

Heute verstand Weber eine Menge von Systemen, höheren Ordnungen, Gesetzmäßigkeiten, befasste sich mit Atomen, mit Materie und Energie und deren Wechselwirkung in Raum und Zeit. Es war durchaus nicht so, dass es nachts dunkel war, nur weil die Sonne irgendwann unter dem Horizont stand, und er war davon besessen, dieses und andere Phänomene zu erklären. Kaum jemand wusste, warum der Himmel blau war und wie ein Abendrot entstand, warum das Meer rauschte, warum der Mond manchmal auch am Tage zu sehen war, warum es Blitze gab, wenn es gewitterte, Wetterleuchten, Alpenglühen, Wellenmuster im Sand. Und niemand wusste, warum sich der Klang veränderte, wenn man mit dem Löffel auf den Boden der Kaffeetasse klopfte, nachdem man umgerührt hatte. Aber für alles gab es eine Erklärung, ein Modell, eine Formel, ein System. Das mit dem Kaffee machte er dauernd vor, das bot sich an, das konnte man immer und überall zeigen, wo es Kaffee in Tassen gab. Allerdings bekam er nie die Aufmerksamkeit, die er sich wünschte, was ein bisschen schade war. Man konnte auch von außen an den Rand der Tasse klopfen, da funktionierte es genauso, aber eben nicht ganz so gut wie wenn man auf den Boden klopfte. Meistens kam es zur Demonstration dieses kleinen feinen Unterschieds schon nicht mehr, und trotzdem hatte er im Laufe seines Lebens bestimmt hunderttausendmal auf den Boden einer Kaffeetasse geklopft. Vielleicht stimmte mit ihm ja doch nicht so ganz alles. Angelika führte er es immer wieder vor, weil die behauptete, keinen Unterschied zu hören, egal wo er klopfte. Weber lehnte sich einen Moment in seinem Gartenstuhl zurück, ein Moment des Innehaltens, der Kontemplation. Die Ligusterhecke war hochgewachsen im Laufe der Jahre, und sie wuchs unordentlich. Ihr wilder Wuchs verstieß klar gegen die Reihenhausordnung, vielleicht mochte man sie deshalb nicht besonders hier. Die meisten Nachbarn grüßten zwar freundlich, aber das hieß noch lange nicht, dass sie es auch so meinten.

»Du hast Post aus dem Osten.« Angelika rief aus der Küche in den Garten. Er mochte ihre Stimme. Sie war tief und immer ein bisschen heiser. Vor Jahren hatte sie ihre Stimmlippen untersuchen lassen, aber der Arzt hatte nur feststellen können, dass sie perfekt schlossen und frei von Knötchen waren. Angelika arbeitete als Krankenschwester auf Station C – das war die Sterbestation – im städtischen Klinikum Schwenningen. Sie hatte viel gesehen, Seite an Seite mit Gott, wenn es ihn denn gab. Wer an der Reihe war, der schlief ruhig ein, wenn Angelika am Krankenbett saß.

Weber wischte mit der flachen Hand über den ursprünglich weißen Plastiktisch, an dem er gefrühstückt hatte. Er nahm seine Mahlzeiten draußen ein, sobald und solange das Wetter es zuließ. Alle Gartenmöbel waren mal weiß gewesen, jetzt waren sie mit einem Grauschleier überzogen und hatten den Charme der Sitzgruppe im Warteraum der Sozialstation am Bahnhof Schwenningen. Man bekam das Grau nicht weg, mit keinem Putzmittel der Welt, im Gegenteil, es fraß sich um so tiefer in das Weiß hinein, je länger man auf den Möbeln herumschrubbte. Smog und Witterungseinflüsse, Smog vor allem. Weber beschloss, dem traurigen Anblick ein Ende zu setzen und noch in diesem Sommer neue Gartenmöbel zu kaufen. Aus Holz.

Weber, der Wissenschaftler, sehnte sich nach der normativen Kraft des Faktischen. Nach einem Hagelsturm oder einer Überschwemmung, nach einem Ereignis, das die Bewohner von Schwenningen – Angelika und ihn eingeschlossen – aus ihrer Lethargie riss und sie zwang, Dinge zu tun, die sie sonst nicht taten. Zum Beispiel zu staunen. Aber er hatte, in den ganzen zehn Jahren, seit sie hier lebten, über Schwenningen nicht mal einen Regenbogen gesehen. Selbst Regenbogen machten einen Bogen um diesen Ort. Das Wetter hier hatte, wie auch die Stadt, den Beat eines stillgelegten Bahnhofs.

Dass er Geige spielte, in einem Quintett, das er zusammen mit vier Institutskollegen vor ein paar Jahren gegründet hatte, war der Ausgleich, war eine Art Entschädigung für so viel versammelte Trostlosigkeit.

»Hier, dein Brief.« Angelika stand vor ihm und legte das Kuvert auf den Tisch. Henry sah auf den Absender. Der Brief kam von seinem Cousin, der in einem Dorf am Greifswalder Bodden lebte. Er überschlug Jahreszahlen im Kopf. Neunzehnhundertsechzig, jetzt war neunundachtzig, es war neunundzwanzig Jahre her, dass er dort Ferien gemacht hatte.

Henry las den Brief, und da hatte er sein Ereignis, auch wenn es sich von einem Hagelsturm deutlich unterschied. »Mein Cousin hat mich eingeladen«, sagte er zu Angelika, und um sicherzugehen, dass stimmte, was er eben gesagt hatte, wiederholte er den Satz und fügte hinzu: »Ich war damals sieben.«

»Du warst wann sieben?«, fragte Angelika.

»Als ich da war. Neunzehnhundertsechzig.«

»Ich war noch nie im Osten, ich will mitkommen«, sagte Angelika, und Henry sah sie einfach nur an und antwortete nicht. Hinter der Ligusterhecke, die ihn vor der Welt verbarg, überlegte er, wann die Schwenninger Ereignislosigkeit von ihnen Besitz ergriffen hatte. Als sie vor zehn Jahren hierhergezogen waren, hatten sie gedacht, dass dieser Ort ihnen nichts würde anhaben können, aber der Ort hatte sie längst unter sich begraben. Alles hatte vorläufig sein sollen, nichts endgültig, aber oft waren es gerade die Provisorien, die ein Leben lang hielten.

Was sollten sie machen? Er hatte nun mal diesen Job im Nuklearmedizinischen Institut – eine bessere Anstellung würde er nicht finden –, und Angelika war glücklich auf ihrer Sterbestation, weil die schlecht bezahlte Arbeit sie »ausfüllte«, wie sie sagte. Sie sang den Patienten was vor oder sagte Gedichte auf, bis sie tot waren, sie verwirklichte ihre künstlerische Seite, während sie Sterbenden half, ans andere Ufer zu kommen. Niemand auf der Station gab sich so viel Mühe.

Angelika war autark, sie hielt sich an keinerlei Vorschriften. Kürzlich hatte sie auf Wunsch mindestens zwanzigmal »Tanze Samba mit mir« gesungen, trotz des Zeitdrucks, der im Krankenhaus herrschte. Liebeliebeliebelei, morgen ist es vielleicht vorbei. Tanze Samba mit mir, uh, Sambasamba die ganze Nacht, immer wieder, bis eine Schwester die Tür aufgerissen und mit gespielter Freundlichkeit gefragt hatte, ob sie noch ganz bei Trost sei. Angelika hatte geantwortet: »Das weiß ich nicht, aber ich tröste gerade.«

Damals waren sie stolz gewesen. Wer wohnte schon mit Mitte zwanzig in einem Haus, wenn es auch nur ein Reihenhaus war, dessen Garten einem eingelaufenen Badehandtuch glich. »Fürs Erste nicht schlecht!«, hatten sie wie aus einem Mund gesagt, und Angelika war auf die Knie gefallen und hatte ihn durch die Hose geküsst.

Die Rutsche im Bad. Henry hatte sie übermütig installiert, lange bevor klar war, dass Angelika keine Kinder bekommen würde. Die Rutsche führte von der oberen linken Ecke bis in die untere rechte, wo sie in die Badewanne mündete. Um sie bauen zu können, hatten sie eine Wand eingerissen, weil das Bad sonst zu klein für eine solche Konstruktion gewesen wäre. Jetzt war das Bad größer als das Wohnzimmer. Henry hatte das Gefälle so berechnet, dass man weder zu schnell noch zu langsam im Wasser landete. Und er hatte zwei Kurven eingebaut, die das auf der Geraden gewonnene Tempo abfingen und ein gleichermaßen sanftes wie schwungvolles Eintauchen ermöglichten. Noch vor sieben, acht Jahren waren sie manchmal selbst gerutscht, hatten es dann aber sein lassen, weil sie in den Kurven immer stecken blieben. Besonders in den Kurven war die Rutsche eine Idee zu schmal für die Hintern Erwachsener. Den Beweis dafür, dass die Konstruktion an sich perfekt war, lieferten die Nachbarskinder, die ab und zu klingelten und fragten, ob sie die Rutsche benutzen durften, was Angelika und Henry gerne erlaubten. Eine Adoption hatten sie beide nicht gewollt, obwohl sie gute Chancen gehabt hätten. Sie hätten ein fünfjähriges Mädchen aus Bangladesch haben können, hatten sich dann aber doch dagegen entschieden. Sie zweifelten beide daran, dass ein Mädchen aus Bangladesch sich in Schwenningen jemals wohlfühlen würde. Henry brachte es nicht fertig, die Wannenrutsche wieder abzubauen, und so wurden sie täglich daran erinnert, dass ihr Lebensplan mal ein anderer gewesen war.

Henry nahm das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr und ging ins Haus. Es war kurz vor acht, um neun begann das Meeting im Institut.

Angelika hatte den Küchenschemel, ein Geschenk ihrer Mutter, ins Wohnzimmer gestellt, saß darauf im Schneidersitz und blätterte im Börsenkurier. Auf diese Art verlieh sie ihrem Unmut Ausdruck. Sie verstand weder etwas von der Börse noch gab es irgendeinen Grund, den Küchenschemel mitten ins Wohnzimmer zu stellen. Sie war wirklich speziell. »Warum reagierst du nicht, wenn ich was sage?«, fragte sie.

»Entschuldige, ich war in Gedanken. Die Studie, von der ich dir erzählt habe, macht mir Sorgen. Wir sollen da was beweisen, das vermutlich nicht zu beweisen ist«, sagte Henry und küsste Angelika auf die Nasenspitze. Ein Kuss, wie man ihn kleinen Kindern gab. »Gibst du mir bitte den Börsenkurier? Wir haben heute Meeting, da habe ich viel Zeit. Abends ist Probe. Ich bin sicher nicht vor halb elf zu Hause.«

»Was ist nun mit der Reise?«, fragte Angelika.

»Ich weiß nicht, es ist vielleicht zu gefährlich da. Diese Unruhen im Augenblick. Man sieht das ja im Fernsehen. Die Leute hauen ab. Lass mich das erst mal auskundschaften.« Henry machte eine Pause, und dann fügte er an: »Wenn ich überhaupt fahre.« Er gab ihr noch einen Kinderkuss, ging in den Flur, nahm die kaputte Armanijacke vom Garderobenhaken, schnappte seinen Autoschlüssel und den Geigenkoffer und zog die Reihenhaustür, deren obere Hälfte aus gewölbten cognacfarbenen Kassettenfenstern bestand, hinter sich ins Schloss.