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Egon Erwin Kisch

Paradies Amerika

Egon Erwin Kisch

Paradies Amerika

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Aufbau Verlag, Berlin und Weimar, 1973, 1993
1. Auflage, ISBN 978-3-962816-69-8

null-papier.de/667

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vo­wort

Der Dok­tor Be­cker vor den Pfor­ten des Pa­ra­die­ses

Vora­bend, Tag und Nacht der Prä­si­den­ten­wahl

Kä­fi­ge in Kä­fi­gen, die in Kä­fi­gen ste­cken

Ka­pi­tol und Ka­pi­ta­le

Ta­ge­buch vom New Yor­ker Ha­fen

I. Ei­sen­bah­nen auf dem Was­ser

II. Ha­fen­ar­bei­ter

III. Die Ka­ta­stro­phe des Schwes­ter­schiffs

IV. Las seño­ras in­vi­ta­das

V. Hel­ler Tag vor Weih­nach­ten

VI. Der west­li­che Rand des Ha­fens

VII. Das Ufer im Os­ten

VIII. See­manns­hei­me

IX. Ge­stran­de­te See­fah­rer

X. Wa­rum fehlt hier der Ruf zur Ma­ri­ne?

Har­lem – Fe­ge­feu­er der Ne­ger

Ers­tes Ge­spräch mit Up­ton Sin­clair

Ge­fäng­nis­se auf ei­ner In­sel im East Ri­ver

Als Leicht­ma­tro­se nach Ka­li­for­ni­en

Fau­ler Zau­ber

I. Wild-West

II. Die gute ehr­li­che Per­spek­ti­ve

In­di­vi­dua­li­tät, er­zeugt am lau­fen­den Band

Hil­fe! Grund­stücke sind ver­rückt ge­wor­den

Sechs­tau­send Mal: ›No­thing in!‹

Bag­ger­ma­schi­nen bag­gern Gold

Kri­mi­na­lis­tik in Wa­shing­ton

Sei­ne Ma­je­stät der Kau­gum­mi

Nächt­li­ches Ge­richt

Mut­ter­see­len­al­lein in Phil­adel­phia

Men­schen­han­del in Hol­ly­wood

Über Kon­fek­ti­ons­ar­bei­ter

Fried­hof rei­cher Hun­de

Bil­der­bo­gen: Tiefs­tes Chi­ca­go

I. Der Men­schen­markt

II. Flop­town

III. Die Kuh der Frau O’Lea­ry

IV. Die Bom­be

V. Die Stra­ßen­kreu­zung der Blut­ra­che

VI. Der Trö­del­markt

VII. Wer kennt die Völ­ker

VIII. Re­vo­lu­ti­on der Deut­schen

Eine Bank in Wall Street

Hen­kers­mahl­zeit, ver­ab­reicht von Mis­ter Stein

Film­ko­stü­me

Mum­men­schanz und Quä­ker­stadt

Sein Lied­chen bläst der Po­stil­lon

In ei­nem Thea­ter, das er­schos­sen wur­de

Tech­ni­sche Wun­der­wer­ke der Wun­der­stadt Chi­ca­go

Die Bal­la­de von Sut­ter’s Fort

Ar­beit mit Char­lie Chap­lin

Mit den Schwarz­fah­rern der Ozea­ne

Ge­trei­de­bör­se

In je­dem Schub­fach eine Lei­che

Hol­ly­woods Na­tur, Kul­tur und Skulp­tur

Bei Ford in De­troit

Und das nennt sich Fuß­ball!

I. Vor der Ab­fahrt zum Wett­spiel

II. Am Rand des Spiel­fel­des

III. Starr vor Stau­nen im Sta­di­on

IV. Prälu­di­um des Spiels

V. Die Ein­peit­scher der Ek­sta­se

VI. Der Ball

VII. Na­tur­ge­schich­te des Spiels

VIII. Der Spiel­ver­lauf

IX. Wie wird an­ge­wor­fen?

X. Der rein sym­bo­li­sche Ball

XI. 45.000 Steh­auf­männ­chen

XII. Kri­ti­sche Be­trach­tun­gen des Dok­tor Be­cker

XIII. Re­sul­tat und Skalp

Vier­zehn Din­ge in Sing Sing

Eine Stadt macht nichts als Hüte: Dan­bu­ry

»Tol­le Kis­te«

Er­lebt zwi­schen Hol­ly­wood und San Fran­cis­co

Dan­ke

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Vowort

Das? Das ist die ita­lie­ni­sche En­kla­ve, wo­hin die Ita­lie­ner im­mer ihre po­li­ti­schen Geg­ner lo­cken ... (Chor der Fa­schis­ten: »Im­mer! Ein­mal!«) – Ein­mal ist auch ganz schön. »Herr Ros­si hat sich frei­wil­lig auf ita­lie­ni­sches Ge­biet be­ge­ben ... « Ich habe in Pa­ris die jun­ge Dame ge­se­hen, der er da­mals, wie der Zu­fall spielt, ah­nungs­los und frei­wil­lig in sein Ver­der­ben folg­te. Zwan­zig­jäh­rig-frei­wil­lig. Zwan­zig Jah­re Zucht­haus habt ihr ihm auf­ge­brummt, oder wa­ren es drei­ßig? So ge­nau kommt das in Ita­li­en nicht drauf an. Fällt in Russ­land ein Schuss, dann steht Eu­ro­pa auf dem Kopf, wo­mit nicht ge­sagt sein soll, dass die­se Schüs­se zu be­ja­hen sei­en. Quält aber Mus­so­li­ni sei­ne Ita­lie­ner zu Tode, so ist es still – still, von der Bank von Eng­land über die fran­zö­si­sche Bör­se bis zur Burg­stra­ße. Es kommt eben im­mer dar­auf an, für wen man ter­ro­ri­siert ... Ame­ri­ka, du hast es bes­ser als un­ser Kon­ti­nent, der alte –

Nein, doch nicht. Egon Er­win Kisch zeigt uns, dass es hohe Zeit ist, die deut­sche Stra­ßen­mei­nung über Ame­ri­ka zu re­vi­die­ren; das Land sieht doch an­ders aus, als es sich auf den Ver­gnü­gungs­rei­sen be­am­te­ter Nichts­tu­er prä­sen­tiert. ›Pa­ra­dies Ame­ri­ka‹ heißt Kischs Buch (bei Erich Reiß in Ber­lin er­schie­nen). Ame­ri­ka ist ein Pa­ra­dies. Der Un­ter­neh­mer.

E. E. Kisch hat eine Ei­gen­tüm­lich­keit, die ich im­mer sehr be­jaht habe: Er sieht sich in frem­den Län­dern al­le­mal die Ge­fäng­nis­se an. Denn maß­ge­bend für eine Kul­tur ist nicht ihre Spit­zen­leis­tung; maß­ge­bend ist die un­ters­te, die letz­te Stu­fe, jene, die dort ge­ra­de noch mög­lich ist. Wir kön­nen Grie­chen­land nicht so se­hen, wie Ja­cob Burck­hardt es uns ge­schil­dert hat: Grie­chi­sche He­lo­ten sind wich­tig, min­des­tens so wich­tig wie Pra­xi­te­les und die ewig strah­len­de Son­ne.

Kisch hat in Ame­ri­ka viel ge­se­hen, und er hat, was er ge­se­hen, gut er­zählt, le­ben­dig er­zählt, frisch er­zählt. Man hat nicht den Ein­druck, er sei nun hin­ge­gan­gen, um auf alle Fäl­le in Ame­ri­ka al­les schlecht zu fin­den – aber er ist mar­xis­tisch ge­schult und lässt sich nichts vor­ma­chen. Nur ein Ame­ri­ka­ner wird be­ur­tei­len kön­nen, ob er nun auch al­les ganz so ge­se­hen hat, wie es wirk­lich ist – aber wie ›ist‹ ein Land? Der das Land be­herrscht, wird ein andres Bild ha­ben als der, der es er­lei­det; Kisch ist bei den Lei­den­den ge­we­sen. Das Buch ent­hält eine Fül­le von Ma­te­ri­al; ein Glanz­stück bes­ter Dar­stel­lungs­kunst ist das Ka­pi­tel von der Küs­ten­schiff­fahrt nach Ka­li­for­ni­en. Es sind klei­ne Bil­der aus ei­nem großen Lan­de, Roh­ma­te­ri­al für jene ge­wich­ti­gen Bü­cher, die die ›geis­ti­gen Strö­mun­gen ei­nes Lan­des‹ un­ter­su­chen, meist, ohne dass die Ver­fas­ser die Quel­len kenn­ten. Wer eine Ar­bei­ter­bi­blio­thek ver­wal­tet, soll­te das Buch Kischs an­schaf­fen.

Kurt Tuchols­ky, 1930

Der Doktor Becker vor den Pforten des Paradieses

Der Dok­tor Be­cker,1 so sei un­ser Mann ge­nannt, ist mit schwan­ken­den Ge­füh­len an Bord des eng­li­schen Pas­sa­gier­damp­fers.

Nicht des­halb schwan­ken sei­ne Ge­füh­le, weil das Schiff stampft und stößt, nicht des­halb, weil des Dok­tor Be­cker Schlaf­stel­le ge­ra­de über der Schrau­ben­wel­le liegt, und nicht des­halb, weil das Spei­se- so­wie das Rauch­zim­mer sei­ner Klas­se in­fol­ge der Ma­schi­nen­be­we­gung wi­der­lich vi­brie­ren.

Mitt­schiffs2 woh­nend, spü­ren die Pas­sa­gie­re der zwei­ten und gar die der ers­ten Klas­se das Stamp­fen und Sto­ßen des Damp­fers be­deu­tend we­ni­ger, den Gang der Schrau­be über­haupt nicht. Über­dies sind sie ab­ge­lenkt durch Spa­zier­gän­ge auf ei­nem hun­dert Me­ter lan­gen ge­boh­ner­ten Pro­me­na­den­deck und durch Dar­bie­tun­gen von Jazz­band und Sän­gern, de­ren klang­li­che Rei­ze ein Laut­spre­cher zu den Pas­sa­gie­ren der min­der­be­mit­tel­ten Klas­sen leut­se­lig wei­ter­lei­tet.

Die min­der­be­mit­tel­ten Klas­sen, zu de­nen der Dok­tor Be­cker ge­hört, hau­sen im Zwi­schen­deck, aber sie hei­ßen bei­lei­be nicht »Zwi­schen­deck­pas­sa­gie­re«; wenn eine In­sti­tu­ti­on öf­fent­lich kom­pro­mit­tiert ist, än­dert man kur­zer­hand ih­ren Na­men. Das Zwi­schen­deck ist also ab­ge­schafft wor­den, in­dem man es hal­bier­te und je­der Hälf­te eine an­de­re Be­nen­nung gab: »Tou­ris­ten­klas­se« hin­ten und »Drit­te Klas­se« vor­ne. Die­se bei­den Sub­spe­zi­es un­ter­schei­den sich von­ein­an­der haupt­säch­lich durch den Fahr­preis, durch den Rei­se­zweck der Pas­sa­gie­re (die der drit­ten Klas­se sind zu­meist Aus­wan­de­rer mit vie­len Kin­dern) und durch die Be­hand­lung. So zum Bei­spiel tra­gen die Ab­or­te der Tou­ris­ten­klas­se die Auf­schrif­ten »Gent­le­men’s La­va­to­ry« und »La­dies’ La­va­to­ry«, wäh­rend auf je­nen der drit­ten Klas­se nur »For Men« be­zie­hungs­wei­se »For Wo­men« steht, noch dazu in al­len eu­ro­päi­schen Spra­chen, weil man bei solch arm­se­li­gem Pack die Kennt­nis des Eng­li­schen nicht vor­aus­setzt.

Der Dok­tor Be­cker hät­te auf die Ta­fel »Gent­le­men’s La­va­to­ry« gern ver­zich­tet, wenn er da­für sei­ne zwi­schen ei­ser­ne Wan­ten und Trä­ger ge­dräng­te Ka­bi­ne nicht mit drei Schlaf­ge­nos­sen tei­len müss­te, ob­wohl er von ih­nen et­was ler­nen könn­te: von dem einen, wie man vor dem Schla­fen­ge­hen sei­ne Hä­mor­rhoi­den kunst­ge­recht be­han­delt, von dem an­de­ren, wie man sich die Nä­gel der Ze­hen schnei­det, ohne da­bei die St­rümp­fe aus­zu­zie­hen.

Wie­der­holt blickt der Dok­tor Be­cker in die Ge­fil­de der obe­ren Klas­sen, wo we­ni­ger Be­gab­te sei­ner Be­rufs­ge­nos­sen oft­mals die Fahrt über den Gro­ßen Teich un­ter­neh­men, sol­che, die in den ru­hi­gen Wo­gen ei­ner ge­neh­men Wel­t­an­schau­ung, ohne zu stamp­fen und zu sto­ßen, erst­klas­sig die Welt durch­strei­fen dür­fen. Er be­nei­det sie nicht um ihre ei­ge­ne Ka­jü­te,3 ob­wohl der Dok­tor Be­cker sich mit der schwarz­äu­gi­gen un­ga­ri­schen Tischnach­ba­rin zwei­fel­los bes­ser an­ge­freun­det hät­te, wenn er nicht zu viert in sei­ner Ka­bi­ne und sie nicht zu viert in ih­rer Ka­bi­ne steck­te. Der Dok­tor Be­cker be­nei­det sei­ne be­güns­tig­ten Vor­fah­ren und Nach­fah­ren auch nicht dar­um, dass auf dem Pro­me­na­den­deck die Fel­der des »Shuffle­board«-Spie­les mit Lack für im­mer auf­ge­malt sind, die­weil sie auf dem Zwi­schen­deck täg­lich mit Krei­de auf­ge­zeich­net wer­den müs­sen. Er be­nei­det sie auch nicht dar­um, dass ih­nen der An­schau­ungs­un­ter­richt er­spart wird, wie man vor dem Zu­bett­ge­hen sei­ne Hä­mor­rhoi­den kunst­ge­recht be­han­delt und wie man sich die Nä­gel der Ze­hen schnei­det, ohne die (al­ler­dings in ei­ner dazu ge­eig­ne­ten Wei­se zer­ris­se­nen) St­rümp­fe aus­zu­zie­hen.

Nein. Er be­nei­det sie – wenn an­ders er sie über­haupt be­nei­det – nur dar­um, dass sie die wei­te Fahrt nicht mit so ge­misch­ten Ge­füh­len zu­rück­le­gen müs­sen wie er.

Wa­rum aber, sag an, sind die­se Ge­füh­le des Dok­tor Be­cker ge­mischt? Die Ge­füh­le des Dok­tor Be­cker sind ge­mischt aus Freu­de und Be­fürch­tung.

Die Freu­de des Dok­tor Be­cker, all­ge­mei­ner Na­tur und leicht er­klär­lich, ist die Freu­de, einen neu­en Welt­teil zu se­hen, Ame­ri­ka, das Land, das un­vor­stell­ba­re, am un­vor­stell­bars­ten nach den Rei­se­schil­de­run­gen. Sei­ne Freu­de wird von der si­che­ren Er­war­tung be­stimmt, dass Ame­ri­ka, das kein Al­ter­tum und kein Mit­tel­al­ter be­sitzt, so­zu­sa­gen der Kas­par Hau­ser4 un­ter den Welt­tei­len, sich un­mög­lich in sei­ner Ent­wick­lung dar­auf be­schränkt ha­ben kann, die Ent­wick­lung der Al­ten Welt ein­zu­ho­len oder zu über­ho­len, also Kra­wat­ten und Wes­ten und Ho­sen­trä­ger und Re­li­gio­nen und Schmin­ken und Bank­häu­ser und Po­li­zei­spit­zel und Bör­sen­ge­schäf­te und Kitsch­fil­me zu er­fin­den und zu ver­voll­komm­nen.

Was aber die Be­fürch­tung un­se­res Freun­des an­langt, so ist sie schon mehr per­sön­li­cher Na­tur. Sie lau­tet: Wer­de ich, der Dok­tor Be­cker, denn über­haupt die­ses Ame­ri­ka zu se­hen be­kom­men? Wer­den sich die für die Rei­se ver­aus­gab­ten Geld- und Zeit­mit­tel nicht als her­aus­ge­wor­fen er­wei­sen, in­dem man mich, den Dok­tor Be­cker, gar nicht das Land be­tre­ten lässt, son­dern ent­we­der zum nächs­ten nach Eu­ro­pa zu­rück­fah­ren­den Schiff bringt oder aber auf der Aus­wan­de­r­er­sta­ti­on El­lis Is­land zu­rück­be­hält, bis sich mein, des Dok­tor Be­cker, Cha­rak­ter als Schwind­ler und Fäl­scher her­aus­ge­stellt hat und mei­ne, des Dok­tor Be­cker, Trans­por­tie­rung nach Sing Sing ge­wiss ist?

Ja, un­ser Freund – sol­len wir ihn denn über­haupt noch so nen­nen? – ist in ame­ri­ka­ni­schem Sin­ne durch­aus übel. Be­reits drei­mal hat man ihm das Ein­rei­se­vi­sum ver­wei­gert. Ein­mal, weil sein Pass durch rus­si­sche Sicht­ver­mer­ke stig­ma­ti­siert war, we­gen welch ver­däch­ti­gen Um­stan­des man er­klär­te, erst im Pres­se­de­par­te­ment Er­kun­di­gun­gen ein­ho­len zu müs­sen; dar­auf ließ es der Dok­tor Be­cker nicht erst an­kom­men. Und als er ein an­de­res Mal, in ei­ner an­de­ren Stadt mit ei­nem an­de­ren Pass, um Ein­rei­se­be­wil­li­gung vor­stel­lig wur­de, be­durf­te es kei­ner Er­kun­di­gung beim Pres­se­de­par­te­ment mehr, um ihm zu sa­gen, dass er sich durch die öf­fent­li­che Be­haup­tung, an Sac­co und Van­zet­ti5 wer­de ein bar­ba­ri­scher Jus­tiz­mord ver­übt, für jetzt und ewi­ge Zei­ten das Recht ver­scherzt habe, Got­tes ei­ge­nes Land zu be­tre­ten. Das drit­te Mal, als der Dok­tor Be­cker über sei­ne Schuld Gras ge­wach­sen glaub­te, er­ging es ihm eben­so.

Sei­ne Freun­de rie­ten ihm nun, er möge bei der ame­ri­ka­ni­schen Kon­su­l­ar­be­hör­de ei­nes an­de­ren Lan­des sein Glück ver­su­chen oder sich ein ge­fälsch­tes Vi­sum be­sor­gen oder durch Be­ste­chung ein ech­tes Vi­sum oder mit frem­den Pa­pie­ren rei­sen und der­glei­chen. Alle die­se Vor­schlä­ge wies der Dok­tor Be­cker weit von sich und nahm nur einen ein­zi­gen an.

Mit Hil­fe des­sel­ben be­fand er sich also an Bord des eng­li­schen Damp­fers und auf der Fahrt nach Ame­ri­ka, wor­über er Freu­de emp­fand, wäh­rend er gleich­zei­tig die Be­fürch­tung heg­te, drü­ben zu­min­dest nicht an Land ge­las­sen zu wer­den.

Schrift­lich er­klärt und eh­ren­wört­lich be­kräf­tigt hat­te der Dok­tor Be­cker, dass er die ame­ri­ka­ni­sche Ver­fas­sung durch­aus an­er­ken­ne, dass er den ge­walt­sa­men Sturz von Re­gie­run­gen mit­nich­ten gut­hei­ße, dass er we­der An­ar­chist sei noch Kom­mu­nist.

Im Üb­ri­gen gab sich der Dok­tor Be­cker der Beo­b­ach­tung des Le­bens und Trei­bens hin, das sich auf dem Schiff ent­fal­te­te.

Im Ha­fen von Southamp­ton, noch auf der Fahrt längs der eng­li­schen Küs­te und bis hin­über nach Cher­bourg, wo die kon­ti­nen­ta­len Pas­sa­gie­re das Schiff be­tra­ten, hat­te sich be­sag­tes Le­ben und Trei­ben fröh­lich an­ge­las­sen. Mun­te­re Mäd­chen, an­schei­nend fünf­zehn bis sieb­zehn Jah­re alt, hüpf­ten über al­les Schiffs­ge­rät und turn­ten auf der Re­ling, die Rö­cke we­hen und die Hö­schen se­hen las­send. Erns­te Män­ner wür­fel­ten im Rauch­zim­mer bei Gin, Bran­dy, Whis­ky und Cock­tails. Da­men spiel­ten im Auf­ent­halts­raum Kla­vier, dass es eine Art hat­te, manch­mal sang je­mand dazu oder tanz­te gar. Jün­ge­re Leu­te schrie­ben in ihr Ta­ge­buch die Stun­de der Ab­fahrt ein und no­tier­ten vor ei­ner Ta­fel, dass das Schiff heu­te 487 eng­li­sche Mei­len zu­rück­ge­legt habe. Am Mit­tags­tisch un­ter­hielt man sich und wuss­te als­bald von je­dem Mit­rei­sen­den, ob er nach St. Louis oder nach Phil­adel­phia fah­re und die wie viel­te sei­ner See­rei­sen es sei.

Im Ne­ben­zim­mer war für kin­der­rei­che Fa­mi­li­en ge­deckt, und dort saß auch, al­lein an ei­nem Tisch, ein Ne­ger, ein äl­te­rer, an­schei­nend stu­dier­ter Mann mit Bril­le, und ver­zehr­te sei­ne Mahl­zei­ten. Dar­über wun­der­ten sich ei­ni­ge Eu­ro­pä­er und er­fuh­ren, kein Ame­ri­ka­ner wür­de mit ei­nem co­lo­red man, ei­nem Far­bi­gen, an ei­nem Tisch sit­zen. Wun­der­ten sich die ei­ni­gen Eu­ro­pä­er wei­ter­hin, so er­hiel­ten sie die über­le­ge­ne Ant­wort: »Sie wer­den an­ders über die Nig­gers den­ken, wenn Sie erst ein paar Wo­chen in Ame­ri­ka ge­we­sen sind!«

Kann sein, kann sein, viel­leicht sind nur wir Eu­ro­pä­er so när­ri­sche »sen­ti­men­ta­lists«, die Ne­ger auch für Men­schen zu hal­ten. War­ten wir’s ab, um an­ders über die Nig­gers zu den­ken, wenn wir erst ein paar Wo­chen in Ame­ri­ka ge­we­sen sind.

Kurzum, an­fangs war es an Bord kurz­wei­lig und be­leh­rend. Aber all­zu bald mach­te sich der At­lan­ti­sche Ozean, den man bei­na­he über­se­hen hät­te, be­merk­bar. Er schlug Wel­len, das Sch­lin­gern und Sto­ßen und Stamp­fen be­gann. Die Ma­schi­nen rat­ter­ten in die Ge­hir­ne und Ma­gen­mus­keln, es war zum Kot­zen, und man tat dies auch.

Auf Deck wur­de es sehr öde, in den Auf­ent­halts­räu­men und im Re­stau­rant des­glei­chen. Nachts lag man auf schma­lem Bett, doch schütz­ten zwei Bret­ter vor dem Her­aus­fal­len. Es war we­ni­ger ein Bett als ein Sarg, ein Ar­me­sün­der­sarg, ein Na­sen­quet­scher. Am Kop­fen­de brach­te der Ste­ward ein Körb­chen mit Pa­pier­ein­la­ge an, die, wenn sie zum Bre­chen voll war, durch eine neue er­setzt wur­de. Au­ßer­dem wa­ren für vier Per­so­nen zwei Was­ser­glä­ser zum Trin­ken und Gur­geln, ein Wasch­be­cken und zwei Nacht­töp­fe vor­han­den. Die Luft da un­ten war – ohne Über­trei­bung – dem­ge­mäß.

Nach zwei bis drei Ta­gen trie­ben die­se Luft und der Hun­ger die Men­schen wie­der nach oben, ob­wohl es kaum leicht war, sich in die­sem Zu­stand an­zu­klei­den, sei­ne Hä­mor­rhoi­den in Ord­nung zu brin­gen und die Stie­gen em­por­zutau­meln, em­por­zu­wan­ken.

So ver­sam­mel­ten sich auf dem Deck ei­ni­ge Frau­en von etwa vier­zig Jah­ren, die sich ge­bro­chen auf die Lie­ge­stüh­le war­fen, wo­bei eine Bri­se die Rö­cke we­hen und die Hö­schen se­hen ließ und sol­cher­art der Be­schau­er ver­blüfft er­kann­te, dass die ält­li­chen Da­men mit den hüp­fen­den, tur­nen­den Back­fi­schen vom Rei­se­be­ginn iden­tisch sei­en.

Lang­sam ka­men Män­ner ins Rauch­zim­mer, sie wa­ren blass ge­wor­den, und es dau­er­te ge­raum, be­vor ih­nen der Bran­dy wie­der schmeck­te, den sie vor­erst nur zur Stär­kung zu sich nah­men, und dann der Whis­ky, der Gin, der Por­ter und die Cock­tails.

Am ra­sche­s­ten wa­ren die kla­vier­spie­len­den La­dies auf ih­ren Pos­ten und die Kin­der, die zu die­sen Klän­gen hops­ten. Auf Deck wur­de Schiffs­ten­nis ge­spielt, als Ball diente ein Kaut­schu­kring, den man mit der Hand fan­gen und wie­der übers Netz schleu­dern muss. An­de­re Ver­gnü­gun­gen be­ste­hen dar­in, Gum­mischei­ben auf num­me­rier­te Fel­der ei­nes Bret­tes zu wer­fen oder Rin­ge über eine Stan­ge. Haupt­sport ist »Shuffle­board«, das Schie­ben von Holz­schei­ben in eine mit Num­mern mar­kier­te, etwa vier Me­ter ent­fern­te Flä­che.

Ge­sprä­che kom­men in Fluss, und vie­le äu­ßern Angst, bei der Lan­dung Schwie­rig­kei­ten zu be­geg­nen. Manch­mal ver­lan­ge das ame­ri­ka­ni­sche Ar­beitsamt eine Kau­ti­on von fünf­hun­dert Dol­lar von de­nen, die nur ein Be­suchs­vi­sum ha­ben, da­mit sie das Ein­wan­de­rungs­ge­setz nicht um­ge­hen und kei­ne Ar­beit im Lan­de an­neh­men; manch­mal leh­ne der vom Ein­rei­sen­den als Bür­ge an­ge­ge­be­ne ame­ri­ka­ni­sche Bür­ger die Bürg­schaft ab, und der­glei­chen.

Er­fah­re­ne Ame­ri­kafah­rer ver­scheu­chen die­se Sor­gen. Es sei längst nicht mehr so streng mit der Ein­wan­de­rungs­kon­trol­le. Nie­mand wer­de zu­rück­ge­schickt, der das Vi­sum hat. Nur mit den Bol­sche­wis­ten ma­che man kei­ne Ge­schich­ten, da sei man un­er­bitt­lich. Es gäbe sol­che, die sich das Vi­sum er­schlei­chen, aber man kom­me im­mer dar­auf, die Pas­sa­gier­lis­ten wer­den ja vor­her nach New York ge­sandt, und dort habe die Po­li­zei die ge­naues­ten il­lus­trier­ten Ver­zeich­nis­se von al­len po­li­tisch An­rü­chi­gen der gan­zen Welt.

Was dem Dok­tor Be­cker fer­ner miss­fällt, ist: von Zeit zu Zeit taucht im Be­reich der min­der­be­mit­tel­ten Pas­sa­gier­klas­se ein stäm­mi­ger jun­ger Mann mit un­lo­gi­scher Horn­bril­le auf, der zwar an­gibt, zum ers­ten Mal nach USA zu fah­ren, sich aber kun­dig durch die ver­bo­tens­ten Tü­ren des Damp­fers be­wegt. Er hat, von der be­vor­ste­hen­den Prä­si­den­ten­wahl aus­ge­hend, den Dok­tor Be­cker in ein po­li­ti­sches Ge­spräch ge­zo­gen. Wie gern wä­ren wir hin­zu­ge­tre­ten und hät­ten dem Dok­tor Be­cker zu­ge­raunt, auf kei­nen Fall et­was zu ant­wor­ten! Zu spät, der Dok­tor Be­cker ent­wi­ckel­te dem Frem­den be­reits sei­ne po­li­ti­sche Mei­nung, be­kann­te sich mu­tig und of­fen zur Ja­ros­lav Hašek­schen6 »Par­tei ei­nes ge­mä­ßig­ten Fort­schritts im Rah­men der Ge­set­ze«; er sei zwar Re­pu­bli­ka­ner und De­mo­krat, sag­te der Dok­tor Be­cker, leh­ne es je­doch ent­schie­den ab, in den Cho­rus de­rer ein­zu­stim­men, die den ent­thron­ten Fürs­ten einen Esel­stritt ver­set­zen, da die­se doch al­le­samt ent­sa­gungs­voll nur dem Woh­le ih­rer Un­ter­ta­nen ge­dient ha­ben und nie­mand an ihre Wie­der­kehr den­ke.

In die­sem Au­gen­blick kam eine Sturz­wel­le, die schwarz­äu­gi­ge un­ga­ri­sche Dame, zu­fäl­lig da­ne­ben ste­hend, übergab sich, und die po­li­ti­sche De­bat­te war so­mit in ad­äqua­ter Wei­se be­en­det.

Wei­ter geht die Fahrt, und es scheint, als ob die Tur­bi­nen sich all­mäh­lich von der See­krank­heit er­ho­len. Die Kar­te im Rauch­raum zeigt Ta­ges­leis­tun­gen von 535 Mei­len.

Ei­ni­ge jun­ge Ame­ri­ka­ne­rin­nen las­sen sich von Dok­tor Be­cker die Grund­be­grif­fe der deut­schen Spra­che bei­brin­gen und la­chen sich schief dar­über, dass »Kind« säch­li­chen Ge­schlech­tes sei, un­be­scha­det, ob es einen Kna­ben oder ein Mäd­chen be­deu­te. Ki­chernd su­chen sie un­ter dem Tisch des­sen männ­li­ches Ge­schlechts­merk­mal, da sie hö­ren, man sage: »Der Tisch«. Als aber »Fräu­lein« und »Mäd­chen« als Neu­tra be­zeich­net wer­den, prus­ten sie her­aus und ren­nen da­von.

Zwi­schen der ver­schäm­ten drit­ten Klas­se und der un­ver­schäm­ten kann man, ob­wohl es nicht er­laubt ist, einen Spa­zier­gang wa­gen, tief un­ter den pri­vi­le­gier­ten We­gen. Die­ser sub­ma­ri­ne Weg vom Heck zum Bug7 führt an den Ma­schi­nen­räu­men vor­bei, aus de­nen hef­tig wie Faust­hie­be die Hit­ze em­por­schlägt. Auf der an­de­ren Sei­te des Kor­ri­dors: Schlaf­s­tät­ten und Auf­ent­halts­räu­me der Be­man­nung; nack­te Men­schen sit­zen da, vom Öldampf und der Glut sich er­ho­lend. An den Wän­den hän­gen die Vor­schrif­ten für den Fall von Alarm, Schiffs­zu­sam­men­stoß, Feu­ers­brunst oder Ne­bel. Die Mann­schaft hat aus­zu­har­ren auf ih­rem Pos­ten, bis die Pas­sa­gie­re ge­ret­tet sind. Ein Pla­kat ver­bie­tet, Mor­phi­um, Ko­kain, He­ro­in und Ec­go­ma­nin zu schmug­geln. Stra­fe bis zu tau­send Pfund Ster­ling und bis zu zehn Jah­ren Zwangs­ar­beit wird an­ge­droht.

Am vor­letz­ten Tag, wäh­rend die Fahr­gäs­te beim Abend­brot sit­zen, fin­det ein See­manns­be­gräb­nis statt. Ein Ar­bei­ter, der die Pa­ketsen­dun­gen für das mor­gen aus dem New Yor­ker Ha­fen kom­men­de Post­schiff vor­be­rei­te­te, stürz­te einen drei­ßig Me­ter tie­fen Schacht hin­ab und blieb zer­schmet­tert lie­gen. Er war drei­und­zwan­zig Jah­re alt, Frau und Kind le­ben in Ame­ri­ka und wer­den mor­gen wahr­schein­lich glück­strah­lend auf dem Pier sei­ner war­ten. Die Lei­chen­tei­le wur­den in ein mit Blei­stücken be­schwer­tes Stück Stoff ge­näht, das eng­li­sche Ban­ner dar­über­ge­brei­tet, der Ka­pi­tän liest ein Ge­bet, und auf zwei Sei­len lässt man den To­ten hin­ab.

Die Ar­bei­ter keh­ren von der To­ten­fei­er zu den Ma­schi­nen zu­rück, an den Pas­sa­gie­ren vor­bei, die vom Abend­brot zum Schiffs­fest in den Loun­ge­room8 ge­hen und so von dem Un­fall er­fah­ren.

Da der Vor­sit­zen­de des Fest­ko­mi­tees ein mit­rei­sen­der Re­ve­rend ist, ge­denkt er ein­lei­tend des »in Aus­übung sei­ner Pf­licht« ge­stor­be­nen See­manns und spricht ein Ge­bet, bei des­sen Be­ginn alle eng­li­schen Da­men au­to­ma­tisch die Hand an die Au­gen le­gen, um sie in­brüns­tig zu ver­de­cken.

»Nun aber«, sagt der Pas­tor, »wol­len wir uns fröh­li­che­ren Ge­dan­ken zu­wen­den!«

Ein Jüng­ling re­zi­tiert (schlecht) ein Ka­pi­tel der »Pick­wi­ckier«, eine Dame singt mit schief­ge­zo­ge­ner Nase (schlecht) eine Arie aus »Tra­via­ta«, zwei Kin­der tan­zen (schlecht) Charle­ston, und ein Kauf­mann aus Chi­ca­go er­zählt (schlecht) drei Wit­ze über Ir­län­der.

Wäh­rend die­ses letz­ten Vor­tra­ges rief ein New Yor­ker Kauf­mann ei­nem an­de­ren New Yor­ker Kauf­mann, der ein über­le­gen-ab­leh­nen­des Ge­sicht mach­te, die Wor­te zu: »What did you ex­pect from Chi­ca­go?!«9 Und dem Dok­tor Be­cker schi­en es, als hät­te er den Spre­cher be­reits ein­mal bei ei­ner Hoch­zeit in Brünn ge­se­hen, wo er mit Be­zug auf einen Vor­tra­gen­den aus Iglau in dem glei­chen Ton­fall äu­ßer­te: »Ha­ben Sie et­was Bes­se­res aus Iglau er­war­tet?«

Und dann kommt die Preis­ver­tei­lung des Bridge-Tur­niers, und zum Schluss singt man »God save the King«. Bei ähn­li­chen An­läs­sen war der Dok­tor Be­cker ver­prü­gelt wor­den, weil er sich nicht von sei­nem Stuhl er­ho­ben hat­te, dies­mal aber steht er pa­trio­tisch auf. »New York vaut bien une mes­se«,10 mag er kal­ku­lie­ren.

Der nächs­te Tag ist der letz­te der Fahrt – aber nur für Ers­te-Klas­se-Pas­sa­gie­re mit ame­ri­ka­ni­schem Bür­ger­recht der letz­te Tag an Bord.

Al­ler­hand grell­ro­te Bo­jen wer­den pas­siert, sie ha­ben die Form von Schif­fen und tra­gen auch Schiffs­na­men: »Nan­tucket«, »Fire Is­land«. Über­haupt be­lebt sich das sonst nur an sich be­leb­te Meer, Schif­fe tau­chen auf, ein Tor­pe­do­boot­zer­stö­rer scheint di­rekt Kurs auf uns zu neh­men. An ei­nem Schal­ter wech­seln alle ihr letz­tes eng­li­sches Geld ge­gen ame­ri­ka­ni­sches ein. Die De­cken, un­ter de­nen man auf den Lie­ge­stüh­len ge­ruht, bringt man dem Decks­te­ward zu­rück, der den dar­an wie eine Prei­s­an­ga­be bau­meln­den Na­mens­zet­tel ab­nimmt.

Die Da­men er­schei­nen toi­let­tiert und ge­schminkt, die äl­te­ren La­dies er­kennt man jetzt, ohne dass der Wind weht, als die Back­fi­sche aus Southamp­ton wie­der.

Viel zu tun hat der Fri­seur in sei­nem klei­nen La­den, wo man bis­her Kra­gen­knöp­fe und Mund­was­ser kauf­te. Heu­te lässt man sich ra­sie­ren und fri­sie­ren. Je­ner Ka­bi­nen­ge­nos­se des Dok­tor Be­cker, der ihn ge­lehrt, in St­rümp­fen die Ze­hen­nä­gel zu schnei­den, steckt zwei Bril­lant­rin­ge und eine Per­len­na­del an: »We­gen der Im­mi­gra­ti­ons­be­am­ten«, be­merkt er, »sie be­ur­tei­len einen ganz an­ders.«

Der Abend sinkt. Leucht­schif­fe und Leucht­tür­me grü­ßen zwin­kernd, von Swin­bur­ne Is­land her kommt ein Boot mit dem Amts­arzt. Nun müs­sen alle Pas­sa­gie­re den Ham­mel­sprung ma­chen. Mit der Zähl­uhr in der Hand kon­trol­liert er, ob kein Stück der Her­de fehlt. Um halb sie­ben wird die Bar im Rauch­zim­mer ge­schlos­sen. Bis zur letz­ten Se­kun­de ver­pro­vi­an­tie­ren die Män­ner ih­ren Ma­gen mit so viel Whis­ky, als er ver­trägt, und et­was dar­über.

Rech­ter Hand eine Lich­ter­rei­he: Co­ney Is­land, wie man er­fährt, lin­ker Hand Sta­ten Is­land. Kau­gum­mi-Re­kla­me grüßt elek­trisch, be­wegt und ein­dring­lich: »Wrigley’s here, Wrigley’s the­re, Wrigley’s eve­r­y­whe­re«.11

Eben­so die »Sta­tue der die Welt er­leuch­ten­den Frei­heit«. Man sieht sie zu­erst im Pro­fil, die Fa­ckel weit von sich ge­streckt, vom So­ckel aus fällt ein Schein­wer­fer auf ihre lücken­los durch ein fal­ti­ges Ge­wand ver­hüll­te Ge­stalt. Vor nicht all­zu lan­ger Zeit fuhr ganz New York hier­her, wenn je­mand ge­hängt wur­de. Der Gal­gen ist ab­ge­schafft, der Elek­tri­sche Stuhl steht in Sing Sing und auf Bed­loe Is­land die Frei­heits­sta­tue.

Und schon: steu­er­bords die Süd­spit­ze des Ei­lands Man­hat­tan mit den Wol­ken­krat­zern!

Mit die­sen Wol­ken­kuckucks­hei­men der ame­ri­ka­ni­schen Rea­li­tät! Um von den Fäus­ten und El­len­bo­gen der City nicht in den Hud­son ge­sto­ßen zu wer­den, stül­pen sich noch am äu­ßers­ten Rand der In­sel die Ge­schäf­te und Kon­to­re über­ein­an­der, vier­zig, fünf­zig, vierund­fünf­zig Stock­wer­ke hoch.

Die be­rühm­te »Sky­li­ne«, die Kon­tur der New Yor­ker Häu­ser­gi­gan­ten, hebt sich vom abend­li­chen Him­mel ab.

Auf den Fassa­den leuch­ten Recht­e­cke, vie­le Rei­hen, vie­le Eta­gen also. Dar­über strah­len Kup­peln oder Tür­me. Die Ver­gleichs­mög­lich­keit fehlt – sieht man denn, dass das win­zi­ge Spiel­zeug, das acht­los auf der Erde liegt, acht- bis zehn­stö­cki­ge Bau­ten sind?

Er­drückt wird man nicht von ei­ner spätabend­li­chen Be­geg­nung mit den Wol­ken­krat­zern. Nur be­zau­bert. Da steht das Gan­ze als ein ein­zi­ger Block, ein Mont­sal­watsch12 auf senk­rech­tem Fel­sen, sei­ne Zin­nen glü­hen und sei­ne Wacht­tür­me flam­men.

Hart an der Stadt den Hud­son auf­wärts, an fünf­zig statt­li­chen Hä­fen vor­bei, die kei­ne Hä­fen sind, son­dern nur An­le­ge­stel­len des Ha­fens von New York.

Lich­ter und Licht­re­kla­men über­all.

Un­ser Damp­fer ist zu groß, um selbst in sein Lan­dungs­bas­sin zu ma­nö­vrie­ren. So bug­sie­ren ihn acht Schlep­per. Zwei die­ser »tugs« sind Vor­spann, und zwei zer­ren seit­lich das Schiff, zwei ren­nen mit ver­bun­de­ner Nase steu­er­bords und back­bords un­se­ren Rumpf an; wäre ihr Kiel nicht mit Hanf um­wi­ckelt, sie und wir wür­den Scha­den neh­men.

In­des sich die­ses pos­sier­li­che Schub­sen be­gibt, ste­hen auf dem Pier, tief un­ter uns, Men­schen, vie­le Hun­der­te, tü­cher­schwen­kend, hü­te­schwen­kend, schrei­end.

Nur zwei Lan­dungs­brücken wer­den vom bri­ti­schen Stea­mer zum ame­ri­ka­ni­schen Land ge­spannt, die eine für die Pas­sa­gie­re der ers­ten Klas­se, die an­de­re für – das Ge­päck der Ers­te-Klas­se-Pas­sa­gie­re.

Al­les drängt sich an Stel­len zu­sam­men, wo Blick und Schall eine Ver­bin­dung her­stel­len kön­nen zwi­schen War­ten­den und Er­war­te­ten. Er­ken­nungs­sze­nen, Wie­der­se­hens­sze­nen, Empfangs­sze­nen par di­stan­ce.

Noch eine Nacht an Bord, und eine schlim­me. Es stellt sich her­aus, dass der Lärm der Ma­schi­nen sei­ne Vor­tei­le hat­te: heu­te, da sie ver­stummt sind, hört man nicht nur das Schnar­chen und Rülp­sen der Ka­bi­nen­kol­le­gen, son­dern auch al­les aus den an­gren­zen­den Ka­jü­ten. Und an das Rat­tern der Dy­na­mos, das Schau­keln des Schif­fes ge­wöhnt, wird man see­krank und schwind­lig vom jä­hen Gleich­ge­wicht.

Die Pro­ze­du­ren der Pass­kon­trol­le und die Über­prü­fung der Per­so­na­li­en durch die Ein­wan­de­rungs­kom­mis­si­on dau­ern stun­den­lang, von sechs Uhr mor­gens bis über den Mit­tag hin­aus.

Der Dok­tor Be­cker, der als Be­ruf »au­t­hor« an­ge­ge­ben, wird ge­fragt, was er denn für ein Schrift­stel­ler sei.

»No­vel­len und Ro­ma­ne schrei­be ich.«

»Und Po­li­tik?«

»Not at all!«13 er­wi­dert er lä­chelnd.

So darf er hin­un­ter in die Lan­dungs­hal­le, hin­ein nach Ame­ri­ka.


  1. Als Kom­mu­nist muss­te Kisch wäh­rend sei­ner Rei­se einen Deck­na­men nut­zen.  <<<

  2. die Mit­te der Quer- wie der Längs­schiffs­rich­tung  <<<

  3. Wohn- und Schlaf­raum auf Schif­fen  <<<

  4. Berühm­ter Find­ling rät­sel­haf­ter Her­kunft, tauch­te 1828 als etwa Sech­zehn­jäh­ri­ger in Nürn­berg auf.  <<<

  5. Sac­co und Van­zet­ti – Zwei Streik­füh­rer ita­lie­ni­scher Ab­kunft in den USA, 1921 an­ge­klagt, ge­mein­sam einen Mord be­gan­gen zu ha­ben, zum Tode ver­ur­teilt und nach sechs­jäh­ri­ger Haft trotz er­wie­se­ner Un­schuld hin­ge­rich­tet.  <<<

  6. Ja­ros­lav Hašek (1883-1923) war ein tsche­chi­scher Schrift­stel­ler und links-po­li­ti­scher Ak­ti­vist, der vor al­lem durch sei­ne li­te­ra­ri­sche Fi­gur des „bra­ven Sol­da­ten Schwe­jk“ be­rühmt wur­de.  <<<

  7. vor­ders­ter Teil ei­nes Schif­fes  <<<

  8. Ge­sell­schafts­raum  <<<

  9. (engl.) Was ha­ben Sie von Chi­ca­go er­war­tet?  <<<

  10. (franz.) New York ist eine Mes­se wert. Eine An­spie­lung auf den (an­geb­li­chen) Auss­pruch Hein­richs IV. von Frank­reich: »Pa­ris ist eine Mes­se wert.«  <<<

  11. (engl.) Wrigley hier, Wrigley dort, Wrigley über­al!.  <<<

  12. Name der Grals­burg in der Grals­dich­tung  <<<

  13. (engl.) über­haupt nicht.  <<<

Vorabend, Tag und Nacht der Präsidentenwahl

Jim­mie Wal­ker, Bür­ger­meis­ter und the best­dres­sed man of New York (gut an­ge­zo­gen zu sein, gilt im Staa­te der Gleich­heit eben­so viel wie in ei­nem Korps deut­scher Stu­den­ten), Jim­mie Wal­ker steht auf dem Ti­mes Squa­re und spricht mit weit­hin tö­nen­der Stim­me, mit ein­drucks­vol­len Ges­ten und mit schön ge­wun­de­nen Phra­sen zu­guns­ten des de­mo­kra­ti­schen Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten Al Smith.

Be­rit­te­ne Po­li­zis­ten hal­ten die Ord­nung auf­recht, Tau­sen­de drän­gen sich, um den Red­ner zu se­hen, die Rede zu hö­ren, sie durch Zwi­schen­ru­fe zu be­le­ben oder zu stö­ren.

Jim­mie Wal­ker rea­giert nicht auf die­se Ein­wen­dun­gen und nicht auf den Bei­fall, er spricht sei­nen Speech, und wenn er zu Ende ist, fängt er von Neu­em an, mit un­ver­min­dert weit­hin tö­nen­der Stim­me, mit ge­nau den glei­chen ein­drucks­vol­len Ges­ten und mit ganz den­sel­ben schön ge­wun­de­nen Phra­sen.

Das tut er die gan­ze Nacht, ohne müde zu wer­den, denn er steht nicht in per­so­na auf dem Ti­mes Squa­re, er steht nur in ef­fi­gie1 auf dem Ti­mes Squa­re, er ist ge­filmt und vi­ta­fo­niert2 wor­den, als er die­se Rede hielt, und nun wird sein Bild durch den Pro­jek­ti­ons­ap­pa­rat auf die Lein­wand und sei­ne Stim­me durch den Laut­spre­cher über den abend­li­chen Platz ge­wor­fen.

Mit­tags hält der de­mo­kra­ti­sche Kan­di­dat eine »Pa­ra­de« ab, in­dem er durch die Stadt fährt. Zu­erst eine Rei­he von Po­li­zis­ten auf Mo­tor­rä­dern, dann Po­li­zis­ten zu Pferd; auf den Dä­chern zwei­er lee­rer Au­to­bus­se spie­len Mu­sik­ka­pel­len; die gent­le­men of the press und die gent­le­men of the fil­m mit ih­ren Ap­pa­ra­ten ste­hen auf dem Deck der nach­fol­gen­den Au­to­bus­se.

Dann: ein of­fe­nes Auto, auf des­sen er­höh­tem Hin­ter­sitz der Kan­di­dat thront. Er trägt den hell­brau­nen Der­by-Hut, der ihn so po­pu­lär ge­macht hat und den er so po­pu­lär ge­macht hat, dass die Schau­fens­ter der Hut­lä­den mit hell­brau­nen har­ten Hü­ten von ge­ra­der Krem­pe an­ge­füllt sind. Al Smith rollt vor­bei, winkt ab­wech­selnd mit der rech­ten und lin­ken Hand, un­be­scha­det, ob die Men­ge ju­belt oder pfeift. Nach ihm die Sui­te be­zahl­ter und un­be­zahl­ter Wahl­män­ner in Au­tos mit großen Pla­ka­ten.

Das ist die große Pa­ra­de. Vor­her ha­ben die Zei­tun­gen spal­ten­lang dar­über ge­schrie­ben, am Abend wer­den sie spal­ten­lang dar­über be­rich­ten. Was war denn los? Ein Kan­di­dat fuhr mit Mu­sik­be­glei­tung durch die Stra­ßen von New York.

»… durch die Stra­ßen von New York.« Das war los. Die fünf­zig­stö­cki­gen, drei­tau­send­fenst­ri­gen Häu­ser­py­ra­mi­den mit­samt ih­ren fla­chen Dä­chern und ih­ren Tür­men und mit­samt ih­ren in schwin­deln­der Höhe un­ge­schütz­ten Ge­sim­sen sind be­setzt von Men­schen, die glück­lich sind, für ei­ni­ge Mi­nu­ten vom Ver­kaufs­stand, von der Ad­di­ti­ons­ma­schi­ne, vom Ar­beit­s­tisch ent­fernt zu sein, hin­ab­gu­cken und schrei­en zu dür­fen und echt ame­ri­ka­ni­sche Pa­pier­schlan­gen, echt ame­ri­ka­ni­sches Kon­fet­ti auf die Stra­ße zu wer­fen.

Die­se Pa­pier­schlan­gen sind die end­lo­sen Strei­fen der bei­den in je­dem Büro auf­ge­stell­ten Empfangs­ap­pa­ra­te für Bör­sen­kur­se und Wirt­schafts­nach­rich­ten. Das Kon­fet­ti aber ent­stand aus den vor­jäh­ri­gen Te­le­fon­bü­chern von New York City, von Broo­klyn und New York Su­bur­ban;3 vor­schrifts­wid­ri­ger­wei­se wur­den sie nicht an die Te­le­fon­ge­sell­schaft ab­ge­lie­fert, son­dern auf­ge­ho­ben, da­mit man sie bei der Ein­ho­lung ei­ner Kanal­schwim­me­rin, ei­nes Ozean­flie­gers oder min­des­tens ei­nes Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten zer­stückeln und die Fet­zen mit vol­len Hän­den ver­streu­en kön­ne. Da hängt, schwebt, weht die­ses La­met­ta aus Druck­pa­pier von den stren­gen Fassa­den hin­ab in die wüs­ten Stra­ßen­schluch­ten, die sich – wäh­rend der An­wär­ter auf dem Weg zur Macht und zum Ruhm wei­ter­zu­fah­ren glaubt – im Nu fuß­hoch be­de­cken mit über­hol­ten Bör­sen­kur­sen und Te­le­fon­adres­sen des Vor­jahrs.

Quer über die Stra­ßen sind Ban­ner mit den Na­men der Prä­ten­den­ten ge­spannt, auf man­chen Gie­beln Fah­nen mit dem Bild ei­nes von ih­nen ge­hisst, grell­bun­te Glüh­bir­nen for­mie­ren sich an den Klub­häu­sern zu flam­men­den Lo­sun­gen, an al­len Stra­ßen­e­cken wer­den Flug­blät­ter ver­teilt, in eng­li­scher, ita­lie­ni­scher, fran­zö­si­scher, rus­si­scher, deut­scher, jid­di­scher, pol­ni­scher und grie­chi­scher Spra­che. (Dies die Rei­hen­fol­ge.) Die Pla­ka­te sind nur in ei­ner Spra­che ver­fasst, frei­lich ist das in je­dem Be­zirk eine an­de­re.

In Har­lem tobt abends eine Pa­ra­de zu­guns­ten Hoo­vers, des »Par­t­ei­ge­nos­sen von Abra­ham Lin­coln«. (Eine gute Pa­ro­le, denn Lin­coln, der Skla­ven­be­frei­er, ist im Ne­ger­be­zirk hei­lig.) An den hun­dert Ki­nos, den Sing­spiel­hal­len, den S­peak-ea­sies,4 den Mu­siklä­den und Lom­bard­ge­schäf­ten von Len­ox Ave­nue vor­bei rollt der Um­zug mit den schrei­end be­häng­ten Au­tos, in de­ren Fonds fein­ge­klei­de­te Ne­ger­her­ren und fein­ge­klei­de­te Ne­ger­da­men sit­zen und auf de­ren Tritt­bret­tern arme schwar­ze Teu­fel das Ban­ner schwin­gen und »Stimmt für Hoo­ver«, »Stimmt für Hoo­ver« brül­len. Zwi­schen den Per­so­nen­au­tos ein Last­wa­gen mit der Mu­sik­ka­pel­le. Selt­sam oder selbst­ver­ständ­lich? – es ist eine Mu­sik­ka­pel­le ohne Sa­xo­fon, ohne Ban­jo, kein ein­zi­ges Werk­zeug der Jazz­band, nur Gei­gen, Brat­schen, Wald­horn und Tschi­nel­len, und die von den Ne­gern en­ga­gier­ten Mu­si­kan­ten sind al­le­samt Wei­ße!

Ein großer Eck­la­den auf dem Broad­way trägt Af­fi­chen an den Fens­tern: »Wenn ihr be­zwei­felt, dass es der Ku-Klux-Klan ist, der die Het­ze ge­gen Smith führt, so tre­tet ein und se­het die Be­wei­se.« Wir tre­ten ein und se­hen die Be­wei­se. Zei­tungs­blät­ter, die Smith we­gen sei­nes Ka­tho­li­zis­mus ver­spot­ten. Ka­ri­ka­tu­ren: auf Smit­hs Schul­tern rei­tet der Papst in Ame­ri­ka ein, aus dem Fens­ter des Wei­ßen Hau­ses ruft Smith den Rat­ten­zug der Je­sui­ten zu sich. De­vi­sen an den Wän­den po­le­mi­sie­ren, nie­mand dür­fe we­gen sei­ner Re­li­gi­on an­ge­grif­fen wer­den.

Sie fil­men um die Wet­te, die bei­den Prä­ten­den­ten. Zwi­schen den Groß­fil­men, zwi­schen den Sze­nen der Mu­sic Halls sieht man sie wie Wrigleys Kau­gum­mi: here, the­re, eve­r­y­whe­re, zu Hau­se, auf der Stra­ße, auf der Tri­bü­ne.

Auch be­mü­hen sie sich, in je­dem ein­zel­nen Hau­se von Ame­ri­ka vor­zu­spre­chen. Per Ra­dio. Von Her­bert Hoo­vers Rede in Ma­di­son Squa­re Gar­den be­kom­men die Rund­funk­teil­neh­mer ein eine Stun­de lan­ges Stück, nach­her von Al Smit­h’s Speech in Broo­klyn ein eben­so lan­ges Stück. Je­der Zwi­schen­ruf, je­der Bei­fall und je­der Pfiff ist in je­dem ra­dio­ge­seg­ne­ten Haus zu hö­ren. Wenn der Lärm nach ei­nem mar­kan­ten Satz zu lan­ge dau­ert, äu­ßert der Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat: »Freun­de! Ver­trö­deln wir die Ra­dio­zeit nicht mit Kund­ge­bun­gen der Ver­samm­lung!«

Er hat recht. Die Ra­dio­zeit ist teu­er, 30.000 Dol­lar die Stun­de. Und all­abend­lich spre­chen nicht nur die Kan­di­da­ten, son­dern auch Par­tei­män­ner für sie.

Heu­te je­doch ist Wahl­tag, St. Elec­tion­day, und da herrscht tags­über die Ruhe ei­ner mo­der­nen Schlacht. Al­les schrei­tet zur Urne – aber der New Yor­ker schrei­tet nicht, und statt der Urne gibt es Ab­stim­mungs­ma­schi­nen, drei oder vier in je­dem Wahl­lo­kal. Die Schlan­gen der vor ih­nen an­ge­stell­ten Wäh­ler win­den sich in­ein­an­der und durch­ein­an­der. Ver­trau­ens­leu­te der bei­den Par­tei­en, an Ab­zei­chen kennt­lich, ge­hen mit Mo­del­len der Ma­schi­ne auf und ab und er­klä­ren je­dem, wie er’s ma­chen muss, dass sei­ne Kan­di­da­ten ge­wählt wer­den. (Sei­ne Kan­di­da­ten. Plu­ral! Denn es wird nicht nur der Prä­si­dent ge­wählt, son­dern auch der Vi­ze­prä­si­dent, der Gou­ver­neur, ein Se­na­tor, der Ober­rich­ter, der Ober­staats­an­walt und ein Kon­gress­mit­glied.)

Ist der Wäh­ler an der Rei­he, sein Pa­pier über­prüft, dann tritt er in das »clo­set« und ver­schiebt einen He­bel, wo­durch ein Vor­hang zu­ge­zo­gen wird. Ab­ge­schlos­sen von al­ler Welt, kann er nun das ver­brief­te Recht des frei­en ame­ri­ka­ni­schen Bür­gers aus­üben: alle paar Jah­re auf sechs Knöp­fe zu drücken und heim­zu­keh­ren.

Erst abends, erst abends geht’s los. Der Ti­mes Squa­re, die Aus­buch­tung des Broad­way, auch an nor­ma­len Aben­den der tob­süch­tigs­te Rum­mel­platz, Tum­mel­platz und Bum­mel­platz der Erd­ober­flä­che, sieht heu­te buch­stäb­lich Hun­dert­tau­sen­de, die das Re­sul­tat er­fah­ren wol­len. New Yorks Po­li­zei, ver­stärkt durch die von Broo­klyn, von Bronx und von Sta­ten Is­land, ist auf­ge­bo­ten, um in der Sie­ben­ten Ave­nue und von der 40. bis zur 59. Stra­ße den Ver­kehr we­nigs­tens ei­ni­ger­ma­ßen auf­recht­zu­er­hal­ten. Als ob die Keh­le von hun­dert­tau­send Gleich­ge­sinn­ten nicht ge­nüg­te, hat je­der noch eine Tril­ler­pfei­fe oder eine Trom­pe­te oder eine Klap­per mit sich, Kin­der schla­gen Tschi­nel­len mit Zinn­tel­lern und Pau­ke auf Wasch­schüs­seln, Chauf­feu­re ver­mie­ten das Deck ih­res Au­tos, kein Fens­ter der Bü­ro­häu­ser, die Fei­er­tag und auch sonst um die­se Zeit längst Ge­schäfts­schluss ha­ben, ist un­be­setzt, kei­ne Lücke zeigt sich an der Brüs­tung der Dach­gär­ten.

Im 8. Stock­werk des »Ti­mes«-Ge­bäu­des leuch­ten die Mel­dun­gen auf. Jede löst Ge­brüll aus und geht sol­cher­art auf akus­ti­schem Wege um die Stra­ßen­e­cken zu je­nen Men­schen­kei­len, die nichts se­hen kön­nen.

Zwölf Uhr eine Mi­nu­te nachts ist al­les aus. Denn es er­scheint mit Flam­men­schrift an der Wand das Te­le­gramm aus Ard­mo­re, Okla­ho­ma:

»Hoo­ver hat in Mis­sou­ri die Mehr­heit er­langt und so­mit die 266. Stim­me im Wäh­ler­kol­le­gi­um.«

Da das Kol­le­gi­um der Wahl­män­ner aus 531 Per­so­nen be­steht, be­deu­tet die Mel­dung aus dem Nest in Okla­ho­ma Mehr­heit und Ent­schei­dung.

Heu­lend und pfei­fend oder ju­belnd und trom­pe­tend oder still und ent­täuscht lo­ckern sich die Mas­sen, ent­fer­nen sich. Am nächs­ten Tag sind die täg­li­chen Fo­li­an­ten aus­schließ­lich ge­füllt mit Hoo­ver und sei­ner Fa­mi­lie, mit Wahl­re­sul­ta­ten und Wahl­be­rich­ten, zwei­und­zwan­zig Mil­lio­nen ha­ben für Hoo­ver ge­stimmt, sieb­zehn Mil­lio­nen für Smith, auf vier­zig Ster­nen der ame­ri­ka­ni­schen Gösch5 ist die Mehr­heit für Hoo­ver, nur auf den rest­li­chen acht für Smith. Wet­ten wer­den aus­be­zahlt, Ver­mö­gen in Wet­ten ge­won­nen, Ver­mö­gen in Wet­ten ver­lo­ren, auf Wall Street fünf Mil­lio­nen Ak­ti­en um­ge­setzt.

Was ist ge­sche­hen?

Der Kan­di­dat der re­pu­bli­ka­ni­schen Par­tei hat ge­gen den Kan­di­da­ten der de­mo­kra­ti­schen Par­tei ge­siegt. Nun ist aber die de­mo­kra­ti­sche Par­tei na­tür­lich durch­aus re­pu­bli­ka­nisch, und die re­pu­bli­ka­ni­sche Par­tei wür­de es sich sehr ver­bit­ten, für we­ni­ger de­mo­kra­tisch an­ge­se­hen zu wer­den als die de­mo­kra­ti­sche. Der ge­ne­ti­sche Un­ter­schied, dass die De­mo­kra­ten ein­mal die Ver­tre­tung der Plan­ta­gen­be­sit­zer in den Süd­staa­ten und des Klein­bür­ger­tums in den Städ­ten wa­ren, tritt eben­so­we­nig in Er­schei­nung wie der po­li­tisch-his­to­ri­sche Un­ter­schied, dass die Re­pu­bli­ka­ner sei­ner­zeit den Hoch­schutz­zoll be­kämpf­ten.

Per­sön­lich tra­ten die bei­den Stel­lung­su­chen­den mit be­son­de­ren po­li­ti­schen Kö­dern auf. Je­doch Hoo­ver, der das Ren­nen mit drei »P« be­stritt (Pro­spe­ri­ty, Pro­tes­tan­tism und Pro­hi­bi­ti­on), be­ton­te sei­nen Pro­tes­tan­tis­mus wohl­weis­lich nicht. Und für Wohl­stand war sein Geg­ner eben­so. Auch Smith war für die Auf­recht­er­hal­tung der Pro­hi­bi­ti­on, nur woll­te er die Gren­ze des Al­ko­hol­ge­halts für den Be­griff »be­rau­schen­des Ge­tränk« et­was hin­auf­set­zen; er er­klär­te aber, dies be­deu­te eine Än­de­rung der Ver­fas­sung, zu der kein Prä­si­dent Macht und Mög­lich­keit be­sit­ze. Be­dingt trat er da­für ein, die Ver­wer­tung der Was­ser­kräf­te von der Pri­vat­spe­ku­la­ti­on fern­zu­hal­ten, wäh­rend wie­der­um Hoo­ver die­se im Sin­ne der größt­mög­li­chen Pro­spe­ri­tät ver­wen­det zu se­hen wünsch­te.

Kein Un­ter­schied in den Pro­gram­men, kaum ein Un­ter­schied in den Wahl­pa­ro­len. Und auch kei­ne Per­so­nen­fra­ge – da nie­mand bei sol­chen Wah­len ent­schei­den kann, da nie­mand bei sol­chen Wah­len vor­aus­sa­gen kann, wie sich der Kan­di­dat als Prä­si­dent ge­gen­über die­sem oder je­nem Ein­fluss ver­hal­ten wird. Der ein­zi­ge, der je mit fes­tem Pro­gramm auf­trat, war der De­mo­krat Wil­son: »Kein ame­ri­ka­ni­scher Staats­mann darf so ehr­los und cha­rak­ter­schwach sein, un­ter ir­gend­ei­nem Vor­wand USA zur Teil­nah­me am Welt­krieg zu brin­gen.« Trotz der Rie­se­na­gi­ta­ti­on der En­ten­te wur­de er da­für un­ter der Pa­ro­le »He kept us out of the war«6 wie­der­ge­wählt und – er­klär­te den Krieg.

Also auch kei­ne Per­so­nen­fra­ge! Eine rei­ne Macht­fra­ge der Par­tei­en, de­ren bei­de Bun­des­lei­tun­gen acht­ein­halb Mil­lio­nen Dol­lar für Agi­ta­ti­ons­zwe­cke aus­ge­wor­fen ha­ben, ab­ge­se­hen von den Mil­lio­nen der Lan­des­or­ga­ni­sa­tio­nen. Eine Macht­fra­ge zu Ge­schäfts­zwe­cken.

Die vier­zig Mil­lio­nen Wäh­ler macht das nicht stut­zig.

»Was än­dert sich denn«, frag­te der Dok­tor Be­cker am Wahl­a­bend auf dem Ti­mes Squa­re einen auf­ge­reg­ten Nach­barn, »was än­dert sich ei­gent­lich da­durch, ob Smith oder Hoo­ver ge­wählt wird?«

»Oh, es än­dert sich eben­so­viel, wie wenn Tun­ney statt Demp­sey Welt­meis­ter im Bo­xen wird.«


  1. (lat.) als Bild­nis  <<<

  2. auf Ton­band auf­ge­nom­men  <<<

  3. die New Yor­ker Vo­r­or­te  <<<

  4. Flüs­ter­knei­pen, Bars, in de­nen wäh­rend der Pro­hi­bi­ti­on heim­lich Al­ko­hol aus­ge­schenkt wur­de.  <<<

  5. Lan­des­flag­ge  <<<

  6. (engl.) Er hat uns aus dem Krieg her­aus­ge­hal­ten.  <<<

Käfige in Käfigen, die in Käfigen stecken

Zeit mei­nes Le­bens habe ich so et­was noch nicht ge­se­hen wie die Tombs, das be­rühm­te City-Ge­fäng­nis von New York. Der ur­sprüng­li­che Ker­ker stell­te eine Ko­pie der ägyp­ti­schen Kö­nigs­grä­ber (tombs) dar, was ko­misch war und dem Zweck des Ge­bäu­des nicht ent­sprach, wes­halb man den not­wen­dig ge­wor­de­nen Neu­bau im Sti­le der eng­li­schen Kö­nigs­sch­lös­ser auf­führ­te. (sic!)

Nun ist es eine Tu­dor-Fes­tung mit ei­nem Fa­brik­schorn­stein, die Ei­sen­to­re im Wall sind kunst­voll be­schla­gen, und ob­wohl das Kas­tell kei­nen Turm hat, ist je­der Ecke eine große Ke­gel­kap­pe auf­ge­stülpt, als ob. Auch Zin­nen und ähn­li­che Zier­ra­te feh­len nicht, und nach dem Straf­ge­richts­ge­bäu­de führt über die Stra­ße ein Ver­bin­dungs­gang, der ve­ne­zia­nisch ge­wölbt ist und dem­ge­mäß Bridge of Sighs1 heißt, die Seuf­zer­brücke. Es wür­de uns nicht über­ra­schen, wenn dem­nächst ein Rocke­fel­ler et­li­che Mil­lio­nen stif­te­te, um hier auch Blei­kam­mern zu er­rich­ten, weil Ve­ne­dig sol­che be­saß.

Das Ge­fäng­nis sieht also von au­ßen ge­ra­de­zu hui aus. Im In­nern hin­ge­gen – zeit mei­nes Le­bens habe ich so et­was noch nicht ge­se­hen!

Den ers­ten Ein­druck ver­mit­teln die She­riffs, die eben vom Ge­ne­ral Court2 her­ein­kom­men und ge­fes­selt sind. Vi­el­leicht könn­te je­mand ein­wen­den, nicht sie sei­en ge­fes­selt, son­dern der Ge­fan­ge­ne, den je­der She­riff bringt. Aber die Ni­ckel­span­gen schlie­ßen sich mit der glei­chen Fes­tig­keit um die Hand­ge­len­ke bei­der – dass es das rech­te Hand­ge­lenk des an­de­ren und das lin­ke Hand­ge­lenk des einen ist, macht nicht viel aus. Wich­ti­ger ist: der Es­kor­teur hat den Schlüs­sel der Span­ge und einen Re­vol­ver in der Ta­sche, der Es­kor­tier­te aber bes­ten­falls nur einen Re­vol­ver.

Man trifft auch She­riffs, die ge­ra­de ab­ge­lie­fert ha­ben und ein gan­zes Wa­ren­la­ger von ver­ni­ckel­ten Stahl­arm­bän­dern in der Hand tra­gen.

An zwei Zim­mern vor­bei, hin­ter de­ren Ei­sen­ge­stän­gen der Ge­fan­ge­ne mit sei­nem Rechts­an­walt ver­han­deln kann, geht es nach in­nen: den Zel­len zu. Kei­ne ist durch eine Tür ver­schlos­sen, alle nur durch Git­ter­stä­be, so­dass der In­sas­se nicht eine Stun­de des Ta­ges und nicht eine Stun­de der Nacht al­lein ist; er sitzt im Kä­fig, je­der­zeit zur Schau für die vor­bei­ge­hen­den Wäch­ter, und ist doch im­mer ver­schlos­sen.

Und wie ver­schlos­sen! Der Kor­ri­dor, man kennt die­se ei­ser­nen Via­duk­te aus je­der Straf­an­stalt, ist hier kaum einen hal­b­en Me­ter breit und läuft nur zehn Zel­len ent­lang, vier sol­cher Ga­le­ri­en per Stock­werk. Aber nicht nur die Zel­len sind ein­zeln ver­sperrt, son­dern auch jede Ga­le­rie zu­ge­klappt und je­der Ein­gang zu je­dem Stock­werk ver­schlos­sen. Zeit mei­nes Le­bens habe ich so et­was noch nicht ge­se­hen: ein Ge­fäng­nis, wo man oben und un­ten, rechts und links kei­nes­falls mehr als acht Schrit­te ma­chen kann, ohne auf ein ver­sperr­tes Ge­stän­ge zu sto­ßen.

Zur Me­na­ge­stun­de sind man­che Tü­ren of­fen: die in die Kü­che, die, aus de­nen die Kal­fak­to­ren kom­men, um aus­zu­fe­gen oder Brot zu ho­len. Wenn nun ir­gend­wo eine Un­ru­he aus­bricht, so ge­nügt ein Druck auf die Alarm­vor­rich­tung, um alle Räu­me zu schlie­ßen und jede Kom­mu­ni­ka­ti­on der Ab­tei­lun­gen zu ver­hin­dern. Ganz eng die Mit­te des Stock­werks, wo die vier Zel­len­gän­ge zu­sam­men­lau­fen, so eng, dass man sich nicht be­we­gen kann: auf die­sem Raum wird die Be­we­gungs­stun­de ab­ge­hal­ten, der Spa­zier­gang.

Ein Wasch­be­cken mit flie­ßen­dem Was­ser ist in der Zel­le und eine Klo­sett­schüs­sel, da­zwi­schen ein klei­ner Tisch mit Sei­fe für das ers­te­re und mit Pa­pier für das letz­te­re. Die­ses Tisch­chen füllt die Qu­er­wand aus, dar­über brennt eine Glüh­bir­ne ohne Schal­ter, rechts an der Wand sind zwei über­ein­an­der an­ge­ord­ne­te Klapp­bet­ten für die Nacht und ein Sche­mel für den Tag und noch ein Tisch­chen. Das ist glei­cher­ma­ßen die Woh­nung für den, der we­gen Über­schrei­tung von Ver­kehrs­vor­schrif­ten zu ei­nem Tag ver­ur­teilt (vom Ver­kehrs­ge­richt er­hält der Chauf­feur das ers­te Mal einen Tag oder 2 Dol­lar Stra­fe, das zwei­te Mal zwei Tage oder 25 Dol­lar, das drit­te Mal 50 Dol­lar oder fünf Tage und Ent­zie­hung des Füh­rer­scheins), wie für den, der un­ter dem Ver­dacht meh­re­rer Raub­mor­de hier­her­ge­bracht wor­den ist und nun even­tu­ell sech­zehn Mo­na­te dar­auf war­ten kann, bis er über die Seuf­zer­brücke zur Ver­hand­lung ge­führt wird.

Denn das Ci­ty-Pri­son of Man­hat­tan be­her­bergt Un­ter­su­chungs­häft­lin­ge (tri­al ca­ses) und Leu­te, die be­reits ver­ur­teilt (sen­tenced) sind, und zwar zu ei­ner Haft von höchs­tens sechs Mo­na­ten. Die al­ler­dings ha­ben einen ge­mein­sa­men Schlaf­saal hin­ter Git­ter­stä­ben.

Ge­son­dert un­ter­ge­bracht sind auch die zum ers­ten Mal rück­fäl­li­gen Ju­gend­li­chen (se­cond of­fen­ders) im Al­ter von 16 bis 20 Jah­ren und die bis­her un­be­schol­te­nen Ju­gend­li­chen. Sie woh­nen im al­ten Teil des Tu­dor-Schlos­ses, un­ter der Seuf­zer­brücke, an der Stel­le, wo bis zum Jah­re 1888 der Gal­gen von New York stand. Der Gal­gen ist dann ver­legt und schließ­lich die bar­ba­ri­sche Stra­fe des Hen­kens ab­ge­schafft wor­den und durch den »hu­ma­nen« elek­tri­schen Stuhl er­setzt.

Für Ko­kain­schnup­fer und Mor­phi­u­mes­ser, die ge­wöhn­lich gleich­zei­tig Schmugg­ler die­ser To­xi­ne sind, hat man eine drit­te Son­der­ab­tei­lung re­ser­viert, nicht etwa zu dem Be­hu­fe, da­mit sie ein­an­der ken­nen­ler­nen und sich zu ge­mein­sa­men Ge­schäfts­ver­bin­dun­gen zu­sam­menschlie­ßen, son­dern weil die Be­hand­lung die­ser Fäl­le die glei­che ist.

Zeit mei­nes Le­bens habe ich so et­was noch nicht ge­se­hen, ein Ker­ker­haus, in dem sich – zwei­mal täg­lich, um zehn Uhr mor­gens und um halb drei Uhr nach­mit­tags – die stäh­ler­nen Klapp­tü­ren der Ga­le­ri­en vor ei­nem Zei­tungs­jun­gen öff­nen, der die Zel­len ent­lang läuft und Ta­ges­blät­ter und Ma­ga­zi­ne ver­schleißt. Das ist gut. Und gut ist auch, dass hier, wie in je­dem ame­ri­ka­ni­schen Ge­fäng­nis (so­gar im Frau­en­zucht­haus) je­der­mann so viel rau­chen darf, wie er lus­tig ist. (Wann wird end­lich in den deut­schen Po­li­zei­ge­fan­ge­nen­häu­sern und Straf­an­stal­ten die Quä­le­rei des Ta­bak­ver­bo­tes auf­hö­ren!)

Der Häft­ling kann täg­lich ein­mal un­ent­gelt­lich te­le­fo­nie­ren las­sen und hat für je­den wei­te­ren An­ruf, der für ihn be­sorgt wird, nur fünf Cents zu be­zah­len. Ein Ge­schäft ist hier, wo man vie­ler­lei er­hält: nicht nur Pfei­fen samt Ta­bak und Put­zern, Zi­gar­ren, Zi­ga­ret­ten und Streich­höl­zer (Deutsch­land, höre: Streich­höl­zer im Ge­fäng­nis!), Kau­gum­mi, Pra­li­nen(!), Sel­ters­was­ser, Ing­wer­bier, Ku­chen, Mar­me­la­de, Öl­sar­di­nen, Spaghet­ti, Kon­dens­milch, Räu­cher­he­ring, Äp­fel und Oran­gen, Blei­stif­te, Schreib­pa­pier, Brief­mar­ken, Ra­sier­cre­me, Ra­sier­bürs­te, Ra­sier­pul­ver und Zahn­pas­ta, son­dern auch Un­ter­hem­den, Un­ter­ho­sen, Hem­den, So­cken, Ta­schen­tü­cher in al­len Far­ben, Stie­fel­wich­se und Woll­hand­schu­he. In den Frau­en­ge­fäng­nis­sen auch Blu­sen, St­rümp­fe, Mie­der­leib­chen, Na­deln, Haar­net­ze, Ta­schen­käm­me und Si­cher­heits­na­deln.

Re­stau­rant im Hau­se. Der Kell­ner geht von Zel­le zu Zel­le, nimmt Be­stel­lun­gen ent­ge­gen und ser­viert de­nen, die Geld ha­ben und mit der An­stalts­kost nicht zu­frie­den sind. Das wirkt merk­wür­dig. Aber die Metho­de des eu­ro­päi­schen Straf­voll­zugs, nur da­durch die Un­ter­schie­de zwi­schen reich und arm auf­zu­he­ben, in­dem man bei­de auf jäm­mer­li­che Ge­fan­ge­nen­kost setzt, führt eben­so­we­nig einen rich­ti­gen Zu­stand her­bei. Ein sol­cher wäre: an­stän­di­ge, die Gast­haus­ver­pfle­gung über­flüs­sig ma­chen­de Kost. Oh, über das Be­den­ken der Spie­ßer, dass es dem Ver­bre­cher im Ker­ker »zu gut ge­hen« könn­te! Das Ge­fäng­nis wird im­mer eine schreck­li­che, ge­fürch­te­te Ört­lich­keit blei­ben, auch wenn man dort an­stän­dig es­sen, mit sei­ner Frau ver­keh­ren, nach Be­lie­ben rau­chen, Brie­fe schrei­ben und Brie­fe und Be­su­che emp­fan­gen dürf­te.

Ge­zahlt wer­den die Gast­haus­spei­sen mit Ge­fäng­nis­mün­zen, die Wa­ren aus dem La­den mit ei­nem Scheck, der vom Häft­ling und ei­nem Zeu­gen un­ter­schrie­ben ist.

Es gibt fer­ner eine Pa­tent­kir­che. Ein schö­ner Al­tar, tief ge­glie­dert, ist dazu da, dass der evan­ge­li­sche Pas­tor zum Hei­land bete, des­sen Bild­nis über dem Kreuz hängt. Aber, husch, hast du nicht ge­sehn, wird der Al­tar­raum zu­ge­klappt, nichts mehr von ihm ist üb­rig, nichts mehr vom Kru­zi­fix und nichts mehr von Je­sus, die Klap­pe ist eine Bun­des­la­de und die Kir­che eine Sy­n­ago­ge. Das heiß ich mir smart, ein Griff – ein Tem­pel; wes­halb aber, um Je­ho­vas, be­zie­hungs­wei­se um Chris­ti wil­len, ge­nügt das nicht, warum müs­sen, hei­li­ge Ma­ria, die Ka­tho­li­ken im un­te­ren Stock­werk eine ei­ge­ne Ka­pel­le ha­ben und so­gar die Ge­sund­be­ter, die Chris­ti­an Science, eine ei­ge­ne? (Apro­pos: »Je­wish Science« heißt in Ame­ri­ka die Psy­cho­ana­ly­se.)

Be­vor wir ein­tra­ten in die Tombs, sa­­­­­­­­­­­­­3­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­