»1968: sein Kafka-Jahr. Es war das Jahr der Studenten in der Sorbonne, des Prager Frühlings und der August-Katastrophe. Ein wildes, demonstratives, tragisches Jahr. Ein Jahr der abgöttischen Liebe und Verehrung, für Kafka« – so lautet eine Aufzeichnung Elias Canettis von 1993.

Canettis Beschäftigung mit der Person und dem Werk Franz Kafkas reicht jedoch bis 1930 zurück. Sein Verhältnis zu dem knapp zwanzig Jahre Älteren war von Anfang an ambivalent: Von Verehrung für den Größeren ist die Rede, aber auch von Rivalität und »Einflussangst«.

Aus Canettis über sechzig Jahre währender Beschäftigung mit Kafka liegen der Öffentlichkeit bisher nur die englische Rede über Proust–Kafka–Joyce von 1948 vor, der große, 1968 entstandene Kafka-Essay Der andere Prozess und verstreute Überlegungen und Aphorismen in den publizierten Aufzeichnungen und in der Autobiographie.

In Canettis Nachlass existieren jedoch umfangreiche weitere Materialien, die hier zum ersten Mal publiziert werden. Sie geben bisher nicht mögliche Einblicke in Canettis Auseinandersetzung mit einem Dichter, der ihm immer wieder als Identifikationsfigur diente und dessen Werk er auch als Maßstab und Richtschnur seiner eigenen Arbeit nahm.

Die nachgelassenen Materialien erlauben es, die publizierten Kafka-Texte in einen (auto)biographischen Prozess der Selbstvergewisserung einzuordnen, in dem die an Kafka explizierten Kernthemen sich immer wieder als Canettis ureigenste erweisen: Es ist tatsächlich »Canettis Kafka«, der uns hier entgegentritt, damit aber auch eine exemplarische literaturgeschichtliche Konstellation des 20. Jahrhunderts.

 

 

 

 

Elias Canetti

 

Prozesse

Über Franz Kafka

 

Im Auftrag der Canetti Stiftung herausgegeben von Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Inhalt

 

Susanne Lüdemann: Canettis Kafka

 

Aufzeichnungen 1946–1966

Aus der Arbeitszeit am Essay 1967–1968

Aufzeichnungen 1969–1994

 

Proust – Kafka – Joyce (1948)

Der andere Prozess. Kafkas Briefe an Felice (1968)

Hebel und Kafka (1980)

 

 

Die Aufzeichnungen im ersten Teil dieses Buches stammen aus Elias Canettis Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich sowie aus Privatbesitz. Sie wurden von Johanna Canetti transkribiert. Die Auswahl hat Susanne Lüdemann getroffen (vgl. zu den Kriterien der Auswahl auch die folgende Einführung). Auf die Überprüfung und den Nachweis von Kafka-Zitaten nach einer der kritischen Kafka-Ausgaben (die Canetti noch nicht zur Verfügung standen) wurde im Rahmen dieser Leseausgabe verzichtet. Die Schreibweise der Daten wurde um des einheitlichen Erscheinungsbilds willen angeglichen. Einzelne in den Manuskripten nicht entzifferbare Wörter sind durch »…..« gekennzeichnet.

 

Die von Canetti selbst publizierten Texte im zweiten Teil des Buches sind wiedergegeben nach den Bänden VI und X der im Hanser-Verlag erschienenen Gesamtausgabe. Auf die Gesamtausgabe wird in gelegentlichen Fußnoten abgekürzt verwiesen unter Angabe von Band- und Seitenzahl:

I

Die Blendung

II

Hochzeit / Komödie der Eitelkeit / Die Befristeten / Der Ohrenzeuge

III

Masse und Macht

IV

Aufzeichnungen 1942–1985 (Die Provinz des Menschen / Das Geheimherz der Uhr)

V

Aufzeichnungen 1954–1993 (Die Fliegenpein / Nachträge aus Hampstead)

VI

Die Stimmen von Marrakesch / Das Gewissen der Worte (Aufsätze)

VII

Die gerettete Zunge

VIII

Die Fackel im Ohr

IX

Das Augenspiel

X

Aufsätze, Reden, Gespräche / Bibliographie

 

 

 

Susanne Lüdemann

Canettis Kafka

 

 

Zu dieser Ausgabe

 

Als Franz Kafka am 3. Juni 1924 im Lungensanatorium Hoffmann in Kierling, zwölf Kilometer donauaufwärts von Wien, im Alter von vierzig Jahren starb, war er als Schriftsteller so gut wie unbekannt. Zu Lebzeiten waren nur wenige Texte von ihm erschienen; dass er postum zum wohl bekanntesten Dichter des 20. Jahrhunderts werden sollte (mittlerweile geradezu global), war völlig unabsehbar. Er hatte seinen Freund Max Brod zum Nachlassverwalter eingesetzt, mit der Bitte, alle seine Papiere zu vernichten. Auch wenn an der Aufrichtigkeit dieser Bitte mit Fug gezweifelt werden kann (und, mit glücklichen Folgen für die lesende Menschheit, nicht zuletzt von Max Brod selbst gezweifelt worden ist): Dass Kafkas Schreiben einst zur gültigen ästhetischen Signatur der inneren und äußeren Verfasstheit eines ganzen literarischen Zeitalters – der klassischen Moderne – werden sollte, konnte man 1924 nicht wissen.

Elias Canetti war 1924, als Kafka starb, neunzehn Jahre alt, lebte nach Stationen in Manchester, Zürich und Frankfurt/Main nun in Wien, seit seiner Kindheit in Rustschuk (Bulgarien) der europäische Bezugspunkt der Familie, und studierte dort Chemie. Von Kafka las er nach eigenem Bekunden zuerst »Die Verwandlung« und den »Hungerkünstler«, auf die er im Winter 1930/31, während der Arbeit an seinem einzigen Roman »Die Blendung«, in der Buchhandlung Lanyi in Wien gestoßen war. Die Lektüre dieser beiden Erzählungen, der er Einfluss auf den weiteren Verlauf der »Blendung« zugestand, markiert den Beginn seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Kafka, deren Spuren in diesem Buch versammelt sind.

Diese umfassen, außer den zu Canettis Lebzeiten publizierten in sich abgeschlossenen Texten – der englischen Rede zu »Proust – Kafka – Joyce« von 1948, dem Essay »Der andere Prozess. Kafkas Briefe an Felice« von 1968 und der Hebelpreisrede über »Hebel und Kafka« von 1980 –, vor allem eine große Menge von Aufzeichnungen (die früheste von 1946, die späteste von 1994, sechs Monate vor seinem Tod), von denen Canetti nur die wenigsten in die zu Lebzeiten publizierten Aufzeichnungen-Bände aufgenommen hat. Der größte Teil dieser nachgelassenen und hier zum ersten Mal publizierten Aufzeichnungen zu Kafka wiederum stammt aus dem Jahr 1968, als Canetti in London in zwei sehr intensiven Schreibphasen (von Februar bis April und dann wieder von Juli bis September) an den beiden Teilen seines Kafka-Essays arbeitete, die im Juni und Dezember desselben Jahres in der von Rudolf Hartung herausgegebenen »Neuen Rundschau« erschienen.1

Dass es 1968 zu diesem Essay und damit zu einer weit über diesen hinausgehenden ebenso intensiven wie extensiven Beschäftigung Canettis mit Kafka kam, war zunächst wohl mehr oder weniger Zufall: Die »Neue Rundschau« hatte in ihrer Septembernummer von 1967 eine Reihe von Briefen Kafkas an Felice aus dem Jahr 1912 vorabgedruckt und auf das Erscheinen der ersten Gesamtedition der Briefe im S. Fischer Verlag noch im selben Herbst hingewiesen. Die Septembernummer enthielt auch einen Text von Canetti, »Besuch in der Mellah« (ein Kapitel aus »Die Stimmen von Marrakesch«), weswegen Hartung ihm das Heft wohl zugeschickt hatte. Canetti war von Kafkas Briefen – es waren in dieser Frühphase der Beziehung zu Felice noch genuine Liebesbriefe – sofort sehr »ergriffen« (2.9.1967, S. 55).2 Neben Kafkas »Zärtlichkeit« in diesen Briefen und deren »Zaghaftigkeit« (im Kontrast zu seiner eigenen »Heftigkeit und Hitze«) verzeichnet er jedoch augenblicklich auch den Zusammenhang zwischen dem Briefwechsel und Kafkas literarischer Produktivität – der Vorabdruck enthielt drei Briefe aus der Zeit, in der Kafka an der »Verwandlung« schrieb. »Das Herz blieb mir stehen, als ich las, um welche Geschichte es sich handelt«, notiert Canetti. Der eigentliche Vorschlag, über die Briefe zu schreiben, muss dann wohl von Rudolf Hartung gekommen sein, und das einzige, was Canetti noch zögern lässt, ist, dass er die Kafka-Forschung nicht kennt (28.11.1967, S. 57).

Nachdem er sich bei Hartung die Lizenz für seine wohlverteidigte »Naivität« gegenüber der akademischen Kafka-Exegese geholt hat, macht er sich an die Arbeit und füllt in den nächsten neun Monaten insgesamt 14 Hefte, die mit »Aufzeichnungen und Tagebücher« überschrieben sind, manchmal zusätzlich mit »Kafka« oder »viel zu Kafka«, und aus denen der Essay hervorgegangen ist. Neben umfangreichen Exzerpten aus Kafkas Gesamtwerk und Entstehungsvarianten des Essays enthalten sie weiterführende Reflexionen zu Kafka, aber auch Notate persönlicher, teilweise sehr persönlicher, und zeitgeschichtlicher Natur, die insgesamt einen aufschlussreichen Einblick in Canettis multiple Schreibwerkstatt bieten. Gleichzeitig mit den Kafka-Heften (später versammelt in Schachtel 25a des Nachlasses) arbeitete er an weiteren Heften mit ›regulären‹ Aufzeichnungen (versammelt in Schachtel 15) und am Manuskript des Essays. Die Grenzen zwischen den Aufzeichnungstypen freilich verschwimmen. Obwohl Canetti in anderen Texten und Interviews wiederholt behauptet hat, zwischen Tagebüchern und Aufzeichnungen streng zu trennen,3 war das offenbar in der Praxis nicht der Fall. Auch außerhalb der Kafka-Hefte gibt es Aufzeichnungen zu Kafka – manchmal von Canetti eigens mit »K« gekennzeichnet –, und die Kafka-Hefte enthalten zu einem nicht unwesentlichen Teil auch persönliche Reflexionen sowie gelegentliche Kommentare zu politischen Ereignissen. »1968: sein Kafka-Jahr. Es war das Jahr der Studenten in der Sorbonne, des Prager Frühlings und der August-Katastrophe. Ein wildes, demonstratives, tragisches Jahr. Ein Jahr der abgöttischen Liebe und Verehrung, für Kafka«, notiert Canetti noch 25 Jahre später (14.9.1993, S. 241), und kurz darauf: »Ende der Kleinheits-Lehre. Periode Kafka – Hera beschlossen.« (7.11.1993)

Die noch in diesen späten Aufzeichnungen geltend gemachte und an den Textträgern aus dem Jahr 1968 unmittelbar ablesbare Verflechtung der Kafka-Phase mit ›anderen Prozessen‹ (persönlichen und politischen) wurde in der vorliegenden Ausgabe respektiert, das heißt, es wurde nicht versucht, die Ebenen zu trennen oder die Kafka-Hefte um scheinbar ›nicht zur Sache Gehöriges‹ zu erleichtern. Im Kapitel »Aus der Arbeitszeit am Essay« (S. 53ff.) wurden Aufzeichnungen aus den Kafka-Heften mit Aufzeichnungen aus Schachtel 15 in chronologischer Reihenfolge kombiniert. Weggelassen wurden lediglich Canettis umfangreiche Exzerpte aus Kafka-Texten sowie zahlreiche Entstehungsvarianten zu einzelnen Passagen seines Essays, die für diese Leseausgabe zu redundant gewesen wären und deren Edition einer historisch-kritischen Ausgabe vorbehalten bleiben muss. Was Canettis Sache 1968 war, ist allerdings aus der auf diese Weise sichtbar werdenden Entstehungsgeschichte des Essays neu zu bestimmen. Im Sinne Canettis dürfte das schon insofern sein, als er – im Gegensatz zu Kafka – seinen Nachlass erhalten wissen wollte: Er hat ihn selbst in Schachteln gepackt und vor seinem Tod der Zentralbibliothek Zürich übergeben.

 

 

Canettis Prozesse

 

»Von den Gebilden führt kein Weg zurück zu den Prozessen«, notiert Canetti Anfang Februar 1968: »Bedenke die Prozesse, nichts sonst.« (S. 65)

Bereits in dieser frühen Arbeitsphase ist die Rede von den »Prozessen« mehrdeutig. Bezieht sie sich im gegebenen Zusammenhang zunächst auf Kafkas Prozess-Roman, den darin geschilderten Gerichtsprozess und auf jenen seinem Essay den Titel gebenden »anderen Prozess«, als den Canetti die unglückliche Ver- und Entlobungsaffäre zwischen Kafka und Felice Bauer interpretiert, so gilt sie mit dem Verhältnis von »Gebilden« und »Prozessen« doch gleichzeitig in einem allgemeineren Sinn dem Verhältnis der Werke zu den Prozessen, aus denen sie entstehen. Führt von den »Gebilden kein Weg zurück zu den Prozessen«, so kann man doch, wenn man »nur die Prozesse bedenkt«, vielleicht den umgekehrten Weg beschreiten.

Dass Kafkas Verlobung mit Felice zur Verhaftung Josef K.s im ersten Kapitel des Prozess-Romans geworden sei, die Entlobung im Askanischen Hof in Berlin (von Kafka selbst als »Gericht« über ihn bezeichnet) zur Hinrichtung Josef K.s im letzten Kapitel, ist die entsprechende Kernthese des Essays, die Canetti unter anderem mit Tagebucheinträgen Kafkas stützt. Er sei sich »sehr wohl dessen bewusst, wie anfechtbar solche Eingriffe in gültige Dichtung« seien, konzediert er, und über den »Prozess« als Ganzes sei damit überhaupt nichts ausgesagt. Bei der »unfassbaren Originalität Kafkas« sei es jedoch »von Bedeutung, den Vorgängen in ihm nachzugehen und so vielleicht dem Wesen wahrhaftiger dichterischer Prozesse näherzukommen.« (31.7.1968, S.161) Diese »dichterischen Prozesse« sieht er wiederum in Zusammenhang mit dem »Prozess der Selbsterkenntnis«, den er in Kafkas Briefen an Felice dokumentiert findet (25.2.1968, S. 96).

Für Literaturwissenschaftler ist die biographische Annäherung an einen literarischen Text, wie Elias Canetti sie in seinem Essay und auch in seinen Aufzeichnungen betreibt, eine Art Todsünde – droht sie doch das, was Adorno noch den »objektiven Gehalt der Gebilde« genannt hätte, auf die subjektive Befindlichkeit und die Lebensprobleme ihres Autors zu reduzieren, deren Ausdruck sie seien. Die biographische Lesart, so das Credo der akademischen Philologie, verfehle durch die Rückführung der Texte auf ihren ›Sitz im Leben‹ des Autors gerade das, worin sie über die Beschränkungen dieses individuellen Lebens hinausreichen: das, worin sie der Sache der Literatur mehr verbrüdert oder verschwistert sind als dem Leben des Autors, und damit das, worin sie exemplarische Gültigkeit auch für andere beanspruchen können – und wollen.

Canetti hingegen besteht darauf, dass »das Öffentliche und das Private […] sich nicht mehr voneinander trennen« lassen, dass sie einander »auf früher unerhörte Weise« durchdringen.4 Exemplarisch ist Kafkas besondere Form der literarischen Produktion für ihn gerade in dieser Untrennbarkeit von Öffentlichem und Privatem, von literarischen und anderen Prozessen. Von seinen gelegentlichen Seitenhieben auf die professionellen »Literatur-Erklärer« (24.11.1991, S. 238), die Germanisten, nimmt er lediglich einen (namentlich nicht Genannten) aus, der in einem Vortrag über Kafkas Tagebücher auch seine eigenen erwähnt. (8.3.1990, S. 233)

Eben diese Untrennbarkeit von literarischen und biographischen Prozessen dokumentieren oder inszenieren nun aber auch Canettis Kafka-Hefte selbst als Versuch, Kafkas Prozess der Selbsterkenntnis auf sich selbst anzuwenden und dadurch seine eigenen dichterischen Prozesse freizusetzen: »Es ist undenkbar, dass seine Prozesse nicht eigene in mir auslösen.« (19.2.1968, S. 79) Canetti hat die Einträge in den Kafka-Heften – nach Art seiner sonstigen Aufzeichnungen – akribisch datiert und ihnen so zumindest die Form des Tagebuchs gegeben. Dieser Form war – im Gefolge von Proust, Joyce und Kafka, die er »die drei bedeutendsten und einflussreichsten Schriftsteller« des 20. Jahrhunderts nennt – auch Canetti »auf das Tiefste verpflichtet« (6.5.1965, S. 40).

Auch die autobiographische Ausrichtung ihrer Werke, die er in der Rede von 1948 Proust, Joyce und Kafka attestiert (S. 248), findet sich bei Canetti zumindest seit der »Geretteten Zunge«. Der Titel dieses ersten Bandes seiner Lebensgeschichte, der 1977 erschien, gewinnt im Zusammenhang der Kafka-Hefte eine zweite Bedeutung,5 denn die Rettung seiner ›Zunge‹ – seiner Sprache als Dichter – ist das, was Canetti während der Arbeit am Kafka-Essay und in der Auseinandersetzung mit Kafka eigentlich umtreibt:

»Rette mich, Kafka. Willst du mich nicht retten«, lautet einer der inständigsten Einträge zu Beginn der Arbeitszeit am Essay, »verachtest du mein Gewicht, meine Wollust, meinen Bauch? War Flaubert nicht so schwer wie ich, war seine Wollust geringer? – Wo sind deine Werke, hör ich dich sagen. Ach, nirgends, nirgends. Aber kann ich sie nicht noch finden? […] Auch mir ist Schreiben ein Gebet, das einzige, das ich kenne. Mein Prozess ist mit dem Tod, er ist noch nicht zu Ende. Diese Rechnung ist dir zu früh aufgegangen. Ich habe länger gelebt und trage mehr Tote als du. Sie sind es, die mir deine Askese verweigern. Damit, dass ich hungere, kann ich sie nicht abspeisen. Keinen wollte ich überleben und so sind sie alle in mir. Welche Sprache find ich für sie, noch hab ich keine. Aber absehen kann ich von ihnen nicht, das ist meine Unfruchtbarkeit.« (20.12.1967, S. 59)

Der Dialog mit Kafka wird Canetti immer wieder zum »Dialog mit dem grausamen Partner«, als den er sein Tagebuch bestimmte.6 Die »Sprache für die Toten« hingegen fand er schließlich in der dreibändigen Lebensgeschichte, an der er nach dem Abschluss des Kafka-Essays zu arbeiten begann. Canettis Kafka-Phase ist so zugleich eine Zeit des ›Kampfs ums Werk‹, den wir in seinen Aufzeichnungen mit verfolgen können.

1960 war »Masse und Macht« erschienen, Canettis Versuch, »dieses Jahrhundert an der Gurgel zu packen«,7 an dem er fast vierzig Jahre gearbeitet hatte. 1963 war Veza Canetti, seine erste Frau, gestorben. Elias Canetti und Venetiana Taubner-Calderon hatten sich 1924 in Wien bei einer Lesung von Karl Kraus kennengelernt; sie waren seit 1934 verheiratet und emigrierten 1938 gemeinsam nach England. Dass es sich, gelinde gesagt, um eine schwierige Ehe gehandelt hatte – geprägt durch außereheliche Liebschaften und paranoide Episoden seinerseits, durch zahllose depressive Krisen und Selbstmorddrohungen ihrerseits –, ist der breiteren Öffentlichkeit seit der Publikation der Briefe beider Ehepartner an Elias Canettis jüngeren, in Paris lebenden Bruder Georges bekannt.8 Canettis Trauer um Veza war dennoch grenzenlos, und sie durchzieht noch die Kafka-Hefte. »Ich möchte in ihre Asche kriechen. Nur in ihrer Asche will ich schreiben. Ich will mit ihrer Asche schreiben.« (24.7.1968, S. 149)

Mit Veza, die acht Jahre älter war als er, hatte er nicht nur seine Frau und engste Gefährtin der Emigrationsjahre verloren, sondern auch, wie er vielfach selbst konstatierte, seine Ersatz-Mutter und literarische Ratgeberin. Seine Schuldgefühle ihr gegenüber, die ihre eigene Existenz als Schriftstellerin für ihn geopfert und mit ihrem Unglück sein Werk genährt hatte, müssen ebenso grenzenlos gewesen sein wie seine Trauer (und vielleicht ja auch von dieser nicht zu unterscheiden). Seit der Publikation von »Masse und Macht« hatte er außer den kontinuierlich fortgesetzten Aufzeichnungen fast nichts Zusammenhängendes mehr geschrieben, und die Unzufriedenheit mit der eigenen literarischen Impotenz kehrt in den Kafka-Heften litaneiartig wieder. »Wann beginne ich mit dem wirklichen, neuen, anderen Werk? Aufzeichnungen unzählige, und gewiss manches Brauchbare darunter, aber wann entschließe ich mich endlich zu einem neuen Werk. Jeden Tag könnte ich beginnen. Was hindert mich? Warum beginne ich nicht? Warum will ich nicht beginnen?« (24.7.1968, S. 148)

Noch vor Vezas Tod hatte er allerdings die Zürcher Kunstrestauratorin Hera Buschor kennengelernt, mit der ihn seit Vezas Tod eine zunehmend enger werdende Liebe verband und die er 1971 heiratete. In der Beziehung zu der 28 Jahre jüngeren Frau muss der schon über sechzigjährige Canetti seine persönliche ›sexuelle Revolution‹ erlebt haben, eine ganz neue Dimension der körperlichen Liebe (auch davon sind die Kafka-Hefte voll).

Gleichzeitig treibt ihn die Angst um, es könne gerade diese glückliche Liebesbeziehung sein, die ihn literarisch unfruchtbar macht. Wenn Hera bei ihm in London ist, verausgabt er sich im Liebesglück und kann nicht arbeiten. Wenn sie aber nicht bei ihm in London ist, wird er »unruhig« und geht »zuviel ins Kaffeehaus« (16.8.1968, S. 182). Erleichtert verzeichnet er es, wenn er mit Hera im Haus doch gut arbeiten kann. Als Hera schwanger ist, legt er sich Listen von Dichtern ohne Kinder und solchen mit Kindern an und fragt sich, ob sich die letzteren »als Väter verringert« haben (14.11.1971, S. 215). Ähnliche Tabellen über die Vor- und Nachteile des Junggesellen-Daseins finden sich auch in Kafkas Tagebüchern – Canetti schreibt sie akribisch ab.

So überkreuzen und überlagern sich in den Kafka-Heften die verschiedensten Prozesse – die Fragen, die Canetti an Kafka bewegen, sind seine eigenen. Kann er gleichzeitig Dichter sein und Ehemann, Familienvater gar, oder muss er – wie Kafka – der Ehe ausweichen, um schreiben zu können? Wodurch ist seine Produktion gehemmt, wie bekommt er sie wieder frei? Welche Rolle spielen dabei die verschiedenen Schreibformen, die Aufzeichnungen, der Briefwechsel mit Hera, die Tagebücher? Wird er noch einmal in der Lage sein, einen Roman zu schreiben? Oder wird der Essay über Kafka alles sein, was von ihm übrig bleibt? (25.9.1968, S. 198) Wie, schließlich, schreibt er sich ein in die Genealogie der modernen Literatur seit Kafka? Wie behauptet er seine Autorschaft gegen den früh verstorbenen Vorgänger, den er verehrt, ja vergöttert, dessen Überlegenheit ihm aber auch den Atem nimmt?

Vielleicht lässt sich das Drama, das sich zwischen Canetti und Kafka abspielt – oder besser: der Prozess, den Canetti in seinen Aufzeichnungen über Kafka mit sich selbst austrägt –, mit einem Ausdruck des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Harold Bloom am ehesten als »Einfluss-Angst«9 beschreiben. Harold Bloom bezeichnet damit den Ambivalenzkonflikt, der entsteht, wenn ein Autor sich in die Nachfolge eines verehrten Vorbilds stellt – ja stellen muss, um den eigenen Stand und Halt in der Geschichte der Literatur überhaupt erst zu gewinnen –, und sich innerhalb dieser Nachfolge doch gleichzeitig von seinem Vorbild abgrenzen muss, um die eigene Originalität zu behaupten. Er wird dann schwanken zwischen der bis zum symbolischen Vatermord gehenden Identifizierung mit dem Vorbild und der Abstoßung von ihm.

Canettis Aufzeichnungen zu Kafka sind von diesem Schwanken gekennzeichnet. Seine Identifizierung mit Kafka nimmt, besonders in der Schreibzeit am Essay, teilweise wahnhafte Züge an. Es ist ihm »merkwürdig«, dass die »wichtige erste Zeit« zwischen Hera und ihm sich »genau fünfzig Jahre« nach der zwischen Kafka und Felice abspielte: »Sommer 1912 – März 1913/ Sommer 1962 – März 1963« (23.2.1968, S. 89). Ende Februar 1968 sind ihm Kafkas Briefe an Felice »so ansteckend geworden, dass ich sie selbst an Hera schreiben möchte, obwohl sie zwischen uns ganz und gar sinnlos wären.« (S. 93) Gleichzeitig fragt er sich, ob er das Recht hat, »darüber nachzudenken, was ihre Briefe mir bedeuten, wenn ich darauf kommen will, was Briefe für Kafka waren?« (S. 88)

Er fühlt sich »versucht, den Kafka-Essay, wenn er als Buch erscheint, H. B. [Hera Buschor] zu widmen«, fürchtet aber »die Wirkung von Kafkas Widmung für F. B. [Felice Bauer]«. Der Anfangsbuchstabe B. macht ihm Angst, »so als müsste H. dann sterben, weil F. B. schon tot ist«. Auf der anderen Seite hat er Angst, dass er selbst »vor der Beendigung des Kafka sterben könnte«. In Anspielung auf Kafkas »Lungenwunde« – den Ausbruch seiner Tuberkulose in der Nacht vom 9. auf den 10. August 1917 – schreibt er Ende Februar 1968: »In der Nacht vom 23. auf den 24. ist meine Wunde aufgebrochen.« Alles was er nunmehr zu tun habe, sei, sie »offen zu halten« (S. 93). Liest er von Kafkas Aufenthalt in Berlin-Steglitz im Winter 1923/24, so notiert er sofort, dass er weniger als sechs Jahre später ebenfalls in Steglitz gewohnt hat. Er imaginiert Gespräche mit Kafka darüber, »was er sich wünscht«. (S. 222) Im Gebrauch des aphoristischen »Er« in den Kafka-Heften ist es oftmals schwer zu entscheiden, ob er von sich oder von Kafka spricht. Ebenso sucht er die Berührung mit Kafka über gemeinsame Bekannte. In der Episode mit Ludwig Hardt (S. 233), der ihm 1936 aus Johann Peter Hebels »Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds« vortrug – und zwar dieselben Geschichten, die Hardt 1921 Kafka vorgetragen hatte –, nimmt er schließlich den Platz Kafkas ein: »Es war zwölf Jahre nach Kafkas Tod und dieselben Worte, die er damals gehört hatte, aus demselben Mund, trafen auf mein Ohr. Wir verstummten beide, denn wir waren uns dessen bewußt, daß wir eine neue Abwandlung derselben Geschichte erlebt hatten.« Diese Episode, die Canetti sowohl im zweiten Band seiner Lebensgeschichte als auch in der Hebelpreisrede (S. 381) erzählt, findet ihr Pendant in der Nobelpreisrede, in der er – in scheinbarer Bescheidenheit – seinen Platz umgekehrt symbolisch an Kafka abtritt: Sechzig Jahre nach Kafkas Tod hat er »ihn nach Stockholm begleitet: vor der ganzen Welt habe ich ihm den Preis zuerkannt, in einer Gesellschaft, die ihm vielleicht nicht recht war, zwei der neben ihm Genannten hat er gekannt (einen sogar in Person: Robert Musil). Ich glaube nicht, dass er Karl Kraus verachtet hat, aber geheuer war er ihm nicht (wem war er geheuer?). Von mir wusste er nichts und ebensowenig von Broch. Da ich sozusagen der Träger war, der sie alle dorthin brachte, konnte ich mich nicht ausschalten.« (S. 223). Scheinbar ist diese Bescheidenheit insofern, als der nicht auszuschaltende »Träger« – der ja zugleich der Preisträger und der ›Fackelträger‹ der literarischen Überlieferung ist – sich damit selbst als legitimer Nachfahre Kafkas installiert; als jener zumal, der »vor der ganzen Welt« die Preise zuerkennt und die Plätze verteilt.

Dass Bescheidenheit seine Sache nicht war, hat Canetti andererseits nur zu gut gewusst, er geißelt sich selbst als »Bescheidenheitsspieler«: »Er stellt sich, als wäre er Kafka, die Demut gelingt ihm nicht.« (24.12.1983, S. 227) Bescheiden war Kafka, er ist eitel und »aufgeblasen«. Er versäumt nicht zu erwähnen, dass Aufgeblasenheit eine »phallische Eigenschaft« ist, die in der Liebe am Platz sei, aber nicht in der Literatur. Die von der Mimikry an Kafka erhoffte Verwandlung bleibt aus: »Umsonst die Bescheidenheit. Umsonst die Wandlung durch sie und Kafka. Klein wolltest du sein. Doch sie entschwand.« (10.1.1989, S. 232) Die Fähigkeit zur »Verwandlung ins Kleine«, die er vielfach an Kafka, aber auch an Hera rühmt – Kafkas »Magerkeit«, das »Verschwinden des Namens«, das »Schwinden durch Hungern«, aber auch Heras Herumkratzen »an den Noten in ihrem Schulzeugnis […], um sie zu verschlechtern« (S. 236) –, ihm ist sie nicht gegeben. Er listet die Gründe auf, aus denen er »nicht wie Kafka« sein kann (15.2.1968, S. 73): 1. Er ist ein schwerer Mensch, sein Körper hat Gewicht. 2. Er ist ein gesunder Mensch; seine hypochondrischen Züge sind, anders als Kafkas, »nicht entscheidend«. 3. Er ist Paranoiker, ihm steht als Mittel der Abwehr jederzeit sein Misstrauen zur Verfügung. Anders als Kafka, der sich gegen die Übermacht seines Vaters zeitlebens wehren, sich ihr durch »Verwandlung ins Kleine« entziehen musste, hat er schon im Alter von sieben Jahren seinen Vater verloren. In diesem frühen Verlust wurzelt sein »Prozess mit dem Tod«, aber auch sein Größenwahn. Seine eigenen Themen: Verwandlung und Macht, sind Kafkas Themen, er hat sie von ihm, aber er und Kafka stehen auf entgegengesetzten Seiten des Spektrums: Er kann sich, wenn überhaupt, nur in Stimmen verwandeln, und wo Kafkas Reaktion auf Macht vom »einzigartigen Standpunkt (…) der absoluten Ohnmacht aus« geschah, ist seine Kenntnis der Macht seiner »privaten Machtausübung über einzelne Menschen« (S. 177) und seiner unbegrenzten Fähigkeit zum Überleben, untrügliches Kennzeichen des Machthabers,10 geschuldet. Bis in den Vergleich seiner frühesten Kindheitserinnerungen mit denen Kafkas hinein reicht Canettis Selbstanalyse, und der Prozess, der sich dabei entspinnt, kann fast ein psychoanalytischer genannt werden. »Ich bin, auf meinen Spuren, so roh wie Freud auf seinen. Meine Abneigung gegen Freud ist eine Abneigung gegen mich selbst«, notiert er im Juli 1968, zu Beginn der Arbeitszeit am zweiten Teil des Essays – ein maximales Zugeständnis des bekennenden Freud-Hassers Canetti an die Verwandtschaft seiner Forschungen mit denen des Begründers der Psychoanalyse. »Nun gehöre ich gar zu den Glücklichen. Habe ich noch ein Recht auf mein Leben? Wenn es geliehen ist – wer hat es mir geliehen? Wenn es geraubt ist – wer ist für mein Leben gestorben? Ich suche den, dem ich entstamme, es ist nicht mein Vater.« (S. 138).

 

 

Genealogien und Schreibweisen

 

»Ich suche den, dem ich entstamme, es ist nicht mein Vater« – diese Notiz verweist nicht nur auf die Schuld des Überlebens und die Verwerfung des Vaters, die Canettis Leben – als europäischer Jude im 20. Jahrhundert wie als Schriftsteller – kennzeichnete wie kaum ein anderes,11 sie verweist auch erneut auf die Verflechtung von privaten und literarischen Genealogien, von ›Leben und Werk des Autors‹. Sich von Kafka her oder aus Kafka herausschreiben zu können, den frühen Verlust des privaten Vaters durch die Investitur eines selbstgewählten literarischen Vaters, die persönliche Genealogie durch eine intellektuelle ersetzen, ja durch sie die Brüche der persönlichen Biographie ›heilen‹ zu können, muss ein zentrales Phantasma Canettis und ein zentraler Motor seines Schreibens gewesen sein. Nur dass der imaginäre literarische Vater seinerseits ein »ewiger Sohn«,12 der »letzte« (S. 65) gar, geblieben war, und dass Canetti ihn 1968, auf der Schwelle seiner eigenen späten, buchstäblichen Vaterschaft, schon um mehr als zwanzig Überlebensjahre geschlagen hatte. Der Ambivalenzkonflikt durchläuft alle Stadien: Der triumphierenden Identifizierung mit dem literarischen Vater (der keiner sein wollte) folgt die schuldbehaftete Selbsterniedrigung vor ihm, dieser wiederum die Abwehr und der Versuch, seinen zuvor selbst reklamierten »Einfluss« loszuwerden. »Wie Kafka kann ich nicht sein, sein Reich war die Ohnmacht«, notiert Canetti schon 1964 (S. 39). »Jede Zeile von Kafka ist mir lieber als mein ganzes Werk. Denn er, nur er, ist von Aufgeblasenheit frei geblieben. […] Wenn ich an Kafka denke, sind mir meine eigenen Reaktionen schal, wie die aller Tiere, die über der Erde leben. Man muss ein Wurm sein wie Kafka, um ein Mensch zu werden«, auch dies schon 1964 (S. 39). »Er musste viel subtilere Mittel ausbilden, um sich der väterlichen Macht zu entziehen, so ist sein Werk in allem feiner, rätselhafter und genauer«, heißt es dann im Februar 1968 (S. 74). Es ist hier wichtig zu bemerken, dass die physischen und psychischen Eigenschaften, die Canetti an Kafka diagnostiziert, gleichzeitig literarische und ethische Eigenschaften sind. Die »Magerkeit« von Kafkas Körper ist gleichzeitig die ›Magerkeit‹ seines Werks – nicht nur, was den Seitenumfang, sondern auch, was die aufs äußerste reduzierte und dennoch (oder gerade deswegen) übergenaue Sprache betrifft. Kafkas Gabe zur »Verwandlung ins Kleine« entzieht ihn nicht nur – jedenfalls für eine Zeit – der Übermacht des biographischen Vaters, sondern bringt auch jene Erzählungen von Käfern, Mäusen, Maulwürfen, Hungerkünstlern, auf Buchstabenkürzel reduzierten Antihelden und »kleinen Frauen« hervor, die Kafkas »kleine Literatur«13 in die große Literaturgeschichte eingeschrieben haben wie keine sonst. Seine biographisch bedingte Empfindlichkeit für die Macht in allen ihren Erscheinungsformen hat ihn die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorausahnen und als »Vor-Fluch des Jahrhunderts« (S. 227) in die Schrift seiner Romane bannen lassen – Katastrophen, die er selbst nicht mehr erlebte, die Canetti dagegen überlebte, während Kafkas Schwestern und seine Geliebten in den Konzentrationslagern starben (einzig Felice gelang die rechtzeitige Flucht nach Amerika). Kafkas Wortkargheit, seine Schreibschwierigkeiten, sein Vegetarismus, seine Askese, seine Unfähigkeit zur Ehe, sein früher Tod, ein heroischer Märtyrertod für die moderne Literatur – alles Embleme seiner Unbestechlichkeit als Schriftsteller, vor denen sich Canetti – dick, lüstern und glücklich verliebt, wie er ist – in Demut beugt. Oder in scheinbarer Demut, denn schon im Juli 1968 geht ihm seine eigene »unaufhörliche Selbsterniedrigung vor Kafka« gehörig auf die Nerven, und er fragt sich nach den Gründen. Weil er »wahllos isst«? Weil er Kafka »schon um 22 Jahre überlebt« hat, ohne bedeutende literarische Werke zu produzieren? Weil die einzige Genauigkeit, deren er fähig ist, die der »Übertreibung« ist? Weil er glücklich sein und sich »leicht und rückhaltlos mitteilen« kann? Weil er von Kafka »angesteckt« ist und für seine »eigene Art des Selbsthasses« nun Kafkas eingetauscht hat? (S. 151).

Canettis »eigene Art des Selbsthasses« dokumentieren diese Fragen freilich nur allzu gut, auch in dieser Hinsicht war es ihm nicht gegeben, sich in Kafka zu verwandeln oder ihn sich einzuverleiben. Zu seinem eigenen besten, wie man sagen muss, oder zum besten seiner Leserschaft, denn Canettis Werk, auch dies sei gesagt, ist dezidiert nicht epigonal. Die Kafka-Ansteckung hat ihn, aller Verehrung zum Trotz, nicht zum Kafka-Imitator werden lassen. »Ob ich mich jetzt, da ich ihn so gut kenne, von Kafkas Einfluss befreien kann? Ob ich jetzt so schreiben könnte, als hätte ich ihn nie gelesen?« fragt er sich nach der Beendigung des Essays (S. 198), und 1974 stellt er fest, dass Kafka in den vorangegangenen Jahren »einen schlechten Einfluss« auf ihn gehabt hat: Er hat ihm mit seiner »asketischen Verdorrung des Wortes« die »Lust auf Expansion genommen, die der Atem meines Lebens war.« (S. 217)

Auch nach Abschluss des Essays taucht Kafka in Canettis Aufzeichnungen aber mit größter Regelmäßigkeit immer dann auf, wenn es darum geht, Einflüsse zu sortieren und so eine Genealogie, einen Familienroman der modernen Literatur zu erstellen. Der Einfluss Goethes, Grillparzers und der »chassidischen Geschichten« auf Kafka, dessen »Blutsverwandtschaft« mit Flaubert, Dostojewski und Kleist – 1982 sind Canetti und Kafka »Brüder in Dostojewski«. Sie haben auch »je einen französischen Gott: er Flaubert, ich Stendhal«. Deutsch sind sie »Brüder in Hebel«; Canetti ist aber »auch Spanier und er dafür mehr Jude. Das ist unsere eigentliche Divergenz, denn Chinesen sind wir wieder beide.« (S. 223) Zu seinen Vorbildern rechnet Canetti außer Kafka aber auch Karl Kraus, Robert Musil und Hermann Broch – letzteren zwar nur mit Einschränkungen, denn »er besteht geradezu aus fremden Einflüssen«, sein »Zweifel am Schreiben war keine Einsicht, es war ein Mangel« (S. 239), wie er 1992 kategorisch urteilt – und sich, besorgt um seinen Nachruhm, noch nachträglich ärgert, dass er auch Broch 1981 ›mit nach Stockholm‹ genommen hat.

Canettis eigene Zweifel am Schreiben haben ihn – neben den drei Bänden der Lebensgeschichte – vor allem zur Kultivierung jener Schreibform der »Aufzeichnungen« geführt, die sein Biograph Sven Hanuschek sein »Hauptwerk« und sein »Zentralmassiv«14 genannt hat (von dem der größte Teil noch in den Tiefen der Zentralbibliothek Zürich verborgen liegt). Vielleicht waren die Aufzeichnungen Canettis Ausweg aus dem gerade für die großen Schriftsteller der klassischen Moderne notorischen ›Scheitern am Werk‹, der »heroischen Negativität«, die Werner Hamacher eine »Grundfigur der Moderne« genannt hat.15 In mehreren Vorbemerkungen zu Büchern mit »Aufzeichnungen« hat Canetti diese Publikationsform damit begründet, dass er sich 1937, kurz vor der Emigration und unter dem Druck der politischen Ereignisse, ein »Verbot rein literarischer Arbeit« auferlegt habe, weil er »begreifen« wollte, »was geschehen war, was geschah, und den Dingen endlich wirklich auf den Grund gehen.«16 »Die Dinge« – das waren die Probleme von Masse und Macht, »die Untersuchung der Wurzeln des Faschismus«,17 die ihn dann quer durch die Jahrhunderte und quer durch die Kulturen bis 1960 beschäftigt hat.

Mit dem Aufzeichnen als Denk-, Schreib- und Lebensform (der Verlaufsform oder dem Prozessieren des Denkens und Schreibens also eher als dem Verfassen in Stein gemeißelter Aphorismen – »Klitsch! eine Wahrheit; klatsch! ein Aphorismus«18) hat Canetti jedoch, der Selbststilisierung des »Verbots rein literarischer Arbeit« zum Trotz, lange vor der Arbeit an »Masse und Macht« begonnen.19 Sie waren keineswegs, wie er behauptet hat, nur ein »Ventil« für die Arbeit am Hauptwerk, sondern sind Canettis ›anderer Prozess‹ – sein anderer Versuch, »das Jahrhundert an der Gurgel zu packen«. Denn einer Welt gerecht zu werden, in der sich ›nichts mehr reimt‹, in der die fürchterlichsten Dinge geschehen, in der die Tradition noch gilt, aber ohne zu bedeuten,20 in der das privateste Leben ständig von kollektiven Katastrophen durchfurcht und geschüttelt, die biographische Eigenzeit ständig von historischer Zeit ergriffen wird – einer solchen Welt gerecht zu werden, ist die Form des Aufzeichnens, in der das alles – Persönliches, Politisches, Literarisches – nebeneinander bestehen, sich wechselseitig kommentieren und bedacht werden kann, vielleicht mehr berufen als jede andere. »Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule«, lautet ein berühmter Tagebuch-Eintrag Franz Kafkas vom 2. August 1914, auch er eine Aufzeichnung. Die ungeheure Diskrepanz zwischen den geschichtlichen Ereignissen und den unbedeutenden Daten des persönlichen Lebens, eine Diskrepanz, in der sich doch beide untrennbar aufeinander verwiesen finden, ließe sich besser nicht darstellen als in diesem lapidaren Trennstrich, der zugleich ein Bindestrich ist. Gedanken zusammenzustellen, »damit sie sich nicht ineinanderfügen«,21 ist auch eine Bewegungsform von Canettis Aufzeichnungen. »Es schien mir nicht mehr möglich, die Welt mit den üblichen Mitteln des Realismus zu erfassen. Sie war sozusagen zu weit auseinandergegangen in alle Richtungen«, sagt er im Gespräch mit Horst Bienek über seinen Roman »Die Blendung«.22 Eine Konsequenz aus dieser Diagnose – nicht der persönlichen Unfähigkeit zur Synthese, sondern ihrer Unmöglichkeit im 20. Jahrhundert – ist auch die Schreibform der Aufzeichnungen als ein Versuch, dieser auseinanderdriftenden Welt dennoch gerecht zu werden.

Das Romanwerk, von dem er auch nach dem Abschluss von »Masse und Macht« noch träumte, ist nicht mehr entstanden. Die Phantasie von einem Buch »zum Nicht-Veröffentlichen«, von einem ›geheimen Werk‹ zum Hinterlassen, das er niemandem zeigt, damit er schreiben kann, was er will (24.7.1968, S. 149), lässt sich jedoch postum statt auf die nicht existierenden Romane auf das durchaus existierende »Zentralmassiv« der Aufzeichnungen beziehen. Während er öffentlich von allen möglichen großen Werken schwatzt – mindestens fünf Romanen, an denen er gleichzeitig arbeitet, dem notorisch angekündigten zweiten Band von »Masse und Macht« (der ebenfalls nicht existiert) –, schreibt er tatsächlich bis zu seinem Tod unermüdlich weiter an jenem Korpus der Aufzeichnungen, von denen mit den Kafka-Heften hier nun ein kleiner Teil vorliegt.

 

 

 

Aufzeichnungen

1946–1966