Bildteil

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Pokerface mit 17: Die Kopfhörer meines geliebten Walkmans, den mir meine Uroma aus dem Westen mitgebracht hatte, trug ich sogar beim Passbildmachen um den Hals.

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Blick ins Gestern mit 50: Unterm Fernsehturm am Alexanderplatz haben sich weite Teile meiner Punker-Jugend abgespielt. Hier ist und bleibt die Zeit von damals für mich lebendig.

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Bauch einziehen gab’s im Osten nicht: Meine Schmutzel-Kumpels und ich (Foto, Mitte) bei einer der legendären Heuschrecken-Partys.

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Kuschelrunde im Treptower Park! Oder war’s in Sanssouci? Jedenfalls ist dieses Bild einer meiner wenigen Beirette-Schnappschüsse, die nicht im Laufe der Jahre verlorengegangen sind.

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Nicht scharf, aber wenigstens nicht verwackelt: Bei diesem Strand-Schnappschuss auf Rügen haben wir ausnahmsweise mal alle (inklusive mir, 3. von links) stillgehalten.

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Cancan-Schlange an der Ostsee: Instagram war ein Dreck gegen die Foto-Posen, die wir für die Beirette-Shootings abgezogen haben.

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Insel der Jugend: Auf der Brücke, die zum Punker-Paradies des Ostberliner Sommers führte, gab es regelmäßig Keilereien, bei denen irgendwer in die Spree flog.

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Heute fliegt hier kaum noch einer in die Spree. Dafür fliegen meine Gedanken an der Insel der Jugend noch immer in die Vergangenheit.

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Die Volkspolizei war im DDR-Alltag ständig präsent: durch Meldehäuschen, in Gestalt von Abschnittsbevollmächtigten oder wie hier in Form von Wachposten am Straßenrand.

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Die Zahlboxen in Ostberliner Bussen und Straßenbahnen ließen sich so leicht austricksen, dass man mit etwas Fingerspitzengefühl für nur eine eingeworfene Münze eine komplette Rolle Tickets ziehen konnte.

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Mit zehn Ostmark war die Punker-Party gesichert: Man bekam dafür zehn Bier und zwei Currywürste.

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Sanssouci, ich komme: Meine Gasmasken-Tasche und ich in den Achtzigern auf dem Weg zur S-Bahn Schönhauser Allee.

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Bowie calling: Während seines legendären Berlin-Auftritts zu Pfingsten 1987 vorm Reichstagsgebäude im Westen schwebte David Bowie mit einem Telefonhörer am Ohr auf die Bühne …

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… während sich im Osten die Massen am Brandenburger Tor drängten, um das »Chamäleon des Pop« jenseits der Mauer singen zu hören.

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Ruhe vor den Pfingstunruhen: Die Volkspolizei beobachtete die friedlich lauschenden und tanzenden Menschen eine Weile skeptisch, dann wurde hart durchgegriffen.

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Aufschwung Ost? Das Gelände, in dem ich Ende der Achtziger im Rummelsburger Stasi-Knast saß, ist heute eine luxussanierte Wohnanlage.

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Stacheldraht gibt’s im Ostberliner Alltag trotzdem bis heute zu sehen.

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Die ungeschriebene Knastregel von damals beherzige ich bis heute: »Wenn du hier rauskommst und durchs Tor gehst, dreh dich nicht um. Schau niemals zurück. Wer zurückschaut, kommt wieder.«

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Damals und heute, drinnen und draußen: Das Interieur einer DDR-Knastzelle und ich vor der Mauer, an der die Angehörigen durch lautes Rufen mit Gefängnisinsassen kommunizieren.

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Luxussanierung hin oder her: Eine Gedenktafel erinnert bis heute an die Ära das Rummelsburger Stasi-Knastes.

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9. November 1989: Während die DDR-Bürger am Brandenburger Tor auf der gefallenen Mauer tanzten, beging ich am Grenzübergang an der Sandkrugbrücke »Republikflucht«.

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Ostler unter sich: An der East Side Gallery stehen noch ein paar alte Mauerabschnitte. Sie sind mittlerweile bunt bemalt. Genau wie ich. Auf die Freiheit!

Nachwort

Auf die Freiheit!

Wenn mich heute jemand fragt, was Punk ist, hat meine Antwort nicht mehr zwangsläufig mit bunten Haaren und bemalten Lederjacken zu tun. Für mich ist Punk ein Lebensgefühl. Es geht darum, zum eigenen Anderssein zu stehen, sich selbst zu spüren und nicht in Werdegänge oder Gesellschaftsmuster pressen zu lassen, die einem andere vorschreiben. Punk kann vieles sein. Was für mich Leifalit-Sprühdosen, Pumuckl-Frisur und der Walkman waren, sind für die Jugendlichen von heute vielleicht Sneakers, Fridays for Future und das Internet. Letztendlich ist es individuell wahrscheinlich sehr unterschiedlich, welche Zutaten uns zu der Freiheit verhelfen, die ich als Seele des Punk empfinde. Die Essenz dieser Freiheit ist aber immer die gleiche: das Abschütteln von Fremdbestimmung und der Mut, zu sich selbst zu stehen. Erst daraus resultiert die Stärke, die ich in der Widmung am Anfang dieses Buches mit den Worten »Freiheit fängt mit der Bereitschaft an, sie anderen zu gewähren« beschrieben habe.

Diese Erkenntnis ploppte natürlich nicht sofort in der geschichtsträchtigen Nacht von Moschals und meiner »Flucht« im November 1989 in meinem Kopf auf. Es brauchte Jahre des Neufindens, Experimentierens und Auf-die-Schnauze-Fallens, um bei ihr anzukommen. Als Reisekaufmann und Türsteher bin ich grandios gescheitert, an der Gründung meines eigenen Tattoo-Ladens, allen möglichen und unmöglichen Erfahrungen in der Welt des Fernsehens sowie Reisen um die ganze Welt dagegen persönlich gewachsen. Viel Zeit über die Vergangenheit nachzudenken hatte ich zwischendurch selten. Eigentlich habe ich sie mir erst jetzt genommen, während ich an diesem Buch gearbeitet habe. Dabei ist mir klargeworden, wie sehr mich die Punker-Jahre im Osten geprägt haben. Und wie viel ich ihnen trotz aller Scheiße, die in ihnen passiert ist, verdanke.

Es hat nichts mit Ostalgie oder nachträglicher Romantisierung zu tun, wenn ich inzwischen zugeben muss, dass die ständige Begrenztheit, mit der wir uns in der DDR rumschlagen mussten, auch Kräfte freigesetzt hat. Die beschränkten Mittel zwangen uns dazu, kreativ mit vorhandenen Ressourcen umzugehen, die Sehnsucht nach der unerreichbaren Welt jenseits der Mauer beflügelte die Fantasie, das ständige Auf-der-Hut-Sein vor SED-Funktionären und Stasi-Schweigern ließ die Leute der Gegenseite näher zusammenrücken. So was prägt und schweißt auch dann noch aneinander, wenn die Mittellosigkeit, die Mauern und das Auf-der-Hut-Sein sich irgendwann erübrigt haben.

Wenn am 9. November 2019 die große Gedenkerei zum 30. Jubiläum des Mauerfalls losgeht, wird wie immer bei solchen Anlässen jede Menge verteufelt, verklärt, verwässert und verdrängt werden. Es wird diejenigen geben, die sagen, dass in der DDR alles schrecklich war, und diejenigen, die sagen, dass alles besser war, es wird von Wendegewinnern und Wendeverlierern die Rede sein und letztendlich dazu aufgerufen werden, die Besinnung auf die Vergangenheit dazu zu nutzen, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Kopfnicker werden auf Motzer stoßen und Gleichgültigkeit auf große Emotionen. Wo ich mich bei alledem positionieren werde? Abwarten. Aber in jedem Fall werde ich jedes Mal, wenn ich mich mal wieder über eine Aussage ärgere, freue oder sie mit Schulterzucken beantworte, daran denken, wie geil es ist, dass es diese Pluralität von Stimmen in der Öffentlichkeit überhaupt gibt. In der DDR gab es sie nicht. So sehr das heutige Gelaber also auch manchmal nervt: Es ist allemal besser, unverbesserlichen Idioten laut zurufen zu können, dass sie den Schuss nicht gehört haben, anstatt sich vor ihnen ducken oder von ihnen wegsperren lassen zu müssen.

Was ich damit sagen will: Im Laufe der Jahre habe ich erkannt, dass man beim Thematisieren und Bewerten des Lebens in der DDR nie recht haben kann. Man kann nur versuchen, ehrlich zu bleiben und den Menschen zu danken, die dazu beigetragen haben, dass das Dasein in diesem eingemauerten Land nicht ganz so schwarz-weiß, rot oder blau-gelb war, wie es die Machthaber gerne gehabt hätten; die dazu beigetragen haben, dass es bunt wurde; die im wörtlichen oder übertragenen Sinne Mauern eingerissen haben. Für mich waren das Menschen wie meine Urgroßeltern Vincent und Gertrud, die mir in ihrer stillen Größe elementare Werte vermittelt haben. Und mein kleiner Bruder Nico, dessen viel zu kurzes Leben mich bis heute dazu antreibt, einen umso längeren Atem zu haben. Und natürlich Sven Radeburg, Ralle, Wolle, Tippel, Wulzo, Eule, die Bratsbrüder und der verrückte Moschal, die mich in den schwierigsten Phasen meiner Jugend aufgefangen haben. Es ist schwer in Worte zu fassen, wie viel Kraft ihr mir gegeben habt, Leute. Ihr tut es bis heute. Das ist mir beim Schreiben klargeworden. Ob wir es schaffen, mit unserer Geschichte ein zweites Mal die Freiheit unterm Ladentisch hervorzuziehen? Ob sie die Macht hat, Leuten von heute, die sich unverstanden, eingesperrt oder verstoßen fühlen, Mut zu machen? Schön wäre das. Denn zu diesem Zweck habe ich dieses Buch geschrieben.

Auf die Freiheit und alle, die sie verteidigen! Auf alles, was wir waren, sind und sein werden! Auf euch!

Euer Krause

Vorglühen

Abenteuerspielplatz Kuglerstraße

Der Freiheitskönig meiner Kindheit war Adolar, der Titelheld einer ungarischen Zeichentrickserie, die immer im DDR-Fernsehen lief. Adolar hatte ein Raumschiff unterm Bett, das er aufpusten konnte. Wenn seine Eltern schlafen gingen, holte er das Ding raus und flog mit seinem sprechenden Hund zu allen möglichen Planeten. In einer Folge eroberten sie den Märchenplaneten, in der nächsten den Krimiplaneten und so weiter. Für Adolar war nichts unmöglich. Er war ein Genie, für das es keine Grenzen gab. Diese Mobilität unterschied ihn von Pittiplatsch, Schnatterinchen, Mischka, dem Bären, und den anderen Figuren, die das Kinderfernsehen der DDR bevölkerten und meist in ihrem vertrauten Umfeld blieben. Okay, es gab noch Jan und Tini auf Reisen, zwei Puppen, die in einem Auto aus Karton durch die DDR brummten und den sozialistischen Alltag zwischen Ostsee und Erzgebirge erkundeten. Wenn sie richtig weit kamen, landeten sie auch mal in der Tschechoslowakei. Aber eine Welt außerhalb des Ostblocks existierte für sie nicht. Sie waren schließlich eine Erfindung des DFF, der staatlichen Fernsehsendeanstalt der DDR. Dort wurde Propaganda schon für die ganz Kleinen zu pädagogisch wertvoller Unterhaltung aufbereitet.

Als Kind kapierte ich das natürlich noch nicht. Ich fand Jan und Tini ganz knuffig, auch wenn sie alles toll fanden, was mit Arbeiterkommunismus zu tun hatte. Letztendlich musste man als Puppe ja auch das erst mal hinkriegen. Ich war immer völlig fasziniert, dass sich diese Figuren ohne fremde Hilfe in der realen Welt fortbewegen konnten. Mir war ein Rätsel, wie das funktionierte. Ich forschte allerdings nicht weiter nach. Dazu gab es in meiner Kindheit dann doch zu viel Wichtigeres zu tun. Zumal der klobige Schwarz-Weiß-Fernseher für meinen großen Bruder und mich in der Regel sowieso tabu war. Mit seinen großen silbernen Tasten, die man zum Umstellen der Programme fest ins Gehäuse drücken musste, thronte er eher wie ein Museumsstück als wie ein Gebrauchsgegenstand im Wohnzimmer unserer Wohnung in der Kuglerstraße im Prenzlauer Berg. Meist war der Stecker gezogen. Das bedeutete, dass fernsehen verboten war. Ich glaube, meine Eltern befürchteten, dass das Teil auch Strom verbrauchte, wenn es gar nicht an war. Oder dass es kaputtging, wenn es permanent unter Strom stand. Letzteres wäre eine Katastrophe gewesen. In der Welt meiner Kindheit waren Fernseher etwas unglaublich Wertvolles. Es war alles andere als eine Selbstverständlichkeit, einen zu besitzen. Die meisten unserer Nachbarn hatten keinen. Wir gehörten also zu den Privilegierten. So wurde das Ding gehegt, gepflegt, mit Samthandschuhen angefasst und am besten gar nicht erst angeschaltet. Was nicht benutzt wurde, konnte sich auch nicht abnutzen.

Diese eigenwillige Logik begegnete einem im Ostalltag häufig. Als meine Mutter von unseren Westverwandten eine weiße Wit-Boy-Jeansjacke geschenkt bekam, war die Freude zwar riesig, trotzdem hing das Ding die meiste Zeit im Schrank und wurde nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt. Die Musikkassetten, auf denen meine Eltern Musik aus dem Westradio aufgenommen hatten, wurden zwar fast nie gespielt, wir Kinder durften sie aber wegen Zerstörungsgefahr trotzdem nicht anrühren. Und wenn meine Mutter vor Weihnachten aus dem Intershop ausnahmsweise Westschokolade mitbrachte, wurde sie erst versteckt und später streng rationiert zum Verzehr freigegeben. Das klappte allerdings nur, solange wir noch klein waren. Später wussten mein Bruder und ich vor den Feiertagen immer schon, dass jetzt wieder Schogetten im Haus sein mussten. Wenn meine Eltern bei der Arbeit waren, suchten wir so lange, bis wir sie gefunden hatten, dann aßen wir sie in einem Rutsch auf. Das war was anderes als die Creck-Schokolade und die Schlager-Süßtafeln, die im Osten Standard waren und irgendwie nach nichts schmeckten. Nur wenn gerade mal eine gute Lieferung Kakao aus Kuba gekommen war, konnte man Glück haben und an eine Tafel mit echtem Schokoaroma geraten. Aber das passierte selten. Noch schlimmer war es mit den Schokoriegeln: Fetzer und Joker. Die waren hart, pappig und changierten irgendwo zwischen Proteinriegel und reiner Zuckerstange. Kein Wunder, dass wir uns jedes Mal mit Heißhunger auf die Schogetten stürzten, auch wenn klar war, dass es anschließend Riesenärger geben würde. Den nahmen wir in Kauf. Der ungedrosselte Genuss war es wert.

Ansonsten waren meine Kindertage im Prenzlauer Berg geprägt von einer Mischung aus Nachkriegsromantik und Abenteuerspielplatz-Gefühl. Der Kiez in der Kuglerstraße bot alles, was ich zum Leben brauchte: kleine Läden, kleine Parks, eine Eisdiele und Nachbarskinder, mit denen ich Cowboy und Indianer spielen konnte. Ich war in der Cowboy-Gang. Wir nahmen das Spiel ziemlich ernst, deshalb war das Leben gefährlich. Einmal war ich auf dem Weg zur Eisdiele, da sprangen plötzlich die Indianer-Kinder aus dem Gebüsch und ich bekam einen Plastik-Tomahawk über den Schädel gezogen. Danach hatte ich einen Riesenschnitt überm Auge, blutete wie ein Schwein und es herrschte erst mal Waffenstillstand. Praktischerweise lag die Poliklinik gleich um die Ecke. Wie einen toten Häuptling trugen mich die Indianer-Kinder ins Krankenhaus und warteten, bis meine Mutter kam und ich wieder zusammengenäht war. Das Personal der Poliklinik kannte uns schon. Alle paar Wochen landete einer von uns hier und musste verarztet werden. Allein ich kann mich an fünf Behandlungen wegen gebrochenem Finger, verdrehtem Fuß, abgebrochenem Zahn, verrenktem Arm und eben dem kaputten Kopf erinnern. Die Ärzte und Schwestern in der Poliklinik waren ein bisschen ruppig, aber sie machten ihren Job ordentlich. Ich hab auch nie gejammert. Im Gegenteil. Eigentlich fand ich die Aufmerksamkeit nach Verletzungen sogar ganz toll. Dann guckten die Mädchen ehrfürchtig und ein Kindergartenkollege musste mir die Tasche tragen, während ich mit meinem Verband angeben konnte und von meinen Eltern Trostgeld für eine Extrakugel Eis bekam.

Die Gänge zur Eisdiele waren immer spannend, denn sie waren mit einer großen Frage verbunden: Gab es wieder nur Schoko, Vanille und Erdbeer, oder landete man diesmal den Jackpot? Waldmeister! Der Jackpot-Vergleich ist nicht übertrieben, denn Waldmeister gab es nie. Eigentlich gehörte diese Sorte sogar zu den Phänomenen, die es gar nicht geben durfte, denn sie galt in der DDR als krebserregend. Trotzdem redeten wir ständig davon. Waldmeister war Trend, ohne zu existieren. Es spaltete die Gesellschaft. Wenn ich beim Eisdielenbesuch voller Hoffnung, aber immer erfolglos, fragte, ob Waldmeister im Angebot war, gab es immer mindestens einen Erwachsenen, der hinter mir in der Schlange grunzte: »Sei froh, dass dir das Zeug erspart bleibt. Sollen doch die Westler davon krank werden.« Ich wäre zu gern von Waldmeister krank geworden. Dann hätten die Mädchen bestimmt noch ehrfürchtiger geguckt. Es klappte leider nie. So viel zum Abenteuerspielplatz.

Was die Nachkriegsromantik angeht: Alle Wohnungen im Prenzlauer Berg hatten noch Außentoiletten, wenn wir telefonieren wollten, mussten wir entweder zur Telefonzelle gehen oder nach Weißensee zu meinen Urgroßeltern fahren, die schon einen Wählscheibenapparat hatten, und weil alle Wohnungen mit Kohleöfen geheizt wurden, bedeuteten die Winter immer Rennerei. Die Asche musste runter- und die Kohlen hochgetragen werden. Beide Tätigkeiten waren klassische Kinderjobs, dementsprechend waren mein Bruder und ich von Oktober bis März ständig am Wetzen. Wenn die Kohlenträger kamen, liefen wir mit unseren Kohlenkarten auf die Straße und tauschten sie gegen Kohlen ein, die dann erst in den Keller gebracht wurden, um später in die Wohnung transportiert und verheizt zu werden. Wenn die Winter lang und kalt waren, konnten die Kohlen auch mal knapp werden. Dann wurde nur noch abends und nachts geheizt, während wir tagsüber mit dicken Strickjacken durch die Wohnung liefen. Das war gar nicht so selten. Damals gab es ja noch richtige Winter.

Ich kann mich an bitterkalte Winter erinnern, an denen ich mit Schneegleitern durch tief verschneite Straßen zum Kindergarten schlitterte. Schneegleiter waren eine Art Mini-Skier, die man mit Lederriemen unter den Schuhsohlen befestigte. Super Erfindung. Es war ein Riesenspaß, mit den Dingern durch die Gegend zu rutschen. Am liebsten hätte ich es den ganzen Tag getan. Ging leider nicht: Ich musste ja in den Kindergarten, den ich von Anfang an gehasst habe. Das Frühstück, bei dem ich immer genötigt wurde, Butter zu essen, die derben Erziehungsmethoden, bei denen einem auch mal eine gelangt wurde, wenn man nicht spurte, das scheußliche Mittagessen aus Armeekübeln, das Singen von Arbeiterschlagern wie »Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’« oder »Wer will fleißige Handwerker sehn« – das war alles nichts für mich. Anfangs hat mich mein Vater vorne im Kindergarten abgeliefert und ich bin hinten wieder aus dem Fenster rausgeklettert und zu meinen Großeltern geflüchtet. Es dauerte ein paar Wochen, bis ich mich in mein Schicksal fügte. Allerdings auch dann nur äußerlich. Im Innern rebellierte ich schon damals gegen die Gesetzmäßigkeiten einer Welt, die mich in ein organisatorisches Raster pressen wollte, das nicht zu mir passte.

Entziehen konnte man sich diesem Raster allerdings kaum. Als ich in die Schule kam, wurde auch ich Mitglied der »Pionierorganisation Ernst Thälmann«, einer Vorstufe der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Eigentlich war die Mitgliedschaft freiwillig, aber ich kann mich nicht erinnern, gefragt worden zu sein. Also bekam ich zur Einschulung ein weißes Hemd mit einem »Seid bereit«-Aufnäher in Fackeloptik auf dem Ärmel sowie ein blaues Halstuch und wurde vom Schuldirektor in der Riege der Jungpioniere begrüßt. Na, Prost Mahlzeit. Zum Glück galt die »Was nicht benutzt wird, nutzt sich nicht ab«-Maxime auch für das Jungpionier-Outfit. Es wurde nur zu besonderen Anlässen getragen: erster Schultag, Tag der Arbeit und Tag der Republik am 7. Oktober. Den Rest des Jahres schonten sich Hemd und Halstuch mit der Wit-Boy-Jeansjacke meiner Mutter um die Wette und lagen ungenutzt im Kleiderschrank in der Kuglerstraße. Allerdings nur für ein Jahr. Dann mussten sie gemeinsam mit dem Schrank, dem Fernseher, den Musikkassetten und unserem neuen Familienmitglied (meiner fünf Jahre jüngeren Schwester) umziehen. An den Stadtrand. Nach Blankenfelde. In ein Haus, das in einer Straße mit dem gruseligen Namen Kartoffelsteig stand. Kartoffelsteig! Man könnte annehmen, dass das Leben dort unweigerlich zu Ende war. Aber so war es nicht. Eigentlich fing es dort erst an.

Leidensgenosse Radeburg

Der Umzug nach Blankenfelde passte mir überhaupt nicht. Er bedeutete, dass ich aus meinem vertrauten Kiez an den Arsch der Welt verpflanzt wurde und meine Cowboy-und-Indianer-Kumpels zurücklassen musste. Für einen Siebenjährigen ist so was starker Tobak. Ich verstand auch gar nicht, was meine Eltern so wahnsinnig vorteilhaft daran fanden, in einem eigenen Haus zu wohnen. Klar, jetzt hatten wir mehr Platz und einen Garten, aber dafür hatten wir keine Eisdiele und keine Poliklinik mehr um die Ecke. Das Schlimmste war allerdings: Ich musste mit dem Beginn der zweiten Klasse die Schule wechseln. Das hieß, ich würde der Neue sein, der einzige fremde Trottel in einer Schule voller Kinder, die sich schon lange kannten. Vor meinem inneren Auge sah ich bereits vor mir, wie der Klassenlehrer mich aufforderte, aufzustehen, um mich meiner neuen Klasse zu präsentieren. Schon bei der Vorstellung der belustigten Blicke und der tuschelnden Schüler hätte ich im Boden versinken können. Leider tat ich es nicht. So gingen die Sommerferien vorbei und die Stunde der Wahrheit brach an.

Ich ging jetzt auf die 17. Polytechnische Oberschule. Wie überall begann auch hier der erste Schultag mit einem großen Antreten im Schulhof, bei dem die FDJler in römischen Kohorten das große Halstuchfeuerwerk abfackelten. Auch ich trug mein blaues Jungpioniertuch und das Hemd mit dem »Seid bereit«-Aufnäher. Alle Klassen waren versammelt, der Schulchor sang und die Direktorin erzählte irgendwas von neuem Schwung, Fleiß und sozialistischen Idealen. Dann kam der Moment, vor dem mir schon seit Wochen graute. Nachdem sie ihre Ansprache beendet hatte, rief die Direktorin: »Und nun begrüßt mit mir unsere neuen Schüler.«

Ich atmete tief durch und wartete darauf, aufgerufen zu werden. Einsam und verlassen fühlte ich mich. Wie ein Kalb, das zur Schlachtbank geführt wird. Zu meiner Überraschung wurde als Nächstes nicht mein Name genannt, sondern der eines anderen Jungen: »Sven Radeburg …«

Wahnsinn! Über die Möglichkeit, dass es noch andere Neue geben könnte, hatte ich vorher überhaupt nicht nachgedacht.

»… und Daniel Krause. Bitte einmal vortreten!«

Im nächsten Moment stand ich neben einem schmächtigen, blonden Jungen mit Brille, der mindestens genauso betreten auf den Boden guckte wie ich selbst, vor der versammelten Schulmannschaft, um mich der Begutachtung durch meine neuen Mitschüler zu stellen. Wir mussten sagen, wer wir waren, wo wir herkamen und in welche Klassenstufe wir gingen, und wurden danach wahrscheinlich mit dem berühmten »Freundschaft«-Gruß der FDJ willkommen geheißen. So genau weiß ich das nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich riesig erleichtert war, den Moment, vor dem mir seit Tagen graute, nicht allein durchstehen zu müssen. Es war, als würde mich mit dem Jungen mit der Brille von einem Moment auf den anderen ein unsichtbares Band verbinden. Das war ein enorm ermutigendes Gefühl.

Als wir von unserer Lehrerin ins Klassenzimmer geführt wurden, fühlte ich mich schon sehr viel weniger einsam und verlassen. Klar, ich war immer noch der fremde Trottel in einer Klasse, in der sich alle kannten, aber ich war wenigstens nicht der einzige. Es passierte wie von selbst, dass Sven Radeburg und ich uns eine Bank teilten. Keine Frage, es war die Exotenbank. Es kam auch genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die anderen guckten komisch, tuschelten, es fielen dumme Sprüche. Aber all das war nur halb so schlimm, weil wir zu zweit waren. In diesem Moment spürte ich zum ersten Mal das beflügelnde Gefühl des »Wir gegen die anderen«, das sich wie ein roter Faden durch meine Jugend ziehen sollte. Sven Radeburg und ich, wir waren jetzt ein Team, auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet.

In der Pause fragte mich mein Leidensgenosse dann: »Wo wohnst du denn?«

Ich druckste herum und wollte nicht mit der Sprache rausrücken. Meine neue Adresse zu nennen, war mir unangenehm. Da hätte ich ja gleich antworten können, dass ich im Kuhstall oder auf dem Misthaufen wohnte. Also zuckte ich mit den Schultern und antwortete: »Immer die Straße runter. Ist nicht weit. Und du, wo wohnst du?«

Nun war es Sven, der rumdruckste. Doch dann sah er mir durch seine Brillengläser direkt in die Augen und sagte mit leichter Verachtung in der Stimme: »Kartoffelsteig.«

Damit war unsere Freundschaft endgültig besiegelt.

Kosmos Kartoffelsteig: vier Schichten, ein ABV und eine Freundschaft ohne Worte

Sven Radeburg wohnte im Kartoffelsteig Nummer 17, ich in der 38. Schon bald waren wir unzertrennlich. Er half mir in der neuen Umgebung Fuß zu fassen und den Verlust meiner Cowboy-und-Indianer-Gang schnell zu verwinden. Während wir uns in der Schule gegenseitig vor den Schikanen des Klassen-Tyranns Marco schützten, erkundeten wir nach der Schule gemeinsam per Fahrrad unser neues Revier, fuhren zum Badesee oder spielten mit Svens Matchbox-Autos. Letzteres war für mich eine kleine Sensation. Mein neuer Freund hatte tatsächlich echte Matchbox-Autos aus dem Westen. Es ging ihm sowieso ziemlich gut. Eigentlich waren Radeburgs eine Schickimicki-Familie, wie es sie in der DDR gar nicht hätte geben dürfen. Sie hatten das schönste Haus der Siedlung, sie hatten die besten Klamotten, sie hatten sogar einen Swimmingpool – kein Planschbecken, in dem man sich nicht der Länge nach ausstrecken konnte, ohne dass das Wasser über die Ränder schwappte, sondern einen richtigen Swimmingpool mit Pumpe und allem Drum und Dran.

Die Erklärung für den unverschämten Luxus war einfach: Svens Vater war Taxifahrer. Das hieß, er war reich. Als Taxifahrer konnte man in Ostberlin dreimal so viel verdienen wie zum Beispiel als Arzt. Ähnlich war es bei Tankwarten und Kellnern. Das waren die Edelberufe – weil es Trinkgeldjobs waren, bei denen Gehälter verdreifacht werden konnten. Besonders, wenn man in Grenznähe arbeitete, wo die Westleute Devisen hin- und herschoben. Blankenfelde war in Grenznähe. Svens Vater fuhr die Westler immer zum Grenzübergang Bornholmer Straße und kassierte dabei gut ab. Von dem Geld hatte er sich das schöne Haus und den Pool gegönnt und konnte seinem Sohn echte Matchbox-Autos kaufen. Deshalb hatte er ständig Angst, dass die Stasi ihm die Bude einrennt. Eigentlich war es in einem Staat wie der DDR, der alles überwachte, ja kaum möglich, materielle Privilegien auf Dauer aufrechtzuerhalten. Wenn jemand zu protzig lebte, konnte man davon ausgehen, dass kontrolliert wurde, wie er zu dem Reichtum gekommen war. Da wurde auf den Busch geklopft, und wenn man als Trinkgeldjäger entlarvt wurde, war es schnell mal vorbei mit dem Luxus. Taxifahrer Radeburg hat sich da clever durchgemogelt.

Grob gesagt, gab es im Osten zwei Arten von Menschen: Diejenigen, die mit der SED verbandelt waren oder sich zumindest mit ihr arrangierten, und diejenigen, die ihr auswichen. SED-Mitglieder wurden in meiner Welt eigentlich nur gemieden. Von denen wusste man, dass sie andere Leute anschissen oder anzeigten und dass sie allzeit für den Staat die Ohren aufsperrten. Um ihnen gar nicht erst eine Angriffsfläche zu bieten, redete man nicht mit ihnen und war auch gegenüber ihren Angehörigen und Familienmitgliedern vorsichtig, selbst wenn die teilweise gar nichts für ihre Verwandten konnten. Schließlich passierte es immer wieder, dass stramme Parteisoldaten ihre eigenen Angehörigen anschwärzten und in den Knast brachten.

Solche Fälle hab’ ich im Mikrokosmos des Kartoffelsteigs allerdings nicht mitbekommen. Trotzdem kann man sagen, dass sich im Vier-Schichten-System der Siedlung durchaus die Struktur der DDRGesellschaft spiegelte Die vier Schichten waren: Achtung-Kandidaten, Schweiger, Rentner und Durchschnittsleute. Wir gehörten zu Letzteren. Meine Eltern wurschtelten sich durch, versuchten Probleme mit der Stasi zu vermeiden und wollten auch sonst nach Möglichkeit nichts mit ihr zu tun haben.

Bei den Rentnern war es ähnlich. Die hatten den Zweiten Weltkrieg und die Zeit vor der Gründung der DDR miterlebt und waren oft allein aufgrund von Erfahrungen beim Einmarsch der Russen skeptisch gegenüber dem Sowjetkommunismus eingestellt, an dem sich die DDR orientierte. Sie wurden vom Staat allerdings auch weitgehend in Ruhe gelassen. Weil sie nicht mehr arbeiteten, trugen sie nicht zur Einhaltung der Erfüllungspläne der Planwirtschaft bei, also waren sie nicht mehr so wichtig fürs Regime, und weil sie alt und nicht mehr so mobil waren, war die Fluchtgefahr nicht so hoch. So lebten sie in einer eigenen Welt, in der sich alte und neue Gepflogenheiten vereinten. Die alten Leute auf dem Kartoffelsteig hielten Hühner, pflanzten Obst und Gemüse an und verhielten sich sonst sehr solidarisch. Von denen bekamen wir Eier geschenkt, man konnte mit ihnen über alles reden, und wenn meine Eltern arbeiten mussten, passten sie auf uns Kinder auf. Ihre Türen standen immer offen. Damit waren sie das genaue Gegenteil zu den Schweigern.

Schweiger wirkten verschlossen, redeten nicht viel und ließen sich normalerweise nie auf der Straße blicken. Sobald in der Siedlung aber irgendetwas Ungewöhnliches los war, waren sie im Nullkommanix zur Stelle. Wenn es bei uns laut wurde, weil es Streit gab, stand auf einmal ein Schweiger am Gartenzaun und machte einen langen Hals, ohne dass wir bemerkt hatten, wie er dorthin gekommen war. Wenn wir Besuch bekamen, klingelte spätestens zehn Minuten nach der Ankunft der Gäste ein Schweiger an der Haustür, um sich eine Tüte Zucker zu borgen und scheinheilig zu fragen: »Ach, ihr habt Besuch? Gibt’s denn was zu feiern?« Schweiger waren auch bei jedem Siedlungsfest dabei, ließen sich im Gegensatz zu allen anderen aber nicht volllaufen, sondern standen nur am Rand und schienen auf irgendwas zu warten. Mit anderen Worten: Es war klar, dass diese Leute für die Stasi arbeiteten, deshalb hielt man in ihrer Gegenwart die Klappe oder mied sie. Im Prinzip erkannte man sie daran, dass sie immer allein in der Gegend rumstanden. Im Kartoffelsteig gab es nur zwei Schweigerhaushalte, die sich bei der Observation vermutlich abwechselten.

Eine etwas kniffligere Kategorie waren die Achtung-Kandidaten, die zwar leutselig und zugänglich waren, bei denen man aber nie genau wusste, auf welcher Seite sie standen und ob sie hintenrum Leute anschissen, um sich für sich selbst oder ihre Familie Vorteile zu erschleichen. Vor denen musste man sich in Acht nehmen. Als DDR-Bürger entwickelte man einen siebten Sinn für solche Leute.

Und dann war da noch der ABV – der Abschnittsbevollmächtigte. Das war der Polizist im Kiez. Jedes Viertel und jede Siedlung hatten einen. ABVs waren eine ebenso feste Größe im DDR-Alltag wie die polizeilichen Postenhäuschen, die überall in der Landschaft rumstanden und in denen Beamte saßen, um darauf zu achten, dass … Ja, worauf eigentlich? Egal, jedenfalls war unser ABV ein schluffiger Normalo, der mit seiner schwarzen Herrenhandtasche und seiner grünbraunen Uniform die Einhaltung von Recht und Ordnung im »Abschnitt« Kartoffelsteig überwachte. Nennen wir ihn Genosse Manfred. Wenn Genosse Manfred vom Revier Nachricht bekam, rückte er aus, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn er Langeweile hatte, tat er es auch aus freien Stücken. Dann ging er Streife und stand auf einmal im Vorgarten, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei, während wir angesichts seiner bloßen Anwesenheit sofort fürchteten, dass eben nicht alles in Ordnung war.

Mein erster Zusammenstoß mit Genosse Manfred war ziemlich beängstigend. Sven Radeburg und ich hatten im Garten gezeltet, waren nachts heimlich mit unseren Sandaletten losgezogen und hatten das Spargelbeet der Nachbarn geplündert. Jeder von uns hatte 30 Stangen geklaut. Es ging uns nicht darum, sie zu essen, sondern nur um den Kick des Augenblicks und den Reiz des Verbotenen, deshalb hatte ich das Manöver schon fast wieder vergessen, als ein paar Tage später der ABV vor unserer Tür stand und wissen wollte, ob ich der Spargeldieb war. Leugnen funktionierte nicht lange, denn Genosse Manfred hatte bereits Untersuchungen angestellt. Erst überführte er mich anhand des Sohlenabdrucks meiner Sandaletten, dann fanden meine Mutter und er die 30 Spargelstangen in meinem Zelt.

Danach fühlte ich mich wie ein Schwerverbrecher. Noch schlimmer war allerdings das Verhör im Anschluss. Denn Genosse Manfred hatte blitzschnell erfasst, dass meine 30 Stangen nur die Hälfte der Beute darstellten, woraufhin er kombinierte, dass ich einen Komplizen gehabt haben musste. Deshalb wurde ich nach allen Regeln der Kunst gelöchert und gedrängt, zu verraten, wer der andere Übeltäter war. Doch da kannte er mich schlecht. Ich schüttelte immer nur eisern den Kopf. Obwohl ich eine Heidenangst hatte. Ich dachte wirklich, jetzt komm’ ich in den Knast. Aber Verrat stand nicht zur Debatte. Selbst als mich irgendwann meine Mutter genervt aufforderte »Nun sag doch endlich, wer dabei war«, hielt ich dicht. Der Spargelraub vom Kartoffelsteig wurde nie vollständig aufgeklärt. Das macht mich bis heute ein bisschen stolz.

Das Dichthalten war Ehrensache. Sven und ich waren inzwischen wie Brüder. Uns gegenseitig vor Angriffen von außen zu schützen war von vornherein ein wesentlicher Bestandteil unserer Freundschaft. Es hatte damit angefangen, dass wir in den ersten Wochen an der neuen Schule die Angriffe von Marco abwehren mussten. Marco war größer als alle anderen in unserer Klasse, er spielte besser Fußball und hatte eine größere Schnauze als alle anderen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass er der Chef war, der alle drangsalierte. Er war wie die Schweiger, nur in laut. Jeder versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen und nicht in sein Fadenkreuz zu geraten, denn es war klar, dass es sonst unangenehm wurde. Marco hatte immer gewisse ›Spezis‹, die er bei seinen Schikanen bevorzugt aufs Korn nahm. Neben dem dicken Schubert und der Streberin Katja waren wir zwei Neuen für ihn ein gefundenes Fressen, denn da uns keiner näher kannte, solidarisierte sich keiner mit uns. Es gab also keinen Widerstand, bis auf unseren eigenen.

Anfangs prügelten wir uns immer mal wieder mit ihm rum, aber es dauerte nicht lange, bis Sven und ich dahinterkamen, dass man Marco viel besser mit Psychologie die Stirn bieten konnte als mit physischem Widerstand. Er war zwar stark, groß und spielte super Fußball, aber er war geistig eher schlicht. Damit war er berechenbar. Wenn er auf unseren Schwächen rumhackte, musste man ihn geschickt mit seinen eigenen konfrontieren, schon kam er aus dem Konzept. Wenn man einmal demonstrativ an der Seite des großen Bruders an ihm vorbeilief, war er sofort ein Stück weniger aggressiv. Und spätestens wenn man beim Sport in einer Disziplin besser war als er, hatte man auf einmal seinen Respekt. Das gelang mir im Boxen. Weil ich im Gegensatz zu Marco klein, stämmig und wendig war, war ich viel schneller und angriffsstärker als er. Als er das kapierte, hatten wir auf einmal unsere Ruhe vor ihm. Freunde wurden wir trotzdem nicht. Sven und ich blieben Außenseiter. Nach ein paar Wochen fühlten wir uns irgendwie auch ganz wohl damit.

Rückblickend waren die ersten Monate an der 17. Polytechnischen Oberschule nicht nur lehrreich, sondern auch prägend. Sie schweißten Sven und mich zusammen, machten uns zu einer verschworenen Einheit. Wir mussten unweigerlich lernen, achtsam zu sein, unser Umfeld aufmerksam zu beobachten und die Reaktionen des jeweils anderen richtig zu deuten. Das führte dazu, dass wir uns schon bald blind verstanden. Wir mussten nicht sprechen, um zu wissen, was der andere dachte oder fühlte, und wir mussten nicht fragen, um zu erfahren, was er wollte oder erwartete. Das ging alles nonverbal. Wenn ich Sven besuchte, wusste ich schon beim Hallosagen, ob die Stimmung im Hause Radeburg gerade gut war, oder ob sein großer Bruder (ein Despot, der Sven gnadenlos in der Gegend rumschubste) mal wieder Scheibe spielte. War Letzteres der Fall, suchten wir sofort das Weite. Wenn in der Schule Ärger drohte, genügte ein Blick und wir flitzten um unser Leben.

Als wir zum ersten Mal zum Rummelplatz nach Glienicke fuhren (ein Volksfest mit Fahrgeschäften, Schießbude und Fressständen, das zweimal jährlich stattfand und in der 17. Polytechnischen Oberschule als das Ereignis schlechthin gehandelt wurde), sahen wir uns den Schaulauf der Kinder und Jugendlichen rund um die Walzerbahn eine Viertelstunde an, dann traten wir kommentarlos den Rückweg zur Bushaltestelle an, um zurück nach Blankenfelde zu fahren. Wir mussten nicht erst erörtern, dass Rummelplatz nicht unser Ding war. Es herrschte eine Einigkeit, die keiner Worte bedurfte. Wir waren einer Meinung. Zumindest meistens. Wir waren beste Freunde.

Damals war mir das nicht so klar, aber heute denke ich, dass mir die Freundschaft zu Sven Radeburg den emotionalen und ideellen Rückhalt gab, den ich sonst nirgends fand. Meine Mutter war zu sehr mit ihrer Arbeit als Bezirkskrankenschwester beschäftigt, als dass sie ein wirklicher Bezugspunkt gewesen wäre. Bei meinem Vater war es ähnlich. Er war Fernmeldemechaniker – was auch immer das in einem Land bedeutete, dessen Fernmeldenetz eigentlich nur von Suhl bis Rostock reichen durfte. Hinzu kam, dass er generell zu viel und im Angesicht zunehmender Spannungen in der Ehe immer mehr soff. Mein großer Bruder war ein Idiot, der mich zwar nicht so scheiße behandelte, wie Sven von seinem Bruder behandelt wurde, aber auch nie eine nennenswerte Beziehung zu mir aufbaute. Meine kleine Schwester liebte ich zwar heiß und innig, aber sie war fünf Jahre jünger und damit zu klein, um wirklich als Ansprechpartnerin zu fungieren. Der Kontakt zu meinen Großeltern war oberflächlich.

Blieben nur noch meine Urgroßeltern mütterlicherseits – die mit dem Wählscheibentelefon in Weißensee. Die verehrte ich zugegebenermaßen sehr. Für mich war mein Uropa das eigentliche Oberhaupt der Familie. Ein würdevoller, schweigsamer Mann, der immer eine Zigarre im Mund hatte und uns unterstützte, wo er konnte. Wenn meine Mutter eine Waschmaschine haben wollte, besorgte er sie, wenn wir Schuhe brauchten, fertigte er sie in seiner eigenen Werkstatt an (er war von Beruf Schuster gewesen), wenn er nach Westberlin ging, um seine Brüder zu besuchen, brachte er uns jedes Mal eine Überraschung mit. Er war viel rumgekommen, stammte aus Schlesien, hatte beide Weltkriege miterlebt und im zweiten vier von sieben Brüdern verloren. Er selbst war in russische Kriegsgefangenschaft geraten, wo ihm alle Zähne ausgeschlagen wurden, weil er Goldfüllungen hatte. Auch sonst hatte er in seinem Leben viel Grausamkeit miterlebt, aber er sprach selten drüber. Stattdessen versuchte er, seine Enkel mit einer Mischung aus Güte und Strenge zu anständigen Menschen zu erziehen. Immer wieder sagte er zu mir: »Wenn du nicht auf deine Mutter hörst, bekommst du von mir eine Tracht Prügel.« Es war wohl eher eine Mahnung als eine ernst gemeinte Drohung. Er hat es jedenfalls nie wahrgemacht, auch wenn er häufig Grund dazu gehabt hätte.

In meiner Kindheit verbrachte ich viel Zeit bei meinen Urgroßeltern. Als Einzigen von uns Enkeln zog es mich immer wieder dorthin. In dem Haus in Weißensee herrschte eine friedliche Mischung aus Geschäftigkeit und Ruhe, die ich sonst nicht kannte. Uroma war immer beschäftigt. Sie schneiderte ihre Klamotten von Hand, züchtete im Garten Rosen und machte Knödel und Bonbons selbst. Ohnehin war sie die beste Köchin. Mein Lieblingsgericht von ihr waren Schrippen mit Milch. Dafür zerkleinerte sie eine Schrippe vom Bäcker, gab die Brösel in kochende Milch, tat etwas Butter und Zucker dazu und briet das Ganze eine Weile. Die verklitschte Pampe, die dabei entstand, hab’ ich geliebt. Sie schmeckte halt nach meinen Urgroßeltern. Heute ist das Rezept, glaube ich, als »Arme Ritter« bekannt.

Am Nachmittag waren in Weißensee immer zwei Stunden für absolute Ruhe reserviert. Da wurde gerätselt und geraucht. Während Uroma an einem eigens für diesen Zweck reservierten Tisch die Kreuzworträtsel aus der B. Z. am Abend löste, saß Uropa mit seiner Zigarre auf der Terrasse und paffte vor sich hin. Während dieser Zeit hatte ich mich mit mir selbst zu beschäftigen und die Schnauze zu halten. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Ich hielt mich daran, auch wenn es schwerfiel, denn ich hatte immer Hummeln im Hintern.