image

image

KARL FRIEDRICH

BORÉE

EIN
ABSCHIED

Roman

Mit einem zusätzlichen Text von KARL FRIEDRICH BORÉE
und einem Nachwort von AXEL VON ERNST

image

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

„Ein Dingtod unter Millionen Menschentoden“

Der Pregel

1

Die von den Russen bedrohte Stadt Königsberg befand sich bis zu ihrer tatsächlichen Einschließung, bis weit in den Januar 1945 hinein, in einem Zustande, den man wohl einer Euphorie vergleichen durfte, da der Todgeweihte, sei es durch die Gnade der Natur, sei es dank der Geschicklichkeit seiner Ärzte, an sein nahes Ende nicht glaubt. Dabei hatte sie eine in Wahrheit niemals heilbare Wunde schon empfangen, ihr Leib war ausgebrannt: in zwei kurz aufeinanderfolgenden Augustnächten des Jahres 1944 war die alte, dicht gebaute, historische Innenstadt, die innerhalb der ehemaligen, jetzt in Anlagen verwandelten Wälle lag, durch einen Feuerregen vernichtet worden, so daß eigentlich nur noch die angehängten Gartenvororte blieben. Indes man nahm nach dem ersten Entsetzen und nachdem man sich, so gut es ging, in den unzerstörten Kellern und Außenvierteln eingerichtet hatte, diese Katastrophe als einen nun einmal unvermeidlichen Anteil am allgemeinen Kriegsschaden hin. Es herrschte noch kein größerer Mangel an irgendwelchem Lebensbedarf als jener durchaus erträgliche, an den man seit Beginn des Krieges klüglich gewöhnt worden war, und man vertraute der Festung, die, auf den modernsten Stand gebracht, dem Feinde trotzen würde bis zum Waffenstillstand, der nun allerdings nicht mehr auf sich warten lassen werde, nachdem das vor einem Jahre noch Unaussprechliche und wahrhaft Unglaubliche Tatsache geworden war, daß der Feind, von Stalingrad, Moskau und Petersburg die Front zurückdrängend, im Lande stand. Ohne sonderliche Panik sah man die ländliche Bevölkerung in die Stadt hineinströmen: wie in alten Zeiten war die befestigte Hauptstadt der Provinz die vorgesehene Zuflucht.

Soweit das Befinden des Todeskandidaten. – Herr Marian Burger, der, zu einer kleinen Arbeitspause veranlaßt, jenen nicht ganz ziemlichen medizinischen Vergleich bei sich anstellte, kam nun zu den geschickten Ärzten, die das Sterbelager umstanden. Unter dem Treuwort – so bezeichnete man es wohl am besten – „Die Festung Königsberg wird gehalten!“ trafen die Behörden weder Anstalten, die Stadt räumen zu lassen, noch munterten sie die Einwohnerschaft zur Abreise auf. Sie träufelten ihr Glauben ein. Sollte es wirklich, so vertraute man ihnen, zu jener äußersten militärischen Situation kommen, von der man sich kaum eine Vorstellung machte, so würde unter dem Schutz des Verteidigungsringes immer noch Zeit bleiben, die unbeteiligte und wahrhaftig doch unschuldige Zivilbevölkerung in Sicherheit zu bringen.

Doktor Marian Burger, Chemiker in der großen Zellstoffabrik, die flußabwärts am nördlichen Ufer des Pregels lag, stand breitbeinig vor dem Fenster seines Laboratoriums, in der einen Hand seine Pfeife, in der andern ein Reagenzglas, und wartete auf den Niederschlag, der sich in dem schmalen Glaszylinder zeigen sollte. Er tat einen Zug aus der Pfeife. Sein Gehilfe, ein älterer Arbeiter, den er sich aus der Kocherei geholt und selbst herangebildet hatte, hantierte im Hintergrund.

„Also jetzt dürfte doch dem Blödesten allmählich ein Licht aufgehen, warum man ihn hierhält.“

„Wenn ich meine Meinung sagen darf, Herr Doktor: weil man die Soldaten woanders braucht.“

„Sehr weise, mein Herr. – Und – weil die Herrschaften Angst vor einer Panik haben. Ich beneide diese Leute um ihre Großzügigkeit. Dreihunderttausend Menschen …“

„Das müssen doch jetzt mehr sein, mit all den Zugekommenen“, bemerkte der Gehilfe.

„Es sind aber auch etliche weg, denen es hier zu östlich wurde.“

Sogar die Heizung im Haus funktionierte noch gut. Draußen waren an diesem Morgen zehn Grad Kälte gewesen. – Der mittelgroße, etwas zur Fülle neigende Mann von ungefähr vierzig Jahren hatte sich umgedreht und lehnte jetzt mit der Straffheit der Wohlbeleibten in der Fensterecke, ein Bein lässig über das andere geschlagen. Sein Gesicht war rund und voll, ein kleines Bärtchen saß auf seiner Oberlippe; das dichte Haar war leicht durchgraut.

„Seien wir froh, daß wir hier im Hause stecken!“

Der ganze Betrieb lag sozusagen wohlverschanzt hinter seiner Kriegswichtigkeit. Bis zu diesem Tage – einem Tag in der Mitte des Januars 1945 – war es Burger gelungen, dank seiner Unentbehrlichkeit in einem für „kriegsentscheidend“ erklärten Unternehmen und dank einem leichten Herzfehler jeder „Erfassung“ zu entgehen, und er war geneigt, in solcher Verschonung, die er sich nicht gescheut haben würde, auch mit verbotenen Mitteln zu verteidigen, eine ihm geschuldete Rücksicht der längst ihre Schranken überschreitenden Zeitgeschichte zu erblicken. Er stand dem Staat an sich skeptisch gegenüber; vollends aber in dessen gegenwärtiger Gestalt, die ihm durch die Person eines jeder Kultur baren und jeder Brutalität, auch der handhaften, fähigen örtlichen Repräsentanten versinnbildlicht wurde – sah er in ihm einen Räuber an seinem Leben, das durch ihn gezwungen wurde, schönste Jahre in einer Epoche leiblicher und geistiger Beschränkungen abzuspulen. – Die Arbeit hätte er sich nicht besser gewünscht. Die meisten leitenden Herren waren einberufen, einzelne längst gefallen. Dadurch hatten sich Burgers Geschäfte vermehrt, aber manche lästige Reibung war geschwunden. Er hatte es nur noch mit dem Generaldirektor zu tun, der seinerseits so mit Arbeit belastet war, daß er ihm völlig freie Hand ließ.

Aus Überzeugung hielt er auch die Arbeit in den seiner Meinung nach jedem Erwerbsberuf zukommenden Schranken: sie mußte ihm gestatten, ein Leben zu führen, wie es seiner Vorstellung vom Leben entsprach, das Leben eines geistigen und also den Wert des Daseins erkennenden Menschen. Er war stolz darauf – und hatte bewußt nach diesem Ziele gestrebt –, daß sein qualifiziertes Können ihm eine Stellung verschaffte, in der er schwer zu ersetzen war, und überhaupt, wie er es gern ausdrückte, einen zu jeder Zeit und allerorten kursfähigen Wert darstellte. Es war ihm im Grunde recht, daß man ihn nicht in den Vorstand der Firma gewählt hatte. Seine Position im Betriebe sicherte ihm eine angenehme Unabhängigkeit und gab ihm nicht nur die Mittel, sondern ließ ihm auch die Zeit, die er zur Befriedigung seiner mäßigen, aber ausgewählten Lebensansprüche brauchte. Er wandte die auf solche Weise errungene Freiheit seiner Bibliothek zu, die ihn als Kenner der Literaturgeschichte auswies, dem Theater, der Musik, welche er zwar nicht selbst ausübte, aber mit Verständnis genoß, dem Umgang mit wenigen ähnlich gerichteten Freunden und mit seiner Frau. Diese hatte er zu Anfang des Krieges sich entschlossen zu heiraten. – Er verglich seine Situation ohne Überheblichkeit, lediglich im Sinne eines rechtfertigenden Vorbildes, mit der seines Landsmanns Johann Georg Hamann, der als bescheidener Packhofverwalter in eben diesem Königsberg den Platz gefunden hatte, um sich durch seine „nebenberuflichen“ Arbeiten den europäischen Namen eines „Magus im Norden“ zu erwerben. Solche schlichte Behauptung der Souveränität des Geistigen erschien Burger mustergültig. – Solange die Hartungsche Zeitung existiert hatte, war er häufig in ihr als Theater- und Musikkritiker zu finden, und die Unterdrückung dieses altehrwürdigen und bis zum letzten Tage der Tradition der Geistesfreiheit ergebenen Journals hatte ihn als ein gegen seine Person gerichteter Schlag getroffen.

Der Gehilfe war dazu übergegangen, Glas- und Porzellangeräte in dem breiten Waschbecken abzuspülen. Burger hielt die gläserne Röhre noch einmal gegen das Licht. Es zeigte sich sozusagen nichts. Er bewegte sie flüchtig über der kleinen offenen Gasflamme auf dem Tisch. Man konnte nichts anderes tun, als den Lauf der Dinge abzuwarten und den Betrieb im Gange zu halten, notfalls in einem Anschein des Ganges. Das Zimmer lag im vierten Stock. Der Morgen war hell, ein frostklarer Januarmorgen wie irgendeiner. Wenn man von diesem Fenster aus, von dem der Blick nach Süden ging, in die Welt hinaussah, merkte man gar nichts. Unten lag der Strom, dunkel und glatt, wie ein Teich. Jenseits zog sich eine Zeile niedriger, tief verschneiter Schuppen und Lagerhäuser hin, die das andere Ufer säumten. Über diese unregelmäßige Kante hinweg sah man auf das ungekränkte Weiß der Wiesen, das sich in der Ferne durch einen milchigen Dunst mit dem Himmel vermählte. Das Weiß war matt vergoldet, seine Schatten glommen blau. Rechts starrte, schon in einiger Entfernung, kräftig angestrahlt der Doppelbau des städtischen Silospeichers aus dem platten Grund in die milchige Luft, ein ungestümes Monument des menschlichen Schaffenswillens. – Die Gedankenverbindung, daß dies alles deckende Weiß ein Leichentuch sei, eine ironische Täuschung, war so banal und zugleich so zwingend und treffend, daß Burger lächelte. Seit Stalingrad reifte das, was er für seine Person vom ersten Kriegstage an hatte wachsen sehen, das Schicksal dieser Stadt, das Schicksal der Provinz: dieser Krieg würde von Deutschland mit Ostpreußen bezahlt.

Er wandte sich etwas ins Zimmer hinein: „Es geht nichts über die tröstliche Gleichmütigkeit der Natur oder – über ihre schauerliche Gleichgültigkeit.“

Dieses lebendige Wesen, das mit Seehafen und Großhandelsstätten, mit Universität, Kunstakademie, Opernhäusern und Theatern, wie auch mit Marzipan fabrizierenden Kaffeehäusern und mit Weinstuben, mit dem anmutigen Gürtel seiner zu Parkanlagen verzauberten Wälle und seiner von Nachtigallen tönenden Gartenquartiere, im Rahmen einer eigentümlichen Landschaft, welche Meeresstrand, Steilküsten, Haffe und Nehrungen einbezog, einen wohl abgerundeten, autonomen Organismus bildete und, seiner alten deutschen Tradition bewußt, ein reges geistiges und gesellschaftliches, sanft sybaritisches Dasein genossen hatte, war in seinen Augen schon dahin. Sie hatten es dazu kommen lassen, daß man sein Herz verbrannte, wie man einen Haufen Gerümpel verbrennt, und nun opferten sie auch den Rest. Vielleicht hing er an diesem Geschöpf mehr als an irgendeinem menschlichen Wesen. Schon gab es nicht mehr den Kneiphof auf der Pregelinsel, die Altstadt, den Löbenicht, den Tragheim, den Roßgarten, den Sackheim, Quartiere, deren jedes in aller Anmutlosigkeit ein ausgeprägtes Gesicht besaß. Ihre absonderlichen Namen waren jetzt schon das Einzige, was von ihnen noch existierte, ein Schall in den Ohren des lebenden Geschlechts, in wenigen Jahren mit ihm verhallend. Der doppelhöckrige, rote Dom war zusammengebrochen; es gab keine Junkerstraße mehr, in der man vor den Schaufenstern flanieren konnte; das Schloß war eingestürzt und hatte unter sich das „Blutgericht“ begraben. Man würde niemals wieder bei Schwermer sitzen und bei einer Tasse Kaffee durch die Lindenwipfel auf den Schloßteich schauen, diesen schlanken See inmitten einer Großstadt. Keiner würde sich mehr an den alten Fachwerkspeichern der Lastadie und ihren skurrilen Hausmarken ergötzen.

Die Gedanken liefen schnell. Jetzt hörte er den Gehilfen antworten: „Es fehlt Schlittchen zu fahren an solchem Tag!“

„Schlitten fahren! Warum nicht Schlitten fahren? Nach Groß-Holstein oder Haffkrug. Vielleicht fährt der Herr Gauleiter gleich mit.“

„Im Haffkrug kriegt man immer noch frische Wurst.“

Burger blickte in die frostklare Landschaft hinaus und dachte sehr unbestimmt darüber nach, was nun kommen werde. Im Herbst waren die Russen in Riga, Grodno und Kowno angelangt – „aufgetaucht“ hätte man auch sagen können; denn für die meisten war es ein Auftauchen, wobei man diesen Ausdruck allerdings ebensogut auf sie selber anwenden konnte, die nun endlich aus ihrer Siegesverblendung emportauchten. – Weihnachten hatte man sie in der Provinz: von der Romintener Heide bis Neidenburg krümmte sich die Front. Jetzt, Mitte Januar, war die Stadt vom Lande her nahezu eingekreist, wenn auch in einem weiten Bogen. Aber jetzt erst begann das tönende Wort von der „Festung Königsberg“, das für Burgers Ohren immer einen blasphemischen Klang besessen hatte, weil in ihm die Drohung mitschwang: „Uns wird es nicht darauf ankommen, diese Festung bis zum letzten von euch zu halten“, begann dieses Wort auch für die ewig Harmlosen den scharfen Ton der Wirklichkeit anzunehmen. „Festung“ und „Belagerung“ rückten in ihren Sinn ein; der Krieg nahm die Leute beim Wort. Nun sahen sie sich der Abschnürung gegenüber, der Auspressung ihrer letzten physischen Kräfte durch einen fanatischen Willen, der planmäßigen Hinmordung durch Granaten und Bomben, möglicherweise unterstützt von Hunger und Seuchen. Burger sah noch mehr. Er sah Plünderung, Verschleppung, Versklavung. Er sah eine Massenkatastrophe, die über die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts hereinbrach, – ja, man mußte schon sehr weit zurückgreifen, bis ins Altertum, um einen rechten Vergleich zu finden. Vielleicht ging eine Generalvergewaltigung der Frauen nebenher, auch dies nach antiken Mustern. Die Geschichte versah sich um drei Jahrtausende, sie war zurückgefallen in abgelegte, barbarische Gebräuche. Burger lächelte: Die Geschichte? – Nein, der Mensch, das liebe deutsche Volk, das jetzt erwachte. Es hatte uralte Kräfte entfesselt, die nun, in moderner Ausrüstung, ihren Gesetzen folgend, sich endlich gegen die Entfesseler selber wandten. Es war ein Massenexperiment des modernen Menschen an seinem eigenen Leibe. Vivisektoren dürfen keine Phantasie besitzen.

Burger drehte sich wieder um: „Wann werden unsere treuen Mitbürger wohl beginnen, sich an Warschau oder an unseren Einmarsch in Frankreich zu erinnern?“

„Das Siegen ist denen vergangen“, meinte der Gehilfe, der jetzt mit dem Abtrocknen beschäftigt war, und fügte unvermittelt, alles in seinem behaglichen Ostpreußisch, die Bemerkung hinzu: „Der Herr Generaldirektor geht uns heute ab.“

„Sie scheinen sich auch schon eine lockere Sprache anzugewöhnen.“

„Ich denke, noch ein Weilchen, und Mensch ist gleich Mensch.“

„So denkt aber der Herr Obentraut nicht. Er denkt weiter. Jeden zweiten Tag sagt er zu mir: ‚Burger, bilden Sie sich bloß nicht ein, daß Sie verschont bleiben! Sie sind auch ein Bourgeois.‘ Erst hab ich immer geglaubt, er will mich aufziehen, aber jetzt weiß ich, daß die Angst aus ihm redet. Ich sage: ‚Ich, Herr Obentraut, bin nur ein armer Intellektueller. Ich werde überall meinen Platz finden. Aber Sie dürften vermutlich als Kapitalist und Wirtschaftsführer behandelt werden‘, und sehe ihn dabei so ganz ruhig an. Dann weiß er nicht, ob das Ernst oder Scherz sein soll, und bettelt: ‚Aber Sie müssen mir doch bestätigen, daß ich den Betrieb auch in sozialer Hinsicht einwandfrei geführt habe.‘ Wenn ich nun besonders boshaft bin, sage ich: ‚Sozialer Musterbetrieb!‘ und amüsiere mich darüber, wie der schwere Mann sich am Spieße windet. Aber wenn er mir leid tut, versuche ich, ihm Mut zu machen. Eigentlich ist er ein anständiger Kerl. Er hat nur nicht Charakter genug besessen, um sich aus der Bewegung auch äußerlich herauszuhalten. Sogar die Kriegsgefangenen hatten es bei ihm leidlich.“ – Was übrigens Burger selbst betraf, so erinnerte er sich jetzt immer häufiger daran, daß er früher einmal den sehr verfemten Anhängern einer Weltrevolution nahegestanden hätte.

Die Innenstadt hatte er seit dem Brande nicht mehr betreten. Er mied sie. Hier draußen war alles noch intakt. Die russischen Fliegerangriffe blieben schwach. Zuweilen stürzten sich ein paar Tiefflieger auf die Innenstadt oder auf den Hafen. Dann wurde vielleicht ein durchziehender Gutstreck getroffen, und die Pferdeleichen lagen ein paar Tage auf dem Fahrdamm. Aber das war auch alles. Burger wohnte mit seiner Frau im oberen Stockwerk einer kleinen Villa an der Pillauer Landstraße am Rande der Gärten des Vororts Amalienau. Man hatte von da zwanzig Minuten bis zur Fabrik zu gehen. Doch er machte den Weg meist mit dem Fahrrad, sogar jetzt in Frost und Schnee. Es war sein einziger Sport.

Hier draußen sah man auch wenig vom Militär. Sonst überwogen im Straßenbild allmählich die Uniformen, und die Soldaten machten den einströmenden Flüchtlingen die Wohnungen streitig, die von Weggereisten verlassen waren. Ihre Menge beruhigte, aber ihr Auftreten und Aussehen stimmten nachdenklich: überall zeigten sich Spuren der Lockerung, Nachlässigkeit im Anzug, Nachlässigkeiten im Gruß. Doch mehr noch beschäftigte die Gemüter die Beobachtung, daß, unbeschadet der starken Zunahme der Besatzung, viele Truppen offensichtlich nur einrückten, um sofort wieder weiterzurücken, sei es, daß sie einfach im Marsch nach dem Westen blieben, sei es, daß sie im Hafen verladen wurden, wo ständig große Transportschiffe, Ozeandampfer zum Teil, die man mühselig den Pregel heraufschleppte, für diesen Zweck bereitlagen. Wenn man die Stadt verteidigen wollte, warum ließ man dann so viele Truppen weiterziehen?

Für solche Zweifel bedeutete es auch keinen Ausgleich mehr, daß die Zivilbevölkerung selbst mit immer größerer Energie und Schonungslosigkeit für die letzten Vorbereitungen zu einem Widerstand eingesetzt wurde. Was hier jetzt noch geschah, war zu stümperhaft und ließ deswegen gerade Unsicherheit, ja Zwiespalt in der Leitung durchblicken. Auch zeichnete es die Dinge vor, die zu erwarten waren. Wer irgend dazu taugte und entbehrlich war, wurde in den „Volkssturm“ gesteckt und mußte schanzen oder Splittergräben auswerfen, Frauen ebenso wie Männer. Die Flüchtlinge erhielten kein Brot, ehe sie sich nicht zum Volkssturm gestellt hatten. Namen lieblicher Friedenserinnerungen, Galtgarben, Drugehnen, die Ziele heiterer Sonntagsausflüge, bekamen einen bösen Klang als Orte harter Arbeitsfron bei Regen, Sturm und Kälte. Aber nun wurden sogar mitten in der Stadt Verteidigungswerke angelegt, so, als wollte man den Widerstand ernstlich bis in die Straßen fortsetzen. Panzersperren wurden mit kindischen Mitteln vorbereitet, mit unbrauchbar gewordenen Fahrzeugen und zurückgelassenen Möbeln und natürlich auch mit Stämmen der herrlichen alten Alleen.

Die Tür wurde aufgerissen.

„Morgen, Burger! Die Sowjets sind schon in Insterburg!“

„Dann werden sie auch schon Hellbuschs Keller haben“, rief Burger zurück. Aber der Herr Generaldirektor hatte die Tür schon wieder zugeworfen.

„Erbarmung! All der schöne Wein!“

„Ach, saufen Sie Ihren Wein allein aus!“ – Burgers Gedanken hatten unvermutet an einen neuralgischen Punkt gerührt. Insterburg – Hellbuschs Weinkeller – die Autofahrt mit den beiden Schigats – die anschließende Sauferei … Diese verdammten Schigats, wochenlang hatte man sie in der engen Wohnung gehabt, und nachher war es nicht einmal gelungen, ihnen Sibylle mit auf den Weg zu geben! – In instinktiver Abwehr gegen diese bedrückende Vorstellung und die neueste Schreckensnachricht griff Burger noch einmal nach dem Reagenzglas. Die Reaktion erreichte nicht die unterste Grenze. Wenn sie nicht bald neue Schwefelsäure erhielten, saß der Betrieb fest. Die eigene Erzeugung von Schwefeldioxyd lieferte nicht die notwendigen Resultate. Er schickte seinen Gehilfen in den Keller, um festzustellen, wieviel Schwefelsäure noch da sei.

Alsbald saßen seine Gedanken wieder an der schmerzhaften Stelle. – Das einzige Gute war, daß Schigats nicht mehr da waren. – Sibylle war gleich nach dem großen Brande in die Stadt gelaufen, um nach allen Bekannten zu schauen. Sie fand Schigats dabei, wie sie sich in ihrem Waschkeller einrichteten. Ihren rettungswürdigsten Besitz schienen sie in dem Weinvorrat zu erblicken, den sie aus einem beschädigten Nachbarkeller herüberschleppten. Burger hatte seiner Frau sofort darin beigestimmt, daß man Schigats bei sich aufnehmen müsse, den Mann, die Frau und das vierjährige Gör. Solidaritätsgefühle, insbesondere seitdem sie den Stempel „Hingabe an die Volksgemeinschaft“ erhalten hatten, verleugnete er; aber die einfache Menschenpflicht gehörte zum Anstand wie das Rasieren oder die Rechtschreibung. Doch zwei Dinge hatte Burger nicht vorausgesehen: Erstens brachten Schigats ihren Wein und eine nicht einzudämmende Neigung mit, unter seinem Einfluß die Situation zu bequatschen, und zwar mit einer Ironie, hinter der sich die Angst schlecht verbarg. Nicht als ob Burger dem Alkohol in irgendeiner genießbaren Form abhold gewesen wäre, aber diese schwächliche Art, die apokalyptische Stimmung im Wein zu ertränken, war ihm tief zuwider, und grundsätzlich hatte er eine heftige Abneigung gegen die Sucht, zukünftige Übel, die ihren angewiesenen Platz hatten, in die Gegenwart zu zerren und damit ihren Bereich ungebührlich zu erweitern. Zweitens aber hatte Sibylle das durch den Zuzug entstandene Wohnungsproblem in der Weise gelöst, daß sie Schigats ihr Schlafzimmer einräumte und ihr Bett zu ihrem Mann hineinsetzte; Burger aber kannte Grenzen der leiblichen Intimität, die man nicht überschreiten dürfe, ohne die individuelle Sphäre mit Auflösung zu bedrohen; Frauen mochten darin anders empfinden. (Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß eben dieses sein Bedürfnis nach einer letzten Distanz auch eine der Ursachen war, aus denen Ulrike Fähnrich sich schließlich von ihm getrennt hatte …) Die Folge der im Hause eingetretenen Veränderungen war, daß er sich angewöhnte, über Mittag in der Fabrik zu bleiben. Er kam immer schwerer ab, es war vorteilhaft für den Haushalt, wenn er in der Kantine aß, wo er gegen wenig Lebensmittelmarken nahrhaft beköstigt wurde, und er entging für die Dauer der Mittagspause der Enge und Unruhe des Zusammenlebens mit den drei aufgenommenen Fremden.

Zu allem Überfluß gehörten Schigats einer Sorte von Zeitgenossen an, die Burger aus politischen oder, gründlicher betrachtet, aus geistigen Ursachen verachtete: die es auf die Dauer nicht aushielten, draußen zu bleiben. Namentlich die Frau, die es in gar keiner Weise „nötig hatte“, war nach Ausbruch des Krieges von einem unbezwinglichen Eifer ergriffen worden, ihre Kräfte der „bedrohten Volksgemeinschaft“ zur Verfügung zu stellen. Sie konnte es einfach nicht mehr ertragen, abseits zu stehen. „Bilden Sie sich doch nichts ein auf Ihre vornehme Zurückhaltung!“ rechtfertigte sie sich, den Spieß umdrehend. „Wer sind Sie denn jetzt noch? Ein Niemand. Sie stehen einfach im leeren Raum!“

„Wer ich bin? Ich begnüge mich damit, ein Mensch zu sein“, erwiderte Burger mit Vergnügen an seinem Paradox. „Und zwar dieser Mensch hier. Ich will mich nicht verstümmeln lassen.“

Früher hatten sie sich zum Liberalismus bekannt. Aber nun litten sie augenscheinlich nicht im geringsten unter dem eingetretenen Verlust der geistigen Freiheit.

Im Dezember waren Schigats indessen wieder ausgezogen; es war ihnen gelungen, sich „verlagern“ zu lassen. Burger hielt trotzdem an seiner neuen Lebensordnung fest. Das Beste aber, was aus Schigats Anwesenheit hätte herausspringen können, das einzig Wesentliche, war verfehlt worden: sie hatten Sibylle nicht mitgenommen, das heißt, Sibylle war nicht zu bewegen gewesen, sich ihnen freundschaftlich anzuschließen.

Das allgemeine Grauen vor den Russen teilte Burger nicht; er hielt es für eine geflissentlich erregte Furcht, und Sibylle teilte diese Auffassung mehr, als ihm lieb war. Trotzdem stand seit zwei Jahren Sibylles Abreise sozusagen auf der häuslichen Speisekarte. Eine belagerte Stadt war kein Ort für eine junge Frau, und namentlich nicht für eine junge und zarte. Aber Sibylle wollte nicht ohne ihn weg. Sie hatte für kein Kind zu sorgen und behauptete deshalb, der Platz an seiner Seite wäre der Ort, an den sie in dieser Zeit gehöre, die sich jeden Tag zu erfüllen bereit sei. Die Vorstellung, daß sie ihn hier in vollkommener Ungewißheit zurücklasse, werde ihr Dasein in der Fremde zu keiner kleineren Hölle machen, als welcher sie hier vielleicht entgegengehe, und der Gedanke, sich in den Flüchtlingsstrom zu werfen und möglicherweise – denn man dürfe sich doch in diesem Augenblick nichts vormachen – an irgendeiner Küste, an der sie der Zufall anspüle, einsam ein zweites Leben beginnen zu müssen, unterscheide sich für sie wenig vom Tode. Sibylle war eine zierliche, dunkelhaarige Frau mit Ponyfransen, siebenundzwanzig Jahre alt, von mädchenhafter Erscheinung. Aber sie sah die Dinge erstaunlich, fast unerfreulich klar.

Burger versuchte sie davon zu überzeugen, daß er sie nicht begleiten könne; es sei ihm verboten, und er habe hier seine Aufgabe. Er wies darauf hin, daß er sich recht gut ohne sie behelfen könne: die Kantine der Fabrik und die Pförtnersfrau würden ihn versorgen, und er werde vermutlich der Bequemlichkeit halber dann auch sein Bett im Laboratorium aufstellen. – Sibylle zeigte sich durch solche Betonung ihrer Entbehrlichkeit eher gekränkt als getröstet. – Er stellte ihr weiter vor, daß sie ihr Geigenspiel habe, mit dem sie vor ihrer Heirat ihre geistige und auch ihre leibliche Existenz zu ihrem vollen Glück bestritten hätte und deshalb im wirklichen Notfall wohl auch ein neues eigenes Leben begründen könne. Er tat das mit aller Vorsicht und Beiläufigkeit, aber obwohl sie selbst kurz vorher den letzten Ernst der Dinge offen berührt hatte, verstockte die bloße Andeutung von etwas möglicherweise Definitivem sie jetzt. Sie erklärte eine Trennung für eine vorzeitige Unterwerfung unter ein Schicksal, dem man sich doch gerade nicht beugen wolle.

Burger fand ihre Hartnäckigkeit mit der Zeit so töricht, daß er Mühe hatte, sich durch sie nicht reizen zu lassen. Er glaubte Sibylle ihre Liebe, aber er war davon überzeugt, daß auch diese wahre Liebe von Hilfs- und Anlehnungsbedürfnis, Bequemlichkeit und Gewohnheit gespeist sei, die man jetzt überwinden müsse … Andererseits rührte ihn Sibylle, dieses gebrechliche Wesen, rührten ihn die Anhänglichkeit und Gefährdung. Aber daß sie ihn rührten, vermehrte zugleich das Gefühl einer Verantwortung, die er nicht tragen wollte, die er nicht anerkannte. Diese Zeitverhältnisse stellten jeden auf sich, das heißt, sie offenbarten nur, was Wahrheit war: jeder stand im Grunde allein. Die herannahende Katastrophe zersetzte die imaginären wie die realen Bindungen; sie machte jeden zu dem, was er immer gewesen war, ein Einzelwesen. Keine Produktion von Gefühl konnte – durfte! – darüber täuschen. Einen wirklichen Anspruch auf Hilfe hatte ein gesunder Mensch nicht, auch nicht eine Ehefrau; oder wenn Sibylle ihn hatte, konnte er ihn nur erfüllen, indem er ihr wegverhalf.

Sibylle schien sonderbarerweise darin genau entgegengesetzt zu denken; sie behauptete, daß gerade in dieser Zeit die Bindungen sich bewähren müßten, ja, sich eigentlich erst bewährten. Ihm war eine solche Anheftung schwer begreiflich. Aber wenn er sie geteilt hätte, durfte sie ihn verleiten, das geliebte Wesen hier zu halten und den ungleich größeren Gefahren auszusetzen? Er war geneigt, auch dieses körperliche Attachement Sibylles aus der weiblichen Natur zu erklären. Indes, er beobachtete sogar Männer in seiner Umgebung, die, nachdem sie ihre Frauen und Kinder weggeschickt hatten, unter der Trennung mit einer Schwermut litten, als wären sie nur in der familiären Symbiose lebensfähige Geschöpfe. Hier ging ihm offenbar etwas ab – oder er war stärker als die andern. Er wußte es nicht. – Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen und er den Destillationsprozeß in Gang setzte, mußte er sich abermals an seine frühere Verlobte erinnern: ob diese Schwäche oder Härte – was es nun war – nicht auch dazu beigetragen habe, daß Ulrike Fähnrich, jetzt verehelichte Seiler, sich von ihm zurückgezogen hatte? Vielleicht hätte er auch Sibylle nicht an sich binden dürfen, obgleich sie gebunden werden wollte. In ihren Augen war das sicherlich ein unverbrüchliches Versprechen gewesen, das weder seiner Meinung nach damit gegeben worden war noch eingelöst zu werden seinen Absichten entsprach – trotz aller Neigung zu ihr.

Er beobachtete den von unten ansteigenden Niederschlag in der Retorte. Wie eine Nebelwand rückte er in die klare Flüssigkeit vor. Wie eine Nebelwand rückten die Russen in Ostpreußen vor. Was hinter die Wand geriet, war ausgelöscht, nicht nur von der Karte Europas gestrichen: schlechthin vorbei, gewesen. Heute Insterburg, morgen Tilsit. – Ob man es ernsthaft zur Belagerung kommen lassen oder ob die Russen eines Morgens einfach in den Straßen sein würden, das Jenseitige schöbe sich über einen wie Dunst.